Barker kam die Treppe herab und trug eine halbleere Flasche in der Hand. Er sah Hawks, zuckte mit den Schultern und hielt den Whisky hoch. »Wie ich das Zeug hasse, Doktor«, sagte er dazu. »Es schmeckt miserabel, macht mich besoffen, es stinkt und brennt im Hals. Aber man bekommt es überall vorgesetzt, die Leute sagen immer wieder ›Prost!‹ zueinander, und ›Was ist denn mit dir, Al? Du machst doch nicht etwa schlapp?‹ — bis man sich wie ein Außenseiter und Spielverderber vorkommt, wenn man endgültig ablehnt. Und dann singen sie einen Haufen blöde Lieder darüber, bis jeder der Überzeugung ist, man könne sich nicht amüsieren, ohne soviel von dem verdammten Zeug zu trinken, daß man noch drei Tage hinterher Kopfschmerzen hat. Dann gibt es sogenannte Kenner, die einen den ganzen Abend langweilen, weil sie nur von Alter und Lage und Marken und Herstellern schwatzen, als ob das Gesöff anstatt aus Äthylalkohol aus irgendwelchen geheimnisvollen Zutaten bestünde. Haben Sie schon einmal zwei alten Säufern zugehört, die sich an der Bar unterhalten? Man könnte meinen, es seien zwei Schamanen, die sich ihre besten Zaubertricks verraten!«
Barker ließ sich lachend in einen Sessel fallen und zündete sich eine Zigarette an, dann wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich ernst. Hawks ließ sich neben ihm nieder und beobachtete ihn nachdenklich.
»Und das Gerede«, fuhr Barker fort. »Man gehört einfach nicht dazu und wird schief angesehen, wenn man nicht ›fein‹ genug spricht. In dieser Gesellschaft hat man keinen Vater, nein, man hat einen ›Alten Herrn‹; niemand ißt, alle ›speisen‹, keiner ist mehr ehrlich besoffen, sondern höchstens ›animiert‹. Oh, damit bin ich oft hereingefallen, Hawks! Ich wollte so gern dazugehören — und was habe ich jetzt davon? Wissen Sie, eigentlich hat Claire doch recht — was habe ich jetzt davon? Können Sie es mir sagen?
Schon gut, Sie brauchen mich nicht so komisch anzustarren. Ich weiß, was Claire ist. Sie wissen, daß ich mir darüber keine Illusionen mache. Ich habe es Ihnen gleich gesagt, als wir uns zum erstenmal begegnet sind. Aber haben Sie sich jemals überlegt, daß ich nichts dagegen haben könnte? Jedesmal, wenn sie sich um einen anderen Mann bemüht, vergleicht sie ihn mit mir. Sie sieht sich nach anderen um, sie wirbt um sie und wird umworben. Ich habe sie nicht an die Kette gelegt. Sie ist nicht gezähmt und abgerichtet. Sie hat sich nicht an mich gewöhnt. Sie ist durch nichts an mich gebunden. Aber sie kommt immer wieder zu mir zurück — wissen Sie, was das beweist? Das zeigt deutlich, daß ich immer noch der stärkste Wolf im Rudel bin. Sonst würde sie nämlich nicht bei mir bleiben. Machen Sie sich nichts vor — ich habe keine Ahnung, was Sie von sich und ihr denken, aber machen Sie sich keine falschen Hoffnungen.«
Hawks sah ihn neugierig an, aber Barker hielt den Kopf gesenkt.
»Wenn sie mich sehen könnte, Hawks — wenn sie mich nur dort oben sehen könnte!« Barkers Gesicht glühte vor Erregung. »Sie würde nicht mit Connington und Ihnen herumschäkern — nein, nicht wenn sie sehen könnte, was ich dort oben tue … Wie ich ausweiche und mich ducke und mich winde und schleiche und springe … Und die ganze Zeit warte ich auf den … den …«
»Ruhig, Barker!«
»Ja, natürlich. Ruhig. Nicht aufregen. Vorsichtig, es beißt.« Barker keuchte. »Was wollen Sie eigentlich noch hier. Hawks? Warum marschieren Sie nicht schon längst wieder mit hocherhobener Nase die Straße entlang? Glauben Sie, daß es etwas nützt, wenn Sie noch länger hier herumhocken? Worauf warten Sie? Daß ich Ihnen erzähle, wie gut es mir schon wieder geht, und frage, wann ich morgen früh wiederkommen darf? Oder lauern Sie nur darauf, daß ich zusammenklappe, damit Sie sich ungestört an Claire heranmachen können? Was haben Sie eigentlich getan, während ich geschlafen habe? Claire ange grapscht? Oder war Connington doch schneller?« Barker sah sich um. »Anscheinend schon.«
»Ich habe nachgedacht«, antwortete Hawks ruhig.
»Worüber?«
»Warum Sie mich hierhergelotst haben. Warum Sie gleich zu mir gekommen sind, als Sie jemand suchten, der Sie nach Hause fahren konnte. Ich habe mir überlegt, ob Sie hofften, daß ich Sie dazu überreden könnte, sich wieder zur Verfügung zu stellen.«
Barker hob die Flasche an den Mund und sah Hawks darüber hinweg an, während er trank. »Wie kommt man sich eigentlich vor, wenn man ist wie Sie, Doktor?« wollte er wissen, als er die Flasche absetzte. »Alles muß einfach anders sein, damit es in Ihre Pläne paßt. Sie akzeptieren nie eine Tatsache, sondern verdrehen sie, bis Sie mit dem Ergebnis zufrieden sind.«
»Das trifft schließlich für alle Menschen zu. Keiner sieht die Welt so, wie sie die anderen sehen. Woraus sollte ich Ihrer Meinung nach bestehen — aus Edelstahl? Innen hohl, aber widerstandsfähiger als Gewebe und Knochen? Wäre das Ihr Ideal eines Mannes?« Hawks lehnte sich nach vorn. »Eine Maschine, die immer noch funktioniert, wenn die Sterne bereits erloschen sind und das Universum zu existieren aufgehört hat? Die noch da ist, wenn alle Lebewesen längst verwest sind? Ist das Ihre Vorstellung von einem wirklichen Mann?«
»Ein Mann muß zu kämpfen wissen, Hawks«, sagte Barker und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. »Ein Mann muß zeigen, daß er den Tod nicht fürchtet. Er muß in die Reihen seiner Feinde einbrechen und seinen Todesgesang singen, er muß töten oder getötet werden; er darf keine Furcht kennen; er darf nie zögern, wenn es gilt, seine Männlichkeit und seinen Mut zu beweisen. Aber ein Mann, der dem Feind den Rücken zukehrt, der am Rande des Schlachtfeldes bleibt und andere vor die Waffen der Feinde stößt …« Barker drehte den Kopf und sah Hawks gerade in die Augen. »Das ist kein Mann. Das ist ein Reptil, eine feige Natter.«
Hawks erhob sich und schob die Hände in die Hosentaschen. Sein Gesicht war über der Lampe nur undeutlich zu erkennen. Er wippte ungeduldig hin und her. »Sollte ich deshalb unbedingt mitkommen? Damit niemand behaupten kann, Sie hätten Angst davor, die Schlange an Ihren Busen zu pressen?« Hawks beugte sich zu Barker hinab und sah ihm ins Gesicht. »War das der Grund, Krieger?« fragte er herausfordernd. »Einer der Mannbarkeitsriten? Sie haben nie gezögert, Ihren Feinden Obdach und Schutz zu gewähren, nicht wahr? Ein tapferer Mann beherbergt jederzeit seine Mörder und läßt sie an seinem Tisch mitessen, stimmt's? Sollen sie nur kommen — Connington, der heimtückische Schuft, und Hawks, der blutrünstige Mörder! Und warum sollte Claire Sie nicht von einem todesmutigen Unternehmen in das andere hetzen? Hier ein Bein verloren, dort ein Stück Fleisch — was macht das Ihnen schon aus? Sie sind schließlich Barker, der Mimbreño-Krieger.
Ist das der wahre Grund? Aber jetzt wollen Sie nicht mehr kämpfen. Plötzlich wollen Sie nicht mehr in das Gebilde auf dem Mond zurück. Der Tod war zu unpersönlich für Sie. Er hat sich nicht darum gekümmert, wie tapfer Sie waren, was Sie vorher getan hatten. Das wollten Sie doch sagen? Sie waren wütend, Barker. Sie sind es jetzt noch. Wie kommt der Tod dazu, einen Krieger vom Stamme der Mimbreños zu ignorieren?«
»Sind Sie wirklich ein Krieger?« fragte Hawks. »Das müssen Sie mir erst beweisen, Barker! Wann haben Sie je einem von uns etwas angetan? Wann haben Sie einen Finger gerührt, um sich zu verteidigen? Sie glauben unsere Pläne zu kennen, aber Sie tun nichts dagegen. Sie möchten um nichts in der Welt in den Ruf eines Feiglings geraten, aber wann kämpfen Sie eigentlich? Und wogegen? Ihre schlimmste Drohung mir gegenüber bestand nur daraus, daß Sie den Kram hinschmeißen und nach Hause gehen wollten. Nein — Rennwagen und Skisprungschanzen, Motorboote und Flugzeuge: das sind die Gegner, gegen die Sie antreten. Auf diese Weise sind Sie immer Herr der Lage, und wenn Sie umkommen sollten, wird es heißen, daß menschliches Versagen daran schuld gewesen sei. Der Killer in Ihnen hat einmal über den Krieger die Oberhand behalten. Und was haben Sie während des Krieges getan — unzählige Nahkämpfe bestanden und dabei das Weine im Auge des Gegners gesehen? Nein, Sie haben immer nur aus dem Hinterhalt gemordet, und wenn Sie geschnappt worden wären, hätte man Sie an die nächste Wand gestellt. Haben Sie sich jemals mit einem ebenbürtigen Gegner gemessen — außer Ihnen selbst?
Sie haben Angst, Barker — Angst davor, daß Ihr Mörder nicht erkennen könnte, wie tapfer Sie gekämpft haben. Wie können Sie erwarten, daß andere Ihre Tapferkeit würdigen? Aber ein Krieger kennt keine Angst. Nicht einmal vor sich selbst. Ist das Ihre Erklärung für alles, Barker? Ist das Ihr Dilemma? Denken Sie einmal nach — glauben Sie wirklich, daß Sie unter Ihren Feinden leben müssen, um Ihre Tapferkeit zu beweisen, wenn Sie es nicht einmal wagen, ihnen in offener Schlacht entgegenzutreten, weil Sie darin umkommen könnten, ohne Ihren Namen unsterblich gemacht zu haben? Ist das der Grund dafür, daß ein Fremder Ihnen nur zu drohen braucht, um in Ihr Leben einbezogen zu werden? Und dafür, daß Sie sich von anderen langsam zu Tode quälen lassen, sich ihnen aber nie entgegenstellen und zugeben, daß Sie in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt sind? Wenn Sie sich nicht dagegen wehren, könnten die anderen von Ihnen ablassen, aber wenn Sie kämpfen, könnten Sie ruhmlos sterben?« Hawks sah Barker fragend an. »Ich frage mich«, meinte er nachdenklich, »ob das nicht einiges erklärt, was mir bisher an Ihnen rätselhaft war.«
Barker stand langsam aus seinem Sessel auf. »Wie kommen Sie eigentlich dazu, mir das zu sagen, Hawks?« sagte er ruhig. Er stellte die Flasche auf den Tisch neben sich, ohne dabei die Augen von Hawks zu lassen.
Hawks rieb sich die Hände an der Jacke ab. »Denken Sie über heute vormittag nach, Barker. Sie hatten sich das Ding auf dem Mond wie eine besonders schwierig zu meisternde Piste vorgestellt, nicht wahr? Ein paar gefährliche Stellen, aber schließlich nicht die erste, die Sie bezwungen haben.
Aber dann starben Sie — und niemand konnte Ihnen erklären, gegen welche Regeln Sie verstoßen hatten. Sie hatten die Grenzen des bekannten Gebiets überschritten. Sie konnten sich nicht damit über Ihren Tod hinwegtrösten, daß Sie die Regeln nicht gekannt oder nicht beachtet hätten. Nein, das konnten Sie nicht denn dort oben gab es keine Regeln. Sie fanden den Tod, ohne zu erkennen, was ihn verursachte. Und Sie hatten keine Zuschauer, die Ihre Geschicklichkeit be klatscht und Ihr tragisches Ende beklagt hätten. Eine unsichtbare Hand griff nach Ihnen — und niemand weiß warum. Plötzlich erkannten Sie, daß Ihre Kunst hier versagen mußte.
In diesem Augenblick standen Sie den unbekannten Mächten des Universums gegenüber. Die Menschheit hat einige von ihnen teilweise zu beherrschen gelernt, Barker, und jetzt bildet sie sich ein, sie sei allen gewachsen. Aber ein Mann, der eine Sprungschanze hinunterrast, beherrscht deshalb noch lange nicht die Erdanziehung oder die Reibungskräfte, die dabei eine Rolle spielen. Er kann sich ihnen nur in gewisser Weise anpassen und damit etwas vollbringen, was für andere tödlich wäre. Aber alle Ihre Erfahrung als Skispringer hilft Ihnen nichts, wenn Sie ohne Fallschirm aus einem Flugzeug fallen. Die Schwerkraft läßt sich selbst durch tausend gelungene Sprünge von einer Schanze nicht beeinflussen. Das Universum verfügt über unendlich viele Todesarten, die wir erst jetzt allmählich kennenlernen. Und das haben Sie am eigenen Leibe erlebt.
Der Tod gehört zu den Eigenschaften des Universums, Barker. Er ist nur ein Vorgang innerhalb einer komplexen Maschinerie. Das Universum stirbt seit seiner Entstehung. Haben Sie etwa erwartet, eine Maschine würde sich darum kümmern, wer zwischen ihre Räder gerät? Der Tod gleicht einem fallenden Stern — er ist ein Naturereignis, das weder auf bunte Wimpel an der Lanze noch auf den Siegeskranz in der Hand des Sterbenden achtet.
Kein Durchschnittsmensch könnte diese Erfahrung machen, ohne daran zu zerbrechen. Sie haben sie heute gemacht. Sie saßen im Labor auf dem Tisch und waren über die Ungerechtigkeit des Schicksals sprachlos — weil Sie sich nie überlegt hatten, daß Gerechtigkeit ebenfalls nur eine Erfindung der Menschen ist. Und trotzdem geht es Ihnen jetzt schon wieder besser. Der Schock ist abgeklungen. Jeder Schock verliert allmählich an Wirkung — jeder, nur einer nie. Sie sind kein hilflos vor sich hinmurmelnder Idiot wie Rogan und die anderen. Sie haben es überlebt und sind dabei nicht verrückt geworden. Warum, Barker?
Wissen Sie, warum Sie noch bei Verstand sind? Ich glaube, daß ich Ihnen diese Frage beantworten kann. Sie sind es, weil Sie Claire, Connington und mich haben. Weil Sie zu uns zurückkommen wollten. Sie suchen nicht den Tod, sondern nur das Abenteuer, das in einer tödlichen Bedrohung liegt. Nicht den Tod, sondern Mörder …«
Barker ballte die Fäuste und trat einen Schritt vor.
»Es hat keinen Sinn, Barker«, sagte Hawks. »Sie können mir nichts antun. Wenn Sie mich jetzt umbringen, beweisen Sie damit nur, daß Sie Angst vor mir haben.«
»Das ist nicht wahr!« widersprach Barker aufgeregt. »Ein Krieger tötet seine Feinde.«
Hawks starrte ihm in die Augen. »Sie sind kein Krieger, Al«, stellte er fest. In seiner Stimme schwang ein leichtes Bedauern mit. »Jedenfalls nicht der Krieger, der Sie sein möchten. Sie sind ein Mann, das ist alles. Und Sie möchten ein echter Mann sein — ein Mann, der seinen selbstgestellten Anforderungen genügt, der seinem eigenen Ideal entspricht. Das ist alles. Das ist genug.«
Barker ließ die Arme sinken. Er sah Hawks verwirrt an. »Sie sind so verdammt schlau, Doktor«, keuchte er. »Sie wissen einfach alles! Sie kennen mich besser, als ich mich selbst kenne. Wie kommt das, Hawks?«
»Ich bin auch ein Mann, Al.«
»Ja?« Barker fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Wirklich? Das ist mir völlig gleichgültig, deswegen kann ich Sie auch nicht besser leiden! Verschwinden Sie, Mann, solange Sie noch können!« Barker warf sich herum, ging rasch auf die Tür zu und riß sie auf. »Gehen Sie schon! Lassen Sie mich mit meinen alten Freunden allein — bei denen weiß ich wenigstens, wie sie mich umbringen möchten!«
Hawks sah ihn schweigend an. Sein Gesichtsausdruck war besorgt. Dann ging er zur Tür, blieb aber noch einmal stehen und starrte Barker ins Gesicht.
»Sie müssen unbedingt kommen«, sagte er langsam. »Ich brauche morgen früh Ihren Bericht. Und dann muß ich Sie wieder hinaufschicken.«
»Verschwinden Sie, Hawks!«
»Ich habe es Ihnen jedenfalls gesagt«, antwortete Hawks und ging an ihm vorbei in die Nacht hinaus.
Barker knallte die Tür hinter Hawks ins Schloß. Dann drehte er sich um und öffnete den Mund zu einem Schrei, der nur undeutlich ins Freie drang. »Claire? Claire!«