die Tasche griff und die Sache über seinen Geldbeutel ausgehen ließ.

Zu den Obliegenheiten des ßrouza gehörte es auch, daß er in die Werkstatt des Jakobus van Delle, der keinen eigenen Bedienten mit sich in die Burg gebracht hatte, täglich große Lasten von Holz und Kohle schleppte und dort die beiden Schmelzöfen heizte, den großen, der Athanor genannt wurde, und den kleinen, der das Wichtelmännchen hieß. Nach beendeter Arbeit kauerte er sich oft in einem Winkel der Stube nieder, denn die vielen sonderbar geformten Glasröhren, Flaschen, Tiegel, Phiolen, Brennkolben und Betörten des Alchimisten erregten seine Neugier. Mit Staunen und mit Entsetzen nahm er bisweilen wahr, wie eine Flamme, über die die Hand des Alchimisten hinglitt, in unbegreiflichem Gehorsam sogleich ihre Farbe wechselte und blau aufleuchtete oder safrangelb, grün oder violett. Er sah, daß die lodernden Feuerzungen den Alchimisten nicht zu sengen vermochten, er spielte mit ihnen, sein Blick bändigte sie, sie waren ihm Untertan. Weiter sah er, wie der Jakobus van Delle Glaskugeln aus einem Röhrchen blies und sie im Entstehen mit seinen Händen zu zarten, leuchtenden Gebilden formte. Diese feinen, schmalen und geschickten Hände hatten es dem Brouza angetan, wie auch der auf französische Art gestutzte Bart des Alchimisten, sein feuerfarbener Bock und die weißen Haarsträhnen, die unter seiner seidenen Mütze hervorquollen. Um sich länger in der Werkstatt aufhalten zu können, suchte er sich nützlich zu machen, indem er den Blasebalg bediente, das flüssige Blei mit einem Eisenstab rührte und Schwefel oder Phosphor in einem Mörser zerstieß. Auch brachte er dem van Delle das Essen aus der Küche und Schlag eins auf die Nacht den mit Gewürzen zubereiteten Schlaftrunk. Es gelang ihm, das Vertrauen des van Delle zu gewinnen, der ihn anfangs kaum beachtet und an ihn nur selten ein

Wort verschwendet hatte. Die unterwürfige Ergebenheit, die ihm der Brouza bezeigte, mußte einem Manne wohltun, der sich von Mißtrauen umgeben fühlte, auf der Burg keinen wahren Freund besaß, ja überhaupt des Umgangs mit Menschen fast völlig entwöhnt war. Denn der van Delle verließ nur Sonntags die Burg, um in der Barnabitenkirche die Messe zu hören, und zu ihm in die Werkstatt kam nur hie und da einer von des Kaisers Kammerherren, der ihn hochmütig anhörte, wenn er von dem Fortgang seiner Arbeit sprach, und dann spöttisch fragte, wie lang er noch an seinem Süpplein kochen werde.

So hatte sich zwischen dem van Delle und dem Brouza mit der Zeit etwas herausgebildet, was man zwar nicht als Freundschaft bezeichnen durfte, denn dazu waren die beiden zu verschieden geartet, auch durch Stand und Herkunft allzu ungleich, wohl aber als eine Art Einverständnis. Der Brouza brachte dem van Delle eine schrankenlose Liebe und Bewunderung entgegen, und der van Delle vergalt sie ihm durch eine nachsichtige Zuneigung, wie sie etwa der Herr seinem etwas struppigen, dafür aber gehorsamen und guten Hund bezeigt.

Dem Brouza gegenüber wurde der Alchimist, der sonst mit Worten kargte, bisweilen mitteilsam, während wiederum der Brouza, solange er bei ihm war, seine Narrheit und sein unflätiges Wesen in strenger Zucht hielt. Beide, der Alchimist und der Ofenheizer, waren, wie in vielen Dingen, so auch darin einig, daß nur für Leute, die zu nichts Gutem taugten und auch nichts Gutes im Sinne hätten, der kaiserliche Hof ein glückseliger Aufenthalt sei. Der Brouza hinterbrachte dem van Delle alles, was in der Prager Burg vor sich ging. Daß in der Hofküche, in der Kleider- und in der Silberkammer, ja sogar in der Hofkapelle Geld und Geldeswert beiseite gebracht würden, und der Philipp Lang wisse darum und schwiege dazu, denn er bekäme von allem seinen Teil. Daß die Eva von Lobkowiz, eine schöne junge Person, die zur Audienz nicht angenommen worden war, als Stallknecht verkleidet in den Bereich der Burg gelangt und dem Kaiser zu Füßen gefallen sei und ihn um Gnade für ihren Vater gebeten habe, der im Schloßturm zu Elbogen in harter Haft gehalten wurde. Der Kaiser habe den Hut gelüftet, sie mit ihrem Namen angeredet, sie aufstehen geheißen und ihr die Erfüllung ihrer Bitte zugesagt, sich die Sache auch in seinem Büchlein vorgemerkt. Dennoch habe er etliche Tage später den Grafen Sternberg, Oberststallmeister, zu sich befohlen und ihn hart angefahren, daß die Stallknechte ihm über den Weg liefen und ihn mit Bagatellen molestierten, er sollt' seine Leute besser in der Hand haben. Ein Koch, berichtete der Brouza, sei mit dem Bratspieß in der Hand aus der Küche gelaufen gekommen, habe sich ein dutzendmal um sich selbst gedreht und geschrien, man sollt' ihm doch um Christi willen helfen, der Bauch stünde ihm hinten, der Rücken vorn. Man habe ihn mit kaltem Wasser Übergossen, da sei er wieder zu Vernunft gekommen, habe Bauch und Rücken zu seiner Zufriedenheit placiert gefunden. Zu des verewigten Kaisers Zeiten, sagte der Brouza, und die Tränen liefen ihm aus den Augen, sei er, der Brouza, unter hundert Klugen ein Narr gewesen, jetzt aber bedürfte es unter hundert Narren eines Klugen und unter hundert Dieben eines ehrlichen Mannes.

Der Jakobus van Delle erzählte dem Brouza, für den die Welt nicht weiterging als bis Beraun und von dort vielleicht bis Pisek und bis Rakonitz, von seinen Reisen in fremden Ländern. Wie er in Istanbul gewesen sei, der Metropole der Gelehrsamkeit, um dort die schönen alten Manuskripte zu studieren. Wie er dort Juden gefunden habe, die ihrem Gott abtrünnig geworden seien und einen anbeteten, den sie Asmodai, den Herrn der Geister, nannten. Wie er dem Ewigen Juden begegnet sei, der ihm wunderbare und sehr geheime Aufschlüsse über der Welten Lauf gegeben habe, ihn aber dann um ein kleines Zehr- und Reisegeld angegangen sei. Daß man den Felsen Sinai wohl sehen, aber nicht besteigen könne, denn er sei von riesenhaften weißen Skorpionen umzingelt und bewacht. Daß er ein Mittel zu finden sich getraue, um auf künstliche Art Salpeter zu erzeugen, aber dem Kaiser läge an Salpeter nichts, er wolle Gold. Wie er nach Venedig gegangen sei, um dem Geheimnis des rubinfarbenen Glases auf die Spur zu kommen, das die venezianischen Glasbläser besäßen, aber nicht preisgeben wollten. Welche Gefahren er dabei bestanden habe, wie ihm sein Vorhaben zuletzt mißlungen sei, und daß er dennoch hoffe, mit der Herstellung des rubinroten Glases dereinst zu triumphieren. Daß sein Leben allezeit großen Schwankungen unterworfen gewesen sei, sagte er, — und der Brouza übersetzte sich diese Worte in seine eigene Sprache — ja, meinte er, das kenne er, heute fetten Braten, morgen mageres Mus, so erginge es ihm auch, seit sein allergnädigster Kaiser Maximilian die Welt verlassen hätt'. Und wie ihm nun sein gewesener Herr wiederum in Erinnerung kam, begann er zu weinen, zu flennen und sich die Tränen aus den Augen zu wischen, und der van Delle mußt' ihm Trost zusprechen. Es sei nun einmal auf Erden so, sagte er, daß der Träger der Krone aller Kronen auch nicht länger Bestand hätt' als ein Bauernknecht.

Nun hatte der Jakobus van Delle einstmals dem Kaiser, der in einer üblen Laune die Alchimie verunglimpft und die Alchimisten allesamt Schelme genannt hatte, mit heftigen Worten widersprochen und ihm zugesagt, er werde ihm am St. Wenzelstag, der in Böhmen als ein großes Freudenfest begangen wird, einen Barren Golds, zwölf Pfund schwer, überreichen als eine erste und geringe Probe dessen, was er in der Goldmacherkunst vermöge. Der Kaiser hatte ihn spöttisch gefragt, ob er sich getraue, seinen Kopf dafür einzusetzen, und der van Delle hatte gesagt, ja, das getraue er sich, und die Sache solle gelten. Er hatte das getan, weil er in seiner Ehre verletzt worden war, weil er nach den Mühen so vieler Jahre nun endlich auf dem rechten Wege zu sein glaubte, unedles Metall in edles zu verwandeln, vor allem aber, weil er für die kommenden Wochen eine besondere Konstellation der Gestirne vorhersah, die bisher nur selten sich ergeben hatte, dann aber ihm und seinem Werk immer im höchsten Maße förderlich gewesen war.

Aber diese Konstellation ging vorüber, der allem Neuen mißgünstige Saturn war aus seiner fernen Abgelegenheit, dem schuppichten Schwanz der Wasserschlange, in seinem alten Bereich zurückgekehrt, aber das große Magisterium, die Transmutation der Elemente war dem van Delle nicht gelungen, ja, er sah sich von diesem Ziel weiter entfernt denn je. Schwer lastete das dem Kaiser verpfändete Wort auf seiner Seele. Er hatte gehandelt wie einer, der mit den Sporen klirrt und kein Roß im Stall hat. Und je näher der St. Wenzelstag herankam, desto mehr verfiel der Alchimist der Sorge, der Angst und dem Trübsinn. Bisweilen stürzte er sich wie von Furien gejagt auf seine Arbeit, begann dieses und jenes und führte nichts zu Ende, dann wieder saß er oft stunden-, ja tagelang müßig und starrte vor sich hin.

Der Brouza sah mit Kummer und Besorgnis die Veränderung, die mit seinem Herrn vor sich gegangen war, er wußte sie sich nicht zu erklären. Und als der Alchimist wieder einmal die Schüsseln, die er ihm aus der Küche gebracht hatte, unberührt stehen ließ, da war's dem Brouza zuviel, und er drang in ihn, er solle ihm doch endlich sagen, was ihm Schlimmes widerfahren sei.

Der van Delle schwieg und starrte vor sich hin, als aber der Brouza mit seinem Bitten und Drängen nicht nachließ, da bekannte er, wie übel es um ihn stünde. Daß ihm sein Werk mißlungen sei, daß er dem Kaiser seinen Kopf verpfändet habe, und daß er nun fürchten müsse, ihn zu verlieren.

»Ich müßte fort, sollt' mich davonmachen, aber wie kann ich's?« beendete er seinen Bericht. »Ich stehe unter Bewachung. Du hast's ja auch gemerkt, daß seit etlichen Wochen draußen auf dem Gang, nicht weit von meiner Tür zwei Hakenschützen postiert sind, der eine rechts, der andere links, und wenn ich Sonntags zur Messe gehe, dann sind sie beide dicht hinter mir, lassen mich auch in der Kirche nicht aus den Augen. Verflucht das Schicksal, das mich in dieses Haus geführt hat!«

Der Brouza war ganz bestürzt und verwirrt durch das, was er da vernahm, und anfangs brachte er kein Wort hervor, er konnte nur röcheln und mit den Zähnen knirschen, ein heftiger Schmerz saß würgend in seiner Kehle. Dann, als er endlich einen Gedanken fassen und etliche Worte finden konnte, ihn auszudrücken, bat er den Alchimisten, er solle doch die Sache noch einmal beginnen, sie werde ihm gelingen, alles gelänge ihm, er dürfe nur die Hoffnung nicht fahren lassen.

»Diese Hoffnung«, sagte der van Delle mit einem trüben Lächeln, »ist eine eitle Hoffnung, und wer sie hegt, der bäckt Brot aus Korn, das noch nicht gesät ist. Nein, Brouza, ich bin ein verlorener Mann.«

»So solltet Ihr«, riet nun der Brouza, »hinunter zum Kaiser gehen, ihn um Gnade bitten.«


Der Alchimist schüttelte den Kopf.


»Hast du den Kaiser schon jemals lachen gesehen?« fragte er.


»Nein«, sagte der Brouza. »Ich hab' ihn wohl oftmals in Zorn, aber niemals zum Lachen gebracht.«


»Von einem, der nicht lachen kann, ist auch keine Barmherzigkeit zu erwarten«, erklärte der Alchimist. »Bei den Zyklopen und Bestien im allerdichtesten Wald ist mehr Gnade zu erwarten als von Seiner Majestät, dem Kaiser.« Der Brouza wollte wissen, ob mitden Zyklopen die Kohlenbrenner gemeint seien. Aber dem van Delle stand jetzt nicht der Sinn danach, dem Brouza vom Ulysses und seinem Abenteuer in der Höhle des Polyphem zu erzählen, und so sagte er nur, die Zyklopen seien keine Kohlenbrenner, sondern Ziegenhirten, aberwilde und gefährliche Leute vonbösen Sitten. Dann wiederholte er, er sei ein verlorener Mann.


»Beileibe nicht«, rief der Brouza, der seine Fassung wiedererlangt hatte. »Richtet nur zu, was Ihr mit Euch nehmen wollt, und für das andere laßt mich sorgen. Ich werde Euch ungesehen in den Hirschgraben bringen und von dort ins Freie. Und wenn Ihr in den Wald zu den Zyklopen wollt, so geh' ich mit Euch, vor Ziegenhirten fürchte ich mich nicht.«


Der Alchimist bedeutete ihm, daß er nicht zu den Zyklopen fliehen wollt', sondern ins Bayrische, dort habe er Freunde, die ihn aufnehmen würden. Aber dazu brauche er Geld, und er wisse sich keines zu beschaffen.


Wenn die Red' auf das Geld kommt, und der eine hat es und der andere will es, geht oftmals die Freundschaft in Brüche. Aber hier war es anders.


»Ist es nur Geld?« meinte der Brouza. »Daran wird es uns nicht fehlen. Ich hab' Erspartes und werd' es heute noch um etliche Gulden vermehren.«


Und er ließ den van Delle und ging, um noch einmal und, wie er glaubte, zum letztenmal beim Kaiser seine eigene Goldmacherkunst zu erproben.

Der Kaiser war, als der Brouza zu ihm in die Kammer trat, in die Betrachtung eines der Gemälde vertieft, die er mit dem Geld, das von den Geschäften des Meisl herkam, bezahlt hatte. Er war guter Laune, sah den Brouza und nickte ihm zu.

»Komm her«, sagte er, »und sieh dir das Bild an! Was siehst du da gemalt?«

Das Bild war ein Parmeggianino und zeigte den Heiland mit seinen Jüngern beim Abendmahl. Der Brouza schob sich heran, rieb sich die Nase noch platter, als sie schon war, legte die Stirne in Furchen, streckte die Unterlippe vor und nahm so die Miene eines Mannes an, der den Dingen bis auf den Grund gehen will.

»Das sind«, erklärte er sodann, »die zwölf Söhne des Patriarchen Jakob, ich könnt' beschwören, sie sprechen hebräisch miteinander.«

Und er ahmte mit ein paar rauhen Kehllauten die hebräische Sprache nach.


»Es sind aber dreizehn, nicht zwölf«, meinte der Kaiser.


»Jakob und seine zwölf Söhne, das macht zusammen dreizehn«, hielt ihm der Brouza vor.


»Erkennst du Christum nicht?« fragte der Kaiser und wies mit einem aus buntem Achat geschnittenen Messer auf die Figur des Heilands.


»Jetzt, da du mir ihn weist, Herrlein, jetzt erkenne ich ihn«, sagte der Brouza. »Gott mit dir, Christus! - Sitzt bei Tisch und läßt sich's gut gehen«, fügte er in ärgerlichem Ton hinzu, als müßte Christus, wenn es nach ihm ginge, allezeit unter seinem Kreuz dahinwanken.


»Er spricht mit dem Judas, der ihn verkauft und verraten hat«, erklärte ihm der Kaiser.


»Was geht's mich an? Ma g er ihn verraten haben«, fuhr ihn der Brouza an. »Ich misch' mich nicht in der Herren ihre Hadereien. Ich laß' jeden das seine schaffen, scher' mich um keinen.«


Er meinte, auf diese Worte hin, die gotteslästerlich genug klangen, werde nun der Kaiser zum Stock greifen und ihm das Fell gerben. Aber der Kaiser wies ihn nur mit gelinden Worten zurecht.


»Du solltest«, sagte er, »von den heiligen Dingen mit Ehrerbietung sprechen, bist doch ein Christ.«


»Und du? Bist du ein Christ und nennst Christum verschachern ein heilig Ding?« ging ihn der Brouza an. »Nun ja, du treibst ja selbst mit Christo Handelschaft.«


»Ich sollt' mit Christo Handelschaft treiben?« verwunderte sich der Kaiser.


Der Brouza tat, als hätte er vom Kaiser Rechenschaft zu fordern:


»Welcher Judas hat dir denn diesen Christus hier verkauft, und wieviel hast du für ihn bezahlt?«


»Kein Judas, sondern der Granvella, Neffe des Kardinals, hat mir dieses schöne Bild verkauft, und ich hab's mit vierzig Dukaten bezahlt, und jetzt geh, laß mich zufrieden!« sagte der Kaiser.


»Vierzig Dukaten?« schrie der Brouza. »Da siehst du nun, Herrlein, was ich immer sag', daß du wie ein rechter Narr haushältst. Vierzig Dukaten hast du für den gemalten Christus bezahlt, da doch der lebendige nicht höher als mit dreißig Groschen im Preis steht.«


»Nennst du mich einen Narren? Wart nur, ich werd' dir gute Sitte beibringen und Achtung vor der Majestät«, rief der Kaiser, der jetzt die Geduld verlor, und der Brouza wußte, daß es nur noch geringer Anstrengung bedurfte und er kam zu seiner Tracht Prügel. Er stellte sich, als wollte er den Kaiser beschwichtigen.


»Was schreist du? Was erbost du dich?« sagte er. »Du weißt, in welchem Ansehen du bei mir stehst, ich heb' dich noch hoch über den Schellenkönig.«


Das war dem Kaiser zuviel. Der Zorn übermannte ihn, das plattnäsige und einfältige Gesicht des Brouza verschwamm ihm zu einer wilden Teufelsfratze. Er warf ihm an den Kopf, was er gerade zur Hand hatte, zuerst das achatne Messer, dann einen Teller mit Kirschen, und als dieser sein Ziel verfehlte, fiel er mit dem Stock über den Brouza her.


Der Brouza nahm die Prügel in Empfang, wie ein Feld nach langer Trockenheit den Regen aufnimmt. Und wie dann der Kaiser schwer atmend und erschöpft in seinem Lehnstuhl saß und sein Zorn verging, da war für den Brouza die Zeit gekommen, zu greinen, zu flennen und heftige Reschwerde zu führen.


»Hilf Gott«, klagte er und rieb sich den Rücken, »was hast du mir, Herrlein, für höllische Marter angetan! Ich hab' nicht geglaubt, daß mir solches in deinem Haus widerfahren werde. Aber das soll dein gottseliger Vater, wenn ich dereinst dort droben in seinen allerhöchsten Dienst zurückkehr', erfahren, daß du mich hast steinigen wollen.«


Und er wies auf den zerbrochenen Teller, auf die Kirschen, die über den Boden verstreut lagen, und auf das achatne Messer, das ihm die Stirne geritzt hatte.


Der Kaiser reichte ihm sein Tüchlein, daß er sich die Blutstropfen von der Stirn wische. Dann bat er den Brouza, ihm in christlicher Milde zu verzeihen, er habe es im Zorn getan, es täte ihm leid. Der Brouza aber zeterte und schrie, Zorn sei eine Todsünd', mit Worten sei es diesmal nicht abzutun, zu groß sei die Marter gewesen, und er verlange sieben Gulden für die erlittenen Streiche und einen obendrein für den Wurf mit dem Messer, der ihn beinah' um sein Augenlicht gebracht hätte.


Acht Gulden, meinte der Kaiser, sei unbillig viel, er könnt's nicht geben.


Der Brouza ließ mit sich reden, denn er wußte nicht, wie wohlversehen mit Geld der Kaiser war.


»So zahl mir ein weniges, Herrlein«, schlug er ihm vor, »drei Gulden zahl mir und das übrige laß anstehen, gib mir ein Pfand dafür.«


Er erhielt die drei Gulden. Als er aber den Parmeggianino als ein Pfand für die restlichen fünf mit sich nehmen wollte, da geriet der Kaiser von neuem in Zorn und fuhr mit dem Stock dazwischen. Und der Brouza, der an den empfangenen Streichen für diesmal völlig genug hatte, gab sich mit den drei Gulden zufrieden und wischte zur Tür hinaus.

In der Schlafkammer des Grafen Colloredo, der das Amt eines kaiserlichen Mundschenken versah, hatte der Brouza eine seidene Strickleiter gefunden. Der Colloredo hatte sich ihrer dereinst bei seinen verliebten Abenteuern bedient, deren Schauplatz zumeist die Umgebung der Prager Burg gewesen war. Nun war er freilich mit den Jahren ein sehr beleibter und etwas kurzatmiger Herr geworden, dem die Bequemlichkeit über alles ging, und die Tugend der Kleinseitner und Hradschiner Bürgerstöchter hatte von ihm schon lange nichts mehr zu befürchten. Die Strickleiter jedoch befand sich in gutem Zustand. Und in seinem Rückenkorb, in dem er sonst Holzscheite und Kohle die Stiegen hinauf beförderte, brachte sie der Brouza in die Werkstatt des Alchimisten.

Hier lag sie drei Wochen lang, denn der Zeitpunkt, an dem die Flucht vor sich gehen sollte, mußte mehrere Male hinausgeschoben werden. Zuerst, weil der van Delle von einem mit Fieber verbundenen Halsübel befallen wurde. Dann, weil sich schlechtes Wetter einstellte, zwei Tage und zwei Nächte lang regnete es in Strömen. Eine sich gleich darauf ergebende Konstellation der Gestirne, die dem van Delle nicht günstig genug für ein solches Wagnis zu sein schien, verursachte eine weitere Verzögerung. Schließlich bestimmten sie die Nacht vor dem St. Wenzelstag zur Ausführung ihres Fluchtplans, und ein weiterer Aufschub war nun nicht mehr möglich, so sehr ihn auch der van Delle, der dem Unternehmen mit Sorge und Bangen entgegensah, gewünscht hätte.

Am Abend vor dem St. Wenzelstag brachte der Brouza dem Alchimisten einen Teller mit Fleischbrühe, ein Stück Hühnerpastete, gesottene Eier, Käse, eine Schnitte Honigkuchen, ein Feigenbrot und eine Kanne Wein.

»Langt zu und stärkt Euch, Herr!« sagte er. »Laßt es Euch wohl bekommen! Wir wissen nicht, wie es mit Essen und Trinken morgen bestellt sein wird.«

Dann riet er ihm, vor dem Aufbruch noch eine oder zwei Stunden zu ruhen.


»Ihr werdet alle Eure Kräfte nötig haben«, meinte er. »Morgen, wenn es tagt, müssen wir ein halbes Dutzend Meilen hinter uns gebracht haben.«


Der van Delle aß mit geringem Appetit. Traurig sprach er von den stolzen Erwartungen, mit denen er an den Hof des Kaisers gekommen war.


»Ich habe mich«, klagte er sich an, »bei meiner Arbeit allzusehr auf Hypothesen gestützt, von bloßen Einbildungen habe ich mich bewegen lassen. So ist es nun dazu gekommen, daß ich mit Infamie und Schande bei Nacht und Nebel das Haus verlassen muß.«


»Ob wir Nebel haben werden, das ist noch sehr die Frage«, bemerkte der Brouza. »Ein wenig Nebel, nicht zu viel, das wäre so übel nicht, aber es sieht nicht danach aus, als ob wir ihn bekämen. Aber ich mein', die Sache wird auch ohne Nebel gut ablaufen, zumal wir Neumond haben.«


»In meinem Herzen«, sprach der Alchimist, »halten Furcht und Hoffnung einander das Gleichgewicht. Aber es ist nun einmal so und auch der Dichter Petrarca hat es gesagt, daß im menschlichen Leben weit öfter die Furcht als die Hoffnung sich verwirklicht. Was bleibt also anderes übrig, als der Bitternis des Schicksals mit fester Stirn entgegenzutreten? «


Schweren Herzens hatte er sich entschlossen, seine Bücher zurückzulassen. Nun ging er zu dem hochgetürmten Stoß, suchte ein Bändchen hervor und schob es in die Tasche seines feuerfarbenen Bocks. Es war Senecas Tractat »De tranquillitate vitae«, zu deutsch »Von der Geruhsamkeit des Lebens«, den wollte er auf seinen beschwerlichen Weg mit sich nehmen.


»Eine Sache wie diese«, sagte indessen der Brouza, »kann nicht ohne Mühe und Gefahr ausgeführt werden. Ihr habt jedoch den Vorteil, daß ich mein Leben lang noch keinem Menschen bei seiner Flucht behilflich gewesen bin.«


»Und worin liegt da für mich der Vorteil?« fragte der Alchimist.


»Weil«, bedeutete ihm der Brouza, und er fiel für einen Augenblick in sein altes Narrentum zurück, »wie man sagt, ein Pfaffe niemals so gut ist wie bei seiner ersten Messe. Habt also guten Mut. Ihr werdet sehen, daß auch hier wie beim Rosenkranz am Ende das Gloria kommt.«


Als die Uhr eins schlug, befestigte der Brouza die Strickleiter an zwei eisernen Haken, die er in den Fenstersims des Erkers eingetrieben und durch hölzerne Keile gesichert hatte. Dann zeigte er dem van Delle, der vor Angst an allen Gliedern bebte, wie er es anzustellen habe. Er schwang sich auf den Sims und stieg die Leiter hinab, bis sein plattnasiges Gesicht nicht mehr zu sehen war. Dann kam er wieder, ließ sich das Bündel mit den Habseligkeiten des Alchimisten und seinen eigenen Ranzen reichen und sagte:


»Es ist nicht schwer, und es ist auch keine Gefahr dabei. Merkt Euch nur, daß Ihr hinaufschauen sollt und nicht hinunter. Macht einen Schritt um den anderen, eilt Euch nicht. Wenn Ihr Schritte, Stimmen oder sonst ein Geräusch hört, dann bleibt stehen und rührt Euch nicht. Wenn ich unten bin, werdet Ihr mich pfeifen hören.«


Und damit verschwand er.


Als der van Delle auf der Strickleiter stand, hub einer von des Kaisers Löwen, die unten im Hirschgraben in Käfigen gehalten wurden, zu brüllen an, und ein wenig später durchschnitt der melancholische Schrei des Adlers, der mit einem seiner Fänge an eine eiserne Stange gekettet war, die Stille der Nacht. Diese Laute, so wild sie auch klangen, erschreckten den van Delle nicht. Die Stimme des Löwen wie auch die des Adlers war ihm vertraut. Als aber eine Fledermaus hart an seinem Kopf vorbeischwirrte, konnte er einen Aufschrei nicht völlig unterdrücken.


Wie er dann die Leiter Tritt um Tritt hinunterstieg, minderte sich seine Furcht. Er sah, daß es nicht schwer war, hinunter zu gelangen, auch gab es keine Gefahr. Stärker wurde das Rauschen der Bäume unter ihm, Vögel schwirrten aus dem Schlaf geschreckt auf und flogen davon. Zu seinen Häupten standen die ihm vertrauten Gestirne: der Fuhrmann, der Wagen, der Rabe, der Kopf des Stieres, die Krone der Ariadne und der Gürtel des Orion.


Als er schon beinhahe unten war, wurde er so verwegen, daß er die Leiter vorzeitig losließ und absprang. Er tat dies aus geringer Höhe, aber so wenig geschickt, daß er taumelte und zu Boden fiel.


Er hörte die Stimme des Brouza, der sich über ihn beugte:


»Steht auf Herr, steht auf! Es ist alles gut abgelaufen. Jetzt aber keine Zeit verloren!«


Vom Brouza unterstützt versuchte er aufzustehen, aber es ging nicht. Mit einem Wehlaut sank er wieder zu Boden. Er hatte sich das Bein beschädigt.


An eine Flucht war nun nicht mehr zu denken, aber der Brouza verlor darum den Kopf nicht. Er trug, schleppte und zog den van Delle in eine Hütte, die sich in einem abgelegenen Teil des Hirschgrabens windschief an die Umfassungsmauer lehnte wie ein Betrunkener an einen Türpfosten. Hier bettete er den van Delle, der zu stöhnen nicht aufhörte, auf einen Federsack. Er schlug Feuer und zündete eine Öllampe an. Dann zog er dem van Delle behutsam die Schuhe aus und brachte ihm ein paar türkische Pantoffei, die zwar abgetragen, aber aus dem allerfeinsten Gazellenleder verfertigt waren.


»Wo bin ich hier?« fragte der Alchimist.


»In meinem Hause«, erklärte ihm der Brouza, »und es steht hier alles zu Eurem Gebrauch und Willen. Hier sucht Euch keiner, hier seid Ihr sicher. Mögen sie nun die Landstraßen nach Euch ablaufen. Dieses Haus hat mir der verewigte Kaiser geschenkt, auch die beiden Apfelbäume draußen und das Gärtlein, in dem ich Gemüse ziehe.«


Er wischte sich die Tränen aus den Augen.


»Du siehst nun wohl«, klagte mit matter Stimme der Alchimist, »von welchen Nöten und Beschwerden dieses arme Leben bedroht ist und wie mir das Glück wiederum seine Untreue und Tücke bewiesen hat.«


»Ihr habt Euch«, meinte Brouza, »allzusehr auf Gottes Beistand verlassen, als Ihr von der Leiter sprangt. Es hätte noch schlimmer kommen können.«


Der Alchimist wies auf eine Peitsche mit kurzem Stiel und langen Lederschnüren, die an einem Nagel an der Wand hing.


»Wozu dient sie dir?« fragte er. »Hältst du dir einen Hund?«


»Nein«, sagte der Brouza. »Mit diesem Ding da hat der verewigte Kaiser bisweilen nach mir geschlagen, wenn ich ihm Verdruß bereitet habe. Man nennt das ein Reliquium. Ich habe noch andere Reliquia aus seiner Hand. Die beiden Truhen dort hat er mir verehrt, das kupferne Waschbecken, Strümpfe, Hemden, Halstücher, ein Gebetbüchlein, einen Ring mit blauem Stein, einen Schröpfkopf und vieles andere. Auch die Pantoffel sind von ihm. Denkt daran, Herr, daß Ihr heilige Reliquia an den Füßen tragt. Wehe, nie wieder wird die Welt einen Herrn wie den meinen sehen!«


Er sah aus, als wolle er in Erinnerung an den verstürbenen Kaiser von neuem in Tränen ausbrechen. Aber die Zeit drängte. Er sagte, er müsse nun fort, um die Strickleiter verschwinden zu lassen und um irgendwo außerhalb der Stadt einen Wundarzt oder Feldscher aufzutreiben, einen, von dem sich erwarten ließe, daß er nicht allzuviel Neugierde bezeigen werde. Er holte aus seiner Tasche einen Schlüssel hervor, mit dessen Hilfe er durch eines der Mauerpförtchen ins Freie gelangen konnte. Er empfahl dem van Delle, keine Furcht zu hegen, in Geduld zu warten und den Fuß nicht zu bewegen.


Eine Stunde später kam er mit einem Dorfbader zurück, der auch ein wenig Feldscher war und sich rühmte, zweiundsechzig Arten von Knochenbrüchen und auch Brandwunden richtig behandeln zu können. Er hatte ihn im Wirtshaus des Dörfchens Liben aufgelesen, das zu weit entfernt war, als daß von dort Gerede und Gerüchte in die Prager Burg gelangen konnten.


Der Feldscher, der leicht angetrunken war, betastete den Fuß, den Knöchel und das Bein. Dann sagte er, es sei nicht schlimm, er werden dem Herrn aber Schmerzen zufügen müssen.


»Man muß«, sagte der Alchimist, »durch das Meer der Schmerzen hindurchgehen wie der Salamander durch das Feuer.«


Unmittelbar darauf aber stieß er einen gellenden Schrei aus, so daß ihm der Brouza die Hand auf den Mund legte. Der Feldscher hatte ihm, ehe er sich dessen versah, durch heftiges Ziehen am Fuß den Knöchel eingerenkt. Es war nun nicht mehr viel zu tun. Der Feldscher verlangte zwei Brettchen oder Stäbe, um das Bein zu schienen. Mit dem geschienten Bein, sagte er, müsse der Herr nun zwölf oder vierzehn Tage lang liegen und erst nach Ablauf dieser Zeit könnte er es mit dem Gehen versuchen. Er verordnete kalte Kompressen, und dann fragte er den van Delle, wie ihm dieses Mißgeschick zugestoßen sei.


Der Alchimist setzte ihm auseinander, daß sein Mißgeschick nicht von ihm selbst verschuldet, sondern daß es auf eine besondere Quadratur der obersten Planeten zurückzuführen sei.


»Herr!« rief der Feldscher, »ihr wollt mir doch nicht weismachen, daß sich diese Planeten oben zusammengetan haben, um Euch das Fußgelenk auszukegeln?«


»Sie fügen uns Gutes und Schlimmes zu«, belehrte ihn der Alchimist, »und wir sind ihren Zusammenstellungen mehr, als Ihr erfassen könnt, unterworfen. Aber wenn es Euch recht ist«, fügte er hinzu, »will ich diesen Gegenstand nicht mehr mit Euch erörtern.«


Dem Feischer war das recht. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß es besser sei, Leute, die im Fieber lagen oder von Schmerzen geplagt wurden, nicht durch Widerspruch zu reizen, auch wenn er ihre Meinung für verkehrt hielt. Indessen hatte der Brouza aus einer seiner Truhen oder heiligen Reliquien ein Zinngefäß mit Wacholderbranntwein hervorgeholt, das gab er dem Feldscher für seine Mühe und für den weiten Weg. Der Feldscher kostete von dem Branntwein. Sein Gesicht verklärte sich, um gleich darauf den Ausdruck tiefer Besorgnis anzunehmen.


»Schönen Dank«, sagte er. »Ich steh' Euch zu Diensten, wann immer Ihr mich braucht. Auch wenn es sich um Brandwunden handelt, vergeßt das nicht! Aber wie mach' ich's nur, daß mir der listige Teufel nicht diesen Branntwein stiehlt?«


»Stiehlt Euch der Teufel Branntwein?« fragte der van Delle.


»Ja, und auch Wein, Most, Bier, kurzum, jegliches Getränk«, erklärte der Feldscher.


»Stellt er Euch auch sonst nach?« erkundigte sich der van Delle.


»Das will ich meinen«, gab der Feldscher zur Anwort. »Tag und Nacht.«


»Er hat es also auf Eure Seele abgesehen?« wollte der van Delle wissen.


»Nein«, sagte der Feldscher. »Er ist nicht von der Art. Es hat jedermann seinen eigenen Teufel, und der meine liegt bei mir im Ehebett.«


Er nahm noch einen Schluck Branntwein aus der Kanne, und dann ließ er sich vom Brouza durch das Mauerpförtlein auf die Landstraße führen.

Als es Morgen wurde, erhob sich der Brouza von der Erde und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Der van Delle lag wach. Der Schmerz im Bein, die ungewohnte Umgebung, vor allem aber die Furcht vor dem Tag, der jetzt anbrach, hatten ihn keine Ruhe finden lassen. Der Brouza schleppte das kupferne Waschbecken, auch eine Reliquie, herbei, holte Wasser und wusch seinem Herrn Gesicht, Hals und Hände. Dann brachte er ihm Brot und Käse und dazu sagte er, wie alle Tage, sein Sprüchlein:

»Eßt, Herr! Ihr werdet Brot und Käse nach Eurem Wunsch finden. Das Brot leicht, den Käse schwer.«


Er erneuerte die Kompresse, und dann bat er den van Delle um Urlaub. Er wollte in die Burg zurück und sehen, wie sich die Dinge dort anließen.


»Es wird einen höllischen Lärm geben, wenn sie merken, daß Ihr das Weite gesucht habt«, prophezeite er. »Die, die es dem Kaiser hinterbringen, werden Beulen und blutige Schrammen davontragen und vielleicht noch Schlimmeres. Er wird in Raserei geraten und ihnen an den Kopf werfen, was er zur Hand hat, Leuchter, Schüsseln, Teller, allerlei Gerät, Messer, Dosen, Figuren aus Holz, Stein oder schwerem Metall, deren stehen immer etliche in des Kaisers Kammer, daß er sie den Leuten an den Kopf werfen kann, und vielleicht wird er sogar mit dem Degen auf sie losgehen. Mir hat er einmal ein Buch mit Bildern von den Leiden Christi nachgeworfen. Später hat er es bereut und bittere Tränen darum vergossen, aber nicht um meinetwillen, sondern des beleidigten Erlösers wegen.«


»Und wie wird es weitergehen?« erkundigte sich voll Sorge der van Delle. »Mit den Leuchtern und Schüsseln wird es wohl nicht abgetan sein.«


»Gewiß nicht«, sagte der Brouza. »Der Kaiser wird den Herrn Obersthofmarschall und den Herrn Oberstburggrafen zu sich befehlen und über sie herfallen, wird toben und schreien, sie hätten Euch zur Flucht verholfen, seien von Matthias dafür bezahlt. Der Herr Obersthofmarschall wird einen roten Kopf bekommen, aber der Herr Oberstburggraf wird den Kaiser beschwichtigen. Er wird Ihm versprechen, Euch zu greifen und zurückzubringen, und er wird Euch auf allen Landstraßen und in allen Herbergen suchen lassen, aber nur eine oder zwei Wochen lang, denn dann wird die Sache dem Kaiser aus dem Sinn gekommen sein, weil sich in seinem Kopf die menschlichen Dinge: Zorn, Verdruß, Reue, wie auch Hoffnung oder Vertrauen oft sehr rasch in ihr Gegenspiel verkehren.«


»Und hier wi^d man mich nicht suchen?« fragte der van Delle.


»Hier nicht, nein. Hier seid Ihr sicher«, beruhigte ihn der Brouza. »Vielleicht hat sich just darin, daß Ihr so übel von der Leiter gesprungen seid und nicht weiter konntet Gottes liebende Vorsorge für Euch offenbart. Ich gehe jetzt, werd' die Türe hinter mir verschließen. Am Abend bin ich zurück. Laßt Euch inzwischen die Zeit nicht lang werden.«


»Ich werde sie verwenden, um über die vielen Wechselfälle meines Lebens nachzusinnen«, sagte der Alchimist. »Auch werde ich in diesem Buch lesen, daß mir ein Trost in meiner Kümmernis sein wird.«


Und er zog den Seneca aus seiner Tasche.


Aber er fand, als der Brouza gegangen war, die Ruhe nicht, um irgendeinem Gedanken nachzuhängen. Die Abenteuer und Wechselfälle seines Lebens, aus deren Ablauf und Ausgang er in seiner gegenwärtigen Bedrängnis Zuversicht gewinnen wollte, stoben durcheinander und zerflossen in nichts. Er versuchte, im Seneca zu lesen, aber die Worte ergaben ihm keinen Sinn, er las und wußte nicht, was er gelesen hatte. Er war müde und konnte nicht schlafen. Die Zeit wollt' ihm nicht vergehen, und er suchte nach einem Mittel, sie zu überlisten. Er bewegte den Fuß, der Schmerz fiel über ihn her und wurde unerträglich, dann ließ er nach, wurde milder, blieb noch eine Weile und verschwand. Dawar ein wenig Zeit vergangen. Er wiederholte das Spiel, aber da fand er, daß er den Gewinn an Zeit mit allzuviel Schmerz bezahlt hatte. Sein Auge haftete an den Schnecken an der Bretterwand der Hütte und es schien ihm, als wären das die Stunden dieses Tages, die so träge dahinschlichen.


Gegen Mittag schlief er ein. Es war ein kurzer und unruhiger Schlaf, und doch fühlte er sich besser, als er erwachte, er meinte viele Stunden geschlafen zu haben. Er brachte es nun zuwege, ein wenig in seinem Seneca zu lesen. Bald aber legte er das Buch aus der Hand. Er sagte sich, der Tag sei nun zu Ende, gleich käme die Dämmerung, und bei schwindendem Licht sei nicht gut lesen. Es war aber noch früh am Nachmittag.


Dennoch verging ihm der Rest des Tages ein wenig rascher, denn jetzt begannen die Kapuziner in ihrem nahegelegenen Kloster mit ihrem Läuten, Klingeln und Chorsingen. Der Brouza, der gegen neun Uhr abends kam, fand ihn ruhiger, als er erwartet hatte. Der van Delle versuchte sich aufzurichten und wollt' gleich alles wissen, aber der Brouza legte den Finger an die Lippen.


»Leise, Herr, leise!« sagte er. »Es sind zwei von den Gärtnerburschen ganz in der Näh', die könnten Euch hören.«


Flüsternd fragte der van Delle, wie es oben stünde, ob der Lärm groß gewesen sei, und ob man ihn schon in den Herbergen und auf den Landstraßen suche.


Der Brouza stellte seinen Rückenkorb auf die Erde und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann schlug er Feuer und machte Licht.


»Es hat keinen Lärm gegeben«, berichtete er. »Sie wissen es noch gar nicht, daß Ihr fort seid.«


»So hat mich der Kaiser nicht zu sich befohlen?« rief der van Delle.


Der Brouza öffnete die Tür ein wenig und blickte hinaus. Die beiden Gärtnerburschen waren nicht mehr zu sehen. Man hörte ihre Stimmen aus einiger Entfernung.


»Sie sind fort«, sagte er. »Nein, der Kaiser hat nicht nach Euch gefragt.«


»Und er hat auch nicht den Palffy oder den Malaspina zu mir geschickt?« wollte der van Delle wissen.


»Nein, keiner von des Kaisers Kammerherren kam, um nach Euch zu sehen«, sagte der Brouza.


»Ich kann das nicht verstehen«, rief mit Kopfschütteln der van Delle. »Ist heute der St. Wenzelstag oder wessen Tag ist heute?«


Der Brouza traf die Vorbereitungen zum Abendessen. Er rückte den Tisch in die Nähe des van Delle und legte ein weißes Tuch auf.


»Vielleicht hat der Kaiser, weil eben heute St. Wenzelstag ist, nicht Zeit gefunden, sich um Euch zu bekümmern«, meinte er. »Denn der St. Wenzelstag ist für ihn immer ein verdrießlicher Tag. Er soll mit der brennenden Kerze in der Hand in der Prozession gehen, sich der Menge zeigen, und das tut er nicht gerne. Der Herr Erzbischof und der Bischof von Olmütz waren beide in Audienz bei ihm, haben ihm beweglich vorgetragen, wie mein in einer Zeit, da der Utraquismus überall im Königreich sein ketzerisches Haupt erhebe, dem frommen katholischen Volk das gewohnte Schauspiel und Gepränge nicht vorenthalten dürft' und wie auch sein Vater, der verewigte und in Gott ruhende Kaiser Maximilian II., es niemals unterlassen hätt', an des heiligen Wenzels Tag in der Prozession zu gehen.«


Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann holte er aus seinem Korb ein Fischgericht hervor, eine kalte Platte, gesottene Eier, Früchte, Käse und eine Kanne Wein.


»Morgen«, sagte er, als müsse er den van Delle beruhigen und trösten, »wird Seine Majestät sich gewiß daran erinnern, daß Ihr Euren Kopf verwettet und verloren habt.«

Siebzehn Tage blieb der van Delle in seinem Asyl, in der Hütte des Brouza, siebzehn Tage lang ereignete sich nichts, es schien, als ob der Kaiser ihn vergessen hätte. Anfangs fiel es ihm schwer, den Tag in Müßiggang und mit Träumereien zu verbringen, dann aber fand er Mittel, sich die Zeit ein wenig zu vertreiben. Er beobachtete die Ameisen in der Hütte, von denen es zwei Arten oder Völker gab, die roten und die braunen, und sie glichen darin den Menschen, daß die einen mit den andern nicht Frieden halten konnten, sondern sie stellten einander mit meuchlerischen Anschlägen nach. Er sah das Netz der Spinne und wie die kleinen Mücken in der Spinnwebe hängen blieben, indes die großen Wespen hindurchfuhren, auch wiederum ein Sinn- und Spiegelbild der Zeit und der menschlichen Dinge. Er lernte, daß, wenn er dreimal den Rosenkranz betete und zweimal das Credo, just acht Minuten vergangen waren. Er übte sich im Gehen, erst mit Hilfe eines Stocks, dann ohne einen solchen, und des Nachts trat er bisweilen vor die Hütte und betrachtete den Sternenhimmel.

Mit dem Brouza, der hin und wieder auch tagsüber in die Hütte kam, denn Vorsicht war nun minder nötig, führte er lange Gespräche. Uber die Natur der Menschen, und wie auch das Glück der Mächtigen und Reichen nur armselig sei, gemessen an der Unersättlichkeit ihrer Wünsche. Über die großen Kräfte, die in Edelsteinen und Metallen, im Blut gewisser Tiere und in den Pflanzen, die man bei Vollmond pflückte, verborgen lagen. Von einem Meerfisch berichtete er ihm, den die Gelehrten »Uranoscopus« nannten, der habe nur ein Auge und mit diesem blicke er immerdar den Himmel an, und die Menschen, begnadet mit zwei Augen, täten dies nicht. Er wies dem Brouza zwei Gestirne, die sich unablässig nach Osten bewegten, einem unbekannten Ziel zustrebend, der eine in höchster Eile fliehend, der andere in Verfolgung. Und dieses Zeichen, sagte er, bedeute den Tod hoher Prinzen, Verräterei der Bedienten, Veränderung in der Religion und in der Regierung vieler Länder, kurz, großen Jammer. Der Astrologe könne diese Ereignisse wohl voraussehen, aber nicht abwenden. Denn die höchste Weisheit, die zu erlangen sei, liege beschlossen in den Worten: Herr, Dein Wille geschehe, so im Himmel, wie auch auf Erden.

Der Brouza wiederum berichtete dem van Delle, daß der Kaiser höchst ungehalten sei über den Erzbischof von Prag, den Olmützer Bischof und den heiligen Wenzel, denn er habe sich bei der Prozession mit dem Kerzenlicht den Bart versengt. Er habe ferner der Hofküche zwei Dukaten bewilligt, um die Klauen der Wildschweine, die auf die kaiserliche Tafel kamen, zu vergolden. Und daß die Metzger der Judenstadt, die das Fleish für die Fütterung der im Hirschgraben gehaltenen wilden Tiere beizustellen gehalten waren, an das Obersthofmeisteramt einen Brief gerichtet hatten, der mit Segenswünschen und einer Anrufung Gottes in hebräischer Sprache begann, und die hebräischen Schriftzeichen sähen Schüreisen, Krückstöcken, Ofenröhren und Mehlschaufeln gleich.

Am achtzehnten Tag kam der Brouza zu einer ungewohnt frühen Stunde schon am Vormittag in die Hütte.


»Herr«, sagte er, als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, »ich habe kaum Atem, so eilig bin ich zu Euch gelaufen.«


»Und was bringst du für Nachricht?« fragte der Alchimist.


»Die allerbeste, die Ihr Euch wünschen könnt«, gab der Brouza zur Antwort, und dann berichtete er, daß die beiden Hakenschützen, die vor der Tür der Werkstatt postiert waren, ihrem Leutnant gemeldet hätten, daß er, der van Delle, sich schon seit zwei Wochen nicht gezeigt habe, auch sonntags nicht wie gewohnt zur Messe gegangen sei. Der Leutnant habe das dem Kommandanten der Leibwache rapportiert und hinzugefügt, daß die Türe versperrt sei, und daß auf Pochen keine Antwort käme. Der Kommandant der Leibwache habe dem Obersthofmarschall Meldung erstattet und dieser habe die Tür der Werkstatt gewaltsamm öffnen lassen.


»Das heißt also«, unterbrach ihn der van Delle, »daß sie vielleicht jetzt schon auf der Suche nach mir sind.« »Nein«, sagte der Brouza. »Hört nur weiter. Als man dem Kaiser hinterbrachte, daß Ihr fort seiet, blickte er kaum auf. Er legte seine Hand zuerst an die Stirn und dann auf sein Ohr, wollte damit sagen, der Kopf schmerze ihn und er wolle nichts weiter hören. Dann fuhr er fort, das Werk einer Uhr zu zerlegen, damit hat er sich den ganzen Morgen beschäftigt. Aber der Phillip Lang, der dabei stand, sagte, man solle Seine Majestät mit der Sache nicht turbieren, Seine Majestät bedürfe Eurer nicht mehr, er habe einen anderen Goldmacher in Dienst genommen, der verstünde diese Kunst besser als alle Philosophen, Alchimisten, Schwarzkünstler und Zigeuner.«


»Einen anderen Goldmacher?« rief der van Delle aufs höchste erregt. »Wie heißt er? Woher kommt er? Wo befindet er sich?«


»Das weiß ich nicht«, erklärte der Brouza. »Der Philipp Lang wollt' es mir nicht sagen, er macht, scheint es, ein großes Geheimnis daraus. Aber es muß wohl wahr sein, denn seit Wochen hat der Kaiser alle Taschen voll Gold, und er gibt es aus, als hätte er noch viel mehr zu erwarten, versteckt es nicht, wie vordem, in Ritzen und Spalten. Erst gestern hat er fünfzehn Dukaten für ein Konterfei Christi bezahlt, er hat ihrer schon ein Dutzend, aber er kann ihrer gar nicht genug bekommen. Ich sag', ein Narr soll nicht kaufen und ein Blinder nicht laufen. Wenn ich ihm morgen einen groben Kiesel hinaufbring', und sag', das sei der Stein, auf dem der Patriarch Jakob gesessen sei, als er die Himmelsleiter sah, — ich wett' mit Euch, er kauft ihn.«


Der van Delle schwieg und starrte vor sich hin. Nach geraumer Zeit erst schien er wie aus einem Traum zu erwachen. Er bat den Brouza, er möge ihn allein lassen, er müsse mit sich zu Rate gehen, was nun zu tun sei. Er ergriff die Hand des Brouza, drückte sie und dankte ihm dafür, daß er soviel getan habe und daß er sogar bereit gewesen sei, sein Leben einzusetzen, um ihn zu retten.


»Das Gott erbarm', was ist da groß zu danken?« meinte der Brouza verlegen und verwirrt. »Ihr wißt, wie ich Euch zugetan bin. Euch zuliebe würde ich auch Kettensklave werden.«


Als der van Delle dann allein war, kam ein Ubermaß von Schwermut über ihn. Mit unüberwindlichem Schmerz wurde er dessen inne, daß sein Leben sinn- und wertlos gewesen war. Es war ihm nicht gelungen, das große Magisterium, die Blei in Gold verwandelnde Essenz, die man auch den »roten Löwen«, das »fünfte Element« und die »Taube des Trismegistos« nannte, zu finden, aber einem anderen war es gelungen. Strebend und immer wieder enttäuscht war er über all seiner Müh' ein alter Mann geworden. Was blieb ihm noch im Leben? Hoffnung? Welches Ziel?


Er neigte sich im Geiste vor dem großen, unbekannten und geheimnisvollen Alchimisten, der glücklicher als er gewesen war. Noch einmal blickte er auf sein vergangenes Leben zurück. Es erschien ihm nichtig. Mit seinem Schermesser schnitt er sich die Pulsadern auf.


Der Brouza fand ihn in seinem Blute liegend und ohne Bewußtsein. Er schrie und wollte fort, um Hilfe holen, aber er besann sich. Er nahm eines der Hemden des verstorbenen Kaisers, riß es in Streifen und verband die Handgelenke des van Delle, daß das Blut nicht weiterrinnen sollte. Dann lief er, um einen Arzt herbeizuschaffen.


Der Arzt kam, aber aus dem van Delle war jegliches Leben geschwunden.


Als man ihn am Abend forttrug, um ihn in geweihter Erde zu bestatten, da ging der Brouza hinter der Leiche und schrie, heulte und gebärdete sich unsinnig und wütete gegen sich, so wie er einst geschrien, geheult und gegen sich gewütet hatte, als man seinen Herrn, den Kaiser Maximilian, mit großem Gepränge hinüber nach St. Veit zu Grabe trug.

Der Branntweinkrug

In der Woche zwischen dem Neujahrs- und dem Versöhnungsfest, die man die Bußwoche nennt, in einer Nacht, in der der bleiche neue Mond am Himmel steht, erheben sich auf dem Prager Judenfriedhof die Toten des vergangenen Jahres aus ihren Gräbern, um Gott zu lobpreisen. Es ist ihnen wie den Lebendigen ein Neujahrsfest vergönnt, und sie feiern es in der Altneuschul, dem uralten Hause Gottes, das bis zur halben Höhe seiner Mauern in die Erde versunken scheint. Und wenn sie das Loblied »Owinu Malkenu« — »unser Vater und König« - gesungen und den Almenor dreimal umschritten haben, rufen sie zur Thora. Die, deren Namen sie rufen, weilen noch im Reich der Lebendigen. Doch müssen sie dem Ruf gehorchen und zu denen, die sich da versammelt haben, stoßen, ehe noch das Jahr zu Ende ist, denn ihr Tod ist oben beschlossen.

In dieser Nacht, zu später Stunde, gingen die beiden Hochzeitsmusikanten und Spaßmacher, der Jäckele-Narr und der Koppel-Bär, zwei alte müde Männer, miteinander streitend und einander scheltend durch die Gassen der Judenstadt. Sie hatten bei einer Hochzeitsfeier in der Altstadt für einen Viertelgulden zum Tanz aufgespielt, der JäckeleNarr auf der Geige, der Koppel-Bär auf der Maultrommel, denn die jüdischen Musikanten standen, weil sie die neuesten Tänze kannten, auch bei den Christen in gutem Ansehen. Nach Mitternacht aber war unter den Gästen, von denen einige dem starken Prager Altbier und danach dem Branntwein über Gebühr zugesprochen hatten, eine Schlägerei entstanden, und wie die erste Bierkanne durch die Luft sauste, hatten die beiden Musikanten mit ihren Instrumenten das Weite gesucht, denn wenn Esau trinkt, so sagten sie sich, bekommt Jakob die Prügel. In dem allgemeinen Durcheinander aber hatte Koppel-Bär ein Krüglein mit Branntwein beiseitegebracht und mit sich gehen lassen, und um dieses Branntweins willen war es jetzt zwischen den beiden zu einem Streit gekommen. Nicht daß der Jäckele-Narr sich und dem Koppel-Bär einen Schluck Branntwein vom Hochzeitstisch mißgönnt hätte. Aber dem Koppel-Bär war der Genuß starker Getränke untersagt, denn er war ein Jahr zuvor von einem Schlagfluß gerührt worden und wochenlang darnieder gelegen und noch jetzt zog er beim Gehen den linken Fuß nach. Er hielt sich freilich nicht an das Verbot, er lachte darüber, die lahmen Hunde, sagte er, lasse der Tod am längsten leben. Aber der Jäckele-Narr war aus Sorge um das Leben und die Gesundheit seines Freunds beinahe hypochondrisch geworden.

»Du bist ein arger Dieb, ich schäme mich deiner«, hielt er ihm vor. »Nichts ist vor deinen Diebsfingern sicher. Du würdest, wenn niemand hinsieht, die fünf Bücher Moses stehlen mitsamt dem achten Gebot. Wenn es wenigstens .. . es gab dort eine Sorte Fladen mit Honig und Mohn, die der Tafel eines Königs würdig gewesen wären, und wir haben für den Sabbat nichts im Hause als eine Schüssel Bohnen und ein Stückchen Fisch. Aber Branntwein? Was soll uns der Branntwein? Dir ist er verwehrt und mir ist er zuwider.«

»Dir ist der Branntwein so zuwider wie dem Bären der Honig«, meinte der Koppel-Bär. »Und du weißt auch, daß geschrieben steht: Branntwein zum Fisch macht fröhlich den Tisch. Den Fisch hat Gott uns gegeben. Den Branntwein war er uns noch schuldig. Und so hab' ich ein gutes und verdienstliches Werk getan, indem ich von Esaus Tisch nahm, was für Jakob bestimmt war, denn Gott will, das wir den Sabbat in Fröhlichkeit begehen.«

»Aber nicht mit gestohlenem Branntwein«, fuhr ihn der Jäckele-Narr entrüstet an.

»Um die Wahrheit zu sagen, — ich hab' den Branntwein nicht gestohlen«, erklärte ihm der Koppel-Bär, »ich wußte gar nicht, daß Branntwein in dem Krug ist. Es war mir nur um den Krug zu tun, ich wollt' verhüten, daß einer von den Gewalttätern dort einem anderen mit dem Krug den Kopf zerschlägt. Ich habe also, indem ich den Krug zu mir nahm, einem Menschen aus höchster Not geholfen und ihm Leben und Gesundheit gerettet. Nenn du es, wie du willst, Jäckele-Narr, — ich nenn' es ein verdienstliches Werk. Und den Branntwein habe ich obendrein.«

»Möge er dir in der Kehle steckenbleiben!« sagte zornig und verdrossen der Jäckele-Narr.


»Gott behüte!« rief der Koppel-Bär. »Du sagst, ich soll ersticken, da Gott mich will erquicken? Nimm dich in acht, Jäckele-Narr, du weißt, die ersten Stunden nach Mitternacht, wenn der Hahn auf einem Fuß steht und sein Kamm ist so weiß wie Wolfsmilch, - das sind die Stunden Samaels, da gehen die bösen Wünsche in Erfüllung.«


»So wünsch' ich«, sagte der Jäckele-Narr, »du gingest mit deinem Branntwein zum Henker und brächest dir auf dem Wege Hals und Bein und kämest mir nicht mehr vor die Augen.«


»So geh' ich also«, sagte in weinerlichem Ton der Koppel-Bär, »und komm' nicht wieder und du hast mich in diesem Leben zum letztenmal gesehen.«


Er tat, als ginge er, und den Branntweinkrug nahm er mit sich.


»Bleib!« schrie der Jäckele-Narr. »Wohin willst du im Dunkeln laufen?«


»Dir kann man es nicht recht machen«, klagte der Koppel-Bär und er ging an des Jäckele-Narr Seite weiter. »Bin ich bei dir, schickst du mich zum Henker. Geh' ich, schreist du: Bleib, wo du bist. Sitz' ich, sagst du, ich vertrödel' die Zeit, lauf ich, heißt es, ich zerreiß' die Schuh'. Schweig' ich, fragst du: Bist du stumm? Red' ich was, so nimmst du's krumm. Bring' ich Seide, willst du Zwilch, bring' ich Bier, verlangst du Milch. Koch' ich Kraut, so willst du Zwiebel, ist mir wohl, so ist dir übel. Mach' ich Knödel, willst du Grütze, heiz' ich ein, schreist du ...«


»Schweig still!« unterbrach ihn der Jäckele-Narr. »Siehst du nichts? Hörst du nichts?«


»... ich schwitze«, beendete der Koppel-Bär seinen gereimten Singsang, und dann blieb er stehen und horchte.


Sie hatten die Breite Basse überquert, waren durch das Belelesgäßchen gegangen und standen jetzt vor dem verfallenen, schwärzlich-grauen Mauerwerk der Altneuschul. Da war ein leises Singen und Summen zu vernehmen, und aus den schmalen Fenstern des Gotteshauses kam ein Lichtschein.


»Das ist doch sonderbar, daß da drinnen noch Leut' sind zu so später Stunde«, meinte der Koppel-Bär.


»Sie singen das >Owinu Malkenu<, als wäre heut Neujahr«, flüsterte der Jäckele-Narr. »Komm, gehen wir! Es will mir hier nicht gefallen.«


»Sie haben die Kerzen angezündet und singen«, sagte der Koppel-Bär. »Ich muß doch sehen, wer die Leut' sind. Ich muß doch wissen ...«


»Was brauchst du zu sehen, was brauchst du zu wissen!« redete der Jäckele-Narr auf ihn ein. »Komm, sag' ich dir. Es ist hier nicht gut sein.«


Doch der Koppel-Bär hörte nicht auf ihn, er ging über die Gasse auf die Fenster zu, aus denen der Lichtschein kam. Der Jäckele-Narr folgte ihm mit schlotternden Gliedern. So groß seine Furcht auch war, den Freund und Gefährten so vieler Jahre wollte er dennoch nicht allein lassen. Die Geige, die in ein Stück schwarzen Tuchs gehüllt war, trug er unter dem Arm.


»Ich mein', daß es da nicht richtig zugeht«, sagte der Koppel-Bär, der an eines der Fenster getreten war und hinabblickte. »Die Kerzen brennen und ich höre Stimmen und allerlei Geräusch, aber keine Menschenseele ist zu sehen. Und einer hustet so, wie der Neftel Gutmann selig gehustet hat, du weißt, unser Nachbar, der Lebkuchenbäcker, den sie im vorigen Jahr hinausgetragen haben.«


»Möge er unser im Guten gedenken!« sagte am ganzen Leib zitternd der Jäckele-Narr, und die kalten Schweißtropfen traten ihm auf die Stirne. »Er hustet also auch im ewigen Leben, der Neftel Gutmann. Ob er wohl dort auch Lebkuchen backen darf? Und wenn er sie bäckt, — wer nimmt ihm sie ab? Koppel-Bär, ich habe Furcht. Komm fort von hier, hab' ich dir gesagt, es ist hier nicht geheuer, — warum willst du nicht auf mich hören? Sie feiern ihr Fest, — was haben wir dabei zu tun? Komm, wir wollen gehen. Es ist kalt geworden und ein Schluck Branntwein aus deinem Krug, gestohlen oder nicht gestohlen, täte uns, bevor wir zu Bett gehen, beiden gut.«


»Ich bleibe«, erklärte der Koppel-Bär. »Ich will doch sehen, was daraus wird. Wenn du Furcht hast, dann geh!«


»Um deinetwillen hab' ich Furcht«, jammerte der Jäckele-Narr. »Du sollst leben hundert Jahr', aber du weißt, was der Arzt gesagt hat und wie es mit deiner Gesundheit bestellt ist. Ich will's nicht hören, daß sie dich rufen.«


»Hab um meinetwillen nicht Furcht«, sprach ihm der Koppel-Bär zu. »Oft lebt ein alter Scherben länger als ein neuer Topf. Und was kann mir denn geschehen, als daß ich befreit werde aus der Enge und erlöst aus der Hast.«


»Da sieht man wieder, wie du immer nur an dich denkst«, rief erschreckt und verstört der Jäckele-Narr. »Du wirst befreit sein und erlöst sein, aber was aus mir wird, wenn ich ohne dich zurückbleibe, danach fragst du nicht. Eine schöne Treue und brüderliche Liebe, die du mir da bezeigst!«


»Sei still!« gebot ihm der Koppel-Bär. »Sie haben aufgehört zu singen, das >Owinu Malkenu< ist zu Ende.«


»Jetzt—«, sagte mit stockendem Atem der Jäckele-Narr, »jetzt rufen sie zur Thora.«


Und wie er das gesagt hatte, da erhob sich unten in der unsichtbaren Versammlung eine Stimme:


»Den Schmaje, Sohn des Simon, rufe ich. Den Metzger.«


»Der die Fleischbank in der Joachimsgasse hat«, fügte eine andere Stimme erläuternd hinzu, so als wolle sie verhüten, daß in dieser Sache eine Verwechslung unterlaufe.


»Schmaje, Sohn des Simon! Du bist gerufen«, erklang die Stimme des ersten Sprechers nochmals, und dann war Stille.


»Schmaje, Sohn des Simon, — das ist der Metzger Nossek. Ich kenn' ihn und du kennst ihn auch«, sagte der Koppel-Bär. »Er schielt ein wenig, doch er hat ehrlich Fleisch verkauft sein Leben lang, hat immer richtiges Gewicht gegeben.«


»Komm weg von hier! Ich will hier nichts mehr hören«, rief der Jäckele-Narr.


»Und jetzt liegt er«, sprach der Koppel-Bär weiter, »in seiner Stube und schläft und weiß nicht, was über ihn beschlossen ist, und daß der Todesengel Gewalt über ihn bekommen hat. Und morgen in der Früh' erhebt er sich wie alle Tage und geht wie alle Tage an seine Arbeit. Spreu sind wir Menschenkinder, der Engel des Herrn bläst uns hinweg. — Meinst du nicht, daß wir dem Schmaje Nossek schuldig sind, ihm zu sagen, was wir vernommen haben und daß er sich bereit halten muß, bald aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit zu gehen?«


»Nein«, entschied der Jäckele-Narr. Zu solcher Botschaft sind wir nicht bestellt. Auch würde er uns nicht glauben, daß sein Name gerufen worden ist, er würde sagen, wir hätten uns verhört, oder vielleicht sogar, wir hätten's nur geträumt. Denn die Menschen sind so geartet, daß sie auch in ihrer schlimmsten Not ein Fünkchen Hoffnung zu finden und es anzufachen wissen. Komm jetzt, Koppel-Bär, denn wenn sie dich riefen, — ich könnt' es nicht ertragen.«


»Den Mendl, Sohn des Ischiel, rufe ich. Den Goldschmied«, ertönte in diesem Augenblick die Stimme des Unbekannten, der zur Thora rief.


»Der auch Perlen, einzeln oder nach dem Unzengewicht, kauft und verkauft«, ließ sich die andere Stimme vernehmen. »Der das Haus und den Laden in der Schwarzen Gasse hat.«


»Mendl, Sohn des Ischiel! Du bist gerufen«, ertönte die erste Stimme nochmals.


»Das ist der Mendl Raudnitz«, sagte, wie wiederum Stille war, der Koppel- Bär. »Um den wird es nicht gar viel Klagens geben. Sein Weib ist ihm gestorben, und mit seinen Kindern lebt er seit Jahren in Unfrieden. Er ist ein strenger und harter Mann, und wenn er an den Feiertagen auf seinem Platz in der Schul sitzt, zankt er sich mit seinen Nachbarn. Er hat keinem Menschen jemals etwas Gutes getan und sich selbst auch nicht. Vielleicht sollten wir ihm sagen, daß er gerufen ist und daß es Zeit für ihn wäre, sich mit seinen Kindern zu versöhnen.«


»Nein«, entschied der Jäckele-Narr. »Koppel-Bär, du kennst die Menschen nicht. Er würde sagen, es sei nicht wahr und wir hätten es aus Bosheit erfunden, um ihn zu erschrekken. Er wird niemals glauben, daß es die Wahrheit ist, er wird eine Lüge finden und sich mit ihr getrösten. Denn er will auch nicht gerne von dieser Welt scheiden und von dem Gold und dem Silber in seinem Laden. Doch muß er Gold und Silber lassen, wenn ihn der Tod holt von der Gassen.«


Der Koppel-Bär schüttelte unzufrieden den Kopf. Das Versemachen war sein Teil und des Jäckele-Narr Arbeit war, sich die Späße für die Hochzeitsfeste auszudenken.


»Warum von der Gassen?« wendete er ein. »Der Engel Gottes kann ihn ebensogut aus der Stube oder aus dem Laden holen.«


»Da hast du recht«, gab der Jäckele-Narr zu. »Gold und Silber muß er lassen, wenn ihn der Tod bekommt zu fassen.« »Bekommt zu fassen, das will mir auch nicht recht gefallen, es klingt grob«, erklärte der Koppel-Bär. »Wie wäre es so: Gold und Silber läßt er stehen, wenn Gott ihn heißt von hinnen gehen, — klingt das nicht besser?«


».. .wenn Gott ihn heißt von hinnen gehen, — ja, das klingt nicht schlecht«, räumte der Jäckele-Narr ein. »Man hat mir gesagt, daß er in kurzem wieder ehelich werden will, der Mendl Raudnitz. Aber ob ich bei dieser Hochzeit werd' aufspielen können, da ich nun weiß, daß er so bald — wie sagtest du? — von hinnen gehen muß, und ob mir auch nur ein einziger guter Spaß gelingen wird ...«


»Mit wem will er ehelich werden?« wollte der KoppelBär wissen.


»Ich müßt' erst darüber nachdenken, ob man mir es gesagt oder nicht gesagt hat«, gab der Jäckele-Narr zur Antwort. »Aber wenn man es mir gesagt hat, so hab' ich es vergessen.«


»Du kannst auch nichts im Kopf behalten«, schalt der Koppel-Bär mit ihm. »Alles mußt du hören, alles erfahren, was dich angeht und was dich nichts angeht, immer bist du auf der Gassen, um etwas aufzuschnappen, und wenn wo zwei zusammenstehen, bist du der dritte. Und dann vergißt du alles, was du gehört hast und was du nicht gehört hast, nichts bleibt dir im Kopf und eines Tages wirst du nicht wissen, wer du bist und wie du heißt.«


»Jakob, Sohn des Juda, den sie den Jäckele-Narr nennen! Dich rufe ich«, erklang die Stimme.


»Der sich sein Leben lang mit seiner Geige ernährt hat. Der auch oft am geheiligten Sabbat zu Gottes Ehr und Preis in der Schul aufgespielt hat, daß jedermann seine Freude daran hatte«, erläuterte die andere Stimme, als gäbe es in der Judenstadt oder sonst irgendwo im Land noch einen zweiten Jäckele-Narr, der mit diesem nicht verwechselt werden sollte.


»Jakob, Sohn des Juda! Du bist gerufen«, kam die erste Stimme wieder.


Da war eine Minute lang ein banges Schweigen und dann sagte, zutiefst erschrocken, aber dennoch gefaßt, der Jäckele-Narr:


»Gelobt seist Du, ewiger und gerechter Richter! Dein Tun ist ohne Fehle.«


»Allmächtiger!« schrie der Koppel-Bär auf. »Hab' ich recht gehört? Was ist mit dir geschehen, Jäckele-Narr? Was will man von dir?«


Allgütiger! Schenk mir jetzt eine Lüge! flehte der Jäckele-Narr zu Gott, doch nichts fand sich, womit er den Koppel-Bär auch nur für einen Augenblick hätte täuschen und betrügen können. Und so sagte er, indem er sich bemühte, seiner Stimme einen gleichmütigen Ton zu geben:


»Was soll geschehen sein? Man hat mir bestätigt, daß jedermann seine Freude daran hatte, wenn ich am Sabbat in der Schul aufspielte. Das ist eine große Ehre, — gönnst du sie mir nicht?«


»Ich vergönn' dir die Ehr' und daß du sollst leben und gesund sein. Aber sie haben dich gerufen! Hast du's denn nicht gehört?« jammerte und schluchzte der Koppel-Bär.


»Ich hab' es gehört, ich bin nicht taub«, erklärte der Jäkkele-Narr. »Aber ich weiß nicht, — mir ist gar nicht so zumut', als ob ich schon der anderen Welt angehörte, ich fühle mich recht munter. Auf mein Wort, Koppel-Bär, — ich trau' der Sache nicht. Da liegt ein Irrtum vor, — oder steckt am Ende ein Betrug dahinter? War es dir nicht auch, als ob du die beiden Stimmen kennen müßtest?«


Aber die Lüge, die er nun endlich gefunden hatte, wollte nicht verfangen, das Weinen und Lamentieren des KoppelBär nahm kein Ende. Und so versuchte es der Jäckele-Narr mit einem anderen Trost.


»Hör mich an, Koppel-Bär!« begann er. »Hast du nicht heut bei dem Hochzeitsessen den Leuten das Lied aufgespielt und gesungen: >Wenn uns klingt in der Tasche Geld, gibt es für uns keine schönere Welt?< Nun merk auf: An Geld wird es uns nicht fehlen. Ich wollt' es dir schon lange sagen, nur aus Vergeßlichkeit hab' ich es bis heute anstehen lassen. Ich hab' mir zwei und einen halben Gulden Erspartes beiseite gelegt, damit wollen wir uns jetzt gute und vergnügte Tage machen. Du hast sie heute auftragen gesehen Hühner, Feldhühner, Enten und Gänse, wir allein aßen nicht davon, für uns war es unreine Speise. Dafür gehst du morgen mit mir auf den Markt und wir kaufen für den Sabbat einen Kapphahn ein oder eine Gans, denn ich will auch mal wissen, wie schmeckt ein guter Bissen.«


»Schweig mir davon, ich will's nicht hören, für mich gibt es keinen guten Tag mehr«, klagte der Koppel-Bär. »Für mich gilt, was geschrieben steht: Asche wird meine Speise sein, und mit Tränen werde ich meinen Trank mischen. Wenn ich daran denke, daß sie dich in schlechte Leinwand gehüllt hinaustragen werden ...«


Der Jäckele-Narr tat so, als wäre es nur die schlechte Beschaffenheit der Totenlaken, die dem Koppel-Bär Kummer bereitete.


»Mach doch von der Leinwand nicht so viel Aufhebens, sie mag gut sein oder schlecht«, sagte er. »Was willst du denn, du weißt ja, daß die Beerdigungs-Bruderschaft drei Kreuzer und nicht mehr für die Elle zahlt, wenn es sich um ein Armenbegräbnis handelt. Wie soll da die Leinwand anders als grau und zerschlissen sein! Für drei Kreuzer die Elle darfst du nicht zu viel verlangen. Ja, wenn ich der Mordechai Meisl wäre! Den werden sie dereinst in schwerem Doppeldamast, von dem die Elle einen halben Gulden kostet, zu Grabe tragen.«


»Den Mordechai, Sohn des Samuel, rufe ich. Der sich auch Markus nennt«, erscholl die Stimme.


»Der ein armer Mann ist«, setzte die andere Stimme fort. »Der nicht einen halben Gulden im Hause hat. Der nichts besitzt, nichts sein eigen nennt.«


»Mordechai, Sohn des Samuel! Du bist gerufen«, ließ sich die erste Stimme noch einmal vernehmen.


»Hast du's gehört, Jäckele-Narr?« rief der Koppel-Bär.


»Der Mordechai Meisl! Der große Handelsherr! Auch der ist gerufen.«


»Ja, auch der Mordechai Meisl«, sagte der Jäckele-Narr und dabei begann er leise vor sich hinzulachen. »Der ein armer Mann ist, — hast du das auch gehört? Der nichts sein eigen nennt, — was hältst du davon? Merkst du nicht etwas, Koppel-Bär?«


»Ja, das ist sonderbar, ich versteh' es nicht. Was hat das zu bedeuten?« fragte verwirrt der Koppel-Bär. »Daß er.. . daß du ...«


»Daß da unten zwei sind, die sich einen Spaß mit uns gemacht haben, einen recht albernen Spaß«, erklärte ihm der Jäckele-Narr. »Und jetzt führen sie einfältige Reden. Oder is^t es nicht einfältig, zu sagen, daß der Mordechai Meisl ein armer Mann ist und nicht einen Gulden im Hause hat? Der Mordechai Meisl, dem das Geld aus allen Ländern zuläuft, — der ein armer Mann? Das sind Narren, die so ungereimtes Zeug schwätzen. Du bist den beiden auf den Leim gegangen, Koppel-Bär, aber mir war es von Anfang an, als müßt ich ihre Stimmen kennen.«


»Und du kennst sie?« rief der Koppel-Bär und haschte nach diesem Fünkchen einer Hoffnung.


»Der Libmann Hirsch, der Goldsticker, — da hast du den einen«, sagte der Jäckele-Narr. »Du erinnerst dich doch, — er hat den Auftrag bekommen, die Stickerei auf der brokatenen Fahne, die in der Altneuschul hängt, auszubessern. Dazu hat er die heutige Nacht verwendet, und damit ihm bei der Arbeit die Zeit nicht lang wird, hat er sich seinen Vetter, den Haschel Selig mitgebracht, du weißt, den Knopfmacher, die beiden stecken ja immer zusammen.« »Da könntest du, meine ich, recht haben«, sagte nachdenklich und mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung der Koppel-Bär.


»Sie haben uns kommen gehört«, fuhr der Jäckele-Narr fort, und er wurde dessen immmer mehr sicher, daß seine Erklärung richtig, ja, daß sie die einzig mögliche sei, »laut genug haben wir geredet, da haben sie sich diesen Spaß ausgedacht, wollten sich ein Gelächter aus uns machen.«


»Sie sollten sich schämen!« entrüstete sich der KoppelBär. »Erwachsene Männer sind sie und haben solche Narreteien im Kopf.«


»Soll ich hinunterrufen, daß sie erkannt sind und daß sie sich schämen sollten, solche Bubenstreiche zu begehen?« fragte der Jäckele-Narr, für den kein Zweifel mehr bestand, daß da unten der Goldsticker in Gesellschaft des Knopfmachers bei der Arbeit saß.


»Ach, laß sie, scher dich nicht um sie!« sagte der KoppelBär, den das Glück, seinen Freund und Gefährten behalten zu dürfen, verträglich stimmte. »Es steht geschrieben: Du sollst des Toren nicht achten und ihm nicht Anwort geben in seiner Narrheit.«


»Dann also ist mein Rat, daß wir nicht länger hier stehen, sondern nach Hause gehen, und daheim wollen wir in Ruhe und in Freude von unserem Branntwein trinken«, erklärte der Jäckele-Narr. »Ich ein bissei, du ein bissei, und eh' du's merkst...«


»... ist leer die Schüssel«, fügte der Koppel-Bär, da sein Geselle stockte und nicht weiterkam, den Vers zu Ende.


»Die Schüssel?« rief der Jäckele-Narr. »Welche Schüssel? Wer trinkt denn Branntwein aus einer Schüssel?«


»Man könnte ihn recht gut auch aus einer Schüssel trinken«, wehrte sich der Koppel-Bär. »Aber wie du willst, es geht auch so: Ich einen Zug, du einen Zug, mit einemal ist leer.. . Nun?«


»... der Krug«, beendete der Jäckele-Narr mit einem Wiegen des Kopfes, das Anerkennung bedeutete, den Vers.


»Ja, — aber wo ist er? Ich habe ihn nicht mehr«, wehklagte der Koppel-Bär. »Ich muß ihn, als die unten deinen Namen riefen, in meinem Schrecken fallen gelassen haben.«


Der Jäckele-Narr kroch auf allen vieren, tastete die Erde ab und stieß auf den Krug.


»Da ist er«, sagte er und richtete sich auf. »Koppel-Bär, das Herz ist mir stillgestanden. Gelobt sei Gott, daß er es bei dem Schrecken hat bewenden lassen. Ich meinte schon, er sei zerbrochen.«

Die Getreuen des Kaisers

Am Abend des 11. Juni 1621— neun Jahre nach des Kaisers Tod — begab sich der Anton Brouza, der einstmals Narr, später Ofenheizer auf der Prager Burg gewesen war und sich nunmehr den »vertrauten Freund der verewigten Majestät« nannte, auf seinen gewohnten Weg, der ihn von seiner Behausung auf dem Hradschin über winkelige Treppen, durch Torbogen, Durchlässe und steile Gäßchen in eines der Kleinseitner Wirtshäuser führte, in denen er seine Späße an den Mann zu bringen und auf Kosten anderer eine Mahlzeit einzunehmen pflegte, denn sein eigenes Geld gab er nur ungern aus. Seine Wahl war diesmal auf das Wirtshaus »Zum silbernen Hecht« gefallen, das auf der Insel Kampa lag, denn hier war er schon einige Wochen lang nicht gewesen, auch behandelte der Hechtwirt, der als Sechzehnjähriger Küchenjunge in der Prager Burg gewesen war, ihn, den kaiserlichen Ofenheizer, mit besonderer Hochachtung.

Seit der Schlacht am Weißen Berg, in der sich das Schicksal Böhmens entschieden hatte, war ein halbes Jahr vergangen, und in dieser Zeitspanne war allerlei geschehen. Die böhmischen Stände hatten ihre verbrieften alten Bechte und Freiheiten verloren. Der letzte böhmische König, den man den Winterkönig nannte, war auf der Flucht, und in der Prager Burg residierte ein kaiserlicher Kommissär. Um den Besitz der Kirchen, die man den Protestanten und den »böhmischen Brüdern« weggenommen hatte, stritten sich jetzt die Jesuiten mit den Dominikanern und den Augustinern. Die protestantischen Prediger hatte man des Landes verwiesen. Wer an dem Aufruhr von 1618 teilgenommen hatte, ja, wer auch nur im Verdacht stand, ihn gutgeheißen oder die Rebellen begünstigt zu haben, wurde eingekerkert, und wenn er mit dem Leben davonkam, so verfiel doch sein Hab und Gut dem Fiskus. So verarmten alte Geschlechter und ihre Namen verschwanden aus der Geschichte Böhmens.

Andere Namen waren bestimmt, im Gedächtnis des Volkes weiterzuleben. So die Namen der 27 Personen des Herren-, Ritter- und Bürgerstands, die in den frühen Morgenstunden eben dieses Tages, des 11. Juni 1621, auf dem Altstädter Ring als Hochverräter hingerichtet worden waren. Unter ihnen befanden sich der Führer des protestantischen Adels, Graf Schlick, ein Deutscher, das Haupt der »böhmischen Brüder«, Herr Wenzel Budowetz auf Budow, der aus seinem brandenburgischen Asyl nach Böhmen zurückgekehrt war, um, wie er sagte, seine Heimat jetzt, da sie in Not sei, nicht im Stiche zu lassen, Dr. Jessenius, der berühmte Arzt und Anatom, der als erster in Böhmen öffentlich einen Leichnam seziert hatte, und der Präsident der böhmischen Hofkammer, Christoph Harant, Herr auf Pohlitz, der in seiner Jugend die Länder der Levante bereist und über seine Abenteuer in Ägypten, Palästina und Arabien ein zweibändiges Werk in böhmischer Sprache verfaßt hatte.

Angst, Beklemmung und Niedergeschlagenheit sprachen aus den Gesichtern der Menschen, denen der Brouza auf seinem Weg begegnete. Dies aber schien ihm seine Aussicht, eine Mahlzeit zu erlangen, eher zu vermehren, als zu vermindern. Er kannte die Menschen, er wußte, daß an solch einem Tag keiner gern allein blieb. Viele wollten die Meinung anderer Leute hören, die sie für besser unterrichtet hielten, viele die eigene zur Geltung bringen, jeder erwartete vom anderen ein wenig Trost, Zuspruch und Ermutigung, und so zog es sie alle in die Wirtsstuben.

Freilich, die Zeiten waren schlecht. Drei Jahre schon währte der Krieg, und an einen baldigen Friedensschluß glaubte niemand. Handel und Wandel stockten, die Märkte blieben unbeschickt, die Teuerung nahm zu, das Geld verlor seinen Wert. Man konnte für zwei Gulden nicht das bekommen, was man zu Kaiser Rudolfs Zeiten mit einem halben Gulden bezahlt hatte. Man fragte sich, wohin das noch führen solle. Doch dem Brouza gelang es jetzt bisweilen leichter als zuvor, sich mit der Erzählung erlebter oder erfundener Geschichten, die Rudolf den Zweiten, seinen Hof und sein Gesinde zum Gegenstand hatten, eine Mahlzeit oder die Butter aufs Brot zu verdienen. Denn die Prager Bürger ließen sich gerne von den vergangenen Zeiten berichten, da die gegenwärtigen so betrüblich, so düster und so beängstigend waren.

In der Schankstube des »Silbernen Hechten« wurde, als der Brouza eintrat, von nichts anderem als von den Hinrichtungen, die an diesem Morgen vollzogen worden waren, gesprochen. Der Gerichtsdiener Johann Kokrda, der die Nacht hindurch auf dem Altstädter Ring ausgeharrt hatte, um sich unter den Zuschauern einen guten Platz zu sichern, hatte seine große Stunde. Ohne sich von Fragen und Zwischenrufen beirren zu lassen, berichtete er der Reihe nach, was er gehört und gesehen hatte. Die ganze Nacht über habe man bei Fackelschein an dem Gerüst gearbeitet, und des Morgens sei es nach all dem Hämmern und Pochen furchterregend dagestanden: vier Ellen hoch, zwanzig Ellen im Geviert, und alles, auch der Richtblock, mit schwarzem Tuch überzogen. Für die Behörden, die Geistlichkeit und den Adel seien Tribünen errichtet worden, das gemeine Volk habe dicht gedrängt den Platz und die umliegenden Gassen gefüllt. Dreihundert Hellebar diere und vierhundert Reiter von des Obristen Waldstein oder Wallenstein Regimentern hätten die Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Fliegende Händler hätten den Wartenden, soweit man zu ihnen gelangen konnte, Wurst, Käse, Bier und Schnaps verkauft. Dann seien unter dem Wirbel der Trommeln einer nach dem anderen, ihrer Rangordnung entsprechend, die Verurteilten herbeigeführt worden. Als erster, wie es sich gehörte, der Graf Schlick. Er sei in schwarzen Sammet gekleidet gewesen, habe ein Büchlein in der Hand gehalten und eine gelassene Miene zur Schau getragen. Als sein Kopf fiel, habe eine Frau in der Menge »Du heiliger Märtyrer!« gerufen, bis hinauf zu den Tribünen habe man es gehört, und die Waldsteinschen Reiter hätten versucht, zu ihr zu gelangen, um sie festzunehmen, da seien etliche Leute niedergestürzt und einer sei von Pferdehufen zu Tode getroffen worden, die Frau aber habe sich in Sicherheit gebracht. Als dann die Ruhe wieder hergestellt war, habe der Herr von Budowetz das Schaff Ott bestiegen, von keinem Priester begleitet, denn der Trost und Beistands eines kalvinistischen Priesters sei ihm nicht bewilligt worden und die Begleitung eines katholischen habe er verschmäht. Er habe die Zuschauer auf dem Platz mit Freundlichkeit gegrüßt, zum Abschied mit der Hand gewinkt und dem Henker einiges Geld gereicht. Und die Leute unten hätten ihm zugerufen: »Lebewohl, Wenzel! Laß dir's droben gut gehen auf der ganzen Linie!« Dieses »auf der ganzen Linie« hätte ihm Freude bereitet, meinten die Leute, es sei nämlich eines seiner Lieblingsworte gewesen. »Das Evangelium hochhalten auf der ganzen Linie«, »dem Teufel widerstehen auf der ganzen Linie«, — dergleichen hatte man oft von ihm gehört. Als dritter sei Herr Dionys von Czernin auf Chudenitz an die Reihe gekommen. Während er die Stufen des Gerüstes hinaufstieg, habe sein Bruder Hermann, der unter den adeligen Zuschauern seinen Platz hatte, sich von diesem erhoben und die Tribüne verlassen. Dabei habe er sich geschneuzt oder sich vielleicht die Augen gewischt, — er, der Kokrda, habe das von seinem Platze aus nicht mit Sicherheit unterscheiden können.

Auf all dies hörte der Brouza nicht, es war ihm nicht wichtig. Ihm ging es um eine Mahlzeit. Prüfend zog er den Geruch der Speisen durch die Nase. Sein Blick fiel auf eine Schüssel mit Blutwurst, Kraut und Knödeln, die einem der Gäste soeben aufgetischt worden war. Von dem Duft dieses Gerichtes angezogen, trat er an den Tisch und erkannte hinter der Schüssel seinen Freund und Wirtshauskumpan, den Sattlermeister Votruba.

»Da seid ihr ja. Laßt es Euch nur schmecken«, begrüßte er ihn mit der Herablassung, die er als ehemaliger Hofbediensteter der übrigen Menscheit schuldig zu sein vermeinte. »Nicht jedem geht es in diesen Zeiten so gut, aber ein Hundsfott, wer es Euch mißgönnt, — wie der Adam Sternberg, Seiner verewigten Majestät Oberststallmeister, immer gesagt hat.«

Der Votruba, der den Mund voll hatte, gab ihm mit der Hand ein Zeichen, er solle stille sein, sich setzen und dem Kokrda zuhören. Der Kokrda berichtete, daß einer der Verurteilten, der Herr Zaruba auf Zdar, sich geweigert habe, um sein Leben, das ihm geschenkt werden sollte, zu bitten, und daß er dann gleich den anderen den Tod durch Henkershand erlitten habe.

»Verschluckt Euch nur nicht!« sagte indessen der Brouza zum Votruba. »An einer Blutwurst mit Kraut und Knödeln ist schon manch einer erstickt, ich weiß nicht, ob es ein schöner Tod ist. Wenn Ihr heruntergebracht habt, was Euch in der Kehle steckt, dann sagt mir, wer hierzulande den Regen am frühesten merkt. Das ist eine Frage, die ich dereinst Seiner Majestät, dem verewigten Kaiser vorgelegt habe. Er könnt' es mir nicht sagen, der gute Herr, und so mußte er mir zwei Taler bezahlen. Strengt also Euren Verstand an, vielleicht findet ihr's heraus. Wenn nicht, — Euch mach' ich's billiger, Euch soll es nur eine Kanne Bier kosten. Gilt der Handel?«

Der Vortruba überlegte, wo bei dieser Sache ein Vorteil für ihn heraussähe. Er fand ihn in dem erhebenden Gedanken, daß ihm und Seiner Majestät die gleiche Frage vorgelegt worden sei. Der Kokrda hatte indessen seinen Bericht beendet. Er verabschiedete sich, indem er etliche Hände schüttelte und bald wiederzukommen versprach, und ging dann, um in einem anderen Wirtshaus eine neue Zuhörerschaft um sich zu versammeln.

»Nun?« mahnte der Brouza den Votruba. »Gilt der Handel? Ich erwarte Eure Resolution und Antwort, — wie der verewigte Kaiser zu seinem Geheimen Rat, dem Hegelmüller immer gesagt hat.«

»Hegelmüller? Wer spricht da vom Hegelmüller?« kam vom Nachbartisch eine Stimme. »Bei meiner Seele, es ist der Brouza. Laß dich ansehen, Mensch! Wieviel Jahre ist es her, daß ich dein plattnäsiges Diebsgesicht zuletzt gesehen habe?«

»Herr!« sagte der Brouza mit Würde zu dem Mann am Nachbartisch. »Wählt Eure Worte mit mehr Vorsicht. Ich kenn' Euch nicht.«

»Wie?« rief der Mann verwundert und belustigt. »Du kennst den Svatek nicht? Dem du, weiß Gott wie oft, zugesehen hast, wie er Seiner Majestät zur Ader ließ, die Haare kräuselte, den Bart schor? Den Svatek kennst du nicht, du Kohlenstaubschlucker?«

»Der Svatek! Der Barbier!« sagte der Brouza, und unsägliche Geringschätzung klang in seiner Stimme, denn in seiner Erinnerung hatte er nur mit den Großen der Prager Burg Umgangs gepflogen, mit dem Obersthofmeister etwa, dem Oberstkämmerer, dem Oberstjägermeister und den Geheimen Räten.

»Der Pfaffe, der geschoren ist, der merkt den Regen als erster«, sagte der Votruba, der bis dahin angestrengt nachgedacht hatte. Aber niemand zollte ihm die erwartete Anerkennung.

»Den Svatek kennst du nicht, du Kellerassel?« rief der Barbier des verstorbenen Kaisers. »Den Svatek, der dir oft genug den Buckel mit Salbe eingerieben hat, wenn es Seine Majestät, unser allergnädigster Herr, für gut befunden hatte, ihn dir zu zerbleuen.«

»Seine Majestät, der verewigte Herr Kaiser, hat höchstselbst und eigenhändig ...«, vernahm man die in Devotion ersterbende Stimme des Votruba.

»Das ist infam gelogen«, protestierte der Brouza in ehrlicher Entrüstung. »Seine Majestät, mein allergnädigster Herr, ist mir jederzeit mit Achtung begegnet, hat mir auch oftmals seine Zuneigung bezeigt und meine Dienste zu schätzen gewußt.«

»Achtung? Zuneigung? Deine — was? Dienste?« lachte der Barbier. »Da halte mich einer, daß ich nicht hinfalle.«


»Dessen habe ich Zeugnis«, erklärte der Brouza.


»Jawohl. Auf dem Buckel«, meinte der Barbier.


Dem Brouza schien es an der Zeit zu sein, dieser Unterhaltung, die seiner Reputation bei den Kleinseitner Bürgern nicht förderlich sein konnte, ein Ende zu machen und sich um die Kanne Bier zu bekümmern, die er von dem Sattlermeister zu erlangen hoffte.


»Zwei stehen immer zusammen, sind einander aber spinnefeind«, wandte er sich, als wäre der Barbier nicht mehr vorhanden, an den Votruba. »Wer sind die beiden? Könnt Ihr mir's sagen?«


»Der Stock und dein Buckel, das ist doch klar«, gab ihm, ehe noch der Votruba den Mund aufmachen konnte, der Barbier zur Antwort, der genau wußte, was gemeint war, nämlich das »Ja« und das »Aber«.


»Schert Euch fort!« fuhr der Brouza ihn empört an. »Ich habe keine Gemeinschaft mit Euch. Gesellt Euch zu Euresgleichen und mich laßt zufrieden!«


»Na, na, Brouza, werd nicht gleich zornig!« suchte ihn der Barbier zu beschwichtigen. »Du wirst dir heute abend meine Gesellschaft schon gefallen lassen müssen. Bist du nicht auch hergekommen, um den alten Cervenka wiederzusehen?«


»Ich? Den Cervenka? Welchen Cervenka?« fragte der Brouza.


»Unseren Cervenka«, gab ihm der Barbier Bescheid. »Hat er dir nicht auch Nachricht geschickt, daß er heute abend im >Silbernen Hechten« anzutreffen sei? Er hat sich, scheint es, ein wenig verspätet. Aber nein, da ist er ja.«


Zwei Männer waren in die Schankstube getreten, und der Brouza erkannte sie, obgleich es neun Jahre her war, daß er sie zum letztenmal gesehen hatte. Der eine von den beiden, der etwas gebückt an einem Krückstock gehende alte Herr, dem das schüttere weiße Haar in die Stirne fiel, war der Cervenka, des verstorbenen Kaisers zweiter Kammerdiener. Und der andere, der etwas schäbig gekleidete mit der Hakennase, war der Kasparek, der Jahre hindurch des Kaisers Lautenspieler gewesen war. Der Brouza stand auf, um sie zu begrüßen. Zuvor aber suchte er sich seiner Kanne Bier zu versichern.


»Denkt also scharf nach!« sagte er, bevor er ihn verließ, zu dem Sattlermeister Votruba. »Zwei stehen beieinander, sind einander aber spinnefeind. Wer sind die beiden?«


»Bei meiner Seele, ich kenne sie nicht«, versicherte ihm der Vortruba, der nicht mehr an das Rätselraten dachte. »Hier, im >Silbernen Hechten« habe ich sie noch nie gesehen. Aber fragt doch den Wirt, der scheint sie zu kennen, er tanzt mit hundert Kratzfüßen um sie herum.«

»Da bin ich also«, sagte der alte Cervenka, während er die Suppe auslöffelte, die der Wirt vor ihn hingestellt hatte. »Und es war gar nicht leicht für mich, hierher zu kommen. Meine Tochter, die, bei der ich lebe, und ihr Mann, der Franta, die wollten mich nicht fortlassen, die hatten es sich in den Kopf gesetzt, es könnt' mir etwas zustoßen auf dieser Reise. — >Bleib', wo du bist, Alter!« sagten sie. >In der Welt herumzufahren, das ist nichts mehr für dich. Denk nicht immer an die Vergangenheit, was gewesen ist, ist gewesen. Denk lieber daran, daß wir dich bei der Gartenarbeit brauchen. Heut hast du die Raupen von den Kohlköpfen zu lesen, willst du dich vielleicht davon drücken?« — Aber ich ließ sie reden, und die Raupen ließ ich gute Tage haben, und da bin ich nun. Freilich, ich hätte diese ganze beschwerliche Reise von Beneschau nach Prag vergeblich unternommen, wenn mir nicht Seine Excellenz, der Graf Nostiz, dem ich mein Anliegen submissest vortrug, ein Plätzchen ganz oben auf der Tribüne eingeräumt hätte, — in Erinnerung an die Zeiten, da wir oben auf der Burg täglich aneinander vorbeipassierten, ich mit meinem >Küß die Hände Euer Gnaden«, und er mit einer Frage nach Seiner Majestät Gelauntsein und Befinden oder auch nur mit einem >Guten Morgen, Cervenka«, wenn er es eilig hatte, — um es also kurz zu machen: Den Platz oben auf der Tribüne hatte ich, und so habe ich also wirklich mit diesen meinen Augen den Kopf des Doktor Jessenius in des Henkers Händen gesehen, wie es mir mein allergnädigster Herr, der Kaiser, in seinen letzten Stunden vorausgesagt hat.«

Und er wandte sich an den Wirt, der neben ihm stand und neugierig zugehört hatte.


»Paß auf: Nach der Suppe einen Olmützer Käse, einen Rettich, eine Brotschnitte und eine halbe Kanne Warmbier.«


»Seine Majestät, der verewigte Herr Kaiser«, begann der Wirt, der, wenn er aufgeregt war, einen kurzen Atem bekam, »hat Euch, wie es die Zigeuner auf den Jahrmärkten tun, wirklich und wahrhaftig«, er holte tief Atem, »aus der Hand die Zukunft vorausgesagt?«


»Eine Brotschnitte, habe ich gesagt, dazu einen Rettich, Käse und eine halbe Kanne Warmbier, das ist alles und jetzt eil dich!« fertigte ihn der Kammerdiener des verstorbenen Kaisers ab.


»Der Herr Cervenka erkennt mich nicht«, sagte der Wirt gekränkt. »Ich bin doch der Wondra.«


»Was für ein Wondra bist du?« fragte der Kammerdiener.


»Der Wondra, der unten in der Küche den Pfeffer stieß«, erklärte ihm der Wirt, »und manchmal ließ man mich auch an den Bratenwender. Ich hab' den Herrn Cervenka«, er holte tief Atem, »oft gesehen, wenn der Herr Cervenka zu uns kam, um zu sehen, ob die Suppe für Seine Majestät nach der Vorschrift zubereitet wurde.« Er holte wiederum Atem. »Meist war es Hühnerbrühe.«


»So. Dieser Wondra bist du also«, sagte der Cervenka. »Schön, daß du jetzt da bist. Läßt man dich hier auch Pfeffer stoßen und den Braten wenden?«


Der Wirt trat einen Schritt zurück und beschrieb mit seinem Arm einen weiten Bogen, um auszudrücken, wie groß sein Herrschaftsbereich sei und daß er über die große und die kleine Schankstube, den Garten, die Küche, die Geschirr* und Vorratskammer und über den Weinkeller zu gebieten hatte.


»Hier«, sagte er aufgeregt und stolz, »mache ich alles. Ich habe den >Hecht< im vorigen Jahr von meinem Vater übernommen.«


»Wenn du also hier alles machst, dann bring mir jetzt, was ich angeschafft habe«, bedeutete ihn der Cervenka, der in ihm nicht den Wirt und Kleinseitner Bürger, sondern nur den Küchenjungen von einstmals sah. »Aber rasch, oder man wird dir Beine machen.«


»Lauf! Lauf!« raunte der Brouza dem verdutzten Wirt zu. »Ich kenne ihn. Er hat's nicht gern, wenn man ihn warten läßt.«


»Die Gabe der Prophetie habe ich bei Seiner Majestät niemals wahrgenommen«, äußerte sich jetzt der Barbier Svatek, der über diesen Gegenstand eine ganze Weile nachgedacht hatte. »Um die Wahrheit zu sagen, — oftmals hatte er sogar Mühe, sich in der Gegenwart zurechtzufinden, der arme Herr. Wann hat er dir denn das gesagt, das mit dem Kopf des Doktor Jessenius? War es vor oder nach der Zeit, in der wir drei, die wir hier zusammensitzen, die Geschäfte des Königreiches führten?«


Etliche Leute an den Nachbartischen, die diese Worte gehört hatten, steckten flüsternd die Köpfe zusammen oder tauschten Blicke miteinander. Den Lautenspieler Kasparek verdroß dies.


»Du kannst auch deinen Mund nicht halten«, wies er den Barbier zurecht. »Du weißt, daß ich solche Reden nicht gerne höre. Zumal jetzt, wo denen, die einst groß und mächtig waren, die Köpfe so locker auf den Schultern sitzen.«


»Richtig! Richtig! Das, was ich immer gesagt habe«, ließ sich der Brouza vernehmen, und dabei fuhr er sich mit der Hand rings um den Hals, als wäre er nicht sicher, ob sein Kopf noch dort säße.


»Es war, als alles schon vorüber war«, sagte, in Gedanken versponnen, der alte Kammerdiener. »Du, Kasparek, warst bereits in der Ungnade. Es war, als mein allergnädigster Herr das Königreich und den geheimen Schatz und all seinen Glanz und seine Macht verloren hatte. Als er in seiner letzten Krankheit darnieder lag. Er war gänzlich von Kräften gekommen, denn dieser Mensch, der Doktor Jessenius, von dem sie fabelten, daß er die paracelsischen Geheimnisse besäße, hatte ihn vier Tage lang mit hartem Fasten gepeinigt.«


»Er hat sich also«, erklärte der Barbier, »an die Vorschrift des Galenus gehalten, die besagt, daß man bei hohem Fieber dem Begehren des Kranken, was Speise und Trank betrifft, nicht allzusehr nachgeben soll.«


Der Kammerdiener schnitt den Rettich, den der Wirt ihm gebracht hatte, in dünne Scheiben.


»Er war«, fuhr er fort, »Seiner Majestät gegenüber von einer verdrießlichen Strenge. Ich weiß nichts von diesem Galenus, ich versteh' mich nicht auf die ärztliche Kunst, aber das eine weiß ich: Einmal im Tag ein wenig Fleischbrühe und morgens, mittags und abends drei Löffel guten Malagaweins, das hätte genügt, um Seine Majestät bei Kräften zu erhalten.«


»Ich, wenn ich Fieber habe, esse nichts anderes als gekochten Flußfisch, der bekommt mir recht wohl«, berichtete der Wirt, der sich wieder an den Tisch herangemacht hatte.


Der Kammerdiener des Kaisers sah ihn unwillig und böse an.


»Danach hat dich keiner gefragt. Was ist dir denn zu Kopf gestiegen, daß du dein lumpiges Fieber mit dem seiner Majestät zusammentust? Ihr Burschen aus der Küche meint, Ihr müßtet auf jeden Braten Eure Tunke schütten.«


Er wandte sich an den Barbier.


»Du, Svatek, warst doch oben, warst mit mir in Seiner Majestät Krankenstube, du mußt es doch wissen. Erinnerst du dich nicht an den Tag, da der Jessenius in die Stube trat und schrie und lärmte, das Unkraut müsse hinweg?«


»Ja. Das weiß ich noch als wäre es gestern gewesen«, berichtete der Barbier. »Da Seine Majestät weder bei Tag noch bei Nacht Schlaf zu finden vermochte und immer sich umherwarf und stöhnte, hatte ich mit Consens Seiner Gnaden, des obersten Burggrafen, Blätter und Stengel des Nachtschattens und des Bilsenkrauts aus dem Apothekergärtlein geholt und den Boden damit bestreut, denn der Geruch dieser Kräuter nimmt den Kopf ein und zieht den Schlaf herbei. Auch hatte ich ein mit Katzenblut getränktes Tüchlein um Seiner Majestät Stirne geschlagen, denn auch das befördert den Schlaf, und man soll doch dem Kranken auf jede Art zu Hilfe kommen. Da, als Seiner Majestät Atem schon ruhiger ging und auch kein Ächzen und Keuchen mehr zu vernehmen war, da kam der Doktor Jessenius ...«


»Ja«, unterbrach ihn der Cervenka, »so war es, und er riß beide Fenster auf und schrie, Luft müsse herein und das Unkraut müsse hinweg. Als ich Einwendungen erheben wollte, herrschte er mich an, ich solle schweigen, er wisse, auch ohne daß ich es ihm sage, worüber Seine Majestät klage: über Durst, Hitze, Kopf- und Gliederschmerzen, über Zittern, Beängstigung, Müdigkeit und Schwäche. Und damit trat er an das Krankenbett, griff nach Seiner Majestät Puls und hieß dann Seine Majestät, sich erheben, aber Seine Majestät vermochte es nicht mehr. Da unterstand er sich ...«


Er hielt inne und schüttelte den Kopf, als könne er noch immer nicht fassen, was damals geschehen war.


»Da unterstand sich der Jessenius«, fuhr er dann fort, »meinen allergnädigsten Herrn an der Schulter und am Kopf zu fassen und ihn mit Gewalt emporzuziehen. Und mein allergnädigster Herr sah ihn an und seufzte und sah ihn wiederum an und sagte: >Helf Euch Gott, Ihr habt Hand an mich gelegt. Ich wollt', Ihr hättet es nicht getan, nun ist es aber geschehen, und so wird dereinst der Henker Hand ein Euch legen, er wird Euren Kopf hoch über dem seinen halten, und du, Rotkopf, wirst es mitansehen<. — Mein allergnädigster Herr nämlich nannte mich noch immer >Rotkopf<, wenngleich meine Haare damals schon die Kirchhofsfarbe hatten.«


Und er strich sich über sein schütteres weißes Haar.


Etliche von den Gästen hatten, um zuzuhören, ihre Stühle näher an den Tisch gerückt, und einer von ihnen machte sich zum Wortführer der anderen, erhob sich ein wenig, lüftete seinen Hut und fragte:


»Wenn es verstattet ist, — wie hat der Herr Jessenius die Worte Seiner Majestät aufgenommen?«


Der alte Kammerdiener warf einen prüfenden Blick auf ihn, und dann würdigte er ihn der Ehre einer Antwort.


»Er hat kurz aufgelacht, aber es war ihm anzumerken, daß ihm nicht wohl zumute war. Er sagte, das Fieber habe die Lebensgeister Seiner Majestät aus der Ordnung gebracht. Und daß die Natur dieses Fiebers dunkel und verborgen sei, man müsse ihn gewähren lassen und allen Fleiß aufwenden, es zu erforschen. Dann, als er das gesagt hatte, ging er, und heute auf dem Altstädter Ringplatz habe ich ihn nach dem Willen Gottes wiedergesehen.«


Er schlug ein Kreuz, nahm einen Schluck Bier und legte Käsescheiben und kleine Stückchen Rettich auf seine Brotschnitte.


»Das ist eine gute Geschichte. Bei Gott und den lieben Heiligen, eine Geschichte wie diese hört man nicht alle Tage«, sagte der Brouza, dem in Erinnerung an seinen verstorbenen Herren die Tränen über die Backen liefen, zu sich selbst, und es verdroß ihn nur, daß die Leute im »Hecht« die Geschichte mitangehört hatten, ohne daß es ihm eine Mahlzeit eintrug. Er verspürte Hunger, doch keiner von den Gästen dachte heute daran, ihm einen Happen von irgend etwas auftischen zu lassen, und von dem Cervenka war auch nichts zu erhoffen, denn der war sein Leben lang ein Knauser und Pfennigfuchser gewesen, und man konnte schon an dem Rettich und dem Käse sehen, daß er sich selbst keinen Bissen von etwas Gutem vergönnte.


»Seid ihr nicht der Schlossermeister, der hinter dem Loretokirchlein seine Werkstatt hat?« sprach der Lautenspieler Kasparek den Mann an, der mit einem »Wenn es verstattet ist« an den Tisch gekommen war.


»Ja, der bin ich. Georg Jarosch, kaiserlicher Hofschlosser, Euch zu dienen, Herr! Und auch ich bin hinter dem Sarg des Kaisers gegangen mit den Glasbläsern, den Bildschnitzern, den Steinschneidern, den Medailleuren, den Wachsbossierern und all den anderen, denen ihre Kunst Ehre und Lob von Seiner Majestät, aber nur geringes Geld eingebracht hat!«


»So seid Ihr also«, sagte der Lautenspieler in respektvollern Ton, »der Mann, der das schöne und kunstreiche Gitter im St. Veitsdom angefertigt hat, das das steinerne Bildnis des Georgs von Podiebrad umschließt«.


»Einen solchen brauchten wir wieder«, rief einer von den Leuten am Nachbartisch. »Einen böhmischen König wie den Georg von Podiebrad sollten wir haben, dann würden bessere Zeiten für uns kommen.«


Der alte Kammerdiener schüttelte den Kopf.


»Nein«, sagte er. »Hofft nicht aufbessere Tage! Habt Ihr vergessen, daß Seine Majestät, mein allergnädigster Herr, seine ungetreue Stadt Prag verflucht und den Zorn Gottes auf sie herabgerufen hat? Und daß Gott ihn erhört hat, das hat Euch der heutige Tag gezeigt. Jesus Maria, das viele Blut, möge Gott den armen Sündern gnädig sein! Nein, bessere Zeiten werden für uns nicht mehr kommen, und nie wieder wird die Welt einen böhmischen König sehen.« »Das, was ich immer gesagt habe«, wandte sich der Brouza an seine Zuhörerschaft, und er bekräftigte seine Worte mit einem gewichtigen Kopfnicken.


»O Jesus, so schweigt doch, ihr beiden!« hörte man die verängstigte Stimme des Sattlermeisters Votruba, die aus einem Winkel der Schankstube kam.


»Man weiß es«, sagte einer am Nachbartisch, »daß der verstorbene Kaiser die Böhmen nicht gemocht hat, bei ihm mußte alles welsch oder ausländisch sein.«


»Wenn es wahr ist, daß er Prag verflucht hat«, meinte ein anderer, »so tat er es, weil sein Geist umdüstert war.« »Nein, er war bei vollen Sinnen, — wer wüßte dies besser als ich, der ich ihm an jenem Tag zur Ader ließ«, erklärte der Barbier. »Ich sehe ihn noch heute, wie er am Fenster stand und auf die Stadt herabblickte, bleich, zitternd und mit Tränen in den Augen. Es war der Tag, an dem ihn die protestantischen Stände in der Burg gefangen hielten. >Prag hat mir keine Hilfe geleistet«, sagte er zu dem Herrn Zdenko von Lobkowitz, dem böhmischen Kanzler, der gekommen war, um Urlaub von ihm zu erbitten. >Es hat mich in meinen Nöten allein gelassen und nichts getan, ja, nicht einmal ein Roß hat es zu meinen Diensten satteln lassen.« Und dann warf mein kaiserlicher Herr, von Zorn und Kummer übermannt, seinen Hut mit solcher Heftigkeit zu Boden, daß der große Karfunkelstein, den er an Stelle einer Feder am Hut trug, sich loslöste und davonsprang, und man hat ihn nicht wiedergefunden, so sehr man auch nach ihm suchte, er war und blieb verschwunden.«


»Was seht Ihr mich an?« fuhr der Brouza auf. »Wenn ihr vielleicht damit sagen wollt, daß ich den Stein gefunden und beiseite gebracht habe, so ist das infam gelogen. Jedermann weiß, daß die Mühe der Stellung, in der mich Seine Majestät, der Bömische Kaiser, beschäftigt hielt, mir keine Zeit ließ, mich um derlei Lappalien zu bekümmern.«


Und er tat, mit seinen Gedanken noch ganz bei der Beleidigung, die ihm, nach seinem Vermeinen, zugefügt worden war, einen tiefen Zug aus seines Nachbarn, des kaiserlichen Hofschlossers, Bierkrug.


»Wenn unser allerhöchster Herr«, nahm jetzt der Lautenspieler Kasparek das Wort, »nur besser beraten gewesen wäre! Wenn er die Gefahr erkannt, die Stunde wahrgenommen und seinen Beutel nicht verschlossen gehalten hätte! Hohes Spiel will hohen Einsatz. Hätte ich damals nur Fug und Gelegenheit gehabt, — mein allergnädigster Herr, den Musik so tief berührte, hätte mir wie vordem sein Ohr geliehen, aber ich war ja in der Ungnade, durfte dieses Diokletiani wegen, den Gott verdammen möge, nicht mehr vor des Kaisers Augen kommen.«


»Er ist verdammt, dein Diokletianus, dessen magst du getrost sein«,versicherte ihm der Kammerdiener Cervenka. »Er war ein verstockter Heide und hat zudem die heilige Kirche verfolgt.«


»Seine Majestät war, müßt Ihr wissen«, erklärte indessen der Barbier dem Schlossermeister und etlichen anderen, »ein großer Liebhaber der alten römischen Münzen, hat auch von ihnen eine schöne Collection zusammengebracht, er nannte sie seine Heidenköpfchen, und aus aller Welt kamen die Gelehrten und Antiquarii, um sie zu besehen. Auch ein schlechtes kupfernes Stück war ihm nicht zu gering, der Kasparek aber hat ihm eine große silberne Münze verehrt mit des Diokletiani, des römischen Kaisers, Bildnis darauf...«


»Es war ein rares Stück«, nahm ihm der Kasparek das Wort weg, »und Seine Majestät, der Kaiser, hätte seine Freude an ihm gehabt, wenn nur der Diokletianus nicht zu meinem höchsten Unglück dereinst die Krone niedergelegt und seinem Thron entsagt hätte. So aber hat sich mein kaiserlicher Herr ein phantastisch Ding in den Kopf gesetzt: Daß ich mit dieser Münze nichts anderes bezweckt hätte, als ihn zu ermahnen, es dem Diokletiano gleich zu tun, und daß ich also in seines Bruders, des Matthias, Sold stehen müßte.«


»An jedem Fürstenhof lebt ein Kobold, der heißt Argwohn«, bemerkte der kaiserliche Hofschlosser, als der Kasparek, von seinen Erinnerungen überwältigt, stille schwieg.


»Das ist wohl wahr, doch hab' ich mir eine bessere Wiedervergeltung meiner getreuen Dienste erhofft«, sagte in bitterm Ton der Kasparek. »Damals also«, fuhr er dann fort, »als die Rebellion in der Neustadt ausbrach, war ich bei Seiner Majestät nicht mehr in Gnaden. Ihr erinnert Euch, wie die protestantischen Stände rebellisch zusammentraten und das Neustädter Rathaus besetzten, und der Graf Schlick und der Budowetz stellten sich an ihre Spitze und machten den Doktor Jessenius zu einem obersten Defensor, und der Wenzel Kinsky ging umher und sagte jedem, der es hören wollte: >Dieser König taugt nichts, wir müssen einen anderen haben<, und in dem Dörfchen Liben wurde mit dem Matthias verhandelt. Aber die Sache war für seine Majestät noch nicht verloren, denn damals war Prag voll abgedankter Soldaten, die schwärmten durch die Gassen, suchten Händel, rauften und warteten darauf, daß der Kaiser sie in seinen Dienst nähme. Wenn nun mein allerhöchster Herr damals nicht am Gelde gespart hätte, wenn er in seine Taschen gegriffen, wenn er eine Heeresmacht aufgestellt hätte ...!«


»Wenn! Wenn! Wenn!« unterbrach ihn der Kammerdiener Cervenka. »Es war aber kein Geld da. Nicht einmal für das Allernotwendigste des täglichen Bedarfs war Geld vorhanden. >Mein Goldmacher«, hat Seine Majestät geklagt, >ist gestorben, hat das Geheimnis seiner Kunst mit sich ins Grab genommen und mir von seinem Gold nicht eine halbe Unze zurückgelassen«.«


»Wer war der Goldmacher Seiner Majestät, der so zur Unzeit gestorben ist?« fragte der Schlossermeister.


»Das hättet Ihr«, gab ihm der Cervenka zur Antwort, »den Philipp Lang fragen müssen, bevor er sich mit einer Schnur um den Hals aus dieser Welt geschlichen hat. Er war in dieser Sache Seiner Majestät Vertrauter, ich wußte nichts.«


»Seine Majestät hat oben in der Burg allerlei Goldmacher und Adepten beschäftigt, aber etwas Rühmenswertes hat keiner von ihnen zuwege gebracht«, erklärte der Lautenspieler des Kaisers.»Was aber diesen letzten Goldmacher, über den so viel geredet wurde, betrifft, so meine ich, daß er in Wahrheit nie gelebt hat. Wer hat ihn je zu Gesicht bekommen? Er war nichts als ein Gespinst unseres allerhöchsten Herrn, ein Gebilde aus seinen Träumen.«


»Nein!« sagte der Brouza. »Dieser Goldmacher war kein Gespinst und kein Gebilde. Ich weiß, wer des Kaisers Goldmacher gewesen ist, ja, schaut mich nur an, ich, der Brouza, weiß es. Und wenn ich Euch seinen Namen nennen wollte, so würde es großes Verwundern und Kopfschütteln bei Euch geben.«


»Du weißt, wer er war?« fragte der Kammerdiener in einem Ton, dem anzumerken war, daß er selbst das Geheimnis kannte.


»Ich weiß es, darüber ist nichts zu reden«, sagte der Brouza. »Ich bin dem Philipp Lang auf seinen Wegen oftmals nachgegangen, ich weiß, wohin er ging und in wessen Haus er allemal verschwand. Und ich habe es meinem Herrn, dem Kaiser, auf den Kopf zugesagt, was er da zum Schaden vieler armer Menschen für einen Goldmacher habe, und es sei nicht christlich. Mein Herr, der Kaiser, hat anfangs getan, als ob er mit einem Male die böhmische Sprache nicht mehr verstünde, aber ich ließ nicht nach, ich setzte ihm hart zu, und da begann er beweglich zu klagen, wie elend sein Leben sei und wie schwer die Last, die auf seinen Schultern läge, und wie viele Menschen er zu ernähren habe, und daß er die Kosten der großen Haushaltung ohne dieses Goldmachers Beistand nicht bestreiten könnte.Und dann ließ er mich schwören, daß ich, solange mir Gott das Leben läßt, den Namen nicht verraten und von der Sache zu keinem Menschen sprechen werde, und so hab' ich es bis heute gehalten.«


»Aber das gilt heut nicht mehr, nach so vielen Jahren«, meinte der Barbier. »Uns, deinen alten Freunden, wirst du's doch sagen?«


Der Brouza schüttelte den Kopf.


»Laßt mich das machen!« sagte der kaiserliche Hofschlosser. »Ich weiß, um was es ihm zu tun ist.«


Und er wandte sich an den Brouza:


»Wie wäre es, Gevatter, mit einem Eierkuchen und einem Salat von Kräutern dazu?«


Der Brouza schwieg und schüttelte den Kopf.


»So wollt Ihr also«, sprach der Schlossermeister weiter, »daß ich Euch Gesottenes oder Gebratenes auf den Tisch bringen lasse? Es ist zwar sündteuer in den heutigen Zeiten, der Wirt ist ein Dieb, aber sei's drum!«


Der Brouza gab keine Anwort.


»Na, na! Etwas wird es doch geben, wonach Euch der Sinn steht«, meinte der Schlossermeister. »Einen schönen Schweinebraten mit allem, was dazu gehört?«


Jetzt blickte der Brouza auf.


»Einen Schweinebraten, so wie ich ihn gerne mag?« fragte er. »Nicht zu fett und nicht zu mager? Und mit ein wenig Schwarte daran?«


»Ja, mit Schwarte daran und mit Kraut und Knödeln dazu«, bestätigte ihm der kaiserliche Hofschlosser.


»Alle Wetter! Euch geht's heut gut, Herr Brouza«, sagte einer am Nachbartisch.


Der Brouza seufzte. Er hatte einen kurzen heftigen Kampf mit sich selbst auszufechten gehabt und jetzt widerstand er der Verlockung.


»Nein«, sagte er. »Ich habe es meinem Herrn, dem Kaiser, geschworen und zugelobt bei dem allmächtigen Gott und bei Maria, seiner werten Mutter, und bei dem Heil meiner Seele, das ich erhoffe, und so ist mir in diesem Leben der Mund verschlossen. Aber vielleicht, Herr Jarosch...«


Er zögerte ein wenig, als müsse er sich die Sache, die er im Sinn hatte, erst noch überlegen.


»Vielleicht«, fuhr er fort, »fügt es Gott, daß wir einander in seinem Himmel wiedersehen. Dann werde ich stracks auf Euch zugehen und Euch dort oben sagen, was ich auf Erden Euch nicht sagen durfte. Möge Gott uns diese Gnade gewähren! Amen.«


»Amen«, sagte der alte Kammerdiener, und er schlug ein Kreuz, und »Amen« wiederholten die anderen. Über den Brouza aber war jetzt seine alte Narrheit wiedergekommen, er meinte, er habe dem Schlossermeister schon zuviel versprochen und könnt' Schaden davon haben, und so beeilte er sich, diesen Fehler gutzumachen.


»Glaubt aber nicht«, klärte er den kaiserlichen Hofschlosser auf, »daß ihr es dann umsonst erfahren werdet. Nein, das schlagt Euch aus dem Kopf, ein Geheimnis wie dieses behält immer seinen Wert. Einen Schweinebraten mit Knödeln und Kraut wird es Euch auch dort oben kosten.«


Er wies gen Himmel und schloß die Augen, und der Gedanke an den himmlischen Schweinebraten lag wie ein Abglanz und Widerschein der ewigen Freuden auf seinem stoppelbärtigen, plattnäsigen und verrunzelten Gesicht.

Das verzehrte Lichtlein

Es war immer schon spät am Abend, wenn der Philipp Lang in dem Haus auf dem Dreibrunnenplatz erschien, wo ihn der Mendel, des Mordechai Meisl vertrauter Diener, erwartete, um ihn die Treppe hinauf zu seinem Herrn zu führen.

Tagsüber war dieses Haus voll von Menschen und ihrem geräuschvollen Treiben. Kaufleute aus aller Herren Länder kamen, um dem Mordechai Meisl ihre Aufwartung zu machen und ihm ihre Waren anzubieten: Sammet, Marderfelle, Hutschnüre, goldene Borten, Gewürze aus Asien, Zucker, Indigo und Aloe von den Inseln der neuen Welt. Ergraute Schreiber saßen an den mit Papieren bedeckten Tischen, entwarfen Briefe und Verträge oder fertigten Rechnungen aus. Junge Männer, die aus Wien, aus Amsterdam, aus Hamburg oder aus Danzig gekommen waren, um im Hause des Mordechai Meisl die Kaufmannschaft zu erlernen, liefen mit der Feder hinter dem Ohr geschäftig hin und her oder saßen über die Papiere gebeugt, von denen sie Abschriften zu machen hatten. Böhmische Edelleute, die gegen einen Schuldschein Geld aufzunehmen begehrten, wurden ungehalten, wenn man sie warten ließ, und klagten einander, wie schlecht die Ernte gewesen sei, und mit der Rinder- und Schafszucht sei heutigen Tags auch nichts zu gewinnen, wenn man nur könnte wie die Juden Geld herleihen und Zinsen nehmen, das sei für den Juden die Egge und der Pflug. Eilige Boten brachten Briefe aus dem Posthaus. Einer von den Schreibern rief nach Siegellack, der andere nach einer frisch gespitzten Feder. Und im Hof unter den Arkaden saßen schwatzend, Bier trinkend und die Beine von sich streckend Fuhrleute, die viele Tage unterwegs gewesen waren, die ließen es sich jetzt gutgehen und sahen zu, wie die schweren Ballen und Kisten und Fässer von ihrem Wagen abgeladen wurden und in den Magazinen verschwanden. Und zwischen den Fuhrleuten, den Pferden und den Lastträgern trieb sich fröhlich kläffend, aufwartend und wedelnd der kleine Pudelhund des Mordechai Meisl umher.

Des Abends war Stille. Die Schreiber, die Lehrjungen und die Bedienten hatten das Haus verlassen, und nur der Mendel blieb bisweilen, wenn der Herr des Hauses seiner bedurfte, und schlief in der Dachkammer. Auch heute war er geblieben, denn er hatte dem Meisl und dem Phlipp Lang des Nachts bei Tische aufzuwarten.

Der Mordechai Meisl hatte an diesem Tag Abrechnungen, die von dem Bankhaus Taxeira in Hamburg gekommen waren, durchgesehen und seinen Schreibern etliche Briefe diktiert. Er hatte des Kaisers Hofkammerrat, den edelgeborenen Herrn Jan Slovsky von Slovic, empfangen, der ihn bat, ihm für die Rückzahlung eines Darlehens von achthundert Goldgulden in Geduld noch einige Zeit zu lassen. Er hatte die Berichte seiner Agenten, die aus Mailand, aus Augsburg, aus Marseille und aus Nischni Nowgorod gekommen waren, angehört und sich dann früher als sonst in seine Wohnstube zurückgezogen.

Dorthin brachte ihm der Mendel nach der Abendsuppe einen Aufguß von Eibisch, Schlüsselblumen und Leinsamen. Denn das Brustübel, an dem der Mordechai Meisl seit Jahren litt, hatte nach einem betrügerischen Stillstand zu einem neuen Angriff ausgeholt, das Fieber und der stechende Husten kamen in immer kürzeren Intervallen über ihn, und manchmal wurde der Hustenanfall so heftig, daß es ihm finster vor den Augen wurde.

Indes er Schluck für Schluck den heißen Kräuteraufguß trank, versuchte er, da er nicht untätig bleiben konnte, in dem Buche des Don Isak Abarbanel zu lesen, das »Die Blicke Gottes« genannt ist. Doch es wollte ihm nicht gelingen, die Gedanken dieses hochberühmten Mannes zu erfassen, der Sinn der Worte erschloß sich ihm nicht, und so legte er, ermüdet und enttäuscht, das Buch aus der Hand und gab sich den Gedanken hin, die in den Stunden der Einsamkeit über ihn kamen und immer die gleichen waren:

Wenn Gott mir einen Sohn geschenkt hätte! Einen Sohn zu haben, den man auf der Welt zurückläßt! Ich hätte ihn in der Weisheit und in der Lehre auferziehen lassen, wie ein aufgebrochener Granatapfel wäre er gewesen, voll Wissen. Ihm hätte es keine Mühe gemacht, in dem Buche des Abarbanel zu lesen, ein Deuter dunkler Worte wäre er geworden, der Hauch seines Atems wäre Weisheit und Erkenntnis gewesen. Gott hat es nicht gewollt. Kinderlos gehe ich dahin, Fremden hinterlasse ich mein Gut. Ist mein Unglück im Plan der göttlichen Weisheit notwendig gewesen, um eines anderen Mannes Glück zu begründen? Wer weiß es? Wer kann es sagen? Der Meerestiefe gleich ist Gottes Recht.

Er stand auf. Seine Gedanken gingen ihren alten Weg, von seinem ungeborenen Sohn glitten sie zu seiner Frau, die schon so lange gestorben war. Aus einem Schrein, der an der Wand stand, holte er ein aus Rosenholz geschnitztes Kästchen hervor, darin lag aufbewahrt, was ihr in ihrem Leben lieb gewesen war. Es war nicht viel. Kleine Dinge, geringe Dinge. Bunte Vogelfedern, ein verblaßtes Seidenband, eine Spielkarte, die ihr einmal in die Hände gekommen war, verwelkte Rosenblätter, die, wenn man sie berührte, in Staub zerfielen, ein silbernes Messerchen, das war zerbrochen, ein Stein, der geädert und wie eines Menschen Hand geformt war, eine Bemsteinkugel, eine Glaskugel und etwas, was dereinst der bunte Flügel eines Schmetterlings gewesen war. All dies betrachtete der Mordechai Meisl nachdenklich, er hatte das Kästchen seit Jahren nicht in den Händen gehabt. Er seufzte und verschloß es und stellte es in den Schrein zurück. Was es enthielt, erschien ihm so unverständlich, so rätselhaft, so schwer zu deuten, wie es die dunkeln und geheimnisschweren Worte in dem Buche des Don Isak Abarbanel waren.

Er hat es so beschlossen und so mußte es geschehen, sagte er zu sich. Er hat sie in das ewige Glück genommen. Und ich .. . Der Gedanken und Wünsche sind viele in den Herzen der Menschen, doch nur der Ratschluß Gottes besteht. Wir saßen, und es war wie alle Tage, ich sprach den Segen über das Brot und sie wartete mir beim Essen auf, und dann — nachts .. . Wen rief sie in ihrer Todesnot, daß er ihr helfen sollt'? Eines fremden Mannes, eines Christen Name. Sie hat den Römischen Kaiser einmal, ein einziges Mal gesehen, damals, als er durch die Altstadt in das Judenquartier ritt, und die Ältesten und die Räte erwarteten ihn, die Trompeter bliesen und der hohe Rabbi hielt die Thora in den Händen. - Ihre Stimme, dieser Schrei in der Todesnot: Rudolfe, hilf! War er es, den sie so rief? War es ein anderer, von dem ich nichts weiß? Weh' mir, ich werde es nie erfahren.

Der Husten kam über ihn und er preßte sein Tüchlein an den Mund. Der Türe öffnete sich und der Mendel steckte besorgt den Kopf in die Stube. Der Mordechai Meisl gab ihm ein Zeichen, es sei nichts und er bedürfe seiner nicht.

Seine Gedanken nahmen eine andere Richtung. Mit dem Römischen Kaiser war er nun in seinen commerciis heimlich verbunden. Seine Geschäfte waren auch des Kaisers Geschäfte. Des Kaisers Hofkammerrat, der heute bei ihm vorgesprochen hatte, ahnte nicht, daß er seinem Kaiser Monat um Monat Zinsen zahlte. Und wie keinen anderen Juden je zuvor hatte ihn, den Mordechai Meisl, der Kaiser mit Rechten, Vorrechten, Freiheiten und Dignitäten begnadet. »Wir, Rudolf der Andere, von Gottes Gnaden erwählter Römischer Kaiser und König von Böhmen, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches, haben beschlossen, unseren getreuen Juden, den Mordechäus Meisl.,.«, so begannen die Schutz- und Privilegienbriefe. Kein Gericht durfte seine Person oder sein Gut antasten, keine Gerichtsperson hatte Zutritt in sein Haus, solange er lebte. Lief eine Anklage gegen ihn, so mußte sie vor den Kaiser gebracht werden. Die Silberausfuhr aus dem Königreich war ihm übertragen. Er allein war befugt, Personen des Herren- und Ritterstandes, wie auch den Klöstern, Stiften und Abteien gegen einen Schuldschein Geld zu leihen. Im ganzen Römischen Reich durfte er sich frei bewegen und Handel treiben, und wie ein großer Herr oder Prälat war er auf seinen Reisen vom Kutscher- und Pferdezoll befreit. Und der Philipp Lang hatte mehr als einmal angedeutet, der Kaiser trage sich mit dem Gedanken, seinen getreuen Juden, den Mordechai Meisl, in den böhmischen Ritterstand zu erheben.

Er wiederum hatte dem Philipp Lang, dem vertrauten Boten des Kaisers, alle Vierteljahr Rechnung über das Eingenommene und Verausgabte abgelegt und ihm pünktlich auf den Tag des Kaisers Anteil am Gewinn überreicht. Starb er, dann fiel die Hälfte von allem, was er an Geld und Gut hinterließ, dem Kaiser zu. — Wartete der Kaiser auf seinen Tod? Wollte er lieber die Hauptsumme erlangen als alle Vierteljahre den Gewinn? »Eine Handvoll, das macht den Löwen nicht satt«, hatte der Philipp Lang bisweilen, wenn er das Geld nahm, mit einem Achselzucken gesagt. Eine Handvoll! Vier versiegelte Beutel mit Gold lagen auf dem Tisch und dazu drei Anweisungen auf zusammen vierzigtausend Reichstaler, zwei von ihnen auf der Frankfurter Messe zahlbar und die dritte auf der Leipziger Neujahrsmesse, die auch die »kalte Messe« genannt wurde. Denn ein Vierteljahr war um, und in dieser Nacht kam der Philipp Lang, um die Abrechnung zu erhalten und des Kaisers Geld in Empfang zu nehmen.

Gold zu gewinnen, ging es dem Meisl durch den Sinn, das war für andere eine große und oft vergebliche Müh und Plage, viele setzten ihr Leben darein und verloren es. Ihm war es immer nur ein Spiel gewesen. Sein Leben lang war das Gold hinter ihm hergelaufen, hatte ihn umbuhlt und umworben, war, wenn er es von sich stieß, wiedergekommen. Manchmal wurde er seines Glückes müde, ja, zuweilen wurde das Gold ein Gegenstand der Furcht für ihn. Es bedrängte ihn, es wollte sein eigen werden und keinem anderen dienen, und wenn es sein eigen geworden war, dann blieb es nicht in den Kästen und Truhen, dann lief es als sein Knecht für ihn durch die Welt. Ja, das Gold liebte ihn, ihm hatte es sich unterworfen. Aber was würde es beginnen, was bewirken, wenn er es fessellos, nicht mehr von seiner Hand gebändigt, in der Welt zurückließ?

Ein kurzer, aber über alle Maßen heftiger Hustenanfall kam über ihn und schüttelte ihn, daß er meinte, vergehen zu müssen, und als er vorüber war, da hatte sich das Tüchlein in seiner Hand rot gefärbt. Und wie er die Flecken Blutes sah, kam ein Verwundern über ihn, daß er noch lebte. Es schien ihm, als wäre er schon lange an das Ende seines Daseins gelangt, aber das Sterben war ihm verwehrt. Der hohe Rabbi Loew, die Leuchte der Verbannung, das Kleinod Israels, er, der Einzige seiner Zeit, war eines Nachts in seiner Kammer gesessen und hatte in den heiligen Büchern gelesen, in denen die Geheimnisse Gottes aufgezeichnet sind. Da war das Wachsstümpfchen, das seine Kammer erhellte, zu Ende gebrannt, sein Licht knisterte und flackerte und war im Erlöschen, und es gab kein anderes Wachslicht in des hohen Rabbis Haus. So sprach der hohe Rabbi sein Zauberwort über das verzehrte Lichtlein, er beschwor es bei den zehn Namen, daß es nicht erlöschen sollte, und es gehorchte. Ruhig und still brannte das Stümpfchen weiter und gab sein Licht die ganze Nacht hindurch, daß der hohe Rabbi in die Geheimnisse Gottes eindringen konnte, und erst als es heller Tag geworden war, erlosch es und verging in nichts. — War er, der Mordechai Meisl, nicht auch solch ein verzehrtes Lichtlein, das lange schon erloschen sein sollt' und dennoch weiterbrannte? Warum läßt Gott mich nicht erlöschen? Warum lebe ich? fragte er sich, während er noch immer auf das von seinem Blut benetzte Tüchlein in seiner Hand blickte. Wozu bedarf Gott meiner noch in dieser Welt?

Es klopfte. Der Mordechai Meisl verbarg das Tüchlein. Der Mendel ließ den Philipp Lang in die Stube treten, und der Mordechai Meisl ging seinem Gast, wie es die Sitte vorschrieb, bis zwei Schritte vor die Türe entgegen, um ihn zu bewillkommenen.

Der Philipp Lang war ein großer, hagerer Mann, er überragte den Mordechai Meisl, wie er vor ihm stand, um eines Hauptes Länge. Sein Haar und Bart waren leicht ergraut. Er trug sich auf spanische Art, und über seiner Brust hing an einer goldenen Kette das Bildnis der Madonna von Loreto.

Wie er eintrat, streifte sein Blick die vier versiegelten Beutel und die Geldanweisungen, die auf dem Tisch lagen, und er erwog, wie schon so oft an diesem Tag, welche Summe nötig sein würde, um den Kaiser für diesmal zufriedenzustellen. Das griechische Marmorbildwerk, das der Kaiser von einem Antiquar in Rom gekauft hatte, war angekommen und mußte bezahlt werden. Es gab noch andere Schulden, die waren weniger drückend. Doch der Kaiser gedachte auch noch das Dürerbildnis zu kaufen, die »Anbetung der Könige« aus der Allerheiligenkirche in Wittenberg, die ihm der Magistrat dieser Stadt angeboten hatte.

Seine Worte verrieten nicht, welche Gedanken ihn beschäftigten. Er sagte zum Meisl:


»Ich hoff', ich komme nicht zur Unzeit. Draußen stürmt's, es wird gleich Regen geben. Und wie steht es um meines werten Freundes Befinden?«


Er hatte die Hand des Mordechai Meisl ergriffen und hielt sie so, daß er den Pulsschlag fühlen und prüfen konnte. — Er fühlt sich gar nicht wohl, stellte er fest. Der Puls ist sehr behende. Es ist sicherlich Fieber da.


Wenn der Mordechai Meisl nach seinem Befinden gefragt wurde, gab er immer die gleiche Antwort, die nichts besagte. Wie es in Wahrheit um ihn stand, verriet er keinem.


»Es ist gut, ich danke Euch, es ist recht gut«, sagte er. »Was von meiner Krankheit heute noch übrig ist, wird morgen verschwunden sein.«


Und er löste seine Hand aus der des kaiserlichen Kammerdieners.


Der Philipp Lang sah ihn an und machte im Stillen seine Prognosis. Da war kein Zweifel: In diesem abgezehrten Körper war nicht mehr die Kraft, wider die zehrende Krankheit und die drohende Auflösung zu kämpfen. Morgen konnte er seinem Herrn vermelden, daß er nicht lange mehr, nicht länger als zwei Wochen oder drei, auf den geheimen Schatz zu warten haben werde, auf die Dukaten und die Doppeldukaten, die Rosenobles und die Dublonen. Und nicht die Hälfte, nein, das Ganze, alles, was der Meisl-Jude an Geld und Gut hinterließ, mußte nach dem Plan und Willen des Philipp Lang dem Kaiser gehören. Denn ein Löwe und der Kaiser, die teilen mit keinem.


Zum Meisl sagte er:


»Ja, wir müssen dessen froh sein, daß wir just in diesen Zeiten leben, in denen die Arzte so viele und herrliche Erfindungen gemacht haben, deren sie sich zu unserem Wohle zu bedienen wissen.«


»Ja, das ist gut«, meinte der Meisl. »Doch ich bedarf der Hilfe der Ärzte nicht. Es geht mir alle Tage besser und besser.«


»Das sind gute Nachrichten und ich werde sie mit Freuden meinem allergnädigsten Herrn vermelden«, erklärte der Philipp Lang. »Mein allergnädigster Herr hat mir strengstens aufgetragen, Euch treulich zu ermahnen, daß Ihr gute Achtung auf Eure Gesundheit haben und Euch wohl pflegen sollt.«


»Das werd' ich tun in schuldiger Observanz der allerhöchsten Befehle«, sagte der Mordechai Meisl. »Mögen Seiner Majestät Leben, Ruhm und Friede gemehrt werden vom Herrn der Welt.«


Und nun, da von beiden Seiten der Höflichkeit und dem Brauch genüge getan war, begannen sie, von den Geschäften zu sprechen.

Gegen Mitternacht, als sie nach langem Unterhandeln einig geworden waren, trug der Mendel Wein und kalte Küche auf und heiße, in Öl gebackene Mandelkuchen, die er des Nachts aus dem Backhaus geholt hatte. Und der Philipp Lang erzählte, während er mit Behagen aß und trank, von der kaiserlichen Hofhaltung, wie es da oftmals sonderbar zugehe. Daß des Kaisers Kammerherr, ein Baron Palffy, sich einen Diener hielt, der an seiner Stelle, sooft es Arger gab, auf die abscheulichste Art fluchen mußte, denn der Baron selbst sei dazu zu gottesfürchtig. Von dem spanischen Gesandten am kaiserlichen Hof, dem Don Balthasar de Zuniga, wisse jedermann, daß er seine schöne und junge Frau alle Woche mit einer anderen Weibsperson betrüge, doch lasse er sich niemals mit einer ein, die auf den Namen Mari a getauft sei, denn damit könnte er, wie er meinte, die heilige Jungfrau beleidigen. Zwei gelehrte Herren an des Kaisers Hof, der Martin Ruhland, der das perpetuum mobile anfertigte, und der Italiener di Giorgio, der die großen parabolischen Spiegel schliff, die lägen miteinander im Streit, weil jeder von den beiden sich einbilde, der andere empfange für seine Dienste ein höheres Relutum als er selbst, und wenn sie einander in den Weg liefen, so gäben sie einander mehr Ehrentitel, als das deutsche und das welsche Alphabet zusammen Buchstaben habe, da käme es von der einen Seite: »Betrüger! Hansnarr! Lumpenhund! Hurenbock!« und von der anderen: »Birbone! Furfante! Mascalzone! Furbo!«, und dabei bliebe der Kaiser dem einen wie dem anderen seit Jahren das umstrittene Relutum schuldig. Der junge Graf Khevenhueller, Leutnant in des Kaisers berittener Leibgarde, sei aus dem Türkenkrieg mit einem Säbelhieb quer über den Hals zurückgekommen, der ihm die Sehnen zerschnitten habe, und so trage er, um den Kopf zu stützen, ein Halsband von Silber. Und wie er nun an der Offizierstafel darüber geklagt habe, wie schwer die Zeiten seien und wenn einer heute ginge, sich in der Stadt zu vergnügen, so sei des Geldes lange nicht genug, so teuer seien alle Ding, da habe sein Gegenüber, ein Hauptmann von den Hakenschützen, ihm zugerufen: »Verpfänd deinen Hals, du Narr, so kannst du zu deinen Huren laufen!« Und darüber sei es zu einer Schlägerei gekommen.

Er hielt inne, denn der Mordechai Meisl wurde wieder von seinem Husten geplagt, und schon erschien, als hätte er an der Türe gehorcht, der Mendel mit einer Arzneiflasche in der Stube. Wie ein Schatten glitt er zu seinem Herrn, nahm ihm das Tüchlein aus der Hand und reichte ihm ein neues.

»Es ist nichts«, sagte der Mordechai Meisl, als er wieder Atem hatte. »Ein wenig Husten. Er kommt von der Feuchtigkeit der Luft. Morgen wird er, so Gott es will, verschwunden sein, wenn warmes und trockenes Wetter sich wieder einstellt.«

Und er gab mit einem Kopfnicken dem Mendel das Zeichen, daß er wieder gehen könnt'.


»Bis dahin«, riet ihm der Philipp Lang, »solltet Ihr in allen Räumen, in denen Ihr Euch aufhaltet, reichlich Salz auf den Fußboden streuen. Denn Salz ist ein starker Magnet, zieht das Wasser aus der Luft.«


Die ungarischen und die portugiesischen Weine, denen er während der Mahlzeit zugesprochen hatte, begannen ihm zu Kopf zu steigen. Es gibt Leute, die, wenn sie ein wenig mehr, als sie's gewohnt sind, getrunken haben, streitsüchtig werden und mit jedermann Händel suchen, und andere wieder, die lassen den Kopf hängen, vergießen Tränen und klagen, wie übel es mit der Welt bestellt sei. Zu keiner der beiden Sorten von Trinkern gehörte der Philipp Lang. Ihn machte der Wein nur geschwätzig und großsprecherisch. Und so begann er, von sich selbst und von seinen hohen Gaben zu reden und sich der Macht, die er ausübte, zu rühmen. Er habe, sagte er, beim Kaiser in allen Dingen das letzte Wort. Er könne alles bewirken, seinen Freunden dienlich sein, nichts könne gegen seinen Willen in Gang gebracht werden. So mancher hochgeborene Herr trachte vergeblich danach, seine Freundschaft zu gewinnen. Der aber, der würdig sei, daß er ihm seine Affection erweise, sei wahrhaft zu beneiden. Und er erhob sein Glas und leerte es auf seines werten Freundes, des Mordechai Meisl, Wohlergehen und währendes Glück.


»Solange ich«, sagte er sodann, »auf meinem Platze bin und im Königreich nach dem Rechten sehe, solange kann mein allergnädigster Herr sich nach seinem Belieben mit Musik die Zeit vertreiben oder in seiner Kunstkammer mit Gemälden seine Kurzweil haben.«


Der Meisl hing schweigend seinen Gedanken nach. Schon viel war ihm von dem seltsamen Mann oben auf der Burg berichtet worden, der erwählter Bömischer Kaiser und König von Böhmen war und seine Kammerdiener und Barbiere an seiner Stelle im Königreich schalten und walten ließ. Erst an diesem Morgen wieder hatte ihm der Herr Slovsky auf Slovic, als er seines Schuldscheins halber bei ihm vorgesprochen hatte, von seinem kaiserlichen Herrn erzählt. — »Er liebt die Menschen nicht«, hatte der Hofkammerrat gesagt. »Er schätzt sie allesamt gering, verachtet und verspottet sie. Umgeben von einer lärmenden Schar von Malern und Musikanten, von Glücksrittern und Betrügern, von Gelehrten und Künstlern aller Art, von Quacksalbern und Marktschreiern verbringt er sein Leben als ein in Wahrheit einsamer Mann.«


Einsam war auch er, der Mordechai Meisl, in seinem Haus, das den Tag über voll Lärm und geschäftigem Treiben war.


»Und warum«, fragte er den Philipp Lang, »hat Seine Majestät, der Römische Kaiser — Gott möge seinen Ruhm und seine Tage mehren —, warum hat er nicht Weib noch Kind?«


»Ihr sprecht recht gerade heraus«, meinte mit leichter Mißbilligung der Philipp Lang. »Aber warum sollten wir nicht offenherzig zueinander sein, da wir doch seit Jahr und Tag in Freundschaft miteinander verbunden sind? Warum Euch nicht die Wahrheit sagen? An Heiratsprojekten für meinen allergnädigsten Herrn hat es nicht gefehlt, man hat mit Madrid und mit Florenz Verhandlungen gepflogen. Geheimkuriere ritten hin und her, Bildnisse, die von der Hand berühmter Meister angefertigt waren, trafen ein und wurden besichtigt, — aber mein allergnädigster Herr wollte sich zu einer Ehe nicht bewegen lassen, da war jedes Wort vergeblich gesprochen.«


Er schwieg eine Weile und dann fuhr er im flüsterndem Ton fort, als wären außer dem Meisl noch andere in der Stube, die solch geheime Dinge nicht erfahren sollten.


»Mir hat mein allergnädigster Herr anvertraut, daß er nicht ehelich werden wolle, weil er auf seine Herzliebste von einstmals warte, auf ihr Wiederkommen, das er erhoffe, er könne sie nicht vergessen, sie sei immer in seinem Sinn. Er sprach von ihr in einer recht ungereimten und verworrenen Weise, ich konnte nicht klug aus seinen Reden werden. Sie sei ihm entrissen worden, sagte er, aber wie dies geschehen sei, das könne er nicht sagen. Sie sei nicht wieder zu ihm gekommen. — Und da mein allergnädigster Herr von ihrer immerwährenden Furcht, daß der Zorn Gottes sie treffen werde, gesprochen hat, so meine ich, daß sie eines anderen Mannes Frau gewesen ist.«


Wie der Meisl aus dem Mund des Philipp Lang von der Herzliebsten des Kaisers hörte, wurde das Herz ihm schwer, er wußte nicht, warum, es schlug und pochte und wollt' sich nicht zufrieden geben und war voll Leid.


Er sann darüber nach, warum mit einemmal diese Unruhe und Traurigkeit über ihn gekommen sei, er könnt' es nicht begreifen, ihm war nichts Böses widerfahren. Er war über sich verwundert und sann und überlegte, und dann kam es ihm in den Sinn, daß er vielleicht ein großes Versäumnis begangen habe, das so schwer in seiner Seele wog: Er hatte den Mann, mit dem er in seinen commerciis verbunden war, diesen Mann voll Rätsel und Sonderbarkeiten, voll Glanz und Herrlichkeit, er hatte den Römischen Kaiser niemals von Angesicht gesehen. Es schien ihm, als ob es just diese Unterlassung wäre, die ihn so bedrücke, und als ihm dieser Gedanke kam, wurde ihm leichter ums Herz. Und je länger er der Sache nachsann, desto übermächtiger wurde der Wunsch in ihm, den Kaiser oben auf der Burg zu sehen.


Er wandte sich an den Philipp Lang. Stockend und nach den rechten Worten suchend trug er ihm vor, wie groß sein Wunsch und sein Begehren sei, Seiner Majestät, dem Römischen Kaiser, für alle Guttaten, Gnaden und Freiheiten, die er empfangen habe, den schuldigen Dank zu sagen.


Der Philipp Lang sah bei diesen Worten darein wie einer, dem unversehens die Milben über das Mehl gekommen sind.


»Hör' ich recht?« rief er. »Sprecht Ihr im Ernst? Ihr wollt vor Seine Majestät, den Römischen Kaiser gelangen? Wer zum Henker hat Euch solch ein unsinnig Ding in den Kopf gesetzt?«


Ein Argwohn war in ihm entstanden, der ihn in Angst versetzte. Er glaubte, der Mordechai Meisl habe im Sinn, Unheil zu stiften und ihn beim Kaiser zu verklagen, — aber woher wußte der Jude, auf welche Weise könnt' er's erfahren haben, daß er, der Philipp Lang, als gerechte Wiedervergeltung Seiner getreuen Dienste einmal den vierten, ein andermal den fünften Teil von des Kaisers Geld zurückbehielt? Hatte denn der Meisl-Jude überall seine Aushorcher und Spione? — Was sind doch, sagte er in großer Erbitterung zu sich, die Juden für ein heilloses und verräterisches Volk und Gesinde, sinnen immer auf Böses, wollen sich niemals ruhig, wie es sich gehört, verhalten.


»Seine Majestät, der Kaiser«, sagte der Mordechai Meisl, »hat mich Ehr' und Herrlichkeit genießen lassen, mehr als sonst ein Jude haben und genießen kann. Darum ist mein hochfleißigstes Bitten ...«


»Non si puo«, fiel ihm der Philipp Lang zornig in die Rede. Er war im Trientinischen geboren, und wenn er ärgerlich oder erregt war, kamen ihm italienische Worte statt der deutschen auf die Lippen. »Non si puo. Es ist unmöglich. Es kann nicht sein. Ihr kennt den Hof nicht, Ihr wißt nicht, wie solche Dinge bei Seiner Majestät verlaufen. Der Gesandte des Königs von England wartet seit zwei Monaten darauf, Seiner Majestät die Credentiales überreichen zu können, kann aber keine Audienz erlangen, wird vertröstet und hingehalten, schreibt Protest- und Beschwerdebriefe, droht, von Prag abzureisen, und wird nicht vorgelassen. Der Herr Oberst von Guenderode hat ein Handschreiben des Kurfürsten von Brandenburg zu überreichen, hilft nichts, er wird nicht vorgelassen. Den Fürsten Borghese, päpstlichen Internuntius, einen Neffen Seiner Heiligkeit, könnt' Seine Majestät nicht abweisen, ist ihm aber ins Wort gefallen, hat ihm aufgetragen, sich kurz zu fassen, wenig Worte zu machen, denn er, der Kaiser, sei mit Geschäften zur Genüge molestiert. — Und Ihr wollt vor Seine Majestät gelangen? Was begehrt Ihr von Seiner Majestät? Womit wollt Ihr meinem allergnädigsten Herrn im Ohre liegen, welches Geschwätz ihm hinterbringen? Hab' ich Euch jemals Grund zur Klage gegeben? Kennt Ihr mich nicht als einen — wie nennt Ihr's? — als einen Ohew Israel, einen Freund der Juden? Und bin ich zu Euch nicht immer wie ein Bruder gewesen?«


»Ich habe über nichts Klage zu führen, habe auch nichts zu hinterbringen«, sagte der Mordechai Meisl. »Es ist nur mein Bitten, weil Seine Majestät in angeborener Milde und Gnade ...«


»Es ist gut«, erklärte der Philipp Lang. Er sah, daß der Mordechai Meisl auf seinem Willen beharrte, zugleich aber kam es ihm ins Bewußtsein, daß die Sache so gefährlich nicht sei und daß er sich ihrer mit geringer Mühe erwehren konnte. »Meine Freundschaft für Euch«, fuhr er jetzt in einem völlig anderen Ton fort, »ist zu groß, als daß ich Euch einen Wunsch abschlagen könnte, und wäre es noch so schwierig, ihn zu erfüllen. Ihr sollt zufriedengestellt werden. Nur um eines bitte ich Euch, — habt ein wenig Geduld. Wenn es heut oder morgen nicht sein kann, so ist es darum nicht verloren. Ich muß einen bequemen Tag und Ort finden, daß ich mit Seiner Majestät allein und ungestört über die Sache sprechen kann. Denn mein allergnädigster Herr will mit Vorsicht behandelt sein, da darf nichts übereilt, nichts zur unrechten Stunde getan werden. Versteht mich recht, — ein wenig Zeit, zwei Wochen oder drei, das ist alles, was ich verlange.«


Der Mordechai Meisl durchschaute ihn. Etwas im Klang der Stimme, etwas im Ausdruck des Gesichtes ließ ihn erraten, was sich hinter diesen glatten Worten verbarg: Daß ihn der Philipp Lang schon zu den Toten rechnete, daß er ihm nicht mehr als zwei oder drei Wochen Leben gab, und daß er hoffte, der Müh' enthoben zu sein, wenn es ihm nur gelänge, die Sache hinauszuziehen.


»Ich danke Euch. Ich habe verstanden«, sagte der Mordechai Meisl.


In der Niklasgasse hatte der Philipp Lang seine Kutsche stehen, und dorthin begleitete ihn der Mendel mit der Laterne, denn in der Wirrnis der engen und winkeligen Gassen der Judenstadt konnte einer leicht den Weg verlieren.


Als er in das Haus auf dem Dreibrunnenplatz zurückkam, fand er seinen Herrn noch wach.


»Geh, wenn es Tag wird, zu den Fleischbänken«, trug ihm der Mordechai Meisl auf, »und frag die Metzger, wer von ihnen in dieser Woche das ungarische Ochsenfleisch in den Hirschgraben fährt.«

Es gab in der Judenstadt etliche Leute, die konnten, wenn es ihnen beliebte, den Römischen Kaiser alle Tage sehen, so sehr er sich auch vor der Welt verborgenhielt. Das waren die Metzger und ihre Knechte. Denn die Prager Judenmetzger waren verhalten, dem Kaiser für die beiden Löwen, den Adler und die anderen wilden Tiere, die er sich hielt, täglich vierunddreißig Pfund Fleisch von guten ungarischen Ochsen in den Hirschgraben zu bringen, und so durften sie in ihrem Fleischerwagen ungehindert durch das Tor passieren. Und der Kaiser wiederum versäumte es niemals, der Fütterung seiner Tiere beizuwohnen, er achtete darauf, daß jedes seinen Teil erhielt, und den beiden Löwen, die er selbst gezähmt hatte und mit denen er sich durch den Einfluß der Gestirne auf magische Art verbunden fühlte, — ihnen und dem Adler, der einsam und traurig in seinem Käfig saß, reichte er bisweilen mit eigener Hand das Fleisch.

Als eines Metzgers Knecht gekleidet, mit dem Lederschurz, dem Tragriemen über der Schulter und dem kleinen Metzgerbeil im Gürtel, fuhr der Mordechai Meisl mit dem Metzger Schmaje Nossek über die Moldaubrücke und hinauf auf den Hradschin. Um die Mittagsstunde gelangten sie in den Hirschgraben. Innerhalb der Mauern, die ihn umschlossen, vor dem Pförtnerhaus, ließen sie das Pferd und den Wagen stehen. Sie beluden sich mit dem Fleisch, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen, denn das Pferd wurde unruhig, wenn der Geruch der wilden Tiere zu ihm drang.

Es war ein frostiger Tag mit klarem Himmel und einem schneidenden Wind, der die verwelkten Blätter vor sich hintrieb. Der Weg, den sie einschlugen, führte erst zwischen Obst- und Gemüsegärten und dann über einen Wiesengrund. Sie gingen durch Buschholz und durchquerten einen schütteren Buchenwald, in dem Rehe ästen und Füchse ihren Bau hatten. Als sie aus dem Wald traten, hatten sie den Seitenflügel der Burg, der an den Tiergarten stieß, vor sich.

Im Schatten uralter Buchen und Ulmen standen die Käfige und die Zwinger. Ein gezähmter Bär, der sich seine Nahrung in der Hofküche erbettelte, trottete in völliger Freiheit über den Weg. In einem kleinen, ebenerdigen Ziegelbau hatten die Tierwärter ihre Behausung. Es waren ihrer drei, aber nur einer zeigte sich. Und während dieser unter dem Brüllen der Löwen und dem Kreischen der Affen das Fleisch prüfte und wog, erklärte der Metzger Nossek dem Meisl, durch welches Tor der Kaiser in den Garten treten werde. Er beschrieb ihn als einen kleinen, in seinen Bewegungen sehr behenden Mann mit gekraustem Barthaar. Um diese Jahreszeit trage er einen kurzen Mantel, der mit Goldborten eingefaßt sei, die er, der Nossek, auf einen halben Gulden die Elle schätze. Aber auch daran sei der Kaiser leicht zu erkennen, daß er beim Gehen die rechte Hand vorgestreckt halte, so, als weise er sich selbst den Weg, — eine schmale blaugeäderte Hand. Er, der Meisl, werde nicht mehr lang zu warten haben, die Tiere seien hungrig, und das Brüllen der Löwen sei bis zu den Fenstern des Kaisers zu vernehmen.

Als das Fleisch gewogen und als festgestellt war, daß es sich in gutem Zustand befand, empfingen sie das Entgelt: Vier neugeprägte böhmische Groschen der Metzger und einen halben sein Knecht.

Die beiden anderen Wärter traten aus dem Haus, um dem Kaiser entgegen zu gehen. Er war noch nicht zu sehen. Der Schmaje Nossek wies auf einen Gärtnerburschen, der sich nicht weit von ihnen an einem Boskett von Rosensträuchen zu schaffen machte, dabei aber unverwandt auf das Burgtor blickte. Der sehe, meinte der Nossek, gar nicht einem Gärtnerjungen gleich, wisse auch die Gartenschere und das Messer nicht recht zu handhaben. Er, der Nossek, wäre nicht verwundert, wenn es sich erweisen würde, daß dieser Junge, wer auch immer er sei, sich mit der Beihilfe eines Gärtners hier eingeschlichen habe, um dem Kaiser zu begegnen.

Die beiden Schildwachen am Tor stießen wie auf Kommando ihre Hellebarden auf die Erde, das Tor öffnete sich und der Kaiser trat in einem kurzen goldbordierten Mantel, die rechte Hand ein wenig vorgestreckt, so wie es der Nossek beschrieben hatte, in den Hirschgraben.

Rudolf der Zweite, der Römische Kaiser, war in der Nacht von Träumen heimgesucht gewesen, in denen ihn sein Bruder Matthias, der österreichische Erzherzog, in eines Ebers Gestalt verfolgt und bedroht hatte. Als er erwachte, kam zu der Schwermut, die immer in seiner Seele war, noch die Angst und die Verzagtheit des Traumes, die er nicht von sich abtun konnte. Der Cervenka, der zweite Kammerdiener, der an diesem Morgen den Dienst versah, wußte, wie er es anzustellen habe, um die Laune des Kaisers um ein weniges zu bessern. Er ließ die spanischen und die italienischen Pferde des Kaisers unter die Fenster seines Schlafgemachs führen. Der Anblick der schönen und stolzen Tiere erfreute den Kaiser. Obwohl er noch im Nachtgewand war, stieß er das Fenster auf, ohne darauf zu achten, daß ein rauher Wind ins Zimmer fuhr. Er beugte sich hinaus und rief bald das eine, bald das andere Tier beim Namen: »Diego! Brusco! Adelante! Carvuccio! Conde!« Und jedes der Tiere, das er rief, hob den Kopf und wieherte hellauf. Doch die Schwermut wich nicht aus dem Herzen des Kaisers.

Während ihm das Frühstück aufgetragen wurde, erschien der Ofenheizer Brouza mit seiner Ofenschaufel und seinem Zuber in der Stube, um die Asche aus dem Kamin zu fegen. Der Kaiser sah ihm eine Weile zu, dann fragte er:

»Brouza, wie steht's mit dir? Hältst du's mit mir oder mit dem Matthias?«


»Gevatter«, gab der Brouza, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, zur Antwort, »ich halt's mit keinem von euch. Ich halt's mit meinem Kehrbesen und mit meiner Ofenschaufel, denn auf die ist Verlaß. Ihr beide, du und der Matthias, ihr seid mit einerlei Speck gespickt, und der eine ist nicht besser zu dem armen Mann als der andere.«


»Du nennst dich einen armen Mann?« meinte der Kaiser. »Du bist reich, du hast Erspartes. Willst du mir hundert Gulden leihen? Mir fehlt's an Geld.«


Der Brouza sah von seiner Arbeit auf und zeigte sein plattnäsiges, mit Kohlenstaub und Asche besudeltes Gesicht.


»Daß du auf das leidige Geld so sehr erpicht bist!« hielt er dem Kaiser vor. »Wo hast du denn den Bürgen und welches Pfand soll ich von dir haben?«


»Du sollst mir«, forderte der Kaiser, »die hundert Gulden ohne Pfand und ohne Bürgen leihen, nur auf mein Wort und auf mein Gesicht.«


»Nein, Herrlein«, sagte der Brouza. »Lieber leih' ich hundert Gulden auf diesen Zuber Asche als zwei auf dein Gesicht.«


Er ließ den Zuber und die Schaufel stehen und wischte zur Tür hinaus, denn der Kaiser hatte den schweren silbernen Brotkorb ergriffen, und der Brouza sagte sich: Hab' ich kein Loch im Kopf, so brauch' ich kein Pflaster.


Eine Stunde verbrachte der Kaiser in einer Kammer, die zwei Siegelschneidern und einem Wachsbossierer als Werkstätte diente. Schweigend beobachtete er den Fortgang ihrer Arbeit, während sie so taten, als hätten sie sein Kommen nicht bemerkt, denn sie wußten, daß es seinen Unwillen erregte, wenn man ihn aus seinen Gedanken riß.


Dann begab er sich in den Saal, an dessen Wänden die Brueghel, die Dürer, die Cranach, ein Altdorfer und ein Holbein hingen. In der Mitte dieses Saales stand das Marmorbildnis, das am Tage zuvor in seinen Besitz gelangt war, das Werk eines großen antiken Meisters der Bildhauerkunst, dessen Name nicht überliefert war. Es stellte den Knaben Ilioneus dar, einen von den Söhnen der Niobe, die in ihrem Stolz die Götter herausgefordert und ihren Zorn auf sich gezogen hatte.


Der Knabe Ilioneus war, von einem Pfeil Apollos getroffen, zu Boden gesunken. Doch er ergab sich nicht ohne Gegenwehr dem Tode. Mit der rechten Hand versuchte er, den Pfeil aus seiner Brust zu ziehen, die linke stemmte er gegen den Erdboden, um sich aufzurichten, denn er wollte sich zu seiner Mutter flüchten, bei der er Schutz und Hilfe zu finden hoffte. Und so edel war die Haltung des Knaben, so schön sein vom Tode gezeichnetes und doch noch dem Leben zugewandtes Antlitz, daß des Kaisers Augen sich mit Tränen füllten. Es wurde ihm leichter ums Herz. Daß dieses Wunderwerk wieder ans Licht gekommen und daß es in seine, des Kaisers, Hände gelangt war, gab ihm Trost und Zuversicht und richtete ihn auf.


Indessen war die Mittagsstunde gekommen, und er vernahm das Brüllen der Löwen und den Schrei des Adlers, die ihn riefen.


Während er die Treppe hinabstieg und Hut und Mantel aus den Händen eines Dieners nahm, verlor er sich in Träumereien.


Wenn Gott es so gewollt hätte, träumte er, als er, gefolgt von zwei Offizieren der Leibgarde in den Garten trat, daß er nicht in dieser Zeit in die Welt gelangt wäre, sondern in jenem frühen Saeculum, in dem der unbekannte Meister den Ilioneus gebildet hatte, wenn er, so spann er den Gedanken weiter, an des Augustus, an des Nero Stelle über das römische Imperium geherrscht hätte, wen von den Denkern und den Gelehrten seiner Zeit hätte er an seinen Hof gezogen? Von den Dichtern und den Komödienschreibern hielt er nicht eben viel, doch den Vergilius ließ er als einen Gelehrten gelten, ihn und den Plinius und den Seneca hätte er immer um sich gehabt, und eine schmerzliche Enttäuschung kam über ihn, als er bedachte, daß Plato und Aristoteles, Euklides und Epikur, die er hoch über alle anderen stellte, zu des Augustus Zeiten schon lange in ihrem Schattenreich waren.


Seine Gedanken kehrten zu dem Marmorbildnis zurück. Wenn er, so träumte er weiter, im heidnischen Rom nicht Kaiser gewesen wäre, sondern der Schöpfer dieses sterbenden Knaben, wäre sein Ruhm nicht größer gewesen als der der Caesaren? Hatte nicht Tizian an Glanz und Ruhm den großen Maximilian übertroffen? Und während er über den Glanz und Ruhm der Künstler und der Caesaren nachsann und jetzt im heidnischen Rom ein Kaiser war und jetzt im gleichen Rom ein Marmorbildner, — während er so ging und träumte, trat ihm ein Mädchen, das wie ein Gärtnerjunge gekleidet war, in den Weg, warf sich vor ihm auf die Knie und rief mit ihrer hellen Stimme:


»Rudolfe, hilf!«


Der Kaiser fuhr zusammen, trat rasch einen Schritt zurück und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.


Das Mädchen, das vor ihm auf den Knien lag, war die Tochter eines seiner Feldobristen, eines verdienten Soldaten, der in türkische Gefangenschaft geraten war. Da er ein alter Mann war und von den Türken hart gehalten wurde, fürchtete sie, daß sie ihn nicht wiedersehen werde. Sie hatte nur einen Teil des Lösegelds aufzubringen vermocht. Schon einmal hatte sie vor dem Kaiser einen Fußfall getan, in den Stallungen bei den Pferden, zu denen sich der Kaiser bisweilen begab, und er hatte sie angehört und ihr zugesagt, daß er sich ihrer Sache annehmen werde. Doch es war nichts geschehen.


Der Kaiser erkannte sie nicht. Er hielt sie für einen Jungen aus der Hofküche, der—wie der Cervenka ihm berichtet hatte — schon zum zweitenmal beim Bratenwenden eingeschlafen war und nun auf Befehl des Obersthofmarschalls, der die Gerichtsbarkeit über das Hofgesinde ausübte, eine Tracht Stockschläge erhalten sollte.


»Du hast's zum zweitenmal getan«, sagte der Kaiser zu dem knienden Mädchen. »Tu's nicht wieder! Ich werd' mit dem Lichtenstein« — das war der Obersthofmarschall — »reden, daß er dir's erläßt. Du hast Schaden angerichtet. Geh und tu's nicht wieder!«


Er setzte mit raschen Schritten seinen Weg fort. Die Tochter des Obristen richtete sich auf und blickte verwirrt dem Kaiser nach. Er hatte in gnädigem Ton zu ihr gesprochen, hatte ihr auch eine Zusage gemacht, daß er mit irgendwem, der viel vermochte, über ihre Sache sprechen wollt', aber welchen Schaden sie angerichtet hatte, dadurch, daß sie zum zweitenmal vor den Kaiser getreten war, das begriff sie nicht. Oder hatte sie am Ende mit der Gartenschere einen von den Rosensträuchen verdorben? Und während sie darüber nachsann, trat einer der beiden Offiziere der Leibgarde auf sie zu, lüftete den Hut und bat sie mit der Höflichkeit, die er einer Standesperson schuldete, ihm zu folgen.


Ich werd' den Cervenka zum Lichtenstein schicken, sagte der Kaiser zu sich, der mag mit ihm reden und ihm meinen Willen in dieser Sache kundtun. Ich will ihn nicht sehen, von mir verlangt er Geld. Alle begehren sie Geld von mir, der Lichtenstein, der Nostiz, der Sternberg, der Harrach, die Leut' aus der Küche und die Leut' aus der Silberkammer, auch der Prediger in der Kapelle und seine Musikanten und Sänger, alle begehren sie Geld und mehr Geld und nochmals Geld, alle wollen sie ihren Teil an dem geheimen Schatz haben. Aber den laß' ich nicht antasten, den werd' ich bitterlich nötig brauchen, daß ich mich der brüderlichen Lieb' des Matthias erwehren kann.


Jetzt war er beim Löwenkäfig angelangt. Er nahm ein Stück von dem ungarischen Ochsenfleisch aus den Händen des Wärters und trat in den Käfig. Die Löwin, die ihn erwartet hatte, richtete sich auf und legte ihre Pranken sacht auf seine Brust. Sie nahm das Fleisch aus seiner Hand, indes der Löwe, um ihn zu begrüßen, sein gewaltiges Haupt an des Kaisers Schulter rieb.


Der Kaiser sprach mit seinen Löwen. Es war die Stunde des Tages, in der er leichten und frohen Herzens war. Er ahnte nicht, er konnte es nicht ahnen, daß er in dieser Stunde seinen geheimen Schatz für immer verloren hatte.

Rudolfe, hilf! — Der Mordechai Meisl, der vor dem Wärterhaus stand und sein Tüchlein vor den Mund hielt, weil der Husten über ihn gekommen war, hatte die Worte wiedergehört, die sein junges Weib, die Esther, gerufen hatte, als sie fühlte, daß der Todesengel nach ihr griff. Rudolfe, hilf! In den letzten Augenblicken ihres Lebens hatte sie dieses Mannes gedacht, der jetzt an ihm vorüberschritt.

Der Römische Kaiser auf seiner Burg war für ihn bis zu dieser Stunde nur ein Schemen gewesen, eine Macht, die man fühlte, ein ferner Glanz. Jetzt aber sah er ihn, - einen Mann, der mit kurzen, eiligen Schritten seinen Weg ging, die Schultern eingezogen, den Kopf gesenkt, und unter seinen Schuhen knirschte der Kies. Das war der Mann, der ihm das Liebste genommen hatte.

Denn der Gedanke hatte von ihm Besitz ergriffen, daß sein Weib, die Esther, die er nicht vergessen konnte, eines fremden Mannes schuldig geworden, daß sie des Kaisers Geliebte gewesen war, die Geliebte des Mannes, der dort dahinschritt, ja, die Herzliebste, von der der Philipp Lang geredet hatte, als ihm vom Wein die Zunge gelöst war. Und Worte tauchten in seiner Erinnerung auf, die sie im Schlaf an seiner Seite gesprochen oder geflüstert hatte, die Herzliebste des Kaisers. Jetzt wußte er sie zu deuten, und es war ihm, als hätte er die Wahrheit schon immer erkennen müssen.

In seinem Herzen war Trauer, aber größer noch als die Trauer waren sein Haß und das brennende Verlangen, sich an dem Mann zu rächen, der ihm sein Weib genommen hatte.

Als er wieder in seinem Haus auf dem Dreibrunnenplatz war, hatte er seine Pläne gefaßt.

Von allem, was er an Geld und Gut hinterließ, gehörte dem Kaiser der halbe Teil. Darum durfte er nicht Geld noch Gut in der Welt zurücklassen.

Nicht viel Zeit war ihm gegeben. Er wußte, — reich zu werden, das war für ihn ein Leichtes gewesen, fast ein Spiel. Aber ein armer Mann zu werden, - konnte ihm das gelingen? Das Gold hing an ihm. Es mußte fort. Er mußte es von sich stoßen, es verschwenden, vergeuden, verschleudern bis auf den letzten halben Gulden. Er hatte Blutsverwandte: eine Schwester lebte, ein Bruder, drei Geschwisterkinder. Nichts von seinem Geld und Gut sollte in ihre Hände gelangen, denn von ihnen konnten es des Kaisers Richter und Räte mit Gefängnis und Folter leicht zurückgewinnen. Nur die geringen Dinge, die auch der ärmste Mann besaß, die sollten sie empfangen: das Bett, in dem er schlief, den Rock, in dem er ging, das pergamentne Betbuch.

Und wohin das Gold?


Ein Haus für die Armen in der Judenstadt. Ein Haus für Sieche. Ein Haus für Waisenkinder. Ein neues Rathaus. Ein Haus, darin zu lesen und zu lernen. Ein großes und ein kleines Gotteshaus. Alles nicht genug, noch immer würde Geld vorhanden sein. Dukaten in den Truhen, Güter in den Gewölben, Geld in anderer Leute Händen, — es mußte alles fort. Die engen, krummen Gassen der Judenstadt sollten gepflastert und beleuchtet werden. Mochte der Kaiser, mochten seine Räte nach den Pflastersteinen in der Judenstadt greifen!


Wenn ihm nur Zeit blieb, sein Geld und Gut von sich zu tun! Ein armer Mann zu werden, der nichts besaß, der nichts sein eigen nannte, das war der einzige Wunsch, der ihm geblieben war. Verzehrtes Lichtlein, du mußt brennen, bis es geschehen ist. Und dann .. .


Dann schlaf ein, Mordechai Meisl! Schlaf und vergiß deinen Kummer, schlaf und vergiß dein Leid! Verzehrtes Licht, erlisch!

Der Engel Asael

In den Nächten des Neumonds stieg aus den himmlischen Bereichen ein »Maggid«, ein lehrender Engel, nieder und trat in die Kammer des hohen Rabbi, den man die Krone und das Diadem nannte und den Feuerbrand und den Einzigen seiner Zeit. Er war gesandt, dem hohen Rabbi die verborgenen Dinge der oberen Welt zu offenbaren, die kein Lebender zu ergründen vermag. Und ihrer sind viele.

Der Engel kam nicht in menschlicher Gestalt. Nichts an ihm war so geschaffen, wie es die Augen der Menschen zu sehen gewohnt sind. Doch war er von großer Schönheit.

»In den Zeichen, aus denen Ihr die Worte formt«, belehrte er den hohen Rabbi, »sind die großen Kräfte und die Gewalten beschlossen, die die Welt in ihrem Gang erhalten. Und wisse, daß alles, was auf Erden zu Worten geformt wird, seine Spuren in der oberen Welt hinterläßt. Aleph, das erste der Zeichen, trägt die Wahrheit in sich. Beth, das zweite, die Größe. Ihr folgt die Erhebung. Die Herrlichkeit der Gotteswelt birgt das vierte Zeichen in sich, und das fünfte die Kraft des Opfers. Das sechste ist das Erbarmen. Nach ihm kommt die Reinheit, dann das Licht. Das Eindringen und Erkennen. Die Gerechtigkeit. Die Ordnung in den Dingen. Die ewige Rewegung. Doch das letzte in der Reihe der Zeichen ist das erhabenste. Es ist das Taph, mit dem der Sabbat scheidet. In ihm ist das Gleichgewicht der Welt beschlossen, zu dessen Hütern die fünf Engel der höchsten Heiligkeit bestellt sind: Michael, der Herr des Gesteins und der Metalle, Gabriel, der über Mensch und Tier gesetzt ist, Rafael, dem die Gewässer gehorchen, Feliel, dem das Gras und alle Gewächse überantwortet sind, und Uriel, der über das Feuer gebietet. Sie wachen über das Gleichgewicht der Welt, und du, Leichtfertiger, ein Sandkorn, ein Sohn des Staubes, hast es dereinst gestört.«


»Ich weiß es, Asael«, sagte der hohe Rabbi zu dem lehrenden Engel, und seine Gedanken flogen zu dem Tag zurück, an dem der Römische Kaiser auf seinem weißen Zelter in die Judenstadt geritten war. Er, der hohe Rabbi, hatte ihn mit der Thora in den Händen erwartet und die Worte des Priestersegens über ihn gesprochen. Und just diesen Ort und diese Stunde hatte ein Vertrauter des Kaisers, der Wuk von Rosenberg, der dem höchsten böhmischen Adel angehörte, ausersehen, um einen Anschlag auf das Leben des Kaisers zu verüben, denn er mißgönnte ihm die böhmische Krone. Einer seiner Diener hielt sich auf dem Dach eines Judenhauses verborgen. Er hatte aus dem Gemäuer einen schweren Stein gelöst, den ließ er, als die Trompeten erklangen und ringsum Jubel ausbrach, auf solche Art aus der Höhe fallen, daß er das Haupt des Kaisers treffen mußte. Und ohne sich zu vergewissern, welchen Ausgang die Sache nahm, eilte er sogleich hinab, um sich in Sicherheit zu bringen und um in den Gassen der Altstadt auszusprengen, die Juden hätten einen verräterischen und meuchlerischen Anschlag auf die Majestät verübt.

Doch der hohe Rabbi hatte den Stein, der aus der Höhe fiel, gewahrt. Und mit der Gewalt, die ihm verliehen war, hatte er ihn in ein Schwalbenpaar verwandelt, das über dem Haupt des Kaisers dahinglitt, sich in die Höhe schwang und in den Lüften sich verlor.

Der Engel war den Gedanken des hohen Rabbi vorausgeeilt. Er sprach:


»Als du aus einem toten Stein die Schwalben schufst, hast du in den Plan der Schöpfung eingegriffen und das Gleichgewicht der Welt gestört. Das Lebende in der Welt überwog das Tote. Du hast Michaels Herrschaftsbereich gemindert und den des Engels Gabriel gemehrt. So ist unter den fünf Engeln der höchsten Heiligkeit Zwietracht Y entstanden, denn auch die Engel Rafael, Uriel und Feliel ergriffen Partei und mengten sich in den Streit. Und hätte dieser Streit um ein weniges länger gewährt, dann hätten sich auf Erden die Flüsse und Ströme wider ihren Lauf erhoben, die Wälder hätten von ihren Stätten und Gründen sich bewegt und die Berge wären in Trümmer gefallen. Die Welt wäre untergegangen wie Sodom, das der Finger Gottes berührt hat.«


Er nannte Gott bei dem neunten seiner Namen, der da lautet: Shadai.


»Doch der Streit nahm ein Ende«, fuhr der Engel fort. »Denn die Erzväter, Abraham, Isak und Jakob, erhoben sich und traten zusammen und vereinigten sich in einem Gebet. Und dieses Gebet, zu dritt verrichtet, hat solche Urkraft, daß es das Ungeschehene geschehen und das Geschehene ungeschehen zu machen vermag. So war das Gleichgewicht der Welt wieder hergestellt und die Eintracht kehrte in den Chor der Engel zurück.«


»Ich weiß es, Asael. Ich trage das Joch meiner zwiefachen Schuld«, sagte der hohe Rabbi und er gedachte des Tages, an dem er, um des Kaisers willen, ein zweites Mal in Schuld gefallen war.


Auf seinem Ritt in das Judenquartier hatte der Kaiser in der Menschenmenge, die sich rechts und links von ihm in den Gassen drängte, ein Gesicht gesehen, das nahm ihn gefangen und ließ ihn nicht frei, und er wußte, daß es immer in seinem Herzen bleiben werde. Es war, so schien es ihm, eines jungen Kindes, eines Judenmädchens Antlitz. Sie stand an die Säule eines Portals geschmiegt, ihre großen Augen waren auf ihn gerichtet, ihr Mund war halb geöffnet, die braunen Locken fielen ihr in die Stirne. Und wie seine Augen sich von den ihren lösten, wie er weiterritt und sie zurückblieb, kam eine Traurigkeit über ihn und er wußte, daß er in Liebe gefallen war.


Er wandte sich und gab seinem Diener, der hinter ihm im Zuge ritt, den Auftrag, zurückzubleiben, sich in der Nähe dieses Mädchens zu halten und ihr zu folgen, wohin immer sie ginge, denn er war entschlossen, zu erfahren, wer diese Schöne war und wo sie wiederzufinden sei.


Der Diener tat, wie ihm geheißen war. Er blieb zurück, versorgte sein Pferd und ging dann, als die Menge sich zu verlaufen begann, hinter dem Mädchen her in das Judenquartier. Sie ging, als hätte sie es eilig, nach Hause zu kommen, sie blickte nicht nach rechts und links, sie sah sich auch nicht um, und da es zu dunkeln begann, hielt sich der Diener dicht hinter ihr. Doch in einer der Gassen, die zum Dreibrunnenplatz führten, wollte es sein Mißgeschick, daß sich etliche Straßenhändler, die jetzt mit ihren Lichtern und Lämpchen durch die Judenstadt zogen, ihm in den Weg stellten, um ihm ihre Waren anzupreisen, und als er sich von ihnen losgemacht hatte, sah er das Mädchen nicht mehr vor sich, sie war verschwunden und sein Suchen nach ihr blieb vergeblich. Und so vermochte er dem Kaiser nichts Besseres zu berichten, als daß er sie in der Judenstadt aus den Augen verloren habe.


Anfangs meinte der Kaiser, es könne nicht schwer sein, das Mädchen wiederzufinden, gelänge es nicht heute, so werde es morgen gelingen, und so ging der Diener auf sein Geheiß alle Tage in die Judenstadt, strich durch die Gassen und spähte umher, doch das schöne Mädchen ließ sich nicht mehr sehen.


Und wie die Zeit dahinlief, schwand die Hoffnung des Kaisers, daß er die Geliebte wiederfinden werde. Es schien ihm, als wäre sie ihm für immer verloren. Doch konnte er ihr Antlitz nicht vergessen und nicht die Augen, die die seinen gesucht hatten. Schwermut kam über ihn, und nicht tagsüber und nicht des Nachts fand er Ruhe und Trost. Und da er keinen Rat wußte, wie ihm geholfen werden könnte, ließ er den hohen Rabbi zu sich rufen.


Ihm berichtete er von dem Judenmädchen, das er auf seinem Weg ins Judenquartier gesehen habe. Er wisse nicht, klagte er, wie ihm geschehen sei, er könne sie nicht vergessen, Tag und Nacht sei sie in seinem Sinn. Er malte mit Worten das Antlitz, das ihn bedrängte, und der hohe Rabbi erkannte, daß der Kaiser die junge Esther gesehen hatte, die Frau des Mordechai Meisl, die über alle Maßen schön war.


Er riet dem Kaiser, nicht länger an sie zu denken, denn es gäbe in dieser Sache keine Hoffnung für ihn. Sie sei eines Juden Eheweib und werde niemals eines anderen Mannes schuldig werden.


Doch der Kaiser achtete auf diese Worte nicht.


»Du wirst sie«, befahl er dem hohen Rabbi, »zu mir auf die Burg bringen. Sie wird meine Liebste sein. Und laß mich nicht lange warten, das könnt' ich nicht ertragen. Allzu lange schon hat sie mich warten lassen. Und ich will keine andere, ich will nur sie.«


»Es kann nicht sein«, sagte der hohe Rabbi. »Sie wird sich nicht gegen Gottes Gebot vergehen. Sie ist eines Juden Weib und wird keines anderen Mannes Liebste werden.«


Als der Kaiser sah, daß der hohe Rabbi ihm wiederum widersprach und ihm nicht helfen wollt', kam wie ein Gewittersturm der Zorn über ihn, und er schwur einen Eid:


»Wenn ich bei dir keinen Gehorsam finde und keine Liebe bei der, an die ich immer denke, dann will ich die Juden allesamt als ein ungetreues Volk aus meinen Königreichen und Ländern vertreiben, das ist mein Wille und mein Beschluß, und das werde ich tun, so wahr mir Gott helfe!«


Da ging der hohe Rabbi und er pflanzte am Ufer der Moldau unter der steinernen Brücke, vor den Blicken der Menschen verborgen, einen Rosenstrauch und einen Rosmarin. Und über beide sprach er die Worte des Zaubers. Da öffnete sich eine rote Rose an dem Rosenstrauch, und die Blüte des Rosmarins strebte zu ihr hin und schmiegte sich an sie. Und jede Nacht flog die Seele des Kaisers in die rote Rose und die Seele der Jüdin in die Blüte des Rosmarins.


Und Nacht für Nacht träumte der Kaiser, er halte seine Geliebte, die schöne Jüdin, umschlungen, und Nacht für Nacht träumte die Esther, die Frau des Mordechai Meisl, sie läge in den Armen des Kaisers.

Die Stimme des Engels rief den hohen Rabbi aus seinem Sinnen. In ihr klang Unwille und Vorwurf.

»Du hast«, sprach der Engel, »die Blüte des Rosmarins gebrochen. Doch die rote Rose brachst du nicht!«


Der hohe Rabbi erhob sein Angesicht.


»Nicht an mir ist es«, sagte er, »das Herz der Könige zu wägen, nicht an mir, zu prüfen, welche Schuld in ihm ist. Nicht ich habe in die Hände der Könige die Macht gelegt. Wäre David ein Mörder und Ehebrecher geworden, wenn Er, der Heilige, ihm verstattet hätte, ein Hirte zu bleiben?«


»Ihr Menschenkinder«, sprach der Engel weiter, »gar arm und voll von Kümmernissen ist Euer Leben. Warum beschwert Ihr es mit der Liebe, die Euch den Sinn verstört und Eure Herzen elend macht?«


Der hohe Rabbi blickte mit einem Lächeln zu dem Engel auf, der die geheimen Wege und Pfade der oberen Welt kannte, aber die Wege des Menschenherzens waren ihm fremd geworden.


»Sind nicht«, sprach er zu ihm, »die Kinder Gottes, als die Zeiten begannen, mit den Töchtern der Menschen in Liebe gewesen? Haben sie sie nicht an den Brunnen und Quellen erwartet und sie im Schatten der Ölbäume und Eichen mit dem Kuß ihres Munds geküßt? War nicht Naema schön, die Schwester des Tubalkain, sahst du je wieder ihresgleichen?«


Der Engel Asael senkte sein Haupt und seine Gedanken flogen zurück durch die Jahrtausende zum Urbeginn der Zeiten.


»Ja, sie war schön, Naema, die Schwester des Tubalkain, der die Spangen schmiedete und die goldenen Ketten«, sagte er leise. »Schön war sie und lieblich. Schön war sie wie ein Garten in der Frühlingszeit um die Stunde, da der Morgen anbricht. Ja, sie war schön, die Tochter des Lameth und der Silla.«


Und wie er der Geliebten seiner fernen Jugend gedachte, fielen zwei Tränen aus den Augen des Engels, die waren den Menschentränen gleich.

Epilog

Um die Jahrhundertwende, zu der Zeit, als ich fünfzehn Jahre alt und Schüler des Gymnasiums war — ein schlechter Schüler, der dauernd Nachhilfe benötigte —, sah ich die Prager Judenstadt, die diesen Namen freilich schon lange nicht mehr führte, sondern die »Josefstadt« genannt wurde, zum letztenmal, und in meiner Erinnerung lebt sie, wie sie sich damals mir zeigte: Aneinander gedrängte altersschwache Häuser, Häuser im letzten Stadium des Verfalls, mit Vor- und Zubauten, die die engen Gassen verstellten. Diese krummen und winkeligen Gassen, in deren Gewirr ich mich auf das hoffnungsloseste verlaufen konnte, wenn ich mich nicht vorsah. Lichtlose Durchlässe, düstere Höfe. Mauerlücken und höhlenartige Gewölbe, in denen Trödler ihre Waren feilhielten, Ziehbrunnen und Zisternen, deren Wasser von der Prager Krankheit, dem Typhus, verseucht war, und in jedem Winkel, an jeder Ecke eine Spelunke, in der sich die Prager Unterwelt zusammenfand.

Ja, ich kannte das alte Judenviertel. Dreimal in der Woche durchquerte ich es, um in die Zigeunergasse zu gelangen, die von der Breiten Gasse, der Hauptstraße des einstigen Ghettos, in die Gegend des Moldauufers führte. Hier in der Zigeunergasse, unter dem Dachstuhl des Hauses »Zum Kalkofen«, hatte mein Hauslehrer, der cand. med. Jakob Meisl seine Studentenbude.

Ich habe sie noch heute vor Augen, ein halbes Jahrhundert hat ihr Bild in meinem Gedächtnis nicht verwischen können. Ich sehe den Schrank, der sich nicht schließen lassen wollte und dem Besucher den Ausblick auf zwei Anzüge, einen Regenmantel und ein Paar aufrechtstehender Kanonenstiefel freigab. Ich sehe die Bücher und die Hefte auf dem Tisch, auf den Stühlen, auf dem Bett, auf der Kohlenkiste und auf dem Fußboden, einzeln und in Stößen, und auf dem Fensterbrett die drei Blumentöpfe mit zwei Fuchsien und einer Begonie, von denen mein Hauslehrer sagte, er habe sie nur zu Lehen, sie gehörten der Zimmervermieterin. Unter dem Bett sah der Stiefelzieher hervor, der die Gestalt eines Hirschkäfers mit mächtigem Geweih hatte. Und ich sehe an den stockfleckigen, rauchgeschwärzten und mit Tinte bespritzten Wänden die gekreuzten Schläger des cand. med. Meisl und seine fünf Tabakspfeifen mit ihren Porzellanköpfen, die in lebhaften Farben das Gesicht Schillers, Voltaires, Napoleons, des Feldmarschalls Radetzky und des Hussitenführers Jan Zischka von Trocnow zu Schau trugen.

Mein letzter Besuch in der Judenstadt ist mir deutlicher als meine früheren in Erinnerung geblieben. Es war wenige Tage vor den großen Sommerferien und ich ging mit meinen Schulheften, die ich an einem Riemen trug, durch das einstige Ghetto, dessen Demolierung gerade in diesen Tagen begonnen hatte. Und zu meiner Überraschung stieß ich in der Joachims- und in der Goldenen Gasse auf breite Lücken, die die Spitzhacke gerissen hatte, und durch die Lücken sah ich in Gassen und Gäßchen, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren. Und ich mußte mir über Berge von Schutt und Trümmern, von zerbrochenen Ziegelsteinen, Dachschindeln, verbogenen Blechröhren, morschen Brettern und Balken, zerfallenem Hausrat und sonstigem Kehricht meinen Weg bahnen. Verspätet, müde und über und über mit Kalk und Staub bedeckt kam ich in die »Bude« des cand. med. Meisl.

Aus diesem, aber auch noch aus einem anderen Grund ist mir mein letzter Besuch in der Judenstadt so lebhaft und so scharf umrissen im Gedächtnis gebleiben. Denn an diesem Nachmittag zeigte mir mein Hauslehrer das Testament des Mordechai Meisl, das durch Vererbung an ihn gelangt war. Und beide Ereignisse, die Demolierung des Ghettos und das Auftauchen des legendären Testaments, schienen mir miteinander verknüpft zu sein und zusammen den Schlußpunkt der Geschichte zu bilden, die mir mein Hauslehrer durch viele Winternachmittage hindurch erzählt hat, der Geschichte von »Meisls Gut«.

Diese beiden Worte, »Meisls Gut«, hatte ich seit jeher gekannt. In ihnen lag der Reichtum eingeschlossen, jede Art von Besitz, Gold, Juwelen, Häuser, Liegenschaften und Gewölbe, die mit Waren aller Art in Ballen, Kisten und Fässern angefüllt waren, »Meisls Gut«, das war nicht der Reichtum, das was der Uberfluß. Und wenn mein Vater erklärte, daß er sich eine Ausgabe, die man von seiner Freigebigkeit erwartete, nicht leisten könne, dann pflegte er hinzuzusetzen: »Ja, wenn ich Meisls Gut hätte!«

Aus einer abgenützten Ledermappe, in der er augenscheinlich Dokumente und alte Familienbriefe verwahrt hielt, holte mein Hauslehrer das Testament des Mordechai Meisl hervor. Es war auf einen Foliobogen niedergeschrieben, der stark vergilbt, stockig und in fünf oder sechs Stükke zerfallen war, denn im Verlauf der Zeiten war das Dokument vermutlich allzu häufig entfaltet, gelesen und wieder zusammengelegt worden. Rehutsam nahm der cand. med. Meisl die einzelnen Stücke in die Hand und fügte sie auf der Tischplatte zu einem Ganzen zusammen.

Das Testament war in böhmischer Sprache abgefaßt. Es begann mit der Anrufung Gottes, der der ewig Lebende und Bestehende und der Erbauer der Welt genannt wurde. In einigen weiteren Zeilen, deren Schrift verwischt und nicht leicht zu entziffern war, bezeichnete der Mordechai Meisl sich als einen armen Mann, der nicht Geld noch Geldeswert sein eigen nenne und dem nichts geblieben sei, als die wenigen Dinge des täglichen oder festtäglichen Gebrauches, über die er nunmehr letztwillig zu verfügen begehre. Doch habe er, fügte er hinzu, keine Schulden und niemand könne mit Fug und Recht eine Forderung gegen ihn geltend machen.

Dann hieß es weiter:


»Das Bett, in dem ich schlafe, wie auch der Schrank sollen meiner Schwester Frummet gehören, daß sie meiner gedenke. Sie sei gesegnet, möge Gott ihr Glück mehren und sie vor Leid behüten. Den Rock für alle Tage und den Feiertagsrock, wie auch den Sitz in der >alten Schuh soll mein Bruder Josef haben. Möge Gott ihn seinen Kindern

lassen zu langen Jahren. Das tägliche und das pergamentne Feiertagsbetbuch soll dem Simon, meiner Schwester Frummet Sohn gehören, und die fünf Bücher Moses, auch von Pergament, dazu die Zinnschüssel für die ungesäuerten Brote dem Baruch, meines Bruders Josef Sohn. Die vier Bücher des Don Isak Abarbanel, die genannt sind >Das Erbteil der Väter<, >Die versammelten Propheten«, >Die Blicke Gottes« und >Die Tage der Welt«, soll der Elias haben, meines Bruders Josef Sohn, der Gelehrte, der von Stufe zu Stufe steigt. Und ihnen allen wünsche ich, was ihren Herzen lieb ist, dazu Gesundheit und Frieden vom Herrn der Welt, und daß er ihnen Kinder und Enkel schenke, die in der Weisheit und in der Lehre leben.«

Unter diesen von Segenswünschen begleiteten Verfügungen standen die Namenszüge der beiden Testamentszeugen. Der cand. med. Meisl hatte festgestellt, daß der eine von ihnen der Sekretär der Prager Judengemeinde war, während der andere das Amt des »Schulrufers« versah, also dafür zu sorgen hatte, daß die Mitglieder der Gemeinde vollzählig und pünktlich zum Gottesdienst erschienen.

»Am Tag, nachdem der Mordechai Meisl begraben worden war«, berichtete mein Hauslehrer, »fielen die Gerichtspersonen und die Leute der böhmischen Hofkammer in sein Haus, um auf alles, was an Geld und Geldeswert und in den Magazinen an Gütern vorhanden war, die Hand zu legen. Doch es war nichts da, und die Überraschung darüber mag groß gewesen sein. Man verhaftete den Philipp Lang, er wurde beschuldigt, bei dem Verschwinden des Geldes die Hand im Spiel gehabt zu haben. Auch die Anverwandten des Mordechai Meisl wurden in Haft genommen, doch ließ man sie bald wieder frei, denn sie konnten überzeugend dartun, daß nichts von dem verschwundenen Geld an sie gelangt war. Nun strengte der Fiskus ein Verfahren gegen die Prager Judengemeinde an und verlangte die Rückerstattung des Meisischen Vermögens. Dieser Prozeß zog sich 180 Jahre lang hin, erst unter Kaiser Joseph II. wurde er niedergeschlagen. Die Prozeßakten liegen im k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, und wenn du sie Seite um Seite durchgehst, wirst du den wahren Rechtstitel, auf den die Krone ihren Anspruch gründete, mit keinem Wort erwähnt finden.«

Mein Hauslehrer legte die Teile, in die das Testament zerfallen war, sorgfältig wieder zusammen und verwahrte sie in seiner Ledermappe.

»Dieser Elias, der von Stufe zu Stufe stieg«, sagte er, »soll mein Urahne gewesen sein, doch die vier Bücher des Don Isak Abarbanel sind nicht auf mich gekommen. Auf dem Weg durch die drei Jahrhunderte müssen sie sich verlaufen haben, sie sind verschwunden, weiß Gott, welcher meiner Vorfahren sie zum Pfandleiher getragen hat. Denn sie sind allesamt arme Leute gewesen, keiner von ihnen hat es zu etwas Rechtem gebracht. Vielleicht haben sie allzuviel darüber nachgegrübelt, warum nichts von Meisls Gut in ihre Hände gelangt ist. Vielleicht haben sie immer nur zurück auf das verlorene Erbe geschaut und nicht ins Leben, nicht in die Zukunft. Kleine Leute sind sie geblieben, und was bin ich? Ein verbummelter Student! Aber jetzt, vielleicht, da Meisls Gut... «

Er faßte den Gedanken, der ihm durch den Sinn ging, nicht in Worte. Eine Weile ging er schweigend im Zimmer auf und nieder. Dann erhob sich seine Stimme zu einer Totenklage um die Häuser des Ghettos, die der Zerstörung anheimgefallen waren, denn sein Herz hing an allem, was alt und zum Verschwinden bestimmt war.

»Sie haben das Haus >Zur kalten Herberge niedergerissen«, sagte er, »und das Haus >Zum Kuckucksei«. Sie haben das alte Backhaus niedergerissen, in das meine Mutter Woche für Woche ihren Sabbatkuchen getragen hat. Einmal hat sie mich mit sich genommen, und ich habe die mit Kupfer beschlagenen Tische gesehen, auf denen das Brot geknetet wurde, und die langgestielten Schaufeln, mit denen man es aus dem Ofen holte. Sie haben das Haus >Zur Blechkrone< demoliert und das Haus des hohen Rabbi Loew in der Breiten Gasse. Es hat zuletzt einem Kistenmacher als Magazin gedient, und als man die Kisten forträumte, fand man Vertiefungen in allen Wänden. Sie dienten keinem mystischen Zweck. In ihnen hat der hohe Rabbi seine kabbalistischen Rücher aufbewahrt.«

Er blieb stehen und fuhr fort, die Häuser aufzuzählen, die es nicht mehr gab.


»Das Haus >Zum Mäuseloch«. Das Haus >Zum linken Handschuhe. Das Haus >Zum Tode«. Das Haus >Zur Pfeffernuß«. Und das kleine Haus mit dem sonderbaren Namen, hier in der Gasse, das Häuschen >Keine Zeit«. In dem hat bis vor kurzem ein Hayduckenschneider seine Werkstatt gehabt, der letzte, der sich noch so nannte. Er fertigte Livreen für Herrschaftsdiener an.«


Er trat ans Fenster und blickte über die Giebel, die Höfe, die Bauplätze und die Hausruinen hinweg.


»Das dort«, sagte er, »war das Siechenhaus und das drüben das Armenhaus. Was du dort siehst, ist Meisls Gut.«


Er wies auf zwei Gebäude, von denen nur noch die bloßen Mauern standen, und die Spitzhacken taten weiter an ihnen ihr Werk. Und wir sahen, wie Meisls Gut in Schutt und Trümmer fiel und wie es sich noch einmal vom Boden erhob und in die Höhe stieg, eine dichte Wolke von rötlichgrauem Staub. Noch immer war es Meisls Gut, und es stand, und wir sahen es, bis es ein Windstoß forttrieb und verschwinden ließ.

NACHWOR T

»Mein Tag«, sagte die Rose, »war eines armen Mannes Tag mit Sorge, Müh und Plage. Große Herren und kleine Herren, Schurken, Schwätzer, Schelme und Lügenkredenzer, große Narren und kümmerliche Narren, - sie waren alle da, das war mein Tag.«

»>Was ist mit mir geschehen? Wo bin ich?<«


»Wo sind wir und was ist mit uns geschehen?«

Der Leser befindet sich im siebten Kapitel des Buchs Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz. Dieses Buch, Perutz' »kaum auszuschöpfendes Meisterwerk« (Dietrich Neuhaus), ist eines der denkwürdigsten und einzigartigen Erzählwerke deutscher Sprache in diesem Jahrhundert. Denkwürdig ist die Entstehungsgeschichte dieses Werks, die sich von 1924 bis 1951, von der Zwischenkriegszeit über den Faschismus, den Zweiten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit erstreckt und während derer aus dem erfolgreichen Wiener Schriftsteller ein in Palästina lebender nahezu unbekannter Autor wurde. Einzigartig ist die ästhetische Konzeption dieses Werks, das, sowohl Novellen-Zyklus als auch Roman, in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts keine Parallele findet.

1

»Mit >Meisls Gut< begonnen«, notierte Leo Perutz am 22. Juli, »die Ghettolegende ganz beendet«, vermerkte er am 15. August 1924 in seinem Notizbuch. »Meisls Gut« war der Arbeitstitel des Romans Nachts unter der steinernen Brücke bis zu dessen Drucklegung, der endgültige Titel wurde im Einvernehmen mit dem Verlag gewählt; »Legende aus dem Ghetto« hieß das erste Kapitel dieses Romans, das 1925 im »Neuen Merkur« abgedruckt und in der Buchfassung »Die Pest in der Judenstadt« überschrieben wurde.

Die Niederschrift der Ghettolegende fiel in die produktivste Schaffensperiode des 1882 in Prag geborenen, seit 189g in Wien lebenden jüdischen Schriftstellers. Sein erster Roman, Die dritte Kugel (1915), hatte ihn in literarischen Kreisen Deutschlands und Österreichs bekannt gemacht, der zweite, Zwischen neun und neun (1918), wurde, wie Egon Erwin Kisch schrieb, zum »größten Erfolg des deutschen Buchmarkts« der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die historischen Romane Der Marques de Bolibar (1920), Turlupin (1924) und der fälschlich als »Kriminalroman« aufgenommene Meister des jüngsten Tages machten Perutz in Deutschland und Österreich zu einem erfolgreichen und geschätzten Autor. Mit »Meisls Gut« hatte Perutz 1924 kaum begonnen, als er sich dem Romanstoff zuwandte, der ihm wegen des Vorabdrucks in der »Berliner Illustrirten Zeitung« 1928 die größte Popularität eintrug: Wohin rollst du, Apfelchen... »Meisls Gut«, das Projekt, von dem nur ein Kapitel geschrieben, das jedoch von vornherein als Roman konzipiert war, blieb für lange Zeit liegen. Unmittelbar vor der Machtübernahme Hitlers, die Perutz' Büchern den deutschen Markt versperrte, erschien der Roman St. Petri Schnee; der große historische Roman Der schwedische Reiter konnte 1936 nur noch in Österreich, Ungarn und der CS R erscheinen.

Nach dem Einmarsch der Nazitruppen ging Perutz ins Exil nach Palästina. Mit Wien verlor er nicht nur seine Heimat, sondern die geistige Welt, die kulturelle Umgebung und Atmosphäre, die den Schaffenshintergrund seiner Werke gebildet hatten. In Palästina lebte er unter schwierigen materiellen Bedingungen, am literarischen Leben nahm er schon wegen des Sprachproblems — Perutz sprach wenig und schrieb kein Iwrit — kaum teil. Um zu erklären, weshalb er in den zurückliegenden Jahren so wenig geschrieben hatte, teilte er Wiener Freunden, die nach Argentinien emigriert waren, im Jahre 1945 mit:

Ich habe hier weder Anregungen, noch Quellenmaterial, nichts, nicht einmal einen Menschen, dem ich meine Geschichten oder Einfälle erzählen könnte, und Sie wissen, wie notwendig ich dieses unaufhörliche Erzählen zur Formung, Abrundung und Weiterentwicklung eines Stoffes brauche.

An Joseph Than, mit dem er in Wien Filmskripts und Drehbücher verfaßt hatte, schrieb Perutz 1942, wie sehr ihn der Krieg und düstere Vorahnungen für die Nachkriegszeit am Sinn seiner Arbeiten zweifeln ließen:

Ich arbeite, gewiß, aber für wen und für wann? Ganz andre Dinge wird die Welt nach dem Kriege hören und lesen als die, die ich mir hier hinter geistigem Stacheldraht abquäle und, ohne jedes Erlebnis und Ereignis, ausdenke und in schönem Deutsch niederschreibe. Mit keinem kann ich über Arbeitsprobleme und Ideen ein Wort sprechen.

Trotz dieser düsteren Zukunftserwartungen arbeitete Perutz. Im April 1943 nahm er das Romanprojekt »Meisls Gut« wieder auf, das er ironisch »mein posthumes Werk« nannte. Novelle um Novelle des Romans wurde fertiggestellt, während Perutz zeitweise gleichzeitig an seinem letzten, tatsächlich posthum erschienenen Werk Der Judas des Leonardo arbeitete. Bereits im April 1945 schrieb er an seine Freunde in Argentinien: »>Meisls Gut< ist fertig, aber — weh mir und meinem Schlamassel! Wer interessiert sich heute für Novellen aus dem alten Prag?« Zwölf Tage später fügte er hinzu: »Es fehlen nur noch zwei kleine Geschichten, mit denen ich mich noch herumschlage; sie sind notwendig, um den Zusammenhang des Ganzen herzustellen. D.h. um aus einem Dutzend Alt-Prag-Novellen den Roman von Mordechai Meisl und Rudolf II. zu machen.«

Es vergingen annähernd sechs Jahre, bevor Perutz die konzeptionellen Probleme dieser zwei Novellen, »Das verzehrte Lichtlein« und »Der Engel Asael«, gelöst hatte. Am 15. März 1951 berichtete er seinen Freunden, das ganze Buch sei

so geworden, wie ich es mir immer erhofft habe. Ich habe das Maschinenscript vor einer Woche an Zsolnay geschickt, und wenn der — zum Teil—jüdische Inhalt des Romans für einen Verleger von heute kein handicap darstellt, so werde ich Ihnen vielleicht schon Ende des Jahres wieder ein neues Buch zuschicken können.

Ich glaube, das Buch ist mir wirklich gelungen, schade nur, daß ich es nicht vor zwanzig Jahren geschrieben habe. Kisch und Werfel hätten es gewürdigt, aber wo sind die beiden!

Kisch und Werfel waren tot, und die literarische Epoche, in der sie ihre Erfolge hatten, war vorüber. Perutz' Ahnung, daß der jüdische Stoff ein Problem für die Publik ation des Romans darstellen könnte, erwies sich als nur allzu begründet. Am 5. Juli 1951 schrieb der Verleger Paul Zsolnay seinem Autor, »wie sehrich Ihr Werk liebe und schätze, daß ich aber nicht glaube, es mit Erfolg bei der gegenwärtigen Einstellung der Leser in Deutschland und Osterreich herausbringen zu können«. Auf diese Weise teilte ein emigrierter jüdischer Verleger einem emigrierten jüdischen Schriftsteller mit, sein Roman könne wegen des jüdischen Stoffes im Nachkriegs-Österreich und -Deutschland nicht erscheinen.

Im Jahre 1953 brachte die Frankfurter Verlagsanstalt den Roman Nachte unter der steinernen Brücke heraus. Von der literarischen Kritik wurde der Roman mit hohem Lob

Загрузка...