Das Telefon im Laboratorium klingelte am nächsten Morgen um zehn Minuten vor neun Uhr. Sam Latourette hob den Hörer ab. »Na, wenn er wirklich so unverschämt ist, lassen Sie sich nur nichts von ihm bieten, Tom«, sagte er einige Zeit später. »Sagen Sie ihm, daß er gefälligst warten soll. Ich werde Dr. Hawks verständigen.« Er legte auf und watschelte schwerfällig auf den Nebenraum zu, wo Hawks mit einigen Fachleuten von der Navy den Schutzanzug kontrollierte, den Barker tragen würde. Der Anzug lag ausgestreckt auf einem Tisch und glich eher einem sezierten Hummer, als einer Schutzhülle für einen Menschen. Rechts und links hingen Luftschläuche herunter; die Kugelgelenke trugen unförmige Fortsätze, in denen die Elektromotoren untergebracht waren, mit denen die Bewegungen gesteuert wurden. Die Gelenke wurden nacheinander auf ihre Funktionsfähigkeit getestet; der Schutzanzug bewegte sich, zog sich zusammen, streckte sich wieder; die bleibeschwerten Stiefel hoben sich und fielen krachend auf die Unterlage zurück; die Greifwerkzeuge an den Ärmeln öffneten sich und schnappten wieder zu. Einer der Männer rollte eine Preßluftflasche heran und schloß die Luftschläuche an. Hawks nickte, und die Druckluft zischte in den Helm, der die neueste Ent wicklung auf diesem Gebiet darstellte — an vier Seiten mit Rippen verstärkt, während die Sichtöffnung mit vier Zentimeter dickem Panzerglas versehen war, vor dem zudem noch ein Schutzgitter aus Stahlstäben angebracht war.
»Laß das doch, Ed«, sagte Sam Latourette. »Die Leute werden auch ohne dich fertig.«
Hawks warf den Navy-Offizieren, die alle Latourette anstarrten, einen entschuldigenden Blick zu. »Das weiß ich, Sam.«
»Willst du ihn denn tragen? Laß deine Finger davon!« brach es aus Latourette hervor. »An der Ausrüstung hat es bisher noch nie gelegen!«
»Ich möchte aber alles persönlich überprüfen«, erklärte Hawks ihm geduldig.
»Na, von mir aus kannst du weiterspielen. Aber dieser Barker ist am Tor. Wenn du mir seinen Ausweis gibst, kann ich ihn gleich heraufholen. Scheint wirklich ein ausgezeichneter Fang zu sein, den du da gemacht hast.«
»Nein, ich hole ihn lieber selbst ab, Sam«, wehrte Hawks ab. Er nickte den Offizieren zu. »Ausgezeichnete Arbeit. Ich danke Ihnen, meine Herren.« Er verließ das Laboratorium und stieg die Treppe hinauf, die ins Erdgeschoß führte.
Draußen ging er langsam über den nebelfeuchten Asphalt auf das Haupttor zu, das in dem beißenden Nebel nur undeutlich sichtbar war. Er sah auf seine Armbanduhr und lächelte vor sich hin.
Barker hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz abgestellt und wartete jetzt auf der anderen Seite des Fußgängereinlasses. Er starrte den Wachtposten neugierig an, der ihn seinerseits völlig ignorierte. Barkers Gesicht war vor Aufregung gerötet.
»Guten Morgen, Dr. Hawks«, sagte der Posten, als Hawks erschien. »Der Mann dort draußen wollte ohne Ausweis das Werksgelände betreten. Außerdem hat er versucht, mich über Ihr Projekt auszuhorchen.«
Hawks nickte und sah Barker nachdenklich an. »Das überrascht mich keineswegs.« Er griff in die Seitentasche seines Kittels und holte Barkers Ausweis hervor. Der Wachtposten nahm ihn mit in das Postenhäuschen, um die Nummer in das Wachbuch einzutragen.
Barker sah Hawks herausfordernd an. »Was machen Sie eigentlich hier, Doktor? Eine neue Atombombe?«
»Kein Grund, sich krampfhaft um Informationen zu bemühen«, stellte Hawks nüchtern fest. »Und sinnlos, wenn Sie es bei einem Mann versuchen, der selbst nichts darüber weiß. Sie vergeuden nur Ihre Energie, Barker.« Der Posten öffnete das Tor. »Danke, Tom«, sagte Hawks. Dann wandte er sich wieder an Barker. »Sie werden alles noch rechtzeitig genug erfahren.«
Barker lächelte ironisch und machte eine tiefe Verbeugung. »Stets zu Ihren Diensten, gestrenger Meister.« Er richtete sich wieder auf und starrte nachdenklich den stachelbewehrten oberen Querbalken des Tores an. Dann verzog er seine zusammengekniffenen Lippen zu einem Lächeln. »salve Caesar, morituri te salutant«, sagte er, als er durch das Tor ging. »Wir erhöhen Ihren Ruhm durch unseren Tod.«
Hawks runzelte die Stirn. »Ich habe in der Schule auch Latein gehabt«, sagte er. »Stecken Sie sich Ihr Abzeichen an und kommen Sie mit.«
Barker nahm es von dem Posten entgegen, der es geduldig in der ausgestreckten Hand gehalten hatte, und steckte es sich an die Tasche seines Flanellhemdes. »Danke schön, Tom«, sagte er über die Schulter, als er zusammen mit Hawks weiterging.
»Claire wollte mich nicht fortlassen«, berichtete er dann amüsiert. Er hielt den Kopf schief und sah Hawks bedeutungsvoll an. »Sie hat Angst um mich.«
»Warum? Weil ich Ihnen etwas antun könnte — oder weil ihr etwas geschehen könnte, wenn es so wäre?« erkundigte Hawks sich.
»Ich weiß es offen gestanden nicht, Doktor.« In Barkers Stimme schwang eine gewisse Müdigkeit mit. »Aber«, begann er dann nachdenklich, »ich bin einer der beiden einzigen Männer, vor denen sie Angst hat.« Seine Stimme klang plötzlich hart. »Den Namen des anderen brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen, Doktor …«
Hawks schwieg. Er ging langsam weiter auf das Laboratorium zu. Barker hielt Schritt, lächelte noch einmal wie über einen guten Witz, den nur er verstehen konnte, und sah dann ebenfalls geradeaus.
Die Rampe, die vom Erdgeschoß aus in den Keller führte, war mit Stahlplatten verkleidet, deren aufgewalztes Profil ein Ausrutschen verhinderte. Die schweren Schritte der beiden Männer hallten von den grauen Wänden wider.
»Hier marschieren Ihre bedauernswerten Opfer wohl in Sträflingsanzügen und mit Fußfesseln entlang?« erkundigte Barker sich.
Hawks grinste. »Ich freue mich, daß Sie endlich ein anderes Gesprächsthema gefunden haben«, antwortete er dann.
»Ich möchte wetten, daß in diesen Hallen schon mancher Schmerzensschrei verklungen ist. Was liegt hinter dieser Tür? Die Folterkammer?«
»Das Laboratorium«, gab Hawks zurück. Er hielt die Pendeltür auf. »Treten Sie ein.«
»Mit Vergnügen.« Barker nahm die Schultern zurück, streckte das Kinn vor und ging an Hawks vor bei. Er machte einige Schritte bis in die Mitte des Hauptganges, blieb vor der Spannungsreglergruppe stehen, schob die Hände in die Hosentaschen und sah sich neugierig um. Hawks blieb neben ihm stehen.
Der Raum war strahlendhell erleuchtet. Barker drehte sich langsam von einer Seite auf die andere, betrachtete die zur Signalmodulierung dienenden Geräte und sah zu, wie die Assistenten jedes einzelne Aggregat überprüften.
»Ganz schöner Betrieb hier«, meinte er schließlich und deutete auf die Männer in den weißen Kitteln, die jede überprüfte Funktion auf einer Kontrolliste abhakten. Prüflampen glühten auf, Schalter wurden betätigt, Einstellungen verändert und wieder geprüft. Barkers Blick fiel auf eine Reihe von Ausgleichsverstärkern vor ihm, deren Gehäuse zum Teil geöffnet war. »Eine Menge Draht. Das gefällt mir. Wunder der modernen Technik.«
»Das alles ist Teil eines Menschen«, warf Hawks ein.
»Oh?« Barker zog die rechte Augenbraue in die Höhe. Seine Augen blitzten spöttisch. »Stecker und Draht und Porzellanisolatoren, was?« fragte er herausfordernd.
»Sie brauchen sich gar nicht soviel Mühe zu geben, um etwas aus mir herauszukitzeln«, antwortete Hawks ruhig. »Wir werden Ihnen alles genau erklä ren. Alles hier ist Teil eines Menschen — auch der Elektronenrechner dort drüben.
Diese Datenverarbeitungsmaschine ist so konstruiert, daß ihr Informationsspeicher eine genaue elektronische Beschreibung eines Menschen aufnehmen kann: seinen Körperbau bis hinunter zu dem letzten Elektron in dem letzten Atom in dem letzten Molekül seiner kleinen Zehe. Damit sind automatisch alle anderen Eigenschaften der Versuchsperson festgelegt — Reaktionszeit, Reflexe, besondere Charaktereigenschaften, elektrische Kapazität der Gehirnzellen und etwaige Störungen. Der Speicher enthält also sämtliche Informationen, um einer anderen Maschine die Impulse zu geben, einen Menschen — diesen Menschen — zu erzeugen.
Zufälligerweise heißt dieser Mann Sam Latourette, aber es könnte auch jeder andere sein. Er ist unser Standardmann. Wenn der Abtaster des Materie-Transmitters Sie in eine Folge von Impulsen verwandelt, wird das Ergebnis auf Band aufgenommen und für später gespeichert. Diese Impulse werden aber auch gleichzeitig in einen Elektronenrechner eingegeben, der die Unterschiede zwischen Ihnen und unserem Standardmann errechnet. Dadurch haben wir eine genaue Kontrolle über die Genauigkeit unserer Modulationsgeräte. Das wollen wir heute erledigen — zunächst brauchen wir ein brauchbares Band von Ih nen, das zu Kontrollzwecken benutzbar ist, und ein zweites, das morgen den Transmitter mit den entsprechenden Impulsen versorgt.«
»Was wollen Sie eigentlich über den Materie-Transmitter ausstrahlen?«
»Sie.«
»Wohin?«
»Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Zum Mond.«
»Einfach so? Keine Raketen, keine Countdowns, keine Reporter und kein Fernsehen? Ein paar Röhren glühen auf — und schon bin ich der Mann im Mond!« Barker grinste. »Die Wissenschaft hat es wirklich weit gebracht, was?«
Hawks sah ihn mit unbeweglichem Gesicht an. »Wir veranstalten hier keine maskulinen Schönheitswettbewerbe, Barker. Wir führen Versuche durch. Sie brauchen nicht ständig die Rolle des tollkühnen Draufgängers zu spielen.«
»Wie stellen Sie sich denn einen solchen Wettbewerb vor, Doktor?«
»Halten Sie den Mund, Barker!« fuhr Sam Latourette dazwischen, der lautlos herangekommen war.
Barker drehte sich gelangweilt um. »Menschenskind, Sie tun ja, als ob ich Ihr Baby gefressen hätte!«
»Schon gut, Sam«, sagte Hawks geduldig. »Darf ich die Herren miteinander bekannt machen? Mr. Al Barker — Dr. Samuel Latourette.«
Barker warf einen Blick auf das Elektronengehirn und lächelte boshaft. »Wir kennen uns bereits«, stellte er dann fest und streckte Latourette die Hand entgegen.
»Das war nicht gerade übermäßig witzig, Barker.«
Barker ließ seine Hand sinken. »Na, schließlich bin ich kein Zirkusclown. Was stellen Sie eigentlich dar — die Hausmeisterin?«
»Ich habe mir Ihre Personalunterlagen angesehen, weil ich feststellen wollte, ob Sie für uns nützlich sein können«, antwortete Latourette und betonte dabei jedes Wort. »Ich möchte daß Sie sich folgendes merken: Dr. Hawks ist der einzige Mann auf dieser Erde, der genial genug ist, um sich das alles einfallen zu lassen!« Er wies auf die Maschinen um sie herum. »Sie stehen vor einem Mann, dessen Gehirn so exakt arbeitet, daß es für ihn das Wort ›Irrtum‹ einfach nicht gibt. Sie haben keinerlei Berechtigung dazu, seine Arbeit zu kritisieren oder etwa Witze darüber zu reißen. Lassen Sie ihn mit Ihren zweifellos äußerst interessanten Komplexen in Ruhe. Sie sind hier, um eine Aufgabe zu erfüllen. Wenn Sie das nicht tun können, ohne ihm Schwierigkeiten zu machen, verschwinden Sie lieber sofort — er hat auch ohne Sie genug Sorgen.« Latourette warf Hawks einen Blick aus tiefliegenden Augen zu. »Mehr als genug.« Er wandte sich wieder an Barker. »Haben Sie mich verstanden?«
Barker sah ihn ausdruckslos an. Er hatte sein Gewicht fast völlig auf sein gesundes Bein verlagert, zeigte jedoch sonst keinerlei Zeichen von Erregung. Er schwieg.
»Sam«, warf Hawks ein, »der Empfänger muß getestet werden. Ich wäre dir dankbar, wenn du das überwachen würdest. Außerdem brauche ich die letzten Telemeter-Messungen vom Relaisturm und der Mondstation.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Kannst du sie mir in einer Stunde bringen?«
Latourette nickte kurz und schlurfte wortlos davon. Barker sah ihm nach, bis er hinter dem Empfänger verschwunden war, wo die Techniker einige Testobjekte unter einem Fluoroskop prüften.
»Kommen Sie bitte mit mir«, sagte Hawks zu Barker und führte ihn zu dem Tisch hinüber, auf dem der Schutzanzug ausgebreitet lag.
»Ihre Leute haben anscheinend eine sehr hohe Meinung von Ihnen«, stellte Barker fest und sah sich weiterhin neugierig um. »Kein Wunder, daß Sie schnell ungeduldig werden, wenn Sie es mit der Außenwelt zu tun haben.«
»Barker, Sie müssen sich vor allem auf die Aufgaben konzentrieren, die Sie hier erwarten. Sie müssen eine Menge lernen, um ihnen gewachsen zu sein. Lassen wir doch die persönlichen Dinge aus dem Spiel!«
»Und wie steht es in dieser Beziehung mit Ihrem Musterschüler, Latourette?«
»Sam ist ein ausgezeichneter Mann auf seinem Gebiet«, antwortete Hawks kurz.
»Und das ist seine Entschuldigung für alles.«
»Deshalb ist er hier. Eigentlich müßte er in einer Klinik liegen und ständig schmerzbetäubende Mittel bekommen. Er hat Krebs — inoperabel. Die Ärzte geben ihm noch ein halbes Jahr.«
Sie gingen an einer langen Reihe von grauen Stahlgehäusen vorüber. Barker wandte den Kopf zurück. »Oh«, meinte er dann. »Deshalb ist er also zum Standardmann ernannt worden. Auch eine Art Unsterblichkeit.«
»Kein normaler Mensch stirbt gern«, antwortete Hawks und dirigierte Barker auf den Tisch zu. Die Navy-Offiziere sahen ihnen neugierig entgegen. »Sonst hätten wir eine permanente Selbstmordwelle.«