bedacht — Hilde Spiel, Friedrich Sieburg, Hans Reimann, Friedrich Torberg und andere namhafte Kritiker bezeichneten Perutz' Prag-Roman als erzählerische Meisterleistung, doch der Erfolg bei den Lesern blieb zunächst aus. Spätere Ausgaben bei der Europäischen Verlagsanstalt, im Zsolnay Verlag und verschiedenen Taschenbuchverlagen brachten dem Roman zwar einen gewissen Erfolg bei der Leserschaft, die gebührende Anerkennung als Meisterwerk historischer Erzählkunst aber hat Nachts unter der Steinemen Brücke bis heute nicht gefunden. 2


In dieser Nacht erlosch die Pest in den Gassen der Judenstadt.

In dieser Nacht starb in ihrem Haus auf dem Dreibrunnenplatz die schöne Esther, die Frau des Juden Meisl.

In dieser Nacht fuhr auf seiner Burg zu Prag der Kaiser des Römischen Reiches, Rudolf II., mit einem Schrei aus seinem Traum.

Die drei anaphorischen Schlußsätze der Eingangsnovelle »Die Pestin der Judenstadt« stellen zunächst ein komplexes Rätsel dar. Welche Beziehung die schöne Jüdin Esther mit dem Kaiser des Römischen Reichs, Rudolf II., verbindet, schildert erst die siebte Novelle, »Nachts unter der steinernen Brücke«, und der Zusammenhang, der zwischen der Traumliebe Rudolfs zu Esther und der Pest in der Judenstadt besteht, wird nicht vor der letzten, der vierzehnten Novelle des Romans erläutert, die »Der Engel Asael« überschrieben ist. Erst aus der Retrospektive vermag der Leser zu erkennen, daß der Handlungskern des Romans in symmetrischer Anordnung auf die erste, siebte und dreizehnte

Novelle konzentriert ist, daß Rudolf II., Mordechai Meisl, dessen Frau Esther und der hohe Rabbi Loew die Protagonisten des Romans sind, und erst an dessen Ende vermag er all die Fäden zu verknüpfen, die die Schicksale dieser Figuren miteinander verbinden. Die einzelnen Novellen, die den Zeitraum von 1571 bis 1621 umspannen, bieten aus den Lebensgeschichten der Protagonisten lediglich Fragmente auf eine höchst diskontinuierliche Weise dar. So erscheint Mordechai Meisl z. B. in den Novellen abwechselnd als der bloße Name eines Unbekannten, als sagenhaft reicher Kaufmann und Handelsherr, als gänzlich mittelloser Knabe, als Verstorbener, als nach Armut strebender rachsüchtiger Greis — und gleichwohl besitzt der Leser am Ende des Romans nicht nur von ihm, sondern von allen Hauptfiguren eine kontinuierliche und lückenlos motivierte Geschichte. Während der Lektüre selbst aber ist der Leser stets mit der Aufgabe konfrontiert, aus der nicht chronologischen Folge in sich abgeschlossener Novellen eine kontinuierliche Romanhandlung zu entwerfen und zu komplettieren. Das Gelesene will, wie ein Vexierbild, stets auf zwei Ebenen zugleich entziffert und ergänzt werden: während der Leser die innere Ordnung der einzelnen Novelle nachvollzieht, muß er gleichzeitig stets den Beitrag zu ermitteln suchen, den sie zum Aufbau der Romanhandlung leistet. Auf diese Weise gelingt es Perutz, den Leser zum Konstrukteur eines lückenlos durchkonstruierten Romans zu machen.

Für diese Erzählkonzeption lassen sich literarische Vorbilder vor allem in den Novellenzyklen der Romantik finden, doch für die von Perutz gewählte Verknüpfung in sich abgeschlossener, selbständiger Novellen zu einem Roman findet sich weder hier noch in späteren Novellenromanen eine unmittelbare Entsprechung. Wie reflektiert diese Erzählkonzeption ist, läßt sich einer der überaus seltenen Anmerkungen Perutz' zu seinem poetischen Verfahren ent276

nehmen. In einem Begleitbrief zu seinem Bomantyposkript schrieb Perutz am 15. März 1951 an Paul Zsolnay:

Es ist, wie Sie sehen werden, ein Roman mit einem etwas eigenwilligen Aufbau. Die einzelnen Kapitel sehen aus und lesen sich wie selbständige Erzählungen, und es dauert einige Zeit, ehe man darauf kommt, daß man Kapitel einer eigentlich ziemlich straffen Romanhandlung vor sich hat, die aber nicht chronologisch erzählt wird. So ist der Beginn der Handlung erst im letzten, dem vierzehnten Kapitel zu finden, während das erste seinen Stoff aus der Mitte der Handlung sich holt. Und doch erscheint mir diese Anordnung nicht willkürlich, sondern als die einzig denkbare und mögliche.

Nachts unter der steinernen Brücke ist der literarischen Gattung nach ein historischer Roman, doch wenngleich der Prag-Boman seinen Stoff der Geschichte, Sage und Legende entnimmt, handelt es sich bei ihm nicht um ein selbstgenügsames historisches Gemälde einer versunkenen Zeit. Der Rahmen des »Epilogs« und die in die zweite, vierte, achte und neunte Novelle eingeschobenen Rahmen-Stücke machen Perutz' Roman zu einer asymmetrischen Rahmenerzählung, in der die Fiktion erzeugt wird, es handle sich bei den Novellen um mündliche Erzählungen, die dem Erzähler im Alter von fünfzehn Jahren von seinem Nachhilfelehrer, dem verbummelten »stud. med. Jakob Meisl«, einem Nachfahren des legendären Mordechai Meisl, überliefert wurden. Beschwört Perutz mit dieser Fiktion einerseits die Ur-Situation des Erzählens und mit ihr die Authentizität der über Generationen hinweg überlieferten Geschichten, so zerstört er andrerseits die Illusion eines naiven historischen Erzählens, indem er den Zeilenabstand zwischen dem Erzählten und dem Erzählen hervorhebt. Jakob Meisl erzählt seine Geschichten zur Zeit der Assanierung des Prager Judenviertels (i8g6—1902), der die alte historische Judenstadt zum Opfer fiel. Niedergeschrieben wurden diese Erzählungen indes, so erläutert der Erzähler zu Beginn des Epilogs, erst fünfzig Jahre später — und es bedarf keiner Erläuterung, daß dies die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist, in der nach der Vernichtung des Prager Judentums dessen Geschichte und Kultur insgesamt in Vergessenheit zu geraten drohten. Schon die erzählerische Rahmenkonzeption mit ihrem doppelten Zeitenabstand deutet den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Vergessen an, der im Roman selbst auf vielfältige Weise zum Thema wird.

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Die Handlung des Romans Nachts unter der steinernen Brücke spielt in zwei getrennten Welten, der Welt der Prager Judenstadt und der Welt der Burg Rudolfs II. Zwischen diesen Welten skizziert Perutz drei Verbindungswege: das Geld, die Kunst und die Liebe. Die einzige reale Verbindung schafft das Geld, das das Schicksal Rudolfs II. mit dem Mordechai Meisls verknüpft. Rudolf, der Repräsentant der dynastischen Macht, ist ständig in Geldnöten, nicht so sehr, weil er sich der protestantischen Stände oder der »brüderlichen Liebe« seines Rivalen Matthias erwehren muß, sondern weil nach dem Verlust der Traumgeliebten Esther seine einzige Liebe der großen, teuren Kunst gilt — »er liebte die Künste, er lebte nur für sie«, berichtet der Erzähler in der Novelle »Der Maler Brabanzio«. Mordechai Meisl hingegen entwickelt nach dem Verlust seiner Frau eine eigentümliche »Ehrsucht«: »Er trachtete nach Freiheiten, Rechten und Privilegien, die ihn über seinen Stand erheben sollten, auch wollte er durch einen Majestätsbrief auf allen seinen Wegen gesichert und befördert sein.« Die geschäftliche Beziehung zwischen Meisl und Rudolf stellt der betrügerische Kaiserliche Rat Philipp Lang her; es ist die einzige längerfristige Verbindung zwischen dem Kaiser und dem Juden.

Die Kunst stiftet nur eine einmalige und zufällige Begegnung zwischen Rudolf und Meisl. Im Haus des Malers Brabanzio begegnen sich unbeabsichtigt der Kaiser, der an den Bildern Brabanzios interessiert ist, und der Jude, der ein Bildnis seiner verstorbenen Frau in Auftrag gegeben hat. Aber Meisl, so heißt es in der Novelle »Der Maler Brabanzio«, »erkannte den Kaiser nicht, und der Kaiser nicht ihn«. So kommt eine Verbindung des Kaisers mit dem Juden über die Kunst nicht zustande, denn daß Meisl das Bild Esthers erhält, das der Kaiser »in völliger Entrücktheit« gezeichnet hatte, ist von Rudolf II. nicht beabsichtigt. Der Maler Brabanzio schließlich ist an dem wenig kunstverständigen Juden ebenso desinteressiert wie an dem kunstverliebten Kaiser — »Toren sind, die den Königen dienen«, weist er den unbekannten Besucher zurecht, der ihm den Kaiser als Mäzen preist. Es sind drei einander wesensfremde Männer, die in Perutz' Künstler-Novelle aufeinandertreffen, unzusammenhängende Reden führen und Dinge tun, die unbeabsichtigte Konsequenzen haben. Der Künstler Brabanzio erhält von Meisl Geld für ein Porträt, das er nicht gezeichnet hat und das seinen künstlerischen Maßstäben nicht entspricht; Meisl ist dankbar für ein lebensähnliches Bild seiner verstorbenen Frau, das nicht der Maler, sondern der Kaiser, der Traumgeliebte Esthers, gezeichnet hat; während der Künstler und der Jude so etwas erhalten, das sie nicht erwarten konnten, geht der Kaiser leer aus, denn er hat kein Geld in der Tasche, um ein Bild Brabanzios kaufen zu können, und das Bild Esthers, das er selbst gezeichnet hat, läßt er »achtlos« fallen.

Die dritte, freilich recht unwirkliche Verbindung zwischen Burg und Judenstadt stellt die Traumliebe Rudolfs zu Esther dar. Das ist keine »glückliche Liebe«, denn sie besitzt keine Zeit, keinen Ort, ihre Wirklichkeit bleibt die des Traums, und eingebettet ist diese Traumliebe in eine Handlungssequenz voller Brutalität und Haß. Der Ursprung dieser Scheinidylle ist eine Erpressung: »Wenn ich bei dir keinen Gehorsam finde und keine Liebe bei der, an die ich immer denke, dann will ich die Juden allesamt als ein ungetreues Volk aus meinen Königreichen und Ländern vertreiben, das ist mein Wille und mein Beschluß, und das werde ich tun, so wahr mir Gott helfe!« Unter dieser blasphemischen Drohung Rudolfs II. hat der hohe Rabbi Loew, dessen Leben dem Erkennen und der Weisheit gewidmet ist, die Traumliebe zwischen Rudolf und Esther auf mystische Weise gestiftet. Dieser Traum verwirklicht aber nicht nur deren Liebe, sondern auch die »Sünde Moabs«, und als deren Sühne kommt »der Zorn Gottes über die unschuldigen Kinder«, die Pest über die Judenstadt, und um sie zu beenden, löscht Rabbi Loew das Leben Esthers aus. Wie erfüllt die Liebe zwischen Rudolf und Esther im Traum sein mag, es ist keine idyllische, sondern eine erpresste Liebe, für deren Verwirklichung die Vertreibung der Juden von Rudolf bewußt einkalkuliert war und deren Konsequenz die Pest und der Tod Esthers sind. Welch eine wahre Idylle ist dagegen die Rettung der Juden durch die Esther der biblischen Erzählung!

Zerstörerisch sind die Folgen seiner Liebe aber letztlich auch für den Kaiser. Mordechai Meisl nämlich, der spät erst Zusammenhänge zu erkennen glaubt, entwickelt das Rachebedürfnis eines Shylock: »In seinem Herzen war Trauer, aber größer noch als die Trauer waren sein Haß und das brennende Verlangen, sich an dem Mann zu rächen, der ihm sein Weib genommen hatte.« Um sein Geld nach seinem Tode nicht dem Kaiser in die Hände fallen zu lassen, beschließt Meisl, es zu Lebzeiten für nützliche Bauwerke und wohltätige Zwecke in der Judenstadt restlos auszugeben: welch ein — übrigens nicht historisches — Motiv für Wohltätigkeit! Dem Kaiser fehlen nach dem Tod Meisls die Mittel, um ein Heer gegen die protestantischen Stände aufzustellen — sein Untergang ist besiegelt.

Eine auf wechselseitigem Vertrauen, Verständnis und Respekt beruhende lebensfähige Verbindung zwischen der Judenstadt und der Prager Burg gibt es in Perutz' PragRoman, der um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert spielt, nicht — in einer Zeit, die in der jüdischen Geschichtsschreibung als »das goldene Zeitalter des Prager Judentums« (Leopold Zunz) bezeichnet worden ist.

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Wenngleich der Roman Nachts unter der steinernen Brücke erst aus der Verknüpfung der Novellen hervorgeht, so kann doch jede dieser Novellen als ein selbständiges Kunstwerk für sich bestehen. Novellen wie die »Sarabande« oder »Das Gespräch der Hunde« machen besonders deutlich, daß sie sich keinesfalls auf den Beitrag reduzieren lassen, den sie zur Romanhandlung leisten. Ferner entsteht durch Motiventsprechungen, Verweise, Vorausdeutungen und Prophezeiungen zwischen den Novellen eine enge Verbindung, die mit der für die Romanhandlung notwendigen Verknüpfung nicht identisch ist. So sind, um nur ein Beispiel zu nennen, der hohe Rabbi Loew, der Astronom Kepler und der Alchimist van Delle sehr individuell gestaltete Figuren, die in gänzlich verschiedenen Handlungssträngen auftreten, zugleich aber sind sie als Repräsentanten des Strebens nach Erkenntnis identifizierbar, obgleich sie dieses Ziel auf sehr verschiedenen Wegen zu erreichen suchen.

Das für die literarische Gattung der Novelle charakteristische Motiv des Erkennens und Nicht-Erkennens spielt in einer Vielzahl der Novellen eine Rolle. So macht Wallenstein etwa dadurch sein Glück, daß er seine Nachbarin Lucrezia von Landeck trotz allerlei Täuschungsmanöver und trotz ihrer Maskierung erkennt. Welche Hellsichtigkeit mitunter hinter der >Blindheit< Kaiser Rudolfs verborgen ist, geht aus der Novelle »Der Heinrich aus der Hölle« hervor, in der der Kaiser als einziger im feierlichen »Aufzug eines kaiserlich-marokkanischen Gesandten« seinen einstigen diebischen Futterknecht Heinrich Twaroch wiedererkennt. Das ganze irdische Unglück des mit Glücklosigkeit geschlagenen Berl Landfahrer schließlich wäre auf einen Schlag behoben, wenn Meisls »Pudelhund« ihn zu erkennen und zu dem Geld zu führen vermocht hätte, das Meisl für ihn vergraben hat.

Eine leitmotivische Funktion besitzt der Traum im Roman. Dem im Duell besiegten und von seinem Kontrahenten, Baron Juranic, zum Tanz gezwungenen Grafen Collalto erscheint es in der Novelle »Sarabande« »plötzlich, als ob dies alles, die Stimme des Barons, das Plätschern der Fontäne, die Degenspitze an seiner Brust und die Musik, die jetzt ganz aus der Nähe erklang, nur ein schwerer Traum wäre«. Um sein Leben tanzend muß der Graf erfahren, daß er sich in der Wirklichkeit befindet.

Rudolf II. berichtet seinen Räten in der Novelle »Der Heinrich aus der Hölle« von einem Traum, den er in drei aufeinander folgenden Nächten hatte und in dem ihm drei Teufelsboten in Gestalt einer Krähe, eines Kuckucks und einer Hummel prophezeiten, er werde, wenn er dem Christenglauben nicht abschwöre, seinen »geheimen Schatz« einbüßen und die Kaiserkrone an den Bruder Matthias verlieren: »Und unter des Frevlers Herrschaft werde der Krieg kommen in allen Ländern vom Aufgang bis zum Niedergang, mit Verfinsterung des Mondes und der Sonne, mit vielen feurigen und blutigen Zeichen am Himmel und auf der Erde, mit Rebellion, Blutvergießen, fallenden Seuchen und Hungersnot.« Den kaiserlichen Räten gelingt es, Rudolf davon zu überzeugen, daß sein Traum nur »Teufelstrug und Teufelsgespinst« gewesen sei — aber die im Traum enthaltene Prophezeiung wird Wirklichkeit.

Zum Thema wird das Traum-Motiv in der Kern-Novelle »Nachts unter der steinernen Brücke«, in der Perutz auf eine hintergründige ironische Weise mit der Verkehrung von Traum und Wirklichkeit spielt. Im Traum erinnert sich Rudolf seines ersten Beisammenseins mit Esther, und es ist ihm »wie ein Wunder oder wie ein Traum«. Seiner Geliebten hingegen erscheint die Wirklichkeit ihres Tages als traumhaft: »Ich geh' durch ihn wie durch einen Nebel, ich find' mich nicht zurecht, er ist nicht wirklich, er ist Trug. Phantome rufen mich an, ich höre mich sprechen und weiß nicht, was ich sag'. Dann vergeht der Tag, wie ein Spuk zerstiebt, wie Rauch verweht, und ich bin bei dir. Du allein bist Wirklichkeit.« Wenngleich der Rudolf ihres Traums keine Wirklichkeit besitzt, weiß Esther doch im Traum von der »Sünde Moabs«, die sie Nacht für Nacht begeht; am Tag indes beruhigt sie sich bei dem Gedanken, daß alles »ein schöner Traum, aber, gelobt sei der Schöpfer, doch nur ein Traum« ist. Die innere Logik des Romans enthüllt mit sublimer Ironie, daß Esther im Traum eine wirklichkeitsgerechtere Einsicht in ihre Schuld besitzt als in der Wirklichkeit.

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Wie in allen seinen historischen Romanen geht Perutz auch in Nachts unter der steinernen Brücke mit der historischen Realität sehr frei um. Quellenstudien für den Roman hatte er 1924 vor der Niederschrift der ersten Novelle, »Die Pest in der Judenstadt«, betrieben, in Palästina standen ihm Quellen, wie er seinem Bruder im Oktober 1943 schrieb, nicht zur Verfügung: »Ich habe hier für >Meisls Gut< keine anderen benutzbaren Quellen als meine Jugenderinnerungen, die aber, je älter ich werde, desto reichlicher strömen und mir immer neuen Stoff geben, und wenn sie nicht ganz getreu sind, so kommt das den Geschichten nur zugute.«

Es ist faszinierend zu beobachten, wie Perutz historische Fakten, jüdische Legenden und volksläufige Sagen in seinem Roman teils nach den Quellen, teils in freier Umgestaltung verarbeitet. Alle Figuren im Vordergrund der Romanhandlung sind historische Gestalten, um die sich freilich schon zu Lebzeiten oder bald nach ihrem Tod ein Kranz von Legenden zu ranken begann: Kaiser Rudolf II., Rabbi Loew, Mordechai Meisl, die Kaiserlichen Räte, Wallenstein, Kepler und viele andere. Eine im Jahre 1592 verbürgte Begegnung zwischen Rudolf II. und Rabbi Loew nahm Perutz vermutlich zum Ausgangspunkt der Fabel des Romans; der 1592 ausgestellte, 1598 erneuerte Majestätsbrief Rudolfs II. für Mordechai Meisl ist historisch ebenso überliefert wie die Machinationen des Kaiserlichen Rats Philipp Lang, der sich in einem Gerichtsverfahren für die Unterschlagung von Geldern aus Meisls Vermögen verantworten mußte. Das Liebesverhältnis Rudolfs II. zur Frau des Mordechai Meisl war ein — literarisch schon im 19. Jahrhundert mehrfach verarbeiteter — Stoff, den Perutz einer Prager jüdischen Legendensammlung entnehmen konnte, die auch Rabbi Loews wunderbare Rettung der Judenstadt vor der Pest überlieferte. Für mehrere Einzelzüge der Novellen griff Perutz auf die Sippurim zurück, eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Mythen und Legenden; sie enthielten z. B. die sagenhafte Erklärung von Mordechai Meisls Beichtum, die Perutz in der Novelle »Der entwendete Taler« ausgestaltete.

Wie souverän Perutz mit der historischen Überlieferung und literarischen Vorbildern verfuhr, kann exemplarisch

die Novelle »Das Gespräch der Hunde« verdeutlichen. Die Novelle entnimmt ihren Stoff einem historisch verbürgten Ereignis, das sich um die Jahreswende 1621/22 zutrug. Nachdem ein Wachsoldat in das Haus des Statthalters eingebrochen war, erließ Wallenstein den Befehl, niemand dürfe kaiserliches Gut von einem Soldaten kaufen. Ein Jude, der in Unkenntnis dieses Befehls einen Mantel aus Heeresbeständen erworben hatte, wurde inhaftiert und sollte am nächsten Tag, zusammen mit zwei Hunden, auf dem Schindanger gehängt werden, konnte jedoch gegen eine hohen Geldbetrag von den Ältesten der jüdischen Gemeinde freigekauft werden.

Über das Gespräch, das die beiden Hunde in der Gefängniszelle miteinander und mit dem inhaftierten Juden führten, schweigt sich die historische Quelle freilich aus. Das Vorbild für die sprachmächtigen Hunde entnahm Perutz der literarischen Tradition. In den Novelas ejemplares des Cervantes findet sich die »Novelle und Zwiegespräch, das sich begab zwischen Cipion und Berganza, Hunden des Hospitals de la Resurreccion«, auf die Perutz' Vorbild E.T.A. Hoffmann zurückgriff, als er die »Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza« in den Fantasiestücken in Callots Manier mitteilte. Wenngleich Perutz das Motiv der sprechenden Hunde auch in jüdischen Legenden und in den »Gedanken eines Hundes« finden konnte, die der von ihm verehrte Anatole France der Nachwelt überliefert hatte, so ist doch die Verknüpfung des Gesprächs der Hunde mit der Geschichte Rerl Landfahrers und Mordechai Meisls Perutz' eigene Erfindung. Der Dialog zwischen dem »Bauernköter« und dem Urbanen »Pudelhund«, in dem die Kommunikationsschwierigkeiten über Wälder, Füchse und Gänse sprachphilosophische Dimensionen annehmen, gehört zweifellos zu den Glanzleistungen der ironischen Erzählkunst von Le o Perutz.

In seinem Roman stützt Perutz sich nicht nur auf eine Vielzahl historischer Quellen, er gibt auch die wichtigsten Stationen der Geschichte Prags und Böhmens in Ubereinstimmung mit der Geschichtsschreibung wieder. Die Pointe in seinen historischen Romanen hegt stets darin, daß er den historischen Ereignissen ihre Stellung und Bedeutung im Geschichtsprozeß beläßt, sie jedoch auf gänzlich andere Weise als die wissenschaftliche Geschichtsschreibung »erklärt«. »Ein Hund, der bellte, und ein Hahn, der krähte, die haben das Glück des Wallenstein begründet. [...] Davon wirst du freilich in deinem Gymnasium nichts gehört haben, denn dort trichtert man euch nur Jahreszahlen ein.« Die Erklärung für den Reichtum Wallensteins, die der Nachhilfelehrer seinem Zögling zum Abschluß der Novelle »Der Stern des Wallenstein« gibt, dürfte in der Tat nicht zum Lehrstoff der Gymnasien gehören. Auch die Gründe für die Niederlage der böhmischen Protestanten und den Verlust der »evangelischen Freiheit«, die der Erzähler in der Novelle »Des Kaisers Tisch« anführt, dürften in keinem Geschichtsbuch zu finden sein. Aber was die »Geschichtsprofessoren am Gymnasium und die Herren, die die Geschichtsbücher für die Schulen verfassen« an Ursachen für die Niederlage der Protestanten in der Schlacht am Weißen Berge anführen, ist—so verkündet der Nachhilfelehrer stud. med. Jakob Meisl selbstbewußt— »alles Unsinn«; die Schlacht ging verloren, weil der Peter Zaruba von Zdar, ohne es zu wissen, »von des Kaisers Tisch« gegessen hatte.

Der Geschichtsverlauf in Perutz' Boman scheint determiniert von Prophezeiungen, Träumen und Verwünschungen. Am Weg eines Geldstücks in der Novelle »Der entwendete Taler« zeigt Perutz exemplarisch, welch verschlungene Pfade das Schicksal oder — wie der junge Rudolf glaubt — »die göttliche Providenz« geht, um sich schließlich im Sinne der traumhaften Prophezeiung zu erfüllen. Die in Träumen, Warnungen und Verwünschungen enthaltenen Prophezeiungen werden Wirklichkeit, ohne auf die Einsichten und Absichten der handelnden Menschen Rücksicht zu nehmen: Peter Zaruba kennt »die Prophezeiung des Johannes Zischka« und ißt gleichwohl »von des Kaisers Tisch«. Die determinierende Kraft solcher Prophezeiungen hat Alfred Polgar einmal als die »überlogische Kausalität« in Perutz' Romanen bezeichnet:

Es ist ein Wirkungs-Geheimnis dieser Bücher, daß die Ereignisse, deren Chronik sie sind, nicht nur ihre, mit aller Technik und Schlauheit einer ausgepichten Erzählerbegabung gefügte logische Folgerichtigkeit haben, sondern auch eine überlogische Kausalität, deren Kette letztes Stück durch Gottes Finger läuft. Der ist in jedem Buch von Perutz, so fem es aller Gläubigkeit und Religiosität, merkbar.

Diese »überlogische Kausalität« stiftet in den Romanen von Perutz eine ungeheuer dichte narrative Ordnung zwischen den kontingenten Handlungen der Romanfiguren. Das Geschehen ist von Vorausdeutungen bestimmt, die den handelnden Figuren nicht helfen, ihren Handlungen aber zumindest im nachhinein einen Sinn zu geben vermögen. Die simplen Fakten in der Lebensgeschichte eines Menschen wie in der großen Geschichte sind mit vielen Deutungen vereinbar, mit denen der Geschichtsbücher ebenso wie mit denen der historischen Romane. Für die Figuren in Perutz' Romanen müssen die Erklärungen historischer Fakten keinen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, sondern einen befriedigenden lebensgeschichtlichen Sinn ergeben, denn ohne ihn kann ein Mensch weder leben noch sterben, wie der Tod des Alchimisten van Delle (»Der vergessene Alchimist«) und das Nicht-Sterben-Können Mordechai Meisls (»Das verzehrte Lichtlein«) sinnbildlich verdeutlichen.

»Wer hat Recht? Die Dichtung oder die Historiker?« fragte Perutz in der Rezension eines historischen Romans von Anatole France schon im Jahre 1907. Perutz hat diese Frage nie zu beantworten gesucht. Die seit Nietzsches Un zeitgemäßer Betrachtung< Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben in der deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis in die Exilliteratur heiß diskutierte Frage, ob die Wahrheit der Geschichte eine Domäne der Dichtung oder der wissenschaftlichen Historiographie sei, dürfte Perutz wenig interessiert haben. Der in der Wahrscheinlichkeitstheorie versierte Versicherungsmathematiker war auch als Romancier ein hartgesottener Skeptiker; Historiographie und Dichtung erschienen ihm als zwei gänzlich andersartige, verschiedene Ziele verfolgende und nach unterschiedlichen Methoden verfahrende konstruktive Bemühungen der Menschen, sich der Geschichte zu erinnern und sich ihres Ortes in ihr zu vergewissern. Perutz gestaltete die Geschichte in seinen Romanen stets als Tragikomödie, er glaubte an keinen der menschlichen Vernunft zugänglichen Sinn der Geschichte. Die den jüdischen Legenden zugrunde liegende Uberzeugung, daß alle Ereignisse der Geschichte in einem geheimnisvollen Zusammenhang stehen und nach einem einheitlichen Plan verlaufen, mag ihm für Nachts unter der steinernen Brücke als ästhetisches Konzept gedient haben — geteilt hat er diese Uberzeugung nicht. Als überlegen erweist sich die historische Dichtung gegenüber der wissenschaftlichen Historiographie nicht im Hinblick auf den Wahrheitsanspruch, sondern nur auf ihrem eigenen Feld: in der ästhetischen Prinzipien verpflichteten, möglichst dichten, keinen Charakterzug und keine Handlung überflüssig oder ungedeutet lassenden narrativen Verknüpfung der Ereignisse zu einem konsistenten Bild. Der Roman Nachts unter der steinernen Brücke beansprucht nicht, ein wahres Bild der Geschichte Prags im Ubergang vom 16. zum 17. Jahrhundert zu geben, sondern ein das kontingente Handeln historischer und fiktiver Figuren zu möglichst großem und vielfältigem Sinn- und Beziehungsreichtum verdichtendes Erinnerungsbild.

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Die tiefste Wirkung der Kunst der Erinnerungsbilder ist eine mystische, die die Menschen aus ihrer Selbstvergessenheit befreit und sie zu Einkehr und Umkehr führt.

Der Baron Juranic schenkt dem im Duell besiegten hochfahrenden und überheblichen Grafen Collalto das Leben, aber nur um sich am musikalischen Spektakel einer »Sarabande« zu ergötzen, zu der sein Gegner durch die nächtlichen Straßen Prags um sein Leben tanzen muß. Der zu Tode erschöpfte Graf wendet sich um Hilfe an den hohen Rabbi Loew, dieser möge ein Jesusbild erscheinen lassen, damit die katholischen Diener des Rarons eine Andachtpause einlegen und ihn zu Atem kommen lassen. Der Rabbi läßt auf einer Mauer »aus Mondlicht und Moder, aus Ruß und Regen, aus Moos und Mörtel ein Bild entstehen«, das den Ecce Homo zeigt. Dieses Bild besitzt eine derartige Kraft, »daß der Baron mit seinem steinernen Herzen von einem Blitzschlag des Selbsterkennens getroffen wurde und als erster in die Knie sank. Und vor diesem >Ecce Homo< klagte er sich an, daß er in dieser Nacht ohne Erbarmen und ohne die Furcht Gottes war.«

Es war aber nicht Christus, den das aus dem Staub der Geschichte geformte Bild zeigte. Es »war nicht der Heiland, nicht der Gottessohn, auch nicht der Sohn des Zimmermanns, der aus dem galiläischen Gebirge in die heilige Stadt gekommen war, um das Volk zu lehren und für seine Lehre den Tod zu erleiden«, nein, es war, wie der Nachhilfelehrer seinem Schüler erläutert, »das Judentum, das durch die Jahrhunderte hindurch verfolgte und verhöhnte Judentum, das auf diesem Bild seine Leiden offenbart hat«. Der Rabbi hat in der Ikonographie des Christentums die Leiden des Judentums offenbart: es ist ein mystisches Bild, in dem die Geschichte und der Streit um den wahren Glauben stillgestellt sind. Leo Perutz war kein Mystiker, und so nimmt das Bild des Rabbi, das durch seine Darstellung jüdischen Leidens zwei selbstvergessene Christen zur Einkehr bewegt, in seinem Roman ebensosehr eine Sonderstellung ein wie die Novelle »Sarabande«, in der allein es erscheint.

Daß Christen durch die Offenbarung jüdischen Leidens im Bild des Ecce Homo aus ihrer Selbstvergessenheit erlöst und gerettet werden könnten — das war im Jahre 1945, als die Vernichtung der Juden durch die Deutschen in Europa einen Höhepunkt erreichte, ein sehr kühnes literarisches Bild. Die Novelle »Sarabande«, die er 1943 schrieb, konnte, so vermerkte Perutz in seinem Notizbuch dieses Jahres, nicht früher entstehen — »das persönliche Erlebnis hätte gefehlt«.

Die nicht mystische Funktion der Kunst ist die Verwandlung von Unbedeutendem in Bedeutendes, von Ungedeutetem in Gedeutetes. In der Schneiderwerkstatt des Malers Brabanzio fällt der Blick des Kaisers auf ein Aquarell des Künstlers:

Es stellte eben jenes Gärtchen vor, durch das der Kaiser kurz zuvor gegangen war, ohne ihm einen Blick zu schenken. Nicht viel anderes war auf dem Bild zu sehen als ein Schlehendombusch und ein entlaubter Baum mit dünnem Geäste, eine Schneepfütze und die Latten eines Zauns, aber über all dem lag ein Zauber, der mit Worten nicht auszudrücken war,


- winterliche Schwermut und Vorahnung des Frühlings oder vielleicht auch nur jene Anmut, die bisweilen der Armseligkeit und der Unscheinbarkeit zu eigen ist.

Der Maler Brabanzio soll nach dem Willen des Mordechai Meisl ein Porträt von dessen verstorbener Frau anfertigen, aber er erklärt sich trotz des ihm winkenden überaus stattlichen Honorars außerstande dazu: »>Wenn ich eines Menschen Bildnis male<, sagte er mehr zu sich als zu ihm, >so ist's mir nicht genug, daß ich sein Gesicht betrachte, das wandelbar ist und heute so aussieht und morgen anders. Ich stelle ihm Fragen, und ich lasse nicht nach, ehe ich ihm nicht ins Herz geblickt habe. Denn nur so bringe ich etwas Gutes zuwege.<« Mordechai Meisl beschreibt seine Frau in Gleichnissen und Bildern, die Brabanzio nicht einmal eine Vorstellung von Esthers Physiognomie zu geben vermögen, aber vor dem in der Maske eines Schreibers eingetretenen Kaiser steigt, »von jenen Worten beschworen, [...] das Bild der Traumgeliebten vor seinen Augen auf, er sah sie so klar, so deutlich wie nie zuvor«. Rudolf fertigt eine Silberstiftzeichnung von Esther an, doch das Bild ist ihrem Wesen nicht ähnlich:

Vielleicht, sagte er sich, habe ich ihr zu sehr ins Antlitz gesehen und zu wenig in ihr Herz, so könnt' ich's nicht zuwege bringen. - Achtlos ließ er das Bild zu Boden fallen. Er stand auf. Ihn fröstelte, und es war ihm, als hätte er sie jetzt erst für immer verloren.

Das Bewußtsein, Esther für immer verloren zu haben, ergreift Rudolf in dem Augenblick, als er feststellt, daß er kein Erinnerungsbild von ihr zu zeichnen vermag, da er ihr »zu wenig ins Herz« gesehen hat. Verloren ist, wovon wir uns kein Bild zu machen vermögen, das dem Wesen der erinnerten Person oder des erinnerten Gegenstandes entspricht.

Mordechai Meisl vermag sein »Täubchen« auf dem Bild wiederzuerkennen, aber er besaß kurz zuvor nicht einmal eine genaue visuelle Erinnerung des Antlitzes seiner Frau, und in seinem Herzen überwiegt, als er die Verbindung Rudolfs zu Esther entdeckt zu haben glaubt, die Rache der Trauer. Der Kaiser hingegen reagiert auf den Verlust seiner Geliebten mit einer geradezu manischen Liebe zur Kunst, als wolle er den Verlust des Rildes von Esther durch den Besitz bedeutender Bilder kompensieren.

Der Maler Brabanzio schließlich, der nach Rudolfs Urteil »hinter keinem der italienischen oder der niederländischen Meister seiner Zeit zurückstand«, findet für seine Rilder keine Anerkennung. Mit dem von Meisl erhaltenen Honorar begibt er sich, wie der Erzähler am Ende der Novelle berichtet, »nach Venedig, wo irgendeine Pestilenz ihn erwartete, an der er starb. Und nur ein einziges Bild ist erhalten geblieben, das das Signum >Brabanzio fecit< trägt. Es hängt in einer kleinen Privatgalerie in Mailand und stellt einen Mann dar, der in einer Hafenkneipe sitzt, vielleicht ihn selbst, und zwei alte häßliche Weiber drängen sich an ihn heran, um ihn zu umarmen, und die eine ist, denk' ich mir, die Pestilenz, und die andere, grau wie ein Leichentuch, ist die Vergessenheit.« Das Erinnerungsbild des Malers Brabanzio verweist auf das Bild Prags, das Leo Perutz in seinem Boman Nachts unter der steinernen Brücke zeichnet, der mit der »Pest in der Judenstadt« anhebt und »Meisls Gut« im »Epilog« in einer dichten »Wolke« von rötlichgrauem Staub« verschwinden läßt. Die Kunst der Erinnerung ist eingerahmt von Pestilenz und Vergessenheit, sie erzählt von ihnen und fällt dem Vergessen anheim.


In der deutschsprachigen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts war Leo Perutz sicher einer der konsequentesten Anhänger der Auffassung von der Autonomie der Kunst. Sein Roman Nachts unter der steinernen Brücke enthält, obgleich im wesentlichen während des Zweiten Weltkriegs geschrieben, keine Anklage, keine politische oder weltanschauliche Botschaft, sondern ein kunstvolles Bild der Geschichte. Die ästhetische Eigenart dieses Bildes besteht darin, daß es erst in der Phantasiearbeit des Lesers Gestalt gewinnt. Der Leser muß — freilich auf eine spielerische, spannende und überaus genußvolle Weise — jene kreative Konstruktionsaufgabe nachvollziehen, die Aufgabe jeder narrativen Geschichtsschreibung ist. Von der Vergangenheit selbst nämlich bleiben nur stumme Reste, vieldeutige Quellen, Fragmente und Trümmer, die für eine Erzählung nicht mehr als den Stoff bieten. Wer vermöchte aus dem Inhalt des von Esther hinterlassenen Kästchens, in dem aufbewahrt lag, »was ihr in ihrem Leben lieb gewesen war«, die Geschichte ihres Lebens zu rekonstruieren?

Es war nicht viel. Kleine Dinge, geringe Dinge. Bunte Vogelfedern, ein verblaßtes Seidenband, eine Spielkarte, die ihr einmal in die Hände gekommen war, verwelkte Rosenblätter, die, wenn man sie berührte, in Staub zerfielen, ein silbernes Messerchen, das war zerbrochen, ein Stein, der geädert und wie eines Menschen Hand geformt war, eine Bernsteinkugel, eine Glaskugel und etwas, was dereinst der bunte Flügel eines Schmetterlings gewesen war.

Das Testament des Mordechai Meisl, der einzige Besitz, der von seinem berühmten Vorfahren auf den Erzähler, jenen verbummelten Jakob Meisl, gelangte, ist »in fünf oder sechs Stücke zerfallen« und enthält »Zeilen, deren Schrift verwischt und nicht leicht zu entziffern war«. Leo Perutz' Roman Nachts unter der steinernen Brücke, in einer altertümlichen, streng stilisierten Kunstsprache geschrieben, ist ein moderner skeptizistischer historischer Roman, in dem die Zerstörung und das Vergessen für eine Erinnerung konstitutiv werden, die niemals Besitz ist, sondern, wie die Deutung des Romans selbst, eine unabschließbare, konstruktive Aufgabe.

EDITORISCHE NOTIZ

Der 1953 in Frankfurt am Main erschienenen Erstausgabe des Romans Nachts unter der steinernen Brücke lag ein Typoskript zugrunde, das nicht erhalten ist. Für die vorliegende Ausgabe wurde der Text der Erstausgabe mit dem von Perutz geschriebenen Manuskript verglichen, das sich im Exil-Archiv der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main befindet. Da die Erstausgabe nur unerhebliche Abweichungen vom Wortlaut des Manuskripts aufweist, folgt die vorliegende Ausgabe dem Text der Erstausgabe. Die mitunter altertümliche Orthographie der Erstausgabe wurde beibehalten; Modernisierungen der Schreibweise, wie sie fast alle späteren Ausgaben des Romans durchgeführt haben, wurden nicht vorgenommen. So wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, die alte Schreibweise mit »c« der Erstausgabe belassen, wo der Duden »k« (z. B. in »Perfection«, »Collection« usw.) bzw. »z« (z. B. in »excellent«, »Disciplin« usw.) vorschreibt.

Änderungen gegenüber der Erstausgabe wurden in den folgenden Fällen vorgenommen:


x. Die in der Erstausgabe inkonsistent verwendete Apostrophierung wurde nach einheitlichen Prinzipien durchgeführt.


2. Geringfügige Inkonsistenzen in der Interpunktion und der Verwendung von Gedankenstrichen wurden vereinheitlicht.


3. Die Schreibweise der Eigennamen der historischen Figuren »Caesar« und »Matthias« wurde der üblichen Schreibweise angeglichen (die Erstausgabe schreibt »Cäsar« und »Mathias«),


4. Für die ungewöhnliche Schreibweise »Alchymist« in der Erstausgabe wurde die Schreibweise »Alchimist« gewählt (Perutz' Manuskript enthält die Schreibweisen »Alchymist«, »Alchemist« und »Alchimist« nebeneinander).


Der Titel des in der Novelle »Der vergessene Alchimist« erwähnten Seneca-Tractats »De tranquillitate vitae« lautet korrekt »De tranquillitate animi«. Eine Änderung wurde in diesem Fall nicht vorgenommen.


Wilhelm Schernus habe ich für die Redaktion und Korrektur der Satzvorlage zu danken. Für das Nachwort verdanke ich Anregungen den Magisterarbeiten von Dagmar Fretter (Geschichte als poetische Konstruktion. Das Bild der Geschichte in Leo Perutz' Roman »Nachts unter der steinernen Brücke«. Hamburg 1987) und Michael Maria Mandel artz (Problem und Bild der Geschichte bei Leo Perutz am Beispiel ausgewählter Romane. Aachen 1987).

H.-H. M.


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