Erster Teil

1

In der Zentrale von CBA Television News in New York traf die Nachricht über den havarierten Airbus A 300, der brennend den Flughafen von Dallas-Fort Worth anflog, erst wenige Minuten vor der Erstausgabe der National Evening News ein, der landesweit ausgestrahlten Abendnachrichten.

Um 18 Uhr 21 östlicher Sommerzeit meldete der Redaktionschef in Dallas über die interne Kommunikationsanlage einem Redakteur am Hufeisen in New York: »In DFW kann es jeden Moment zu einer Flugzeugkatastrophe kommen. Vorausgegangen ist eine Kollision zwischen einer kleinen Maschine und einem vollbesetzten Airbus. Die kleine Maschine ist abgestürzt. Der Airbus hat Feuer gefangen, versucht aber eine Notlandung. Bei Polizei und Rettungsdiensten laufen die Drähte heiß.«

»Herr im Himmel!« meldete sich aufgeregt ein zweiter Redakteur am Hufeisen. »Wie sieht's aus mit Bildern für uns?«

Am Hufeisen, einem riesigen Tisch mit Platz für zwölf Personen, wurde die Spitzensendung der Fernsehstation, die Abendnachrichten, entworfen und geplant. Jeden Tag wurde von den frühen Morgenstunden bis zu den letzten Sendesekunden spätabends daran gefeilt. Beim Rivalen CBS hieß dieser Platz »das Fischglas«, bei ABC »die Felge« und bei der NBC einfach »der Tisch«. Doch sosehr die Namen auch variieren mochten, sie alle hatten dieselbe Bedeutung.

An diesem Tisch kamen die führenden Köpfe des Senders zusammen, um über Auswahl und Ablauf der Nachrichten zu entscheiden: der Studioleiter, der Chefsprecher, die Chefproduzenten, der Direktor, Redakteure, Texter, der Bildchef und die Assistenten. Darüber hinaus gab es, bereit zum Einsatz wie die Instrumente eines Orchesters, ein halbes Dutzend Computerterminals, Fernschreiber, eine Phalanx hochmoderner Telefone und TV-Schirme, auf denen man vom ungeschnittenen Videomaterial über sendebereite Beiträge bis hin zu den Sendungen der Konkurrenz alles abrufen konnte.

Das Hufeisen lag im dritten Stock des CBA-News-Gebäudes, im offenen Zentralbereich der Etage. An der einen Seite schlossen sich Büros an, in die sich die leitenden Mitarbeiter der Nachrichtenredaktion zu verschiedenen Zeiten des Tages von der Hektik des Hufeisens zu etwas stillerem Arbeiten zurückzogen.

An diesem Tag hatte, wie gewohnt, Chuck Insen, der Studioleiter, den Vorsitz am Hufeisen. Insen war hager und jähzornig, ein alter Hase im Nachrichtengeschäft, der seine Karriere bei den Printmedien begonnen hatte und auch heute noch unbeirrt die Inlandsnachrichten den internationalen vorzog. Mit zweiundfünfzig war er, nach Fernsehmaßstäben, fast schon ein alter Mann, doch er zeigte auch nach vier Jahren in einem Job, der andere in zwei Jahren aufgerieben hatte, noch keinerlei Ermüdungserscheinungen. Chuck Insen konnte sehr harsch sein und war es häufig auch, Witzeleien oder privaten Klatsch gab es bei ihm nicht - aus einem sehr einfachen Grund: Der Arbeitsdruck ließ dazu keine Zeit.

In diesem Augenblick, an einem Mittwoch Mitte September, war der Streß größer denn je. Seit den frühen Morgenstunden wurde am Aufbau der Abendnachrichten, an der Auswahl der Themen und der Sendezeit, die man ihnen zumaß, gearbeitet; man diskutierte, verwarf und verbesserte. Korrespondenten aus der ganzen Welt hatten Ideen eingebracht, hatten Aufträge erhalten und sie ausgeführt. Entstanden war daraus ein Sendeplan mit acht Korrespondentenberichten von je etwa eineinhalb bis zwei Minuten Länge sowie zwei »Voice-overs« und vier »Tell-stories« von durchschnittlich zwanzig Sekunden. Ein Voice-over war ein vom Moderator verlesener Bericht mit Bildunterlegung, eine »Tell-story« ein Sprecherbericht ohne Bilder.

Aber nach der überraschenden Meldung aus Dallas mußte jetzt, knappe acht Minuten vor Sendebeginn, das gesamte Nachrichtenprogramm umgeworfen werden. Obwohl niemand wußte, wie viele Informationen hereinkommen und ob überhaupt Bilder verfügbar sein würden, mußte zumindest ein Bericht gekippt, andere gekürzt werden, um den Vorfall in Dallas aufnehmen zu können. Das zeitliche und inhaltliche Gleichgewicht der Sendung machte darüber hinaus eine Umstellung der Berichte notwendig. Nur eins war im Moment klar: die Sendung würde anlaufen, bevor man mit der Arbeit fertig war. Aber das war häufig der Fall.

»Ein neuer Ablauf, Leute.« Der knappe Befehl kam von Insen. »Wir fangen mit Dallas an. Crawf wird eine Tell-story machen. Haben wir schon Agenturmeldungen?«

»AP ist eben reingekommen.« Die Antwort kam von Crawford Sloane, dem Chefsprecher. Er las gerade das Telex der Associated Press, das man ihm Sekunden vorher in die Hand gedrückt hatte.

Sloane, mit seinem furchigen Gesicht, den graumelierten Haaren, dem vorspringenden Kinn und dem selbstsicheren und überzeugenden Auftreten - ein vertrauter Anblick für allabendlich etwa siebzehn Millionen Zuschauer - saß am Hufeisen wie gewohnt in seinem privilegierten Sessel rechts neben dem Studioleiter. Auch Crawf Sloane war ein Nachrichtenprofi der alten Schule, der beständig die Karriereleiter emporgeklettert war, vor allem nach seinem erfolgreichen Einsatz als CBA-Korrespondent in Vietnam. Nach einer Zeit als Berichterstatter am Weißen Haus moderierte er nun schon seit drei Jahren die Abendnachrichten und war inzwischen eine nationale Institution, einer aus der Medienelite.

In wenigen Minuten würde Sloane in das Sendestudio hinuntergehen. Und bis dahin mußte er aus dem Telefonbericht aus Dallas und den zusätzlichen Informationen der AP-Meldung seine Tell-story gestrickt haben. Er würde den Text selber verfassen. Nicht jeder Sprecher schrieb sein eigenes Material, aber Sloane zog es vor, seine Moderation soweit wie möglich mit eigenen Texten zu bestreiten.

Insens angespannte Stimme war wieder zu hören. Nach einem raschen Blick auf den ursprünglichen Sendeplan sagte er zu einem seiner drei Chefproduzenten: »Schmeiß Saudi-Arabien raus und kürz Nicaragua um fünfzehn Sekunden.«

Bei der Entscheidung, die Saudi-Story fallenzulassen, zuckte Sloane innerlich zusammen. Es war eine wichtige Nachricht und außerdem ein intelligent aufbereiteter Zweieinhalbminutenbericht über die zukünftigen Ölmarketingpläne der Saudis. Tags darauf wäre die Meldung bereits ein alter Hut, weil auch andere Sender sie hatten und noch an diesem Abend bringen würden.

Sloane hatte nichts gegen die Entscheidung, die Dallas-Story an erster Stelle zu bringen, doch er hätte dafür lieber die Meldung vom Capitol Hill über das Amtsvergehen eines Senators herausgenommen. Der Politiker hatte in aller Stille in einer Gesetzesvorlage zur Bewilligung von Geldern acht Millionen Dollar untergebracht, die er einem persönlichen Freund und Wahlkampfsponsor zukommen lassen wollte. Nur durch die sorgfältigen Nachforschungen eines Reporters war der Skandal ans Licht gekommen.

Die Meldung aus Washington war zwar farbiger, aber auch weniger wichtig, und ein korrupter Kongreßabgeordneter war wirklich nichts Außergewöhnliches. Aber die Entscheidung, so dachte der Moderator bitter, war typisch für Chuck Insen, und wieder einmal war eine Auslandsmeldung, die Sloane gerne stärker betont hätte, dem Rotstift zum Opfer gefallen.

Die Beziehung zwischen dem Studioleiter und dem Chefmoderator, die noch nie besonders gut gewesen war, hatte in letzter Zeit unter Meinungsverschiedenheiten dieser Art noch stärker gelitten. Ihre grundsätzlichen Ansichten schienen immer weiter auseinanderzudriften, nicht nur bei der allabendlichen Entscheidung über die Priorität der einzelnen Nachrichten, sondern auch bei der Frage, wie sie aufbereitet werden sollten. Sloane zum Beispiel bevorzugte eine tiefschürfende Behandlung weniger, wichtiger Themen, während Insen so viele Tagesmeldungen wie möglich in jeder Sendung haben wollte, auch wenn man dann, wie er es so treffend formulierte, »einige Meldungen im Telegrammstil abhandeln muß«.

Unter anderen Umständen hätte Sloane sich gegen die Streichung des Saudi-Berichts gewehrt, vermutlich sogar mit Erfolg, weil der Chefmoderator zugleich auch verantwortlicher Redakteur war und so einigen Einfluß hatte, aber im Augenblick war dazu einfach keine Zeit.

So stemmte er nur hastig die Fersen gegen den Fußboden und manövrierte seinen Sessel mit geschicktem Schwung rückwärts und seitwärts, bis er vor einem Computerterminal saß. Er konzentrierte sich, verdrängte den Trubel um sich herum aus seinen Gedanken und tippte die Eröffnungssätze der Sendung in die Maschine.

Aus Dallas-Fort Worth erreicht uns soeben die Meldung über eine möglicherweise bevorstehende Katastrophe. Wie bekannt wurde, kam es vor wenigen Minuten zu einer Kollision zwischen zwei Passagiermaschinen, eine davon ein vollbesetzter Airbus der Muskegon Airlines. Das Unglück ereignete sich nördlich von Dallas, über der Stadt Gainesville in Texas. Einem Bericht der Associated Press zufolge stürzte das zweite Flugzeug, vermutlich eine Privatmaschine, ab. Im Augenblick gibt es keine Informationen über den Verbleib der Maschine und über eventuelle Opfer am Boden. Der Airbus ist noch in der Luft, brennt aber, und der Pilot versucht, Dallas-Fort Worth Airport zu erreichen. Feuerwehr und Notdienste sind in höchster Alarmbereitschaft...

Während Sloanes Finger über die Tasten huschten, fiel ihm ein, daß vermutlich nur sehr wenige Zuschauer vor Ende der Nachrichten abschalten würden. Er fügte dennoch die Aufforderung hinzu, im Programm zu bleiben und weitere Entwicklungen abzuwarten, und tippte dann den Druckbefehl. Der Text ging nun auch an den Teleprompter, so daß Sloane, sobald er das Studio im Stockwerk darunter erreichte, ihn auch vom Prompterschirm ablesen konnte.

Während Sloane, mit einem Bündel Papiere in der Hand, zur Treppe eilte, fragte Insen einen Chefproduzenten: »Verdammt, was ist mit Bildern aus DFW?«

»Sieht schlecht aus, Chuck.« Der Mann hatte sich einen Telefonhörer ans Ohr geklemmt und sprach mit dem Inlandschefredakteur im großen Redaktionssaal. »Das brennende Flugzeug nähert sich dem Flughafen, aber unser Kamerateam ist noch zwanzig Meilen entfernt. Die schaffen es nicht rechtzeitig.«

Insen fluchte enttäuscht. »Scheiße!«

Gäbe es Orden für gefährliche Einsätze im Dienst des Fernsehens, dann hätte Ernie LaSalle, der Inlandschefredakteur, die ganze Brust voll haben müssen. Mit seinen gerade erst neunundzwanzig Jahren hatte er als Korrespondent für CBA bereits im Libanon, im Iran, in Angola, in Nicaragua und in anderen Krisenherden der Welt unter häufig gefährlichen Umständen hervorragende Arbeit geleistet. Obwohl Krisen dieser Art natürlich auch weiterhin schwelten, saß LaSalle inzwischen in einem bequemen Polstersessel in seinem gläsernen Büro mit Blick auf den Redaktionssaal und kümmerte sich um die heimische amerikanische Szene, die zuzeiten allerdings ähnlich turbulent sein konnte.

LaSalle war kompakt und feinknochig, ein Energiebündel mit sorgfältig gepflegtem Bart und immer eleganter Kleidung, ein Yuppie, wie manche sagten. Als Inlandschefredakteur hatte er einen großen Verantwortungsbereich und war, zusammen mit dem Auslandschefredakteur, Chef des Redaktionssaals. Beide hatten dort ihre eigenen Schreibtische für den Fall, daß eine Geschichte, die einen von beiden betraf, wirklich heiß wurde. Die Dallas-Geschichte war heiß. Und deshalb war LaSalle sofort zu seinem Tisch im Redaktionssaal gestürzt.

Der Redaktionssaal lag einen Stock unter dem Hufeisen, neben dem Sendestudio, das die Hektik des Saals als optischen Hintergrund benutzte. Ein Kontrollraum, in dem ein Regisseur die technischen Komponenten jeder Sendung zusammenstellte, befand sich im Keller des Hauses.

Sieben Minuten waren seit dem Bericht aus Dallas über den havarierten Airbus vergangen. LaSalle knallte den Hörer auf die Gabel, nahm einen anderen auf und las gleichzeitig von einem Computermonitor eine AP-Meldung ab, die eben hereinkam. Während er sich weiter um eine möglichst vollständige Berichterstattung über den Vorfall bemühte, hielt er ständig das Hufeisen über die neuesten Entwicklungen auf dem laufenden.

Von LaSalle stammte die entmutigende Nachricht, daß das nächste Kamerateam zwar, ohne auf Geschwindigkeitsbegrenzungen zu achten, auf den Flughafen zuraste, aber immer noch zwanzig Meilen vom Schauplatz entfernt war. Dafür gab es einen guten Grund: Es war ein sehr hektischer Tag gewesen für das Büro in Dallas, alle Kamerateams und Korrespondenten waren unterwegs, und es war einfach Pech, daß keiner der Einsatzorte in der Nähe des Flughafens lag.

Natürlich würde es in Kürze Bilder geben, aber eben nur verspätete, keine von der kritischen Landung des Airbus selbst, die mit Sicherheit spektakulär werden und vielleicht sogar in einer Katastrophe enden würde. Es war auch sehr unwahrscheinlich, daß für die Erstausgabe der Nachrichten, die über Satellit einen Großteil der Ostküste und Teile des Mittelwestens abdeckte, überhaupt Bilder zur Verfügung standen. Immerhin, und das war ein kleiner Trost, hatte der Bürochef in Dallas erfahren, daß weder die großen Konkurrenten noch die lokalen Sender Kamerateams am Flughafen hatten, obwohl auch die bereits unterwegs waren.

Von seinem Schreibtisch im Redaktionssaal beobachtete Ernie LaSalle, der noch immer mit seinen Telefonen beschäftigt war, den üblichen Trubel in dem hell erleuchteten Studio kurz vor Sendebeginn. In diesem Augenblick betrat Crawford Sloane den Raum. Die Fernsehzuschauer hatten während der Sendung immer den Eindruck, als würde Sloane mitten im Redaktionssaal sitzen. Doch in Wirklichkeit trennte eine dicke, schalldichte Glaswand die beiden Zimmer, und der Lärm aus dem Redaktionssaal drang nur dann in das Studio, wenn er mit Absicht zugespielt wurde.

Es war 18 Uhr 28, zwei Minuten vor Beginn der Erstausgabe.

Während Sloane sich in den Moderatorenstuhl setzte und sich, mit dem Rücken zum Redaktionssaal, der mittleren der drei Kameras zuwandte, kümmerte sich eine Maskenbildnerin um ihn. Erst vor zehn Minuten war er in einer kleinen Garderobe neben seinem Büro geschminkt worden, aber seitdem hatte er wieder geschwitzt. Das Mädchen wischte und puderte ihm die Stirn, kämmte ihn und sprühte die Frisur mit Haarspray ein.

Mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme murmelte er: »Danke, Nina«, überflog seine Papiere und verglich den Text mit den Zeilen, die in großen Buchstaben auf dem Teleprompter aufleuchteten. Denn von dort las er seine Meldungen ab, während der Zuschauer den Eindruck hatte, er würde ihn direkt ansehen. Die Blätter, mit denen die Moderatoren oft spielten, waren nur eine Vorsichtsmaßnahme, falls der Teleprompter ausfiel.

»Noch eine Minute!« rief der Studiomanager.

Im Redaktionssaal richtete Ernie LaSalle sich plötzlich überrascht und gespannt auf.

Erst vor einer guten Minute hatte der Bürochef in Dallas das Gespräch mit LaSalle unterbrochen, um einen Anruf auf einer anderen Leitung entgegenzunehmen. Während LaSalle wartete, konnte er zwar die Stimme des Bürochefs hören, aber nicht verstehen, was er sagte. Doch nun meldete er sich wieder, und was er zu berichten hatte, trieb dem Inlandsredakteur ein breites Grinsen ins Gesicht. LaSalle hob das rote Haustelefon ab, das ihn, über eine Verstärker- und Lautsprecheranlage, mit der gesamten Nachrichtenmannschaft verband.

»Inlandsredaktion. LaSalle. Gute Nachrichten. Es gibt jetzt doch direkte Bilder von DFW Airport. In der Abfertigungshalle sind Partridge, Abrams und Van Canh, die dort auf ihre Anschlußflüge gewartet haben. Abrams hat sich eben im Büro in Dallas gemeldet: Sie haben die Story und bleiben dran. Und noch besser: Ein Satelliten-Übertragungswagen hat seinen ursprünglichen Einsatzort verlassen und ist auf dem Weg zum Flughafen, wo er in Kürze eintreffen wird. Ein Satellitenkanal für die Überspielung von Dallas nach New York ist gebucht. Wir erwarten Bilder noch rechtzeitig für die Erstausgabe.«

Obwohl LaSalle versucht hatte, gelassen zu klingen, konnte er die Befriedigung in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. Und wie als Antwort drang vom Hufeisen gedämpfter Jubel zu ihm herunter. Crawford Sloane, im Studio, drehte sich um und zeigte LaSalle fröhlich den hochgestreckten Daumen.

Ein Assistent legte LaSalle ein Papier vor, er überflog es kurz und sprach dann weiter: »Ein erster Bericht von Abrams: An Bord des havarierten Airbus sind 286 Passagiere, 11 Besatzungsmitglieder. Das zweite Flugzeug, eine private Piper Cheyenne, ist in Gainesville abgestürzt, keine Überlebenden. Am Boden gibt es weitere Opfer, Angaben über Anzahl und Schwere der Verletzungen liegen noch nicht vor. Dem Airbus wurde ein Triebwerk abgerissen, Pilot versucht, mit dem verbleibenden zu landen. Nach Angaben der Bodenkontrolle entstand das Feuer an der Stelle, wo das Triebwerk abgerissen wurde. Ende der Meldung.«

Was da in den letzten Minuten von Dallas reingekommen ist, dachte LaSalle, war total professionell. Aber das war auch nicht verwunderlich, denn Abrams, Partridge und Van Canh waren eines der Spitzenteams von CBA News. Rita Abrams, eine frühere Korrespondentin, die jetzt als leitende Field-Producerin arbeitete, war berühmt für ihre schnelle Einschätzung von Situationen und ihren Einfallsreichtum, wenn es darum ging, auch unter schwierigen Bedingungen Stories zu liefern. Harry Partridge war einer der besten Korrespondenten im Geschäft. Er war eigentlich Spezialist für Kriegsberichterstattung und hatte, wie Crawford Sloane, in Vietnam gearbeitet, aber man konnte sich darauf verlassen, daß er in jeder Situation außergewöhnliches Material lieferte. Und der Kameramann Min Van Canh, ein Vietnamese, der die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, war berühmt für seine hervorragenden Aufnahmen, die oft in den schwierigsten Situationen und ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit entstanden. Daß nun diese drei aus Dallas berichteten, war eine Garantie für exzellente Resultate.

Es war inzwischen eine Minute nach halb, die Erstausgabe der National Evening News hatte begonnen. Mit einem Regler neben seinem Schreibtisch drehte LaSalle die Lautstärke des von der Decke hängenden Kontrollschirms hoch und hörte, wie Crawford Sloane seine Tell-story über die Flugzeugkollision verlas. Man sah, wie eine Hand - die eines Texters - ihm ein Blatt Papier zuschob. Es war offensichtlich der zusätzliche Bericht, den LaSalle eben verlesen hatte. Sloane überflog ihn nur kurz und fügte ihn dann aus dem Stegreif in seinen vorbereiteten Text ein. So etwas konnte er ausgezeichnet.

Oben am Hufeisen hatte sich die Stimmung seit LaSalles Durchsage gebessert. Trotz des noch immer herrschenden Drucks und der Zeitnot lag ein fröhlicher Optimismus in der Luft, weil man wußte, daß Dallas in guten Händen war und Bilder sowie ein ausführlicher Bericht eintreffen würden. Chuck Insen und die anderen kauerten vor den Monitoren, sie diskutierten und trafen Entscheidungen, sie schnitten, stellten um und kürzten, um die notwendige Zeit herauszuschinden. Es sah so aus, als würde der Bericht über den korrupten Senator nun doch herausfallen. Man spürte, daß jeder das tat, was alle am besten konnten, nämlich unter Zeitdruck und in kritischen Situationen effektiv arbeiten.

Man verständigte sich in kurzen Sätzen.

»Das Bildmaterial ist zu lahm.«

»Kürzen, dann wird's griffiger.«

»Schneideraum: Raus mit >Korruption<. Aber falls wir Dallas nicht kriegen, kommt's wieder rein.«

»Die letzten fünfzehn Sekunden von dem Clip sind tödlich. Da erzählen wir den Leuten doch nur, was sie schon wissen.«

»Die Oma in Omaha bestimmt nicht.«

»Dann wird sie's auch nie erfahren. Raus damit.«

»Erster Teil abgeschlossen. Sind jetzt auf Werbung. Hängen vierzig Sekunden hinter der Zeit.«

»Was hat die Konkurrenz über Dallas gebracht?«

»Eine Tell-story, wie wir.«

»Ich brauch' 'n Aufreißer und 'ne Schlußzeile für >Drogenrazzia<, aber schnell.«

»Raus damit. Das bringt doch nichts.«

»Was wir hier machen ist ungefähr so, als wenn du 'nen erwachsenen Mann in 'nen Kinderanzug steckst.«

Ein Beobachter, der mit der Szene nicht vertraut ist, wird sich vielleicht fragen: Sind das überhaupt noch Menschen? Haben sie kein Mitgefühl? Spüren sie keine Betroffenheit, keinen Kummer? Hat einer von ihnen auch nur eine Sekunde an die fast dreihundert verängstigten Seelen in diesem Flugzeug gedacht, die den Tod vor Augen haben? Ist denn da keiner, dem das etwas ausmacht?

Und jemand, der sich im Nachrichtengewerbe auskennt, wird vielleicht antworten: Doch, hier gibt es Leute, denen es etwas ausmacht, und sie werden Mitgefühl empfinden, vielleicht sogar gleich nach der Sendung. Oder andere wird das Entsetzen überkommen, wenn sie zu Hause sind, und je nachdem, wie die Sache ausgeht, werden einige sogar weinen. Aber in diesem Augenblick hat niemand dazu Zeit. Die Leute sind Nachrichtenprofis. Und ihre Aufgabe ist es, das Geschehen zu dokumentieren, das Gute mit dem Schlechten, und es schnell und effektiv und vor allem so zu tun, daß - um es etwas altmodisch auszudrücken - »das verehrte Publikum daran Interesse finde«.

So war um 18 Uhr 40, nach den ersten zehn Minuten der halbstündigen Nachrichtensendung, für die Leute am Hufeisen und die im Redaktionssaal, im Studio und im Kontrollraum die einzig wichtige Frage: »Werden wir von DFW einen Bildbericht bekommen oder nicht?«

2

Für die fünf Journalisten im Flughafen von Dallas-Fort Worth hatte die Serie der Ereignisse schon einige Stunden früher begonnen und gegen 17 Uhr 10 zentraler Sommerzeit einen ersten Höhepunkt erreicht.

Die fünf waren Harry Partridge, Rita Abrams, Minh Van Canh, Ken O'Hara, der Tontechniker des Teams, und Graham Broderick, ein Auslandskorrespondent der New York Times. Sie hatten an diesem Morgen noch vor Sonnenaufgang El Salvador verlassen, waren nach Mexico City geflogen und von dort schließlich, nach einer Verspätung und einem Flugzeugwechsel, nach Dallas weitergereist. Nun warteten sie auf ihre Anschlußflüge, allerdings mit unterschiedlichen Zielen.

Alle waren sie müde und erschöpft, nicht nur von der langen Reise, sondern von zwei strapaziösen und gefährlichen Monaten, in denen sie über schmutzige Kriege in wenig erfreulichen Teilen Lateinamerikas zu berichten hatten.

Die Wartezeit verbrachten sie in einer Bar im Terminal 2E, eine der vierundzwanzig immer voll besetzten Bars des Flughafens. Die Einrichtung strahlte eine gewisse gestylte Nüchternheit aus. Eine Gartenmauerimitation mit Pflanzenkästen diente als Trennwand, die mit hellblauem Karostoff bespannte Deckenverkleidung wurde von versteckten Lichtquellen pinkfarben beleuchtet. Der Mann von der Times meinte, die Bar erinnere ihn an ein Bordell in Mandalay, das er einmal besucht hatte.

Von ihrem Tisch am Fenster sahen sie hinaus auf das Flugfeld und das Gate 20. Von dort sollte Harry Partridge in wenigen Minuten mit einer Maschine der American Airlines nach Toronto abfliegen. Doch an diesem Abend mußte er sich in Geduld üben, eine einstündige Verspätung war eben bekanntgegeben worden.

Partridge, eine lange, schlaksige Gestalt, hatte einen unordentlichen, blonden Haarschopf, der ihn trotz seiner gut vierzig Jahre und der ersten grauen Strähnen noch immer sehr jungenhaft wirken ließ. Im Augenblick saß er entspannt in seinem Sessel, verspätete Flüge und auch alles andere waren ihm gleichgültig. Drei Wochen Erholungsurlaub lagen vor ihm, und den hatte er auch dringend nötig.

Rita Abrams wartete auf einen Anschlußflug nach Minneapolis - St. Paul, von wo aus sie zur Farm eines Freundes in Minnesota weiterfahren wollte, um dort ein paar freie Tage zu verbringen. Sie hatte auch ein Wochenendrendezvous mit einem verheirateten CBA-Manager eingeplant, doch das behielt sie für sich. Minh Van Canh und Ken O'Hara wollten nach New York. Graham Broderick ebenfalls.

Partridge, Rita und Minh arbeiteten häufig zusammen. O'Hara hatte sie als Tontechniker auf dieser Reise zum ersten Mal begleitet. Er war jung, blaß, bleistiftdünn und verbrachte fast seine ganze Freizeit mit der Nase in Elektronikmagazinen; auch jetzt hatte er eins aufgeschlagen.

Broderick war das fünfte Rad am Wagen, obwohl er und die Fernsehleute oft zusammenarbeiteten und sich im allgemeinen gut verstanden. Doch im Augenblick suchte der Mann von der Times, eine rundliche, würdevolle und leicht pompöse Erscheinung, Streit.

Drei aus der Gruppe hatten bereits einige Gläser zuviel. Die Ausnahmen waren Van Canh, der nur Mineralwasser trank, und der Tontechniker, der sich noch immer an seinem ersten Glas Bier festhielt und alle weiteren Einladungen ablehnte.

»Hör zu, du reicher Stinker«, sagte Broderick zu Partridge, der seine Brieftasche aus der Jacke gezogen hatte. »Wenn ich sage, ich zahl' für die Runde, dann tu' ich's auch.« Er legte zwei Scheine, einen Zwanziger und einen Fünfer, auf das Tablett, mit dem der Kellner die drei doppelten Scotch und das Mineralwasser gebracht hatte. »Nur weil du doppelt soviel wie ich für die halbe Arbeit einsteckst, mußt du nicht gleich den Wohltäter für 'n Zeitungsfritzen spielen.«

»O Mann«, warf Rita dazwischen. »Brod, nicht schon wieder die alte Leier.«

Rita hatte überlaut gesprochen, wie sie es manchmal tat. Zwei Uniformierte des Flughafensicherheitsdienstes hatten eben die Bar betreten und sahen sich nun neugierig nach ihr um. Rita bemerkte es lächelte und winkte ihnen zu. Die Männer musterten die Gruppe und die Ansammlung von Kameras und Ausrüstungsgegenständen, auf denen überall deutlich das CBA-Logo prangte. Sie erwiderten das Lächeln und gingen weiter.

Harry Partridge, der die Szene beobachtet hatte, dachte: Heute sieht man Rita ihr Alter an. Obwohl sie eine Sinnlichkeit verströmte, die viele Männer in ihren Bann gezogen hatte, waren die verräterischen Linien in ihrem Gesicht unübersehbar; und die professionelle Härte, mit der sie von sich selbst ebensoviel verlangte wie von ihren Mitarbeitern, äußerte sich manchmal in einer gewissen herrischen Manieriertheit, die sie nicht eben attraktiv machte. Im Augenblick gab es dafür einen konkreten Grund: die Belastungen und die schwere Arbeit, die sie in den vergangenen zwei Monaten mit Harry und den anderen geteilt hatte.

Rita war dreiundvierzig und hatte noch bis vor sechs Jahren als Korrespondentin vor der Kamera gestanden, wenn auch bereits weniger häufig als in ihren jüngeren und attraktiveren Jahren. Jeder wußte, daß es ein gemeines und ungerechtes System war, in dem Männer noch vor der Kamera auftreten konnten, wenn sich in ihrem Gesicht schon das Alter bemerkbar machte, während Frauen beiseite geschoben wurden wie eine Geliebte, von der man genug hat. Einige wenige Frauen hatten versucht, dagegen anzukämpfen - Christine Craft etwa, eine Reporterin und Moderatorin, war sogar vor Gericht gezogen -doch ohne Erfolg.

Rita hatte sich, anstatt den aussichtslosen Kampf aufzunehmen, der Arbeit hinter der Kamera zugewandt und dabei triumphale Erfolge gefeiert. Anfangs hatte sie verschiedene Chefproduzenten bedrängt, ihr schwierige Aufgaben im Ausland zu geben, die sonst immer an Männer gingen. Eine Zeitlang hatten sich ihre Vorgesetzten geweigert, doch schließlich nachgegeben, und bald wurde Rita, zusammen mit Harry, automatisch in die Gegenden geschickt, wo die Kämpfe am härtesten und das Leben am schwierigsten waren.

Broderick hatte über Ritas letzte Bemerkung nachgedacht und sagte nun: »Wenn ihr Fernsehheinis wenigstens irgendwas Wichtiges machen würdet. Euer winziges Nachrichtenloch jeden Abend bringt doch immer nur die Brösel vom Tisch des Weltgeschehens. Wie lang ist es... neunzehn Minuten?«

»Wenn die Presse es schon unbedingt auf uns Wehrlose abgesehen hat«, meinte Partridge freundlich, »dann sollte sie wenigstens bei der Wahrheit bleiben. Es sind einundzwanzig und eine halbe Minute.«

»Bleiben noch sieben Minuten für Werbung«, ergänzte Rita, »und davon wird unter anderem auch Harrys wahnsinniges Gehalt gezahlt, bei dem du ganz grün vor Neid wirst.«

Rita hat mit ihrer gewohnt unverblümten Art den Nagel auf den Kopf getroffen, was die Eifersucht betraf. Die Zeitungsleute reagierten immer empfindlich, wenn es um den Unterschied zwischen ihren eigenen und den beim Fernsehen gezahlten Gehältern ging. Im Vergleich zu Partridge mit einem Jahresgehalt von 250000 Dollar verdiente Broderick als erstklassiger, höchst kompetenter Reporter nur bescheidene 85000 Dollar.

Als wäre sein Gedankengang nie unterbrochen worden, fuhr der Mann von der Times fort: »Was die gesamte Nachrichtenredaktion eures Senders in einem Tag produziert, würde bei uns nicht mal eine halbe Seite füllen.«

»Ein blöder Vergleich«, erwiderte Rita gereizt, »weil jeder weiß, daß ein Bild mehr wert ist als tausend Worte. Wir haben Hunderte von Bildern und wir bringen die Leute dorthin, wo die Nachrichten passieren, damit sie es selber sehen können. Eine Zeitung hat das noch nie geschafft.«

Broderick, seinen doppelten Scotch in der einen Hand, winkte mit der anderen ab. »Ist nicht relevant.« Das letzte Wort machte ihm Schwierigkeiten; er sprach es »revelant« aus.

Nun war es Minh Van Canh, für gewöhnlich kein großer Redner, der fragte: »Warum nicht?«

»Weil ihr alle Dinosaurier seid. Die großen, landesweiten Sender sterben langsam. Ihr wart ja nie mehr als ein Schlagzeilenservice, und jetzt nehmen euch die Lokalsender sogar das noch ab, weil sie mit neuer Technologie auch an Nachrichten von draußen rankommen und euch Berichte klauen.«

»Nun ja«, meinte Partridge, immer noch angenehm entspannt, »es gibt Leute, die behaupten das seit Jahren. Aber schau uns doch an. Wir sind immer noch da, und wir sind immer noch stark, weil die Leute unsere Nachrichten wegen der Qualität ansehen.«

»Genauso ist es«, sagte Rita. »Und du irrst dich außerdem, Brod, wenn du meinst, daß die Nachrichten der Lokalsender besser werden. Werden sie nämlich nicht. Sie werden schlechter. Einige Leute, die mit hohen Erwartungen die großen Sender verlassen haben, um bei den lokalen zu arbeiten, kommen jetzt enttäuscht wieder zurück.«

»Und warum?« wollte Broderick wissen.

»Weil das Management der lokalen die Nachrichten nur im Hinblick auf Werbewirksamkeit und damit zu erzielende Einnahmen betrachtet. Diese neue Technologie, die du erwähnt hast, dient ihnen nur dazu, um die niedersten Instinkte ihrer Zuschauer zu kitzeln. Und wenn sie wirklich jemand von der Nachrichtenredaktion auf eine große Story ansetzen, dann ist er meistens noch ein halbes Kind, ein Anfänger, der mit der Erfahrung und den Möglichkeiten unserer Reporter nicht konkurrieren kann.«

Harry Partridge gähnte. Das Schlimme an dieser Unterhaltung war, daß sie aufgewärmter Kaffee war, ein Spiel, um die Zeit zu überbrücken. Sie verlangte keine intellektuelle Anstrengung, die ganze Sache hatten sie schon viel zu oft durchgespielt.

Plötzlich bemerkte er in der Nähe verstärkte Aktivität.

Die beiden Sicherheitsbeamten waren noch immer in der Bar, die sie zuvor lässig durchschlendert hatten. Doch nun wurden sie plötzlich aktiv und rissen ihre Funkgeräte ans Ohr. Offenbar eine wichtige Meldung. Partridge verstand einige Fetzen. »...Alarmstufe Zwei... Kollision in der Luft... nähert sich Landebahn einssieben, links... Sicherheitsdienst Treffpunkt...« Die beiden Beamten stürzten hinaus.

Die anderen aus der Gruppe hatten es ebenfalls mitbekommen. »Hehl« rief Minh Van Canh. »Vielleicht...«

Rita sprang auf. »Ich seh mal nach, was los ist.« Sie verließ eilig den Raum.

Van Canh und O'Hara packten Kamera und Audiogeräte zusammen. Partridge und Broderick taten das gleiche mit ihrem Gepäck.

Einer der Sicherheitsbeamten war noch in Sichtweite. Rita holte ihn bei einem Schalter der American Airlines ein, und dabei fiel ihr auf, daß er das jugendlich attraktive Aussehen eines Footballspielers hatte.

»Ich bin von CBA News.« Sie zeigte ihm ihren Presseausweis.

Er musterte sie unverhohlen. »Ja, ich weiß.«

Unter anderen Umständen, dachte sie kurz, hätte sie ihn vielleicht mit den Reizen einer älteren Frau bekannt gemacht. Doch dazu war leider keine Zeit. »Was ist los?« fragte sie.

Der Beamte zögerte. »Sie müssen sich ans Informationsbüro wenden... «

»Später«, erwiderte Rita ungeduldig. »Es ist ein Notfall, oder? Sagen Sie schon.«

»Muskegon Airlines hat Probleme. Einer ihrer Airbusse hatte eine Kollision. Versucht, mit Feuer an Bord zu landen. Wir haben Alarmstufe Zwei, das heißt, sämtliche Rettungsdienste sind unterwegs in Richtung Rollbahn eins-sieben, links.« Seine Stimme klang besorgt. »Sieht ziemlich schlimm aus.«

»Ich will mein Kamerateam da draußen haben. Und zwar sofort. In welche Richtung müssen wir?«

Der Sicherheitsbeamte schüttelte den Kopf. »Wenn Sie es ohne Begleitung versuchen, kommen Sie nicht weiter als bis zur Flugfeldrampe. Man wird Sie verhaften.«

Rita fiel etwas ein, das sie einmal gehört hatte: Daß der DFW Airport stolz sei auf seine gute Zusammenarbeit mit den Medien. Sie deutete auf das Funkgerät des Beamten. »Können Sie mit dem Ding das Informationsbüro anrufen?«

»Könnte ich schon.«

»Dann tun Sie es. Bitte!«

Ihre Überredungskünste funktionierten. Der Beamte rief an und erhielt sofort Antwort. Er nahm Ritas Pressekarte, las die Angaben ab und erklärte, was sie wollte.

Sie hörte die Antwort. »Sagen Sie ihnen, daß sie sich zuerst beim Sicherheitsposten Eins melden und dort ihre Kennkarten abholen müssen.«

Rita stöhnte. Sie zeigte auf das Funkgerät. »Lassen Sie mich mal.«

Der Beamte drückte die Sprechtaste und hielt ihr das Gerät hin.

Hastig sprach sie in das eingebaute Mikrofon. »Wir haben keine Zeit dazu, das müssen Sie doch verstehen. Wir sind von CBA. Wir haben alle möglichen Referenzen. Den ganzen Papierkram erledigen wir später. Aber bitte, bitte, bringen Sie uns jetzt sofort raus.«

»Moment.« Eine Pause, dann eine neue Stimme in knappem Befehlston: »In Ordnung, gehen Sie schnell zu Gate 19. Fragen Sie jemand nach dem Weg zum Flugfeld. Warten Sie dort auf einen Kombi mit Blinklicht. Ich werde Sie abholen.«

Rita faßte den Beamten am Arm. »Danke!«

Dann lief sie zurück zu Partridge und den anderen, die eben die Bar verließen. Broderick war der letzte. Beim Gehen warf der Mann der New York Times noch einen bedauernden Blick auf die zurückgelassenen Drinks, für die er bezahlt hatte.

Rita berichtete knapp, was sie erfahren hatte, und wandte sich dann an Partridge, Minh und O'Hara: »Das kann 'ne große Sache werden. Geht raus aufs Flugfeld. Aber beeilt euch. Ich häng' mich erst ans Telefon und komm' dann nach.« Sie sah auf die Uhr. 17 Uhr 20, 18 Uhr 20 in New York. »Wenn wir schnell sind, schaffen wir es noch bis zur Erstausgabe.« Aber insgeheim zweifelte sie daran.

Partridge akzeptierte mit einem Kopfnicken Ritas Befehle. Die Beziehung zwischen Korrespondent und Produzent war nicht klar definiert. Offiziell war ein Außenproduzent wie Rita verantwortlich für das ganze Team, auch für den Korrespondenten, und wenn irgend etwas schiefging, schob man dem Produzenten die Schuld zu. Aber wenn alles gutging, erhielt natürlich der Korrespondent, dessen Gesicht und dessen Name im Bericht auftauchten, das Lob, obwohl zweifellos auch der Produzent die Story mitgestaltet und Textbeiträge geliefert hatte.

Doch im Fall eines so berühmten und einflußreichen Korrespondenten wie Harry Partridge drehte sich die offizielle Hackordnung manchmal um, der Korrespondent übernahm die Führung, und der Produzent ließ sich von ihm einschüchtern und wurde überstimmt. Wenn jedoch Partridge und Rita zusammenarbeiteten, machte sich keiner viel Gedanken über die Rangordnung. Sie wollten einfach die besten Berichte abliefern, die sie beide gemeinsam produzieren konnten.

Während Rita zu einer Telefonzelle stürzte, liefen Partridge, Minh und O'Hara zum Gate 19, wo sie nach einem Zugang zur Flugfeldrampe suchten. Graham Broderick, den die Ereignisse sehr schnell wieder nüchtern gemacht hatten, folgte ihnen auf den Fersen.

Am Ende des Ganges war eine Tür mit der Aufschrift:

FLUGFELD - SPERRZONE

NUR NOTAUSGANG

ALARMGESICHERT

Da kein Offizieller zu sehen war, schob sich Partridge ohne Zögern hindurch, die anderen folgten ihm. Während sie eine Metalltreppe hinunterstürmten, schrillte hinter ihnen die Alarmglocke. Sie ignorierten sie und betraten die Flugfeldrampe.

Es ging zu dieser Tageszeit sehr hektisch zu, auf dem Flugfeld drängten sich Maschinen und Servicewagen. Plötzlich tauchte ein Kombi auf, der mit Blinklicht auf sie zugerast kam. Mit quietschenden Bremsen stoppte er vor Gate 19.

Minh, der dem Wagen am nächsten stand, öffnete die Tür und sprang hinein. Die anderen folgten. Der Fahrer, ein schlanker, junger Mann in braunem Anzug, gab Gas und fuhr so schnell davon, wie er gekommen war. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Hallo, Jungs. Ich bin Vernon - vom Infobüro.«

Partridge stellte sich und die anderen vor.

Vernon nahm drei grüne Kennkarten vom Beifahrersitz und gab sie nach hinten. »Die sind zeitlich begrenzt. Ihr steckt sie euch besser an; ich hab' mich schon über genug Vorschriften hinweggesetzt, aber wie eure Lady schon sagte, wir sind etwas knapp mit der Zeit.«

Sie hatten bereits zwei Rollbahnen überquert und fuhren nun auf einer Zufahrtsstraße in östlicher Richtung. Rechts vor ihnen lagen zwei Landebahnen. An der entfernteren trafen eben die Rettungsfahrzeuge ein.

Rita Abrams sprach von einer Telefonzelle in der Abfertigungshalle mit dem CBA-Büro in Dallas. Sie hatte erfahren, daß der Bürochef bereits von dem Unfall wußte und versucht hatte, ein lokales CBA-Team zum Schauplatz zu schicken. Er war hoch erfreut, als er von der Anwesenheit Ritas und der anderen erfuhr.

Sie sagte ihm, er solle New York informieren, und fragte dann: »Wie sieht's mit Übertragungsmöglichkeiten via Satellit aus?«

»Gut. Ein Übertragungswagen ist bereits von Arlington aus unterwegs.«

Arlington, erfuhr sie nun, war nur dreizehn Meilen entfernt. Der Wagen, der KDLS-TV, einer Tochtergesellschaft von CBA gehörte, war für eine Sportübertragung aus dem Stadion von Arlington bereitgestellt worden, doch nun ließ man diesen Bericht fallen und schickte den Wagen nach DFW. Fahrer und Techniker würden über Autotelefon von ihrem neuen Auftrag erfahren.

Die Nachricht versetzte sie in freudige Erregung. Jetzt bestand doch noch eine gute Chance, rechtzeitig zur Erstausgabe einen Bildbericht nach New York schicken zu können.

Der Kombi mit dem CBA-Trio und dem Mann von der Times näherte sich der Landebahn 17L. Die Zahl bedeutete eine Polabweichung von 170 Grad, die Bahn verlief also fast genau in südlicher Richtung; das L bedeutete, daß es sich um die linke der beiden Rollbahnen handelte. Wie auf allen Flughäfen war die Bezeichnung in großen weißen Buchstaben auf den Asphalt gemalt.

Während sie mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfuhren, erläuterte Vernon: »Ein Pilot in Not darf sich seine Landebahn selbst aussuchen. Bei uns ist es meistens die 17L. Die ist fast siebzig Meter breit und von den Rettungsdiensten am schnellsten zu erreichen.«

Der Kombi hielt auf einer Rollbahn an, die die 17L kreuzte. Von dort aus würde der Anflug und die Landung des Airbus gut zu beobachten sein.

»Das hier wird der Kommandostand vor Ort«, erklärte Vernon.

Noch immer trafen Rettungsfahrzeuge ein, einige stellten sich in der Nähe des Kombis in Position. Die Flughafenfeuerwehr hatte sieben Lastzüge abgestellt, vier riesige Oshkosh M15 Schaumlöschzüge, einen Drehleiterwagen und zwei kleinere Spezialfahrzeuge für schnelle Eingreifkommandos, sogenannte RIVs. Die Schaumlöschzüge mit ihren riesigen, fast zwei Meter hohen Reifen, den zwei Motoren, je einer vorne und einer hinten, und den Hochdruckspritzen waren praktisch selbständige Brandbekämpfungseinheiten. Die schnellen und wendigen RIVs waren für den Ersteinsatz in allernächster Nähe des brennenden Flugzeugs gedacht.

Polizisten sprangen aus ihren blauweißen Limousinen, holten silberfarbene Schutzanzüge aus den Kofferräumen und zogen sie an. Die Flughafenpolizei sei auch für die Brandbekämpfung ausgebildet, erklärte Vernon. Aus dem Funkgerät des Kombis drang ein Wirrwarr von Befehlen.

Die Löschzüge, die von einem Lieutenant in einer gelben Limousine dirigiert wurden, postierten sich nun in Abständen am Rand der Landebahn. Von allen umliegenden Gemeinden zusammengerufene Krankenwagen strömten auf das Flughafengelände und bezogen etwas abseits der Landebahn Stellung.

Partridge war als erster aus dem Auto gesprungen, er stand jetzt daneben und machte sich Notizen. Broderick, der es nicht ganz so eilig hatte, folgte ihm. Minh Van Canh war auf das Dach des Kombis geklettert und suchte, die schußbereite Kamera auf der Schulter, den Himmel ab. Hinter ihm stand Ken O'Hara mit seinem Aufnahmegerät, Drähte hinter sich herziehend.

Und plötzlich tauchte das havarierte Flugzeug in etwa fünf Meilen Entfernung am Horizont auf, dichter, schwarzer Rauch quoll aus seinem Heck. Minh hob die Kamera, richtete sie aus und drückte sich den Sucher fest ans Auge.

Er war eine kräftige, stämmige Gestalt, nur etwas über einsfünfzig groß, aber mit breiten Schultern und langen, muskulösen Armen. Aus seinem kantigen, dunklen, pockennarbigen Gesicht sahen große, braune Augen mit Gleichmut auf die Welt, sie verrieten nichts von dem, was hinter ihnen liegen mochte. Leute, die Minh nahestanden, behaupteten, es habe lange gedauert, bis sie ihn näher kennenlernten.

Aber in einigen Dingen herrschte Übereinstimmung, nämlich daß er fleißig, verläßlich und ehrlich war und einer der besten Kameramänner im Gewerbe. Seine Filme waren mehr als gut; sie erregten immer große Aufmerksamkeit und waren häufig von hohem künstlerischen Wert. Seine Arbeit für CBA hatte er in Vietnam begonnen - als Einheimischer, der sein Handwerk von einem amerikanischen Kameramann lernte, für den er die Ausrüstung durch den heiß umkämpften Dschungel schleppte. Als sein Lehrer auf eine Mine trat und von ihr getötet wurde, trug Minh die Leiche ins Lager und kehrte dann mit der Kamera in den Dschungel zurück, um weiterzufilmen. Keiner bei CBA konnte sich daran erinnern, ihn je offiziell eingestellt zu haben. Sein Engagement wurde einfach zu einem fait accompli.

Im Jahr 1975, kurz vor dem Fall Saigons, waren Minh, seine Frau und seine zwei Kinder unter den wenigen Glücklichen, die vom Hof der Amerikanischen Botschaft in CH-53 Militärhubschraubern an Bord der Siebten Amerikanischen Flotte auf hoher See in Sicherheit gebracht wurden. Selbst da filmte er noch die ganze Aktion, und ein Großteil seines Materials wurde in den National Evening News verwendet.

Nun war es wieder eine Fliegergeschichte, ein ganz andere zwar, aber eine ebenso dramatische und eine, deren Ausgang noch ungewiß war.

Im Sucher wurden die Umrisse des näher kommenden Airbus' langsam deutlich. Klarer erkennbar war nun aber auch der helle Flammenkranz auf der rechten Seite mit der dichten Rauchwolke dahinter. Die Flammen schlugen aus der Stelle, wo das Triebwerk abgerissen und jetzt nur noch Teile der Halterung zu erkennen waren. Minh und die anderen Augenzeugen waren erstaunt, daß das Feuer noch nicht das ganze Flugzeug erfaßt hatte.

Vernon im Inneren des Kombi hatte inzwischen auf die Funkfrequenz des Luftverkehrs umgeschaltet. Man hörte, wie die Bodenkontrolle mit dem Airbuspiloten sprach. Der Fluglotse, der den Anflug auf dem Radarschirm überwachte, warnte mit ruhiger Stimme: »Sie sind leicht unterhalb des Gleitwegs... weichen nach links von der Mittellinie ab... Jetzt wieder auf dem Gleitweg, auf der Mittellinie...«

Aber die Airbuspiloten hatten offensichtlich Schwierigkeiten, Höhe und Kurs zu halten. Das Flugzeug schien seitwärts hereinzuschweben, den beschädigten rechten Flügel höher gestellt als den linken. Manchmal brach die Nase der Maschine aus, um sich dann, wie nach einer verzweifelten Anstrengung der Piloten im Cockpit, wieder auszurichten. Es war ein unruhiges Auf und Ab, weil das Flugzeug immer wieder absackte und dann nur mühsam wieder an Höhe gewann. Am Boden stellten sich alle dieselbe unausgesprochene bange Frage: Würde der Airbus, nachdem er nun so lange durchgehalten hatte, auch noch den Rest der Strecke schaffen? Die Antwort wußte niemand.

Aus dem Funkgerät kam die Stimme von einem der Piloten. »Tower, wir haben Probleme mit dem Fahrwerk... die Hydraulik ist ausgefallen.« Eine Pause. »Wir versuchen, das Gestell im freien Fall< auszufahren... jetzt.« Ein Feuerwehrhauptmann, der es ebenfalls gehört hatte, war stehengeblieben. Partridge fragte ihn: »Was heißt das?«

»Bei Passagiermaschinen gibt es ein Notsystem, um das Fahrgestell auszufahren, wenn die Hydraulik ausfällt. Die Piloten lassen den gesamten Druck aus der Hydraulik ab, damit das Fahrgestell, das sehr schwer ist, von seinem eigenen Gewicht heruntergezogen wird und dann einrastet. Aber wenn es erst mal unten ist, bringen sie es nicht mehr hoch, auch wenn sie wollten.«

Während der Erläuterung des Feuerwehrmanns war zu sehen, wie das Fahrwerk des Airbus sich langsam senkte.

Augenblicke später kam die ruhige Stimme eines Fluglotsen: »Muskegon, das Fahrgestell ist raus. Aber Achtung: Die Flammen kommen dem vorderen rechten Reifensatz sehr nahe.«

Würden diese Reifen vom Feuer erfaßt, so bestand die Gefahr, daß das Gestell beim Aufsetzen einknickte und das Flugzeug mit hoher Geschwindigkeit nach rechts ausbrach.

Minh holte sich die Maschine mit dem Teleobjektiv heran. Er sah, daß das Feuer inzwischen die Reifen erfaßt hatte. Der Airbus hatte den Rand des Flughafengeländes erreicht... Er kam immer näher, war kaum noch eine Viertelmeile von der Landebahn entfernt... Er würde es schaffen, aber das Feuer wurde immer stärker, der Treibstoff lieferte ihm immer neue Nahrung, und nun brannten zwei der vier Reifen auf der rechten Seite, der Gummi schmok... Es gab eine Stichflamme, als einer der Reifen explodierte.

Mit zweihundertdreißig Stundenkilometern schwebte der Airbus über der Landebahn herein. Sobald er die wartenden Rettungswagen passiert hatte, setzten sie sich in Bewegung. Mit quietschenden Reifen bogen sie auf das Rollfeld ein und rasten mit Höchstgeschwindigkeit hinter der Maschine her. Zwei gelbe Schaumlöschzüge waren die ersten, die anderen Löschfahrzeuge folgten kurz dahinter.

Als das Fahrgestell auf dem Boden aufsetzte, explodierte der zweite Reifen, dann der dritte. Plötzlich löste sich die gesamte rechte Bereifung auf... die Räder liefen nur noch auf den Felgen... das gräßliche Kreischen von Metall, ein Funkenregen, eine Wolke aus Staub und Betonsplittern... Wie durch ein Wunder schafften es die Piloten, den Airbus auf der Landebahn zu halten... Die Sekunden dehnten sich, während das Flugzeug über die Piste raste... Doch endlich stand er. Und im gleichen Augenblick loderten die Flammen in die Höhe.

Mit rasender Geschwindigkeit näherten sich die Löschzüge, Augenblicke später waren die Schaumspritzen in Aktion. In Sekunden quoll die weiße Masse auf und türmte sich wie ein Berg aus Rasierschaum.

Am Flugzeug wurden Türen geöffnet, Notrutschen fielen heraus. Die rechte Vordertür war offen, doch die mittleren wurden vom Feuer blockiert. Auf der linken, vom Feuer abgewandten Seite, waren die vordere und eine der mittleren Türen offen. Einige Passagiere glitten bereits über die Rutschen ins Freie.

Doch von den zwei Heckausgängen auf jeder Seite war bis jetzt noch keiner geöffnet.

Durch die drei offenen Türen quoll Rauch aus dem Flugzeug.

Einige Passagiere waren bereits auf dem Rollfeld. Hustend drängten immer neue nach, viele mußten sich übergeben, alle schnappten nach Luft.

Das Feuer an der Außenhaut des Flugzeugs erstickte nun langsam unter Bergen von Schaum.

Die Männer aus den RIVs mit ihren silberfarbenen Schutzanzügen und Atemgeräten hatten schnell reagiert und Leitern an die verschlossenen Hecktüren angelegt. Als sie jetzt von außen geöffnet wurden, quoll noch mehr Rauch aus der Maschine. Die Männer stürzten hinein, um auch die Brandherde im Inneren zu löschen. Andere drangen durch die vorderen Türen ein und halfen den zum Teil sehr schwachen und benommenen Passagieren beim Ausstieg.

Doch bald ließ der Strom der flüchtenden Passagiere spürbar nach. Harry Partridge schätzte, daß etwa zweihundert Leute das Flugzeug verlassen hatten, aber er wußte auch, daß, einschließlich der Crew, 297 Personen an Bord gewesen waren. Die Feuerwehrmänner begannen nun, Verletzte mit offensichtlich sehr starken Verbrennungen herauszutragen, darunter auch zwei Stewardessen. Noch immer drang Rauch aus der Kabine, wenn auch schon deutlich weniger als zuvor.

Minh Van Canh nahm weiterhin das ganze Geschehen auf, er dachte rein professionell und schloß jeden anderen Gedanken aus, obwohl er sich durchaus bewußt war, daß er der einzige Kameramann am Schauplatz war und etwas ganz Besonderes, wenn nicht Einzigartiges auf seinen Bändern hatte. Seit dem Absturz der Hindenburg war dies vermutlich das erste Mal, daß eine Luftfahrtkatastrophe solchen Ausmaßes live und in solcher Ausführlichkeit aufgenommen wurde.

Krankenwagen waren zum Kommandostand gerufen worden. Etwa zwölf waren bereits da, doch immer noch mehr trafen ein. Sanitäter kümmerten sich um die Verletzten und legten sie auf die wenigen Bahren. In ein paar Minuten würden die Opfer auf dem Weg in die Krankenhäuser sein, die bereits auf sie vorbereitet waren. Als dann ein Helikopter mit Ärzten und Schwestern an Bord landete, glich der Kommandostand neben dem Airbus mehr und mehr einem improvisierten, aber gut funktionierenden Feldlazarett.

Die Geschwindigkeit, mit der das alles passierte, warf ein gutes Licht auf die Notfallplanung des Flugplatzes, dachte Partridge. Über Funk hörte er den Einsatzleiter von etwa einhundertneunzig Geretteten sprechen. Blieben also noch fast einhundert Personen, deren Schicksal ungewiß war.

Ein Feuerwehrmann, der die Atemmaske abgenommen hatte, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen, stöhnte: »O Gott! Auf den hinteren Sitzen liegen Massen von Toten. Dort war vermutlich der Rauch am dichtesten.« Das erklärte auch, warum die vier Hecktüren nicht von innen geöffnet worden waren.

Wie immer bei Flugzeugunfällen blieben die Opfer, wo sie waren, bis ein Beamter der Flugsicherheitsbehörde - der angeblich bereits unterwegs war - sie zum Abtransport freigeben würde.

Nun verließ auch die Cockpit-Crew, entschieden jede Hilfe ablehnend, das Flugzeug. Als der Kapitän, ein graumelierter, langgedienter Pilot, der natürlich von den vielen Toten bereits wußte, sich nun unter den Verletzten umsah, begann er in aller Öffentlichkeit zu weinen. Und da Minh annahm, daß die Piloten, trotz der vielen Opfer, wegen der sicheren Landung der Maschine im Mittelpunkt des Interesses stehen würden, filmte er das tief betroffene Gesicht des Kapitäns in Großaufnahme. Es war Minhs letztes Bild, denn eine Stimme rief: »Harry! Minh! Ken! Schluß jetzt. Nehmt, was ihr habt, und kommt mit mir. Wir überspielen via Satellit nach New York.«

Die Stimme gehörte Rita Abrams, die mit einem Bus des Informationsbüros eingetroffen war. In einiger Entfernung war der versprochene Übertragungswagen zu sehen. Die Satellitenschüssel des Transporters, die während der Fahrt wie ein Fächer zusammengeklappt werden konnte, wurde eben geöffnet und ausgerichtet.

Gehorsam senkte Minh die Kamera. Zwei weitere Fernsehteams waren mit Rita im Bus angekommen, das eine von KDLS, der CBA-Tochter, und mit ihnen eine Horde von Zeitungsreportern und Fotografen. Sie und viele andere, das wußte Minh, würden die Geschichte nun weiterverfolgen. Aber nur er hatte das wirklich heiße Material, die Exklusivaufnahmen des Unglücks, und er spürte heimlichen Stolz bei dem Gedanken, daß seine Bilder an diesem und an den folgenden Tagen um die Welt gehen und so zu einem Stück Geschichte werden würden.

Vernon fuhr sie im Kombi des Informationsbüros zum Übertragungswagen. Unterwegs skizzierte Partridge bereits den Text, den er in wenigen Minuten sprechen würde. »Du hast eine Minute fünfundvierzig Sekunden«, sagte Rita zu ihm. »Und sobald du fertig bist, machst du die Tonspur und deine Absage für den Schluß. Ich überspiele dann als Schnellschuß nach New York.«

Partridge nickte zustimmend, und Rita sah auf die Uhr: 17 Uhr 43, 18 Uhr 43 in New York. Von der Erstausgabe der Nachrichten waren gerade noch fünfzehn Minuten Sendezeit übrig. Minh gab Rita seine zwei kostbaren Cassetten und legte für Partridges Tonspur und die Absage eine neue ein.

Vernon ließ sie direkt neben dem Übertragungswagen aussteigen. Broderick, der ebenfalls mitgefahren war, mußte zurück zur Abfertigungshalle, um seinen Bericht nach New York durchzugeben. »Vielen Dank, Leute«, rief er zum Abschied. »Und vergeßt nicht, wenn ihr morgen 'nen ausführlichen Bericht wollt, kauft euch die Times.«

O'Hara, der High-Tech-Fan, stand beinahe ehrfürchtig vor dem mit Instrumenten vollgepackten Übertragungswagen. »Ein Wahnsinnsding!«

Die Satellitenschüssel auf dem Dach des Wagens war inzwischen zu ihren vollen fünf Metern Durchmesser ausgebreitet und hochgefahren; ein Zwanzig-Kilowatt-Generator sorgte für Strom. In der kleinen, mit Schneide- und Übertragungsgerät vollgestopften Kontrollkabine im Inneren des Wagen richtete einer der Techniker den Sender auf einen Ku-Band Satelliten, 22300 Meilen über ihren Köpfen, aus - auf Spacenet 2. Was sie nun sendeten, wurde vom Transponder 21 des Satelliten empfangen und von dort sofort nach New York weitergeleitet.

Rita saß neben dem Techniker an einer Schneidemaschine und betrachtete Minhs Aufnahmen auf einem Monitor. Daß es ausgezeichnete Bilder waren, überraschte sie nicht.

Bei normalen Einsätzen, bei denen auch ein Cutter zum Team gehörte, wählten Cutter und Produzent gemeinsam die besten Bildsequenzen aus und legten dann die verschiedenen Komponenten über die Tonspur mit dem Korrespondentenkommentar, so daß ein fertig redigierter und geschnittener Bericht entstand. Doch das dauerte fünfundvierzig Minuten, manchmal sogar länger und war im Augenblick also unmöglich. Rita suchte deshalb schnell entschlossen die dramatischsten Szenen aus und ließ sie, so wie sie waren, vom Techniker überspielen - »als Schnellschuß«, wie es im Fernsehjargon heißt.

Partridge saß auf dem Metalltreppchen vor dem Übertragungswagen und gab seinem Text den letzten Schliff. Er sprach sich nur kurz mit Minh und dem Tontechniker ab und nahm dann seinen Kommentar auf.

Unter Berücksichtigung der Einleitung des Nachrichtensprechers, die in New York geschrieben und die wichtigsten Fakten des Unglücks bringen würde, begann Partridge:

»Die Piloten eines längst vergangenen Krieges nannten es Landung mit einem Flügel und einem Gebet<. Es gab sogar ein Lied darüber... Was heute passiert ist, wird wohl kaum jemand in einem Lied verewigen.

Der Airbus der Muskegon Airlines war nur noch sechzig Meilen von Dallas-Fort Worth entfernt... beinahe voll besetzt... aus Chicago kommend... als es zur Kollision kam...«

Wie immer, wenn ein erfahrener Korrespondent für die Fernsehnachrichten textete, hatte auch Partridge »leicht von den Bildern weg« geschrieben. Es war eine sehr spezielle, schwer zu erlernende Kunstform, die einige Reporter nie ganz meisterten. Auch unter professionellen Schreibern erhielt dieses Talent nie die Anerkennung, die es eigentlich verdiente, weil die Texte immer nur als Begleitung zu Bildern geschrieben und selten für sich gelesen wurden.

Der Trick, wie Harry Partridge und einige andere wußten, lag darin, eben nicht die Bilder zu beschreiben. Der Zuschauer sah ja auf seinem Bildschirm, was passierte, und brauchte dazu keine Erklärung. Und doch durften die gesprochenen Worte nicht so weit von den Bildern entfernt ein, daß sie das Bewußtsein des Zuschauers sozusagen spalteten. Es war ein literarischer Balanceakt, und viel davon war Instinkt.

Und noch etwas wußten erfahrene Nachrichtenleute: Die besten Texte bestanden nicht aus ordentlichen, vollständigen Sätzen. Satzfragmente wirkten viel stärker. Die Fakten mußten knapp und präzise, Verben stark und lebendig sein, der Text mußte knistern. Und schließlich sollte der Korrespondent auch mit Sprechweise und Betonung Bedeutung vermitteln. Zugegeben, der oder die Betreffende mußte ein ausgezeichneter Reporter sein, aber darüber hinaus auch Schauspieler. Partridge war all das, doch an diesem Tag gab es ein Handicap: Er hatte die Bilder nicht gesehen, wie es normalerweise der Fall war. Doch wußte er auch so in etwa, wie sie aussehen würden.

Partridge schloß mit einer Absage, dem üblichen Schlußwort eines Korrespondentenberichts. Er war dabei vor dem Hintergrund der hektischen Aktivitäten am Airbus in Großaufnahme zu sehen und sprach direkt in die Kamera.

»In Kürze wird man Genaueres über diese Katastrophe erfahren... tragische Einzelheiten, die Zahl der Opfer und Verletzten. Doch eins kann man jetzt schon sagen: Die Kollisionsgefahr wird immer stärker... in den engen Luftkorridoren an unserem überfüllten Himmel... Harry Partridge, CBA News, Dallas-Fort Worth.«

Minh reichte Rita die Cassette mit dem Text in den Wagen. Da sie Partridge vertraute und ihn zu gut kannte, um wertvolle Zeit mit einer Überprüfung zu verschwenden, ließ sie den Bericht nach New York abgehen, ohne ihn sich vorher angesehen zu haben. Doch als sie dann Augenblicke später sah und hörte, was der Techniker übermittelte, staunte sie. Das Gespräch in der Abfertigungshalle eine halbe Stunde zuvor fiel ihr ein, und sie dachte: Hier sieht man mal, warum Partridge mit seinen vielen Talenten so viel mehr verdient als ein Reporter der New York Times.

Draußen war Partridge bereits mit einer weiteren Korrespondentenaufgabe beschäftigt - mit einem Radiobericht für CBA Radio News, den er, nach einem flüchtigen Blick auf seine Notizen, praktisch aus dem Stegreif sprach. Nach dem Ende der TV-Überspielung würde auch der via Satellit nach New York gehen.

3

Die Zentrale von CBA News war ein neutraler und unscheinbarer, achtstöckiger Backsteinbau an der East Side von Upper Manhattan. Einst als Möbelfabrik errichtet, waren von dem früheren Gebäude nur noch die Außenmauern in ursprünglichem Zustand; das Innere war von einer ganzen Reihe von Mietern vielfach umgebaut und umgestaltet worden. Das Ergebnis war ein Labyrinth von Gängen, in denen sich Besucher ohne Begleitung verliefen.

Trotz seines etwas tristen Aussehens beherbergte das Gebäude einen wahren Fürstenschatz an elektronischem Zaubergerät, einen Großteil davon im Reich der Techniker oder den »Katakomben«, wie die zwei Kellergeschosse manchmal genannt wurden. Das Herzstück dieser Vielzahl von Abteilungen mit ihren unterschiedlichen Funktionen hatte einen sehr prosaischen Namen: der Einzollband-Raum.

Alle Berichte der CBA-Teams auf der ganzen Welt trafen, von Satelliten und manchmal auch terrestrisch übertragen, im Einzollband-Raum ein. Und von dort gingen die fertigen Nachrichten, über einen Sendekontrollraum und wieder über Satellit, hinaus zu den Zuschauern.

Charakteristisch für den Einzollband-Raum waren enormer Streß, überlastete Nerven, Spannungen, der Zwang zu schnellen Entscheidungen und barsche Befehle, vor allem kurz vor und während der Sendezeiten der National Evening News.

In solchen Augenblicken mochte die Szene für einen uneingeweihten Beobachter wie ein Irrenhaus, ein technologischer Alptraum wirken. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch das herrschende Halbdunkel, das nötig war, um den Wirrwarr von Fernsehmonitoren beobachten zu können.

Aber in Wirklichkeit wurde die ganze Operation reibungslos, schnell und mit viel Geschick bewältigt. Fehler konnten katastrophale Folgen haben. Sie kamen nur selten vor.

Ein halbes Dutzend riesiger Zweispulengeräte, jedes in eine Konsole eingebaut und mit einem Kontrollmonitor darüber, dominierte die Szene. Die Geräte arbeiteten mit Magnetbändern von einem Zoll Breite, dem qualitativ hochwertigsten und verläßlichsten Material. An jeder Konsole saß ein geschickter Cutter, der die hereinkommenden Bänder schnell und den Anweisungen entsprechend bearbeitete und wieder hinausschickte. Die Cutter, älter als die meisten anderen in dem Gebäude, bildeten eine bunte Truppe, deren Markenzeichen es war, sich besonders schäbig zu kleiden und ausgelassen zu benehmen. Ein Kommentator hatte sie deshalb einmal die »Kampfpiloten« des Fernsehens genannt.

An jedem Wochentag verließ ein Chefproduzent etwa eine Stunde vor Sendebeginn seinen Sessel am Hufeisen und stieg fünf Etagen tiefer, um im Einzollband-Raum mit seinen Cuttern das Kommando zu übernehmen. Während er dort wie ein Maestro mit fuchtelnden Armen und lauter Stimme das Geschehen dirigierte, sichtete er das hereinkommende Material, befahl, wenn nötig, weitere Schneidearbeiten und hielt gleichzeitig seine Kollegen am Hufeisen darüber auf dem laufenden, welche der erwarteten Berichte bereits im Haus waren und wie sie auf den ersten Blick wirkten.

Alles, so schien es, traf im Einzollband-Raum immer erst in allerletzter Sekunde ein. Es war eine allgemein akzeptierte Tradition, daß die Produzenten, Korrespondenten und Cutter vor Ort bis zum letztmöglichen Augenblick an ihren Berichten herumfeilten, so daß das meiste erst in der letzten halben Stunde vor Sendebeginn und einiges auch erst danach einging. Nicht selten kam es sogar vor, daß der erste Teil eines Berichts bereits von der einen Bandmaschine in die Sendung eingespeist wurde, während die zweite Hälfte erst auf die andere überspielt wurde. In solch kitzligen Situationen holten die schwitzenden, nervösen Männer das Letzte aus sich heraus.

Der Chefproduzent, der diese Operationen am häufigsten leitete, war Will Kazazis, ein in Brooklyn geborener Sohn griechischer Eltern, deren hitziges Temperament er geerbt hatte. Doch diese Erregbarkeit schien genau zu seiner Arbeit zu passen, denn er verlor trotz allem nie die Kontrolle. So war es Kazazis, der Ritas Satellitenüberspielung aus Dallas empfing, zuerst Minh Van Canhs »Schnellschuß« und dann Harry Partridges Tonspur und seine Absage.

Es war 18 Uhr 48... noch zehn Minuten Sendezeit. Die Werbung hatte eben begonnen.

Dem Cutter, der die Überspielung aufgefangen hatte, rief Kazazis zu: »Klatsch das Zeug zusammen, schnell. Nimm Partridge komplett. Und leg die besten Bilder drüber. Du weißt schon, wie. Aber Tempo, Tempo!«

Über einen Assistenten hatte Kazazis das Hufeisen bereits informiert, daß der Bericht aus Dallas hereinkam. Nun wollte Chuck Insen, der im Sendekontrollraum saß, wissen: »Wie ist er?«

»Fantastisch! Wunderbar!« antwortete Kazazis. »Genau das, was man von Harry und Minh erwartet.«

Da Insen wußte, daß er keine Zeit hatte, sich das Band selber anzusehen, und er Kazazis vertraute, sagte er einfach: »Wir bringen es nach diesem Werbespot. Haltet euch bereit.«

Dem Cutter, der trotz seines klimatisierten Arbeitsplatzes schwitzte, blieb weniger als eine Minute, um die Bilder zu schneiden und mit Kommentar und Umweltgeräuschen zu unterlegen.

Insens Befehl ging auch an den Moderator und einen Texter, der neben ihm saß. Die Einleitung war bereits fertig, und der Texter gab das einzelne Blatt nun an Crawford Sloane weiter, der es kurz überflog, schnell ein paar Worte änderte und dem Texter dankbar zunickte. Einen Augenblick später war die Einführung zum ursprünglich geplanten Beitrag vom Teleprompter verschwunden und der Dallas-Text erschien auf dem Monitor. Der Sendeleiter im Studio zählte die Sekunden bis zum Ende der Werbung: »Zehn... fünf... vier... zwei...«

Auf ein Handzeichen begann Sloane mit ernster Miene: »Am Anfang dieser Sendung berichteten wir über eine Kollision zwischen einem Airbus der Muskegon Airlines und einer Privatmaschine im Luftraum über Dallas. Das Privatflugzeug stürzte ab. Es gibt keine Überlebenden. Dem brennenden Airbus gelang vor wenigen Minuten eine Notlandung auf dem Flughafen Dallas-Fort Worth. Die Zahl der Opfer ist allerdings hoch. CBA News-Korrespondent Harry Partridge war Augenzeuge der Katastrophe. Eben erreichte uns sein Bericht.«

Erst wenige Sekunden zuvor war der Film im Einzollband-Raum fertiggestellt worden. Nun flimmerten über die Monitore im ganzen Haus und über Millionen von Bildschirmen im Osten und Mittelwesten der Vereinigten Staaten sowie in den Grenzbezirken Kanadas die dramatischen Bilder von der Landung des brennenden Airbus, während Partridges Stimme begann: »Die Piloten eines längst vergangenen Krieges nannten es Landung mit einem Flügel und einem Gebet<...«

So hatte es der Exklusivbericht aus Dallas doch noch in die Erstausgabe der National Evening News geschafft.

Die Zweitausgabe der Abendnachrichten schloß sich immer direkt an die erste an. Sie wurde im Osten sowie in großen Teilen des Mittelwestens von Tochterstationen, die die erste nicht übernahmen, gesendet und im Westen von den meisten Stationen für eine spätere Ausstrahlung aufgezeichnet.

Partridges Bericht aus Dallas würde natürlich den Schwerpunkt der Zweitausgabe bilden. Während die Sender der Konkurrenz für ihre Zweitausgaben inzwischen aller Wahrscheinlichkeit nach Bilder von den Ereignissen nach der Notlandung hatten, blieben die Liveaufnahmen von CBA weltweit exklusiv und sollten in den folgenden Tagen noch oft wiederholt werden.

Zwischen der Erstausgabe und der zweiten lag eine zweiminütige Pause und Crawford Sloane nutzte sie, um mit Chuck Insen zu telefonieren.

»Hör zu«, sagte Sloane. »Ich glaube, wir sollten die SaudiStory wieder mit hineinnehmen.«

»Ich weiß, daß du ausgezeichnete Beziehungen hast«, erwiderte Insen sarkastisch. »Kannst du vielleicht fünf Minuten mehr Sendezeit herausschlagen?«

»Ich meine das ernst. Der Bericht ist wichtig.«

»Und stinklangweilig. Ich sage nein.«

»Und was ist, wenn ich ja sage?«

»Darüber werden wir uns morgen unterhalten. Aber inzwischen sitze ich hier mit gewissen Verantwortlichkeiten.«

»Dazu sollte aber auch ein vernünftiges Urteilsvermögen über Auslandsnachrichten gehören.«

»Jeder von uns hat seinen Job«, sagte Insen, »und bei deinem wird langsam die Zeit knapp. Ach übrigens, die Art, wie du die Dallas-Sache gebracht hast - mein Kompliment.«

Ohne zu antworten, legte Sloane auf. Dann fiel ihm noch etwas ein, und er sagte zu dem Texter neben sich: »Jemand soll mir Harry Partridge in Dallas ans Telefon holen. Ich möchte während der ersten Pause mit ihm reden. Ich will ihm und den anderen gratulieren.«

»Fünfzehn Sekunden«, rief der Sendeleiter.

Ja, dachte Sloane, es würde morgen wirklich zu einer Diskussion zwischen ihm und Insen kommen oder, besser gesagt, zu einer Kraftprobe. Vielleicht sollte man Insen klarmachen, daß er seine Schuldigkeit getan hatte und daß es Zeit für ihn war zu gehen.

Mit ernstem, verkniffenen Gesicht kehrte Chuck Insen nach dem Ende der Zweitausgabe in sein Büro zurück, um sich noch ein paar Zeitschriften zu holen, die er später zu Hause lesen wollte.

Lesen, lesen, lesen, um in allen Bereichen informiert zu sein, das war die Last eines Chefproduzenten der Nachrichtenredaktion. Zu jeder Zeit und an jedem Ort fühlte er sich verpflichtet, nach einer Zeitung, einer Zeitschrift, einem Buch und selbst nach den obskursten Publikationen zu greifen, so wie andere nach einer Tasse Kaffee, einem Taschentuch, einer Zigarette griffen. Oft wachte er mitten in der Nacht auf und las oder hörte die Auslandsnachrichten der Kurzwellensender. Zu Hause hatte er über seinen Personal Computer Zugang zu allen wichtigen Presseagenturen, und jeden Morgen um fünf rief er sie alle ab. Bei der Fahrt zur Arbeit hörte er die Radionachrichten - gewöhnlich die von CBS, weil er die, wie die meisten Nachrichtenprofis, für die besten hielt.

Dieses Wissen um die Bandbreite der möglichen Ingredienzen und um die Themen, die das normale Publikum interessierten, war es seiner Meinung nach, was sein Urteilsvermögen in bezug auf Nachrichten dem Crawford Sloanes überlegen machte, der zu oft in elitären Begriffen dachte.

Insen hatte seine eigene Philosophie hinsichtlich der Millionen, die jeden Abend die National Evening News sahen. Was die meisten Leute wollten, so glaubte er, waren Antworten auf drei grundlegende Fragen: Ist die Welt sicher? Ist mein Zuhause und meine Familie sicher? Ist heute etwas Interessantes passiert? Und Insen war es vor allem daran gelegen, daß die allabendlichen Nachrichten diese Antworten lieferten.

Er hatte inzwischen mehr als genug von der besserwisserischen, moralinsauren Einstellung des Chefsprechers zur Auswahl der Nachrichten, und deshalb würde es morgen auch zu einer knallharten Auseinandersetzung zwischen den beiden kommen, in der er, Insen, Sloane offen sagen wollte, was er dachte, ohne an die Konsequenzen zu denken.

Zu welchen Konsequenzen konnte es überhaupt kommen? In der Vergangenheit hatte bei einem Streit zwischen dem Nachrichtensprecher und dem Chefproduzenten einer Sendeanstalt immer der Sprecher gewonnen, und der Produzent mußte sich nach einer neuen Arbeit umsehen. Doch inzwischen hatte sich vieles verändert. Es herrschte ein anderes Klima in den Sendeanstalten, und es war durchaus möglich, daß jetzt einmal der Produzent blieb und der Sprecher gehen mußte. Schließlich gibt es für alles ein erstes Mal.

Mit dieser Möglichkeit im Hinterkopf hatte Insen vor einigen Tagen am Telefon ein streng vertrauliches Sondierungsgespräch mit Harry Partridge geführt. Ob Partridge, wollte der Chefproduzent wissen, Interesse habe, aus der Kälte der großen Welt zurückzukommen, um sich in New York niederzulassen und Chefsprecher der National Evening News zu werden? Harry könne in dieser Position Autorität ausstrahlen und sei außerdem genau der richtige Mann dafür - wie er als Urlaubsvertreter für Sloane schon oft genug bewiesen habe.

Partridges Antwort war eine Mischung aus Überraschung und Unsicherheit gewesen, aber zumindest hatte er nicht nein gesagt. Crawf Sloane wußte natürlich nichts von dieser Unterhaltung.

Insen war überzeugt, daß er und Sloane sich nicht weiter so bekriegen konnten, ohne bald zu einer Lösung zu kommen, gleichgültig, wie diese aussah.

4

Es war 19 Uhr 40, als Crawford Sloane in einem Buick Somerset die Garage von CBA News verließ. Er fuhr wie gewohnt einen Dienstwagen, der ihm aufgrund seines Vertrags jederzeit zur Verfügung stand, sogar mit Chauffeur, wenn er wollte. Doch meistens wollte er nicht. Während er von der Third Avenue in die Fifty-ninth Street einbog und in östlicher Richtung auf den FDR Drive zufuhr, dachte er weiter über die eben abgeschlossene Sendung nach.

Zunächst drehten sich seine Gedanken um Insen, doch dann beschloß er, die Sache mit dem Chefproduzenten bis zum nächsten Morgen ruhen zu lassen. Sloane hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß er mit Insen fertigwerden und ihn loswerden konnte. Vielleicht sollte man ihm den Posten eines Vizepräsidenten anbieten, was für Insen, trotz des wohlklingenden Titels, eine Degradierung bedeutet hätte. Sloane dachte keinen Augenblick daran, daß auch das genaue Gegenteil passieren könnte. Hätte es jemand auch nur angedeutet, er hätte gelacht.

So wandte er seine Gedanken statt dessen Harry Partridge zu.

Partridges schneller und hervorragender Bericht, das wußte Sloane, war ein weiteres Beispiel solider Arbeit in einer ganz außergewöhnlichen Karriere gewesen. Sloane hatte Partridge telefonisch gratuliert und ihn gebeten, Rita, Minh und O'Hara seine Glückwünsche auszurichten. Vom Chefsprecher wurde so etwas erwartet - noblesse oblige -, doch bei Partridge tat Sloane es ohne große Begeisterung. Dieses Gefühl war auch der Grund für Sloanes unterschwellige Verlegenheit bei dem Gespräch mit Partridge, eine Verlegenheit, die er in dessen Gegenwart oft empfand. Partridge dagegen hatte ungezwungen gewirkt, wenn auch etwas müde.

Nun, in der Abgeschlossenheit des fahrenden Autos, fragte sich Sloane in einem Augenblick der Ehrlichkeit vor sich selbst: Wie fühle ich mich im Umgang mit Harry Partridge? Und er mußte sich mit ähnlicher Offenheit eingestehen: Er macht mich unsicher. Frage und Antwort hatten ihre Wurzeln in der jüngeren Geschichte.

Die beiden kannten sich bereits seit über zwanzig Jahren, so lange wie sie bei CBA News arbeiteten, denn beide waren fast gleichzeitig in den Sender eingetreten. Von Anfang an waren sie beruflich erfolgreich, doch sehr entgegengesetzt in ihren Persönlichkeiten gewesen.

Sloane war pedantisch, anspruchsvoll und makellos in Sprache und Kleidung; er genoß es, Autorität zu besitzen, die ihn auch wie eine natürliche Aura umgab. Jüngere neigten dazu, ihn mit »Sir« anzureden und ließen ihm an der Tür den Vortritt. Bei Leuten, die er nicht kannte, konnte er kühl, sogar leicht distanziert sein, und doch gab es in jeder Art von zwischenmenschlichem Kontakt kaum etwas, das ihm entging, ob es nun ausgesprochen wurde oder nur angedeutet.

Partridge dagegen war lässig in seinem Auftreten und auch in seiner Kleidung eher salopp. Er bevorzugte alte Tweedsakkos und trug nur selten einen Anzug. Seine Ungezwungenheit gab den Leuten, mit denen er sprach, ein Gefühl der Sicherheit und Gleichwertigkeit, und manchmal hatte es den Anschein, als würde ihn nichts sonderlich interessieren. Doch das war eine bewußte Täuschung. Schon früh in seiner Journalistenkarriere hatte Partridge gelernt, daß er mehr herausfand, wenn er eher unbedeutend wirkte und seine scharfe, außergewöhnliche Intelligenz versteckte.

Die beiden waren auch von der Herkunft verschieden.

Crawford war der Sohn einer Mittelschichtfamilie aus Cleveland, und in dieser Stadt erhielt er auch seine Fernsehausbildung. Harry Partridge absolvierte seine eigentliche Lehre als Fernsehreporter bei CBC - der Canadian Broadcasting Corporation - in Toronto, doch zuvor hatte er schon als Ansager, Nachrichtensprecher und Wettermann bei kleineren Radio- und Fernsehstationen im Westen Kanadas gearbeitet. Zur Welt gekommen war er in Alberta, in einem kleinen Dorf namens De Winton in der Nähe von Calgary, wo sein Vater eine Farm bewirtschaftete.

Sloane besaß ein Diplom der Columbia University. Partridge hatte nicht einmal die High School abgeschlossen, doch bei seiner Arbeit in der Welt der Nachrichten lernte er schnell und viel dazu.

Ihre Karrieren bei CBA verliefen lange Zeit parallel, und deshalb betrachtete man sie allgemein als Konkurrenten. Sloane selbst sah in Partridge wirklich einen Konkurrenten, ja eine Gefahr für seinen Erfolg. Er war sich aber nicht sicher, ob Partridge ähnlich dachte.

Der Konkurrenzkampf zwischen ihnen spitzte sich zu, als sie beide als Kriegsberichterstatter in Vietnam arbeiteten. Der Sender schickte sie Ende 1967 offiziell als Team dorthin, und in gewisser Weise arbeiteten sie auch so. Doch Sloane betrachtete den Krieg nur als willkommene Gelegenheit für einen Karrieresprung, denn schon damals hatte er den Moderatorensessel der National Evening News deutlich als Ziel vor Augen.

Sloane wußte sehr wohl, wie wichtig es auf dem Weg dorthin war, so oft wie möglich in den Abendnachrichten zu erscheinen. Deshalb beschloß er bald nach seiner Ankunft in Saigon, sich nie weit vom »Pentagon Ost«, dem Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte auf dem Luftwaffenstützpunkt Tan Son Nhut, zu entfernen, und wenn er es doch tun mußte, nie lange wegzubleiben.

Auch nach all den Jahren konnte sich Sloane noch gut an eine Unterhaltung mit Partridge erinnern, der eines Tages bemerkt hatte: »Crawf, du wirst diesen Krieg nie verstehen, wenn du immer nur zu den Saigon Follies gehst und im Caravelle herumhängst.« Ersteres war der Spitzname, den das Pressecorps für militärische Einsatzbesprechungen verwandte, letzteres ein Hotel, in dem die internationale Presse, ranghohe Offiziere und das Zivilpersonal der amerikanischen Botschaft ihren Durst stillten.

»Falls du auf Risiken anspielst«, hatte Sloane verstimmt erwidert, »ich bin bereit, die gleichen einzugehen wie du.«

»Vergiß die Risiken. Mit denen müssen wir alle leben. Ich rede über die Art der Berichterstattung. Ich will dieses Land verstehen, die Hintergründe kennenlernen. Manchmal will ich unabhängig sein vom Militär, nicht nur von einem Scharmützel zum anderen latschen und über die Knallerei berichten, wie sie es gerne hätten. Das ist zu einfach. Und wenn ich von der Front berichte, dann will ich ganz vorne mit dabeisein, damit ich sehe, ob es wirklich stimmt, was die Pressefritzen vom Infodienst uns erzählen.«

»Wenn du das willst«, erwiderte Sloane, »bist du tagelang, manchmal sogar wochenlang weg.«

Partridge schien amüsiert über die Bemerkung. »Dacht' ich mir, daß du da gleich draufkommst. Ich bin mir sicher, du hast auch schon gemerkt, daß die Art, wie ich arbeiten will, dir die Möglichkeit gibt, dein Gesicht fast jeden Abend in den Nachrichten zu zeigen.«

Sloane war es unangenehm, so leicht durchschaubar zu sein, zumal es letztlich genau darauf hinauslief.

Niemand konnte behaupten, daß Sloane in seiner Zeit in Vietnam nicht schwer gearbeitet hätte. Er arbeitete schwer, und er ging auch Risiken ein. Gelegentlich begleitete er Einheiten ins Operationsgebiet des Vietcong, stand manchmal mitten im hitzigsten Feuer, und in besonders gefährlichen Augenblicken fragte er sich, wie jeder andere auch, ob er da je wieder lebendig herauskommen würde.

Wie sich zeigte, schaffte er es immer, und er war auch selten länger als vierundzwanzig Stunden vom Hauptquartier weg. Doch kehrte er nie zurück ohne dramatische Kampfbilder und bewegende Geschichten über junge Amerikaner in der Schlacht, genau das Material also, das New York wollte.

Bei all dem wich Sloane nicht von seinem Plan ab, er hielt seine gefährlichen Streifzüge in Grenzen und war so fast immer verfügbar für diplomatische und militärische Lagebesprechungen, die zu der Zeit durchaus Nachrichtenwert hatten. Erst viel später sollte man erkennen, wie oberflächlich Sloanes Art der Berichterstattung gewesen war und wie sehr -im Fall des Fernsehens - dramatische Bilder eine nachdenkliche Analyse und manchmal sogar die Wahrheit in den Hintergrund drängten. Doch als es dann offensichtlich wurde, konnte es Crawford Sloane bereits egal sein.

Sloanes langfristiger Plan ging auf. Er war vor der Kamera schon immer sehr eindrucksvoll gewesen, und in Vietnam war er es um so mehr. Er wurde zum Liebling der Produzenten am Hufeisen in New York und war häufig in den Abendnachrichten zu sehen, manchmal sogar drei- oder viermal pro Woche. Durch ebendiese Bildschirmpräsenz konnte er sich eine Gefolgschaft heranziehen, nicht nur unter den Zuschauern, sondern vor allem auch unter den Entscheidungsträgern in der CBA-Zentrale.

Harry Partridge dagegen hielt sich an seinen eigenen Schlachtplan und ging ganz anders vor. Er entschied sich für komplexere Themen, die längere Recherchen erforderten und ihn, zusammen mit einem Kameramann, in die entferntesten Teile Vietnams führten. Er arbeitete sich in die militärische Taktik sowohl der Amerikaner wie des Vietcong ein und verstand so, warum manchmal beide nicht funktionierten. Er untersuchte das Gleichgewicht der Kräfte und hielt sich an vorderster Front auf, wo er Material über die Wirksamkeit von Boden- und Luftangriffen, über Verluste und Nachschub sammelte. Einige seiner Berichte widersprachen den offiziellen militärischen Verlautbarungen aus Saigon, andere bestätigten sie, und es war ebendiese zweite Art der Berichterstattung -Fairneß gegenüber den amerikanischen Streitkräften -, die Partridge und eine Handvoll anderer von der Mehrheit der Korrespondenten in Vietnam unterschied.

Der Großteil der Berichterstattung über den Krieg in Vietnam war zu dieser Zeit bereits negativ und kritisch. Eine Generation junger Journalisten, darunter einige Sympathisanten der Antikriegsbewegung zu Hause, mißtraute dem Militär, ja verachtete es sogar, und diese Überzeugung spiegelte sich in der Berichterstattung der meisten Medien wieder. Die Tet-Offensive war nur ein Beispiel. In den Medien erschien sie als totaler, überwältigender Sieg der Kommunisten, eine Behauptung, die, wie objektivere Untersuchungen zwei Jahrzehnte später belegten, ganz und gar nicht zutraf.

Harry Partridge war einer derjenigen, die schon damals berichteten, daß sich die amerikanischen Streitkräfte in der TetOffensive viel besser schlugen, als man ihnen zugestand, daß der Feind viel weniger erfolgreich war, als allgemein berichtet, und daß er bei weitem nicht alle seiner Ziele erreichte. Zunächst zweifelte die Hufeisen-Belegschaft am Wahrheitsgehalt dieser Berichte und wollten sie zurückstellen. Doch nach längerer Diskussion verließ man sich auf Partridges Ruf als solider Rechercheur und sendete die meisten seiner Reportagen.

Eine von denen, die nicht gesendet wurden, enthielt seine Kritik an der negativen Einstellung, die der hochverehrte Walter Cronkite, zu der Zeit der Chefsprecher bei CBS, in einer Nachrichtensendung zum Ausdruck brachte.

In einer »Tet-Sondersendung« von CBS erklärte Cronkite, der damals ebenfalls aus Vietnam berichtete, daß »die blutige Erfahrung in Vietnam in einer Sackgasse enden« würde, und daß »der Feind jeder Eskalation unserer Mittel erfolgreich begegnen kann...«

Er fuhr fort: »Heute zu behaupten, wir seien näher am Sieg, heißt doch nur... den Optimisten zu glauben, die sich bereits in der Vergangenheit geirrt haben.« Deshalb, so drängte Cronkite, sollte Amerika »verhandeln, aber nicht als Sieger, sondern als anständiges Volk, das sein Versprechen, die Demokratie zu verteidigen, erfüllt hat und dabei sein Bestes gab.«

Wegen seines Verfassers hatte dieser stark persönlich gefärbte Kommentar, der übrigens mit reinen Faktenmeldungen vermischt war, eine enorme Wirkung und gab »der Antikriegsbewegung Auftrieb und Legitimation«, wie es ein anderer Kommentator formulierte. Präsident Lyndon Johnson soll angeblich gesagt haben, wenn er Walter Cronkite verloren hätte, dann hätte er auch das Land verloren.

Partridge gelang es nun durch eine Reihe von Interviews mit Leuten vor Ort in seinem Bericht anzudeuten, daß sich Cronkite nicht nur getäuscht haben könnte, sondern daß er, im Bewußtsein seiner Macht und seines Einflusses als Chefsprecher von CBS, aufgetreten sei »wie ein Präsident ohne Wählervotum und unter Mißachtung seiner lautstark propagierten Maxime des unparteiischen Journalismus« - so einer der Interviewten.

Als Partridges Bericht in New York eintraf, wurde zunächst stundenlang darüber diskutiert. Er machte die Runde bis in die höchsten Ebenen des CBA-Managements, bis man schließlich zu der Entscheidung kam, daß ein Angriff auf die nationale Vaterfigur Walter Cronkite ein Spiel sei, das man nicht gewinnen könne. Doch in Insiderkreisen fanden heimlich gezogene Kopien des Berichts große Verbreitung.

Partridges Ausflüge in heftig umkämpfte Gebiete hielten ihn häufig eine Woche, manchmal sogar länger, von Saigon entfernt. Während seiner Recherchen über den kambodschanischen Untergrund blieb er sogar fast einen Monat verschwunden.

Doch jedesmal kehrte er mit eindrucksvollen Berichten zurück, von denen einige wegen ihrer tiefgehenden Einsichten auch nach dem Krieg in Erinnerung blieben. Keiner zog je Partridges außergewöhnliche journalistische Fähigkeiten in Zweifel, auch Crawford Sloane nicht. Da seine Berichte aber spärlicher kamen und er deshalb nicht so häufig wie Sloane im Fernsehen auftrat, erhielt er bei weitem nicht so viel Beachtung wie sein Kollege.

Doch in Vietnam gab es noch etwas anderes, das Einfluß auf die Zukunft von Partridge und Sloane haben sollte.

Sie hieß Jessica Castillo.

Jessica...

Crawford Sloane fuhr die Strecke, die er an jedem Arbeitstag zweimal zurücklegte, fast automatisch. Er war inzwischen von der Fifty-ninth Street in die York Avenue abgebogen und fuhr nun nach rechts in die nördliche Zufahrt zum FDR Drive. Die Autobahn führte am East River entlang aus der Stadt hinaus, und da nun keine Kreuzungen und Ampeln mehr störten, beschleunigte er sein Tempo. Sein Haus in Larchmont, nördlich der Stadt am Long Island Sound, war nur noch eine halbe Stunde entfernt.

Ein blauer Ford Tempo hinter ihm beschleunigte ebenfalls.

Sloane war entspannt, wie meistens zu dieser Tageszeit, und seine Gedanken kehrten zu Jessica zurück... die damals in Saigon Harry Partridges Freundin gewesen war... die aber schließlich Crawford Sloane geheiratet hatte.

Jessica war damals in Vietnam sechsundzwanzig gewesen, schlank, mit langen braunen Haaren, einem wachen Verstand und gelegentlich einer scharfen Zunge. Sie ließ sich nichts gefallen von den Journalisten, mit denen sie als junge Angestellte der United States Information Agency (USIS, wie man sie nannte) umgehen mußte.

Die Agentur hatte ihre Zentrale in der Le Qui Don Street, in der hinter Bäumen versteckten »Lincoln Library«, dem ehemaligen Rex Theatre, dessen Theaterschild während der ganzen USIS-Zeit an seinem Platz blieb. Viele Journalisten fanden sich häufiger als sie eigentlich mußten in der Agentur ein, und oft waren ihre Anfragen nur ein Vorwand, um einige Zeit mit Jessica verbringen zu können.

Jessica ließ sich die Aufmerksamkeiten gefallen, sie amüsierte sich darüber. Doch als Crawford Sloane sie kennenlernte, gehörte ihre eigentliche Zuneigung bereits ganz Harry Partridge.

Auch nach all den Jahren noch, dachte Sloane, gab es Bereiche in der Beziehung zwischen Partridge und Jessica, von denen er nichts wußte, einige Dinge, nach denen er nie gefragt hatte und die er nie erfahren würde. Doch die Tatsache, daß vor mehr als zwanzig Jahren gewisse Türen zugeschlagen und seitdem nicht mehr geöffnet worden waren, hatte ihn nie davon abgehalten - und würde ihn auch nie davon abhalten -, sich Gedanken zu machen über die intimen Details dieser Zeit.

5

Bereits bei ihrer ersten Begegnung in Vietnam fühlten sich Jessica Castillo und Harry Partridge instinktiv zueinander hingezogen - obwohl ihr Kennenlernen eher einem Schlagabtausch glich. Partridge hatte sich an die USIS gewandt wegen einer Information, von der er wußte, daß sie existierte, die ihm die amerikanischen Militärbehörden jedoch verweigerten. Sie betraf den unter den Soldaten in Vietnam weitverbreiteten Drogenmißbrauch.

Während seiner Ausflüge an die vorderste Front hatte Partridge genügend Beweise für den Drogenmißbrauch gesammelt. Heroin war der harte Stoff, um den es ging, und er war im Überfluß vorhanden. Aus Recherchen, die CBA News auf seine Veranlassung zu Hause angestellt hatte, wußte er, daß sich die Veteranenkrankenhäuser in alarmierendem Maße mit drogenabhängigen Vietnamkämpfern füllten. Es wurde allmählich zu einem nationalen, nicht nur zu einem militärischen Problem.

Vom Hufeisen in New York hatte Partridge grünes Licht zur Weiterverfolgung der Geschichte, doch die offiziellen Quellen hatten dichtgemacht und wollten ihm keine Informationen liefern.

Als er nun Jessicas Büroraum betrat und das Thema zur Sprache brachte, reagierte sie entsprechend. »Tut mir leid. Darüber kann ich nicht reden.«

Ihre Haltung verärgerte ihn, und er machte keinen Hehl daraus.

»Wenn Sie nicht darüber reden wollen, heißt das doch, daß Sie den Auftrag haben, jemanden zu decken. Ist es vielleicht der Botschafter, den die Wahrheit in Verlegenheit bringen könnte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Auch diese Frage kann ich nicht beantworten.«

Doch Partridge, der langsam wütend wurde, ließ nicht locker. »Dann wollen Sie mir also erzählen, daß es Ihnen hier, in Ihrem gemütlichen Quartier, scheißegal ist, ob sich die GIs da draußen im Dschungel vor Angst in die Hose machen und sich, weil sie keinen anderen Ausweg wissen, mit Drogen zerstören und zu Junkies werden.«

»Davon habe ich nichts gesagt«, erwiderte sie entrüstet.

»Doch, genau das haben Sie gesagt.« Seine Stimme klang verächtlich. »Sie sagten, Sie wollen nicht über eine faule, stinkende Sache reden, die dringend an die Öffentlichkeit gebracht werden muß, über ein Problem, das man den Leuten erst einmal bewußtmachen muß, damit etwas dagegen unternommen werden kann. Damit man die grünen Jungs, die jetzt hierherkommen, warnen und vielleicht retten kann. Was glauben Sie eigentlich, wen Sie schützen, Lady? Sicher nicht die Jungs, die draußen kämpfen, die, um die's eigentlich geht. Ihr nennt euch hier einen Informationsdienst. Ich nenne so was einen Verschleierungsdienst.«

Jessica wurde rot. Sie war es nicht gewöhnt, daß man so mit ihr sprach. Aus ihren Augen blitzte der Zorn, während ihre Finger einen gläsernen Briefbeschwerer auf dem Tisch umklammerten. Einen Augenblick glaubte Partridge, sie würde ihn werfen, und er wollte sich schon ducken. Doch dann ließ ihre Verärgerung sichtbar nach, und sie fragte mit ruhiger Stimme: »Was brauchen Sie denn genau?«

Partridge mäßigte nun ebenfalls seinen Ton: »Vorwiegend Statistiken. Ich weiß, daß jemand sie hat, daß es Berichte gibt, daß Untersuchungen angestellt wurden.«

Mit einer Bewegung, die ihm später auf liebevolle Weise vertraut werden sollte, strich sie ihre Haare zurück. »Kennen Sie Rex Talbot?«

»Ja.« Talbot war ein junger amerikanischer Vizekonsul an der Botschaft in der Thong Nhut Street, nur wenige Blocks entfernt.

»Ich würde vorschlagen, Sie fragen ihn nach dem MACVProject Nostradamus Report.«

Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas mußte Partridge lächeln. Er fragte sich, welches Hirn diesen Titel wohl ausgebrütet hatte.

»Sie müssen Rex ja nicht wissen lassen, daß ich Sie geschickt habe«, fuhr Jessica fort. »Tun Sie einfach so, als wüßten Sie...«

Er beendete den Satz für sie. »...etwas mehr, als ich wirklich weiß. Ein alter Journalistentrick.«

»Den Sie auch bei mir angewendet haben.«

»In gewisser Weise«, gab er lächelnd zu.

»Ich hab's die ganze Zeit gewußt«, sagte Jessica. »Aber ich hab'sIhnen durchgehen lassen.«

»Sie sind doch nicht so herzlos, wie ich dachte«, erwiderte er. »Wie wär's, wenn wir uns heute abend beim Essen eingehender über das Thema unterhielten?«

Jessica war selbst überrascht, daß sie die Einladung annahm.

Später entdeckten sie dann, daß sich jeder in der Gegenwart des anderen wohlfühlte, und so wurde dieses Abendessen zur ersten einer langen Reihe von Verabredungen. Doch blieben ihre Begegnungen erstaunlich lange rein platonisch, denn etwas hatte Jessica in ihrer offenen, unverblümten Art von Anfang an klargestellt.

»Ich möchte, daß Sie eins verstehen: Gleichgültig, was hier sonst alles läuft, bei mir gibt's keine schnelle Geschichte. Wenn ich mit jemand ins Bett gehe, dann ist das für mich etwas ganz Besonderes und Wichtiges, und das muß es auch für meinen Partner sein. Sagen Sie also nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« Wegen Partridges Ausflügen in andere Landesteile Vietnams mußte ihre Beziehung auch lange Trennungen überstehen.

Doch irgendwann kam unausweichlich der Augenblick, in dem das Verlangen sie beide überwältigte.

Sie hatten im Caravelle, in dem Partridge wohnte, zusammen zu Abend gegessen. Danach im Hotelgarten, einer Oase des Friedens mitten im Chaos von Saigon, hatte er die Arme nach Jessica ausgestreckt, und sie war bereitwillig zu ihm gekommen. Sie schmiegte sich eng an ihn, während sie sich küßten, und durch ihr dünnes Kleid spürte er ihre Erregung. Noch Jahre später erinnerte Partridge sich an diese kostbaren, verzauberten Augenblicke, in denen alle Probleme und Sorgen - Vietnam, die Häßlichkeit des Krieges, die unsichere Zukunft - weit weg schienen und nur noch die Gegenwart und sie beide zählten.

»Gehen wir auf mein Zimmer?« fragte er zärtlich.

Jessica nickte stumm.

Eng umschlungen standen sie im Zimmer, in das nur von der Straße ein schwacher Lichtschein hereinfiel, er zog sie behutsam aus, und sie half ihm, wo seine Hände sich ungeschickt anstellten.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie, als er in sie eindrang.

In den langen Jahren danach konnte er sich nicht mehr erinnern, ob auch er ihr gesagt hatte, wie sehr er sie liebte, aber er wußte, daß er sie geliebt hatte und sie immer lieben würde.

Partridge war tief bewegt, als er entdeckte, daß Jessica noch Jungfrau war. Doch wurde im Lauf der Zeit ihre Liebe immer vertrauter, und sie fanden im Spiel ihrer Körper die gleiche Erfüllung wie in allen anderen Bereichen.

Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätten sie sehr schnell geheiratet. Jessica wollte heiraten, sie wollte auch Kinder. Doch Partridge zögerte, aus Gründen, die er später bereute. In Kanada hatte er bereits eine zerbrochene Ehe hinter sich, und er wußte, daß die Ehen von Fernsehreportern oft katastrophal endeten. Denn Korrespondenten führten ein unstetes Leben; häufig verbrachten sie zwei Drittel des Jahres auf Reisen, sie waren es nicht gewöhnt, Verantwortung für eine Familie zu tragen, und unterwegs beständig sexuellen Verführungen ausgesetzt, denen nur wenige auf Dauer widerstehen konnten. So lebten sich die Ehepartner häufig auseinander - sowohl geistig wie körperlich. Wenn sie sich nach langen Trennungen dann wieder trafen, waren sie zu Fremden geworden.

Dazu kam Vietnam. Partridge wußte, daß er sein Leben riskierte, so oft er Saigon verließ, und daß das Glück, das ihm bis jetzt zur Seite gestanden hatte, ihn irgendwann einmal im Stich lassen könnte. Es wäre deshalb nicht fair, so überlegte er, einen anderen - in diesem Fall Jessica - mit dieser Sorge zu belasten, die Gefahr einer Enttäuschung war einfach zu groß.

Eines Morgens, nachdem sie die Nacht miteinander verbracht hatten, vertraute er Jessica ein paar dieser Überlegungen an. Er hätte sich keinen schlechteren Augenblick aussuchen können. Jessica war tief enttäuscht, denn sie sah darin nur das pubertäre Ausbruchverhalten eines Mannes, dem sie ihr Herz und ihren Körper geschenkt hatte. So erwiderte sie nur kalt, daß sie die Beziehung als beendet betrachte.

Erst viel später erkannte sie, daß sie mißverstanden hatte, was in Wirklichkeit Zuneigung und tiefe Besorgnis gewesen war. Wenige Stunden danach verließ Partridge Saigon; es war die Zeit seiner Reise nach Kambodscha, wo er einen Monat lang verschwunden blieb.

Crawford Sloane hatte Jessica einige Male in Harry Partridges Begleitung gesehen und kannte sie auch von seinen gelegentlichen Besuchen im Büro der USIS. Er fand sie bei allen Gelegenheiten äußerst attraktiv und hätte sie gern näher kennengelernt. Doch er wußte, daß sie Partridges Freundin war, und da er sich in solchen Angelegenheiten immer äußerst korrekt verhielt, bat er sie nie um eine Verabredung, wie viele andere es taten.

Aber als Sloane von Jessica selbst erfuhr, daß »Schluß sei« mit Partridge, lud er sie sofort zum Essen ein. Sie nahm an, und die beiden trafen sich von da an häufiger. Zwei Wochen später gestand er ihr, daß er sie aus der Ferne seit langem liebe und nun, da er sie näher kenne, geradezu anbete, und fragte sie schließlich, ob sie seine Frau werden wolle.

Jessica war überrascht und bat um Bedenkzeit.

Ihre Gefühle waren im Aufruhr. Die Liebe zu Harry war leidenschaftlich gewesen. Nie hatte ein Mann sie so überwältigt wie er, sie glaubte auch nicht, daß es je wieder einem gelingen würde. Und sie wußte instinktiv, daß das, was sie mit Harry erlebt hatte, eine einzigartige Erfahrung gewesen war. Sie liebte ihn immer noch, auch das wußte sie sehr genau. Sie sehnte sich noch immer verzweifelt nach ihm; würde er jetzt zurückkommen und sie bitten, seine Frau zu werden, würde sie höchstwahrscheinlich ja sagen. Aber es war offensichtlich, daß Harry sie nicht darum bat. Er hatte sie verstoßen, und Wut und Enttäuschung nagten noch an ihr. Ein Teil ihrer selbst wollte... es ihm einfach zeigen! So!

Und da war nun Crawf. Jessica mochte Crawford Sloane... Nein! Mehr als das!... Sie empfand eine tiefe Zuneigung für ihn. Er war sanft und freundlich, liebevoll und interessant. Und Crawf war solide. Sie mußte sich eingestehen, daß er eine Stabilität besaß, die Harry, so aufregend er auch war, manchmal abging. Doch welche Liebe war für ein ganzes Leben, denn so sah Jessica die Ehe, wichtiger - die mit mehr Aufregung oder die mit mehr Stabilität? Sie wünschte sich, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu wissen.

Jessica hätte sich noch eine andere Frage stellen können, doch sie tat es nicht: Warum überhaupt eine Entscheidung treffen? Warum nicht warten? Sie war doch noch so jung...

Ohne sich dessen bewußt zu sein, wurde ihr Denken, wie das aller anderen, vom Leben in Vietnam beeinflußt. Der Krieg war allgegenwärtig wie die Luft, die sie atmeten. Man hatte das Gefühl, die Zeit sei komprimiert und tempogeladen, als würden Uhren und Kalender schneller laufen. Jeder Tag des Lebens schien wie ein Sturzbach aus den geöffneten Schleusen eines Dammes hervorzubrechen. Wer von ihnen wußte denn, wie viele Tage ihm noch blieben? Wer von ihnen würde je zu einem normalen Lebensrhythmus zurückfinden?

In keinem Krieg in der Geschichte der Menschheit war es je anders gewesen.

Sorgfältig wägte Jessica beide Seiten ab. Am Tag darauf nahm sie Crawford Sloanes Antrag an.

Die Trauung wurde sofort vollzogen, von einem Militärgeistlichen in der Amerikanischen Botschaft. Der Botschafter war bei der Zeremonie anwesend und gab danach einen Empfang in seinen Privaträumen.

Sloane war außer sich vor Glück. Jessica redete sich ein, daß sie es auch sei; sie hatte die feste Absicht, ihre Gefühlsverfassung der seinen anzugleichen.

Partridge erfuhr von der Heirat erst nach seiner Rückkehr nach Saigon. Tief traurig erkannte er nun, wieviel er verloren hatte. Als er Jessica und Sloane besuchte, um ihnen zu gratulieren, bemühte er sich, seinen Schmerz zu verbergen. Doch Jessica kannte ihn zu gut, um es nicht zu bemerken.

Auch wenn sie ähnliche Gefühle wie Partridge haben mochte, behielt Jessica sie für sich und versuchte, sie zu überwinden. Sie sagte sich, daß sie eine Entscheidung getroffen hatte, und sie war entschlossen, Sloane eine gute Frau zu sein, was sie in den ganzen Jahren auch wirklich war. Wie in jeder normalen Ehe gab es Streitigkeiten und Zerwürfnisse, doch die heilten wieder. Und nun waren es nur noch fünf Jahre bis zur Silberhochzeit von Jessica und Crawford Sloane - so unglaublich das für alle Beteiligten auch schien.

6

Crawford Sloane am Steuer seines Buick Somerset war bereits auf halbem Weg nach Hause. Die Triboro Bridge lag hinter ihm, er fuhr nun auf dem Bruckner Expressway und würde bald auf den Interstate 95 abbiegen, den sogenannten New England Thruway, auf dem er Larchmont erreichte.

Der Ford Tempo, der ihn seit dem Verlassen der Zentrale von CBA News verfolgte, war noch immer hinter ihm.

Es war nicht überraschend, daß Sloane das andere Auto nie bemerkt hatte, weder an diesem Abend noch an all den anderen in den letzten Wochen, in denen es ihn verfolgt hatte. Ein Grund dafür war, daß es sich bei dem Fahrer, einem jungen Kolumbianer mit dünnen Lippen und kalten Augen, der zur Zeit den Decknamen Carlos benutzte, um einen Beschattungsexperten handelte.

Carlos, der vor zwei Monaten mit einem gefälschten Paß in die Vereinigten Staaten eingereist war, hielt diese heimliche Beobachtung nun schon seit fast vier Wochen aufrecht, zusammen mit sechs weiteren Kolumbianern, fünf Männern und einer Frau. Wie Carlos versteckten sich auch die anderen hinter fiktiven Vornamen, die bei den meisten ein kriminelles Vorleben verschleierten. Bis kurz vor Beginn ihrer gegenwärtigen Aufgabe hatten sich die Mitglieder der Gruppe untereinander nicht gekannt. Und auch jetzt wußte nur Miguel, ihr Anführer, der an diesem Abend einige Meilen entfernt war, von ihren wahren Identitäten.

Der Ford Tempo war während der kurzen Zeit seiner Benutzung zweimal umgespritzt worden. Er war auch nur eines von mehreren verfügbaren Fahrzeugen, denn die Gruppe wollte unauffällig bleiben.

Das Resultat dieser Überwachung war eine präzise und detaillierte Studie der Gewohnheiten von Crawford Sloane und seiner Familie.

In dem schnellen Verkehr auf dem Expressway blieb Carlos immer drei Autos hinter Sloane zurück, doch ließ er den Buick nie aus den Augen. Neben Carlos saß ein zweiter Mann, der die einzelnen Etappen in ein Notizbuch eintrug. Er nannte sich Julio - ein dunkelhäutiger, streitsüchtiger und immer schlechtgelaunter Typ mit einer häßlichen Messernarbe in der linken Gesichtshälfte. Hinter ihm auf dem Rücksitz lag ein Funktelefon, einer von sechs Apparaten, die das versteckte provisorische Hauptquartier mit den einzelnen Fahrzeugen verbanden.

Beide, Carlos und Julio, waren skrupellose, trainierte Killer, und beide waren bewaffnet.

Nachdem Sloane wegen eines Auffahrunfalls auf der linken Fahrspur hatte abbremsen müssen, nahm er nun seine alte Geschwindigkeit und den Faden seiner Gedanken über Vietnam, Jessica, Partridge und sich selbst wieder auf.

Trotz seines großen Erfolgs in und seit Vietnam, machte sich Sloane noch immer ein wenig Gedanken über Partridge. Deshalb war er in Partridges Gegenwart auch stets leicht verlegen. Und insgeheim fragte er sich manchmal: Dachte Jessica je an Harry? Erinnerte sie sich noch an die intimen Augenblicke, die sie mit Harry erlebt haben mußte?

Sloane hatte seiner Frau nie eine wirklich intime Frage nach der lange zurückliegenden Beziehung zu Harry gestellt. Er hätte es oft tun können, auch gleich zu Beginn ihrer Ehe, und Jessica hätte, so wie sie nun einmal war, vermutlich in aller Offenheit darauf geantwortet. Doch solche Fragen paßten einfach nicht zu Sloanes Stil. Eigentlich, so überlegte er, wollte er die Antworten gar nicht wissen. Aber eigenartigerweise gingen ihm diese Fragen, auch nach all den Jahren, hin und wieder durch den Kopf, und manchmal warfen sie auch neue Fragen auf: Lag Jessica noch etwas an Harry? Standen die beiden noch in Kontakt? War bei Jessica auch heute noch ein Rest von Bedauern vorhanden?

Und beruflich?... Schuld war kein Begriff, der für Sloane in bezug auf sich selbst eine große Rolle spielte, und doch wußte er in einem versteckten Winkel seiner Seele, daß Partridge in Vietnam der bessere Journalist gewesen war, obwohl er, Sloane, den Ruhm eingeheimst und dazu noch Partridges Freundin geheiratet hatte. All diese Gedanken waren unlogisch, das wußte er, eine unnötige Unsicherheit, und doch wurde er diese innere Beklommenheit nicht los.

Der Ford Tempo hatte seine Position verändert und fuhr nun einige Autos vor Sloane. Die Ausfahrt Larchmont war nur noch wenige Meilen entfernt, und Carlos und Juan, die inzwischen mit Sloanes Gewohnheiten vertraut waren, wußten, daß er dort den Thruway verlassen würde. Es war ein alter Beschattungstrick, sich gelegentlich vor das Objekt zu setzen. Der Ford würde nun als erster abbiegen, auf Sloane warten und dann wieder hinter ihm herfahren.

Als der Chefsprecher von CBA einige Minuten später den Ortseingang von Larchmont erreichte, folgte ihm der Ford Tempo bereits wieder in unauffälligem Abstand und blieb in sicherer Entfernung vom Haus der Sloanes an der Park Avenue stehen.

Das Haus war, wie es sich für ein Mann mit Sloanes Einkommen gehörte, groß und imposant und bot einen herrlichen Blick auf den Long Island Sound. Unter dem grauen Schieferdach strahlte es in makellosem Weiß, umgeben von einem wohlgepflegten Garten mit einer kreisrunden Auffahrt. Zwei Kiefern bewachten den Eingang. Über dem zweiflügeligen Portal hing eine gußeiserne Laterne.

Mit einer Fernbedienung öffnete Sloane die Tür der Dreiergarage, die sich hinter dem einfahrenden Wagen automatisch wieder schloß.

Der Ford fuhr an und blieb in einer Seitenstraße stehen. Die Beschattung ging weiter.

7

Sloane hörte Stimmen und Gelächter, während er durch den kurzen Gang von der Garage zum Haus ging. Sie verstummten, als er die Tür öffnete und den mit Teppichboden ausgelegten Flur betrat, von dem fast alle Zimmer im Erdgeschoß abgingen. Dann hörte er Jessicas Stimme aus dem Wohnzimmer: »Bist du das, Crawf?«

Er antwortete auf die übliche Weise. »Wenn nicht, bekommst du Ärger.«

Sie reagierte mit einem melodiösen Lachen. »Willkommen, wer du auch bist. Ich bin gleich bei dir.«

Er hörte das Klirren von Gläsern, das Klicken von Eis, und er wußte, daß Jessica Martinis mixte. Es war ihr allabendliches Begrüßungsritual, mit dem sie ihm half, sich von den Anstrengungen des Tages zu erholen.

»Hi, Dad!« rief Nicholas, der elfjährige Sohn der Sloanes, vom Treppenabsatz herunter. Er war groß für sein Alter und sehr schmal. Seine intelligenten Augen strahlten, als er auf seinen Vater zulief und ihn umarmte.

Sloane erwiderte die Umarmung und strich dem Jungen über die braunen Locken. Es war die Art von Begrüßung, die er gern hatte, und er mußte Jessica dafür dankbar sein. Schon kurz nach Nickys Geburt hatte sie ihm beigebracht, daß man Zuneigung mit Berührungen ausdrücken sollte.

Am Beginn ihrer Ehe war es für Sloane nicht einfach gewesen, seine Gefühle offen zu zeigen. Er hielt sich in dieser Hinsicht immer sehr zurück, ließ gewisse Dinge ungesagt, die der Partner dann nur vermuten konnte. Es war ein Teil seiner ihm eigenen Reserviertheit, doch Jessica wollte nichts davon wissen. Sie tat alles, um das zu überwinden, und hatte, zuerst für sich, dann für Nicky, auch Erfolg.

Sloane wußte noch, wie sie ihm gleich zu Beginn gesagt hatte: »Wenn man verheiratet ist, Darling, dann fallen die Schranken. Deshalb haben wir ja >den Bund geschlossen< erinnerst du dich noch an die Worte? Also werden wir uns für den Rest unseres Lebens immer genau sagen, was wir fühlen - und es manchmal auch zeigen.«

Der letzte Teil des Satzes war auf ihr Sexualleben bezogen, das für Sloane auch noch lange nach ihrer Hochzeit Überraschungen und Abenteuer bereithielt. Jessica besaß einige der unverblümten, illustrierten Sexhandbücher, die es im Osten im Überfluß gab, und sie liebte es, zu experimentieren und neue Stellungen auszuprobieren. Hatte er beim ersten Mal noch leicht schockiert und zurückhaltend reagiert, so überwand er doch bald seine Scheu und genoß es schließlich auch, obwohl immer Jessica die Führung übernahm.

(Doch manchmal konnte er nicht umhin, sich zu fragen: Hatte sie diese Sexbücher schon, als sie noch mit Partridge zusammen war? Hatten sie sie benutzt? Doch Sloane hatte nie den Mut, sie zu fragen, vielleicht weil er sich vor einer positiven Antwort fürchtete.)

Gegenüber anderen Leuten behielt er seine Reserviertheit bei. Sloane wußte nicht mehr, wann er seinen Vater das letzte Mal in den Arm genommen hatte, obwohl er in letzter Zeit einige Male daran gedacht, sich dann aber immer zurückgehalten hatte, weil er nicht wußte, wie der alte Angus, so steif und streng wie er war, darauf reagieren würde.

»Hallo, Darling!« Jessica stand in einem weichen, grünen Kleid, seiner Lieblingsfarbe, vor ihm. Sie umarmten sich herzlich und gingen dann ins Wohnzimmer. Nicky setzte sich, wie gewöhnlich, eine Weile zu ihnen, doch er hatte bereits gegessen und würde bald ins Bett gehen.

»Na, wie geht's der Musik?« fragte Sloane seinen Sohn.

»Prima, Dad. Ich übe gerade das Prelude Nr. 2 von Gershwin.«

»An das kann ich mich noch erinnern«, erwiderte sein Vater. »Das hat Gershwin doch geschrieben, als er noch sehr jung war?«

»Ja, mit achtundzwanzig.«

»Am Anfang geht es, glaube ich, dum-di-daa-dum-dii-da-da-de-dum-de-dum-de-dum-de-dum.« Nicky und Jessica lachten über seine Gesangsversuche.

»Ich weiß, welchen Teil du meinst, und ich glaube, ich weiß auch, warum du dich daran erinnerst.« Nicky ging zum Flügel und sang dann in einem klaren, jungen Tenor zu seiner eigenen Begleitung:

»In the sky the bright stars glittered

On the bank the pale moon shone

And ffrom Aunt Dinah's quiltingparty

I was seeing Nellie home.«

Sloane legte die Stirn in Falten, während er versuchte, sich zu erinnern. »Das hab' ich doch schon mal gehört. Ist das nicht ein altes Lied aus der Zeit des Bürgerkriegs?«

Nicky strahlte. »Genau, Dad!«

»Ich glaube, jetzt verstehe ich«, sagte sein Vater. »Du meinst, daß einige Passagen an Gershwins Prelude Nr. 2 erinnern.«

Nicky schüttelte den Kopf. »Genau andersrum - das Lied war natürlich zuerst da. Aber niemand weiß, ob Gershwin es gekannt und verwendet hat, oder ob es nur Zufall war.«

»Und wir werden es auch nie erfahren.« Amüsiert und beeindruckt von Nickys Wissen, rief Sloane: »Schön dumm!«

Weder er noch Jessica konnten sich noch genau erinnern, wann Nicky zum ersten Mal Interesse an Musik gezeigt hatte, aber er war auf jeden Fall noch sehr jung gewesen, und nun war die Musik Nickys Hauptbeschäftigung.

Nicky hatte eine Vorliebe für das Klavier und erhielt Unterricht von einem ehemaligen Konzertpianisten, einem alten Österreicher, der im nahen New Rochelle lebte. Erst vor einigen Wochen hatte der Lehrer mit seinem starken Akzent zu Jessica gesagt: »Ihr Sohn hat es in der Musik bereits zu einer Meisterschaft gebracht, die für sein Alter ungewöhnlich ist. Später einmal wird er verschiedene Wege einschlagen können -als Konzertpianist oder Komponist, oder vielleicht als Wissenschaftler und Gelehrter. Aber noch viel wichtiger ist, daß die Musik mit Engelszungen der Freude zu Nicholas spricht. Sie ist ein Teil seiner Seele. Ich prophezeihe Ihnen, die Musik wird zum Mittelpunkt von Nicholas' Leben werden.«

Jessica sah auf die Uhr. »Nicky, es ist schon spät.«

»Ach Mom, nur noch ein bißchen. Morgen haben wir doch schulfrei.«

»Du hast trotzdem einen anstrengenden Tag vor dir. Ich sage nein.«

Jessica war der Zuchtmeister der Familie, und so ging Nicky, nach herzlichen Gutenachtküssen, auf sein Zimmer. Bald darauf hörten sie ihn auf seinem tragbaren elektronischen Piano spielen, das er immer benutzte, wenn der Flügel im Wohnzimmer nicht zur Verfügung stand.

Jessica brachte die Martinis in das sanft erhellte Wohnzimmer. Während sie die Drinks eingoß, dachte er: Kann man denn glücklicher sein? Dieses Gefühl hatte er oft bei Jessica, wenn sie ihn, auch nach über zwanzig Jahren Ehe noch, verwöhnte. Sie trug die Haare nicht mehr lang und machte sich auch nicht mehr die Mühe, ihre grauen Strähnen zu verbergen. An ihren Augen zeigten sich Fältchen. Aber sie war schlank und wohlgeformt, und nach ihren Beinen drehten sich die Männer noch immer um. Eigentlich hatte sie sich kaum verändert, und Sloane war noch immer stolz, mit Jessica an seiner Seite einen Raum zu betreten.

Sie gab ihm sein Glas und bemerkte: »Es muß ein anstrengender Tag gewesen sein.«

»War es auch. Hast du die Nachrichten gesehen?«

»Ja. Die armen Leute in diesem Flugzeug. Was für eine entsetzliche Art zu sterben. Die müssen doch von Anfang an gewußt haben, daß sie keine Chance haben, und dann können sie nur dasitzen und warten.«

Sloane bekam plötzlich Gewissenbisse, als er merkte, daß er daran noch gar nicht gedacht hatte. Manchmal war man als Nachrichtenprofi so sehr damit beschäftigt, Sensationen zusammenzutragen, daß man die menschlichen Wesen, die den Stoff dafür lieferten, völlig vergaß. Ist es die Abgestumpftheit nach der langen Zeit im Nachrichtengewerbe oder nur eine notwendige Distanzierung, wie auch Ärzte sie sich zulegen, fragte er sich. Er hoffte, das letztere.

»Wenn du den Bericht aus Dallas gesehen hast«, sagte er, »dann hast du auch Harry gesehen. Wie hat er dir gefallen?«

»Er war gut.«

Jessicas Antwort klang gleichgültig. Sloane beobachtete sie, er wartete auf mehr und fragte sich: Ist die Vergangenheit für sie wirklich tot und begraben?

»Harry war mehr als gut. Das war einfach genial«, sagte Sloane und schnippte mit den Fingern. »Ohne Vorwarnung. Und unter irrsinnigem Zeitdruck.« Er erzählte ihr von dem Glücksfall, daß die CBA-Crew sich zu der Zeit im Flughafen aufgehalten hatte. »Harry, Rita und Minh haben es geschafft. Die anderen Sender hatten keine Chance.«

»Harry und Rita scheinen oft zusammenzuarbeiten. Läuft da was zwischen den beiden?«

»Nein. Die sind einfach ein gutes Team.« »Woher weißt du das?«

»Weil Rita eine Affäre mit Les Chippingham hat. Die beiden glauben, daß es keiner weiß. Aber natürlich weiß es jeder.«

Jessica lachte. »O Gott. Ihr seid vielleicht ein inzestuöser Haufen.«

Leslie Chippingham war der Präsident von CBA News. Mit ihm wollte Sloane tags darauf über die Entlassung von Chuck Insen als Studioleiter sprechen.

»Denk nur nicht, daß ich da auch mitmische«, sagte er zu ihr. »Ich bin glücklich mit dem, was ich zu Hause habe.«

Der Martini hatte ihn entspannt, wie jeden Abend, obwohl weder er noch Jessica starke Trinker waren. Ein Martini und ein Glas Wein zum Essen war ihre Grenze, und tagsüber trank Sloane überhaupt nicht.

»Dir geht's gut heute abend«, bemerkte Jessica, »und gleich geht's dir noch besser.« Sie stand auf, ging zu dem kleinen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand und brachte ihm einen bereits geöffneten Umschlag. Da Jessica meistens die Post erledigte, war das nichts Ungewöhnliches. »Es ist ein Brief von deinem Verleger und eine Tantiemenabrechnung.«

Er nahm die Papiere, und während er las, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

Crawford Sloanes Buch Die Kamera und die Wahrheit war bereits vor einigen Monaten veröffentlicht worden. Es war sein drittes, das er mit Unterstützung eines Mitarbeiters verfaßt hatte.

Was die Verkaufszahlen betraf, hatte das Buch einen langsamen Start gehabt. In New York hagelte es Verrisse, denn keiner der Kritiker in der Metropole wollte sich die Gelegenheit entgehen lassen, jemanden von Sloanes Format niedermachen zu können. Doch in Städten wie Chicago, Cleveland, San Francisco und Miami wurde es von der Kritik freundlich aufgenommen. Und wichtiger noch, nach einigen Wochen wurden bestimmte Passagen in politischen Leitartikeln zitiert -die beste Werbung, die ein Buch haben konnte.

In einem Kapitel über Terrorismus und Geiselnahme schrieb Sloane sehr offen über »die Scham, die die meisten Amerikaner empfanden, als sie 1986/87 erfuhren, daß ihre Regierung die Freiheit einer Handvoll Geiseln im Mittleren Osten mit Tausenden von toten und verstümmelten Irakern, nicht nur auf dem iranisch-irakischen Schlachtfeld, sondern auch unter der Zivilbevölkerung, erkauft hatte«.

Die Kriegsopfer, so argumentierte er, waren die Folge von Waffenlieferungen, die der Iran als Gegenleistung für die Freilassung der amerikanischen Geiseln gefordert hatte. »Einen modernen Judaslohn«, nannte Sloane diese Zahlung und zitierte dazu Kipling's Dane-geld:

We neverpay any-one Dane-geld,

No matter how trifling the cost;

For the end of that game is oppression and shame,

And the nation that pays it is lost!

Wir zahlen an niemand Tribut, Gleichgültig wie gering er auch sei. Denn das Ende vom Lied ist Unterdrückung und Not Und Schande für das Volk, das ihn zahlt.

Auch andere Bemerkungen Sloanes fanden allgemein Zustimmung:

- Kein Politiker hat den Mut, es laut auszusprechen, und doch muß man davon ausgehen, daß Geiseln im Notfall zu opfern sind.

- Das einzige Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus ist Gegenterror, und das bedeutet, die Terroristen, wann immer möglich, aufzuspüren und sie unauffällig zu beseitigen. Das ist die einzige Sprache, die sie verstehen. Und dazu gehört auch, daß man nie, ich wiederhole, nie mit Terroristen verhandelt oder Lösegelder zahlt, ob nun auf direktem oder indirektem Weg.

- Terroristen, die sich an keinen zivilisierten Moralkodex halten, dürfen, wenn sie gefaßt werden, nicht erwarten, den Schutz von Gesetzen und Prinzipien zu genießen, die sie verachten. Die Briten, bei denen die Achtung vor dem Gesetz tief verwurzelt ist, waren bisweilen gezwungen, dieses Gesetz zu beugen, um sich selbst gegen eine amoralische und skrupellose IRA zu verteidigen.

- Was wir auch unternehmen, der Terrorismus wird nie verschwinden, weil die Regierungen und Organisationen die Terroristen unterstützen, in Wahrheit kein Interesse an einer Lösung oder Beilegung des Konflikts haben. Sie sind Fanatiker, die andere Fanatiker als Waffen benutzen.

- Wir, in den Vereinigten Staaten, müssen in nächster Zukunft mit Terrorismus in unserem eigenen Hinterhof rechnen. Doch sind wir weder gedanklich noch in irgendeiner Weise auf diese skrupellose, allgegenwärtige Art der Kriegsführung vorbereitet.

Bei Erscheinen des Buches herrschte in der CBA-Führungsetage eine gewisse Nervosität wegen solcher Formulierungen wie »muß man davon ausgehen, daß Geiseln im Notfall zu opfern sind« und »unauffällig beseitigen«, denn man fürchtete, sie würden politische und öffentliche Ressentiments gegen den Sender zur Folge haben. Doch wie sich zeigte, gab es überhaupt keinen Grund zur Sorge, und bald stimmte auch die CBA-Führung in das allgemeine Lob mit ein.

Sloane strahlte, als er die eindrucksvolle Tantiemenabrechnung beiseite legte.

»Du hast das wirklich verdient, und ich bin sehr stolz auf dich«, sagte Jessica. »Vor allem, da du sonst Kontroversen doch eher vermeidest.« Sie hielt inne. »Ach übrigens, dein Vater hat angerufen. Er kommt morgen früh an und möchte gerne eine Woche bleiben.«

Sloane schnitt eine Grimasse. »Schon wieder!«

»Er ist einsam und wird langsam alt. Vielleicht hast du in seinem Alter auch eine Lieblingsschwiegertochter, die du gerne besuchst.«

Sie lachten beide, denn sie wußten, wie vernarrt Angus in Jessica war und sie in ihn. In gewisser Weise standen die beiden sich näher als Vater und Sohn.

Seit dem Tod von Crawfords Mutter vor einigen Jahren lebte Angus alleine in Florida.

»Ich habe es gern, wenn er im Haus ist«, sagte Jessica. »Und Nicky auch.«

»Na, dann ist es ja in Ordnung. Aber solange Dad hier ist, mach doch mal deinen Einfluß geltend und bring ihn dazu, daß er nicht die ganze Zeit über Ehre, Vaterlandsliebe und das ganze Zeug quasselt.«

»Ich weiß, was du meinst. Ich werde tun, was ich kann.«

Der Grund für diesen Wortwechsel war die Tatsache, daß der ältere Sloane sich nie ganz von seinem Status als Held des Zweiten Weltkriegs hatte lösen können; als Bombenschütze der Army Air Forces war ihm der Silver Star und das Distinguished Flying Cross verliehen worden. Nach dem Krieg hatte er als Steuerberater gearbeitet, was nicht gerade eine spektakuläre Karriere bedeutete, ihm aber immerhin nach dem Rückzug aus dem Geschäft ein finanziell gesichertes und unabhängiges Leben ermöglichte. Doch seine Zeit in der Armee beherrschte weiterhin Angus' Gedanken.

Zwar respektierte Crawford die Heldentaten seines Vaters im Krieg, aber er wußte auch, wie ermüdend es sein konnte, wenn er sich über sein Lieblingsthema ausließ, »den Mangel an Rechtschaffenheit und moralischen Werten in der heutigen Zeit«, wie er es gern nannte. Wenigstens hatte Jessica die Geduld, den Sermon ihres Schwiegervaters zu ertragen.

Sloane und Jessica setzten ihre Unterhaltung beim Essen fort, wie sie es immer gern taten. Jessica hatte zwar ein Dienstmädchen für den Tag, aber das Abendessen bereitete sie selber zu, wobei sie es so einrichtete, daß sie nach der Ankunft ihres Mannes nur noch wenige Minuten in der Küche zubringen mußte.

»Ich weiß, was du eben gemeint hast«, sagte Sloane nachdenklich, »daß ich mich nicht gerne vorwage. Wahrscheinlich bin ich in meinem Leben weniger Risiken eingegangen, als ich es hätte tun können. Aber einige Passagen in diesem Buch waren mir sehr wichtig. Und sind es immer noch.«

»Das Terrorismuskapitel?«

Er nickte. »Seitdem habe ich mir einige Gedanken darüber gemacht, welche Auswirkung der Terrorismus auf uns, auf dich und mich haben könnte. Und deshalb habe ich auch einige Vorkehrungen getroffen. Ich habe dir bis jetzt noch nichts davon erzählt, aber du solltest es eigentlich wissen.«

Jessica sah ihn neugierig an, während er fortfuhr: »Hast du schon jemals daran gedacht, daß jemand wie ich entführt und als Geisel genommen werden könnte?«

»Immer wenn du im Ausland warst.«

Er schüttelte den Kopf. »Es könnte auch hier passieren. Es gibt für alles ein erstes Mal, und ich und einige andere beim Fernsehen arbeiten ja praktisch in einem Goldfischglas. Wenn Terroristen ihre Aktionen auf die Vereinigten Staaten ausdehnen

- und du weißt, daß das meiner Ansicht nach sehr bald passieren wird -, dann sind Leute wie ich eine attraktive Beute, weil alles, was wir tun oder mit uns getan wird, höchste Aufmerksamkeit erhält.«

»Was ist mit den Familien? Könnten die auch zu Zielen werden?«

»Das ist sehr unwahrscheinlich. Terroristen haben es auf große Namen abgesehen. Auf Leute, die jeder kennt.«

»Du hast von Vorkehrungen gesprochen«, sagte Jessica leicht verunsichert. »Welche meinst du?«

»Solche, die wirksam werden, nachdem ich entführt worden bin - falls das je passieren sollte. Ich habe sie zusammen mit einem Anwalt, den ich kenne, Sy Dreeland, ausgearbeitet. Er hat die ganzen Unterlagen und die Vollmacht, sie zu veröffentlichen, wenn und falls das notwendig werden sollte.«

»Mir gefällt diese Unterhaltung gar nicht«, sagte Jessica. »Du machst mich nervös. Was nützen denn Vorkehrungen, wenn das Schlimmste bereits passiert ist?«

»Bevor es passiert«, erwiderte er, »muß ich mich darauf verlassen, daß der Sender für gewisse Sicherheitsmaßnahmen sorgt, und das geschieht inzwischen auch mehr oder weniger. Aber danach, und das habe ich in meinem Buch ja gefordert, will ich nicht, daß irgend jemand für mich ein Lösegeld bezahlt

- auch nicht von unserem eigenen Geld. Und deshalb habe ich unter anderem eine notariell beglaubigte Erklärung hinterlegt, die das bestätigt.«

»Soll das heißen, daß dann unser ganzes Geld eingefroren wäre?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das könnte ich nicht tun, auch wenn ich es wollte. Fast alles, was wir besitzen, das Haus, die Konten, Gold und Devisen, gehört uns gemeinsam, und du könntest damit tun was du willst, wie du es auch jetzt schon kannst. Aber falls diese Erklärung veröffentlicht wird und jeder dann weiß, wie ich darüber denke, wäre es mir lieb, wenn du dich auch daran halten würdest.«

»Damit nimmst du mir doch meine Entscheidungsfreiheit«, protestierte Jessica.

»Nein, meine Liebe«, erwiderte er zärtlich. »Ich nehme dir nur eine entsetzliche Verantwortung ab und erspare dir ein Dilemma.«

»Aber mal angenommen, der Sender wäre bereit, Lösegeld zu zahlen.«

»Ich glaube nicht, daß er es wäre, vor allem nicht gegen meinen Wunsch, der ja bereits im Buch festgehalten ist und in der Erklärung noch einmal wiederholt wird.«

»Du hast von Sicherheitsvorkehrungen gesprochen, die der Sender trifft. Davon höre ich zum ersten Mal. Wie sehen die aus?«

»Bei telefonischen Drohungen oder gewissen Spinnerbriefen oder bei Gerüchten über einen möglichen Überfall - was bei allen Sendern passiert und vor allem die Moderatoren betrifft -wird ein privater Sicherheitsdienst alarmiert. Die Männer bewachen dann das Gebäude, begleiten mich überallhin und tun alles, was so ein Sicherheitsdienst eben tun muß. Ich hab' das schon ein paarmal miterlebt.«

»Du hast mir nie davon erzählt.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, gab er zu.

»Was hast du mir sonst noch nicht erzählt?« Eine gewisse Schärfe lag in Jessicas Stimme, obwohl sie sich ganz offensichtlich noch nicht klar darüber war, ob sie nun ärgerlich über das Verschweigen oder einfach ängstlich sein sollte.

»Nichts, was den Sender betrifft, aber da sind noch einige Dinge, die ich mit Dreeland abgesprochen habe.«

»Dürfte ich die vielleicht auch erfahren?«

»Es ist sehr wichtig, daß du sie erfährst.« Sloane ignorierte den Sarkasmus, in den seine Frau sich manchmal flüchtete, wenn sie erregt war. »Wenn jemand entführt wird, gleichgültig wo, ist es inzwischen ziemlich sicher, daß die Entführer eine Videoaufnahme machen oder sogar gezwungen sind, eine zu machen. Diese Aufnahmen werden dann irgend jemandem zugespielt und manchmal sogar im Fernsehen gezeigt, aber niemand weiß sicher, ob das Opfer sich freiwillig aufnehmen ließ oder dazu gezwungen wurde, und falls es gezwungen wurde, in welchem Ausmaß. Wenn man aber vorher gewisse Signale vereinbart, hat das Opfer eine Chance, eine Nachricht zu übermitteln, die auch verstanden wird. Übrigens haben bereits eine ganze Reihe von potentiellen Entführungsopfern bei ihren Anwälten Instruktionen hinterlegt und einen Signalcode vereinbart.«

»Wenn das nicht so ernst wäre, könnte man das Ganze für einen Spionageroman halten«, sagte Jessica. »Und welche Signale hast du vereinbart?«

»Wenn ich mir mit der Zunge die Lippen lecke, was man ja leicht unbeobachtet tun kann, heißt das: >Ich mache das gegen meinen Willen. Glaubt kein Wort von dem, was ich sage.< Wenn ich mich am rechten Ohr kratze, heißt das: >Meine Entführer sind gut organisiert und schwer bewaffnet.< Wenn es das linke Ohr ist, heißt es: >Die Bewachung hier ist eher nachlässig. Ein Angriff von außen könnte Erfolg haben.< Es gibt noch einige andere, aber das reicht fürs erste. Ich will dich mit all dem ja nicht beunruhigen.«

»Na, es beunruhigt mich aber«, erwiderte Jessica und fragte sich im stillen: Könnte das wirklich passieren? Könnte Crawf wirklich entführt und verschleppt werden? Es schien unwahrscheinlich, aber schließlich passierten jeden Tag unwahrscheinliche Dinge.

»Abgesehen von der Angst«, sagte sie nachdenklich, »muß ich zugeben, daß mich einiges davon fasziniert, weil es ein Aspekt von dir ist, den ich, soweit ich weiß, noch gar nicht kenne. Aber ich frage mich schon, warum du nicht dieses Sicherheitstraining machst, über das wir bereits gesprochen haben.«

Dieses Training war ein von einer britischen Firma, Paladin Security, angebotener Antiterror-Kurs, der bereits des öfteren in amerikanischen Nachrichtenprogrammen erwähnt worden war. Der Kurs dauerte eine Woche und war unter anderem dafür gedacht, Leute auf eine Situation vorzubereiten, wie Sloane sie eben angesprochen hatte, also darauf, wie man sich als Opfer einer Entführung zu verhalten hatte. Unterricht in waffenloser Selbstverteidigung gehörte ebenfalls dazu; und seit dem brutalen Angriff auf den CBS-Moderator Dan Rather auf einer New Yorker Straße lag Jessica Crawford in den Ohren, er solle diese Technik doch lernen. Nach dem von zwei Unbekannten verübten, völlig grundlosen Überfall mußte Rather ins Krankenhaus, die Angreifer wurden nie gefaßt.

»Das Problem ist, daß ich nie Zeit für den Kurs habe«, sagte Sloane. »Weil wir gerade davon sprechen, nimmst du noch deine CQB- Stunden?«

CQB war die Abkürzung für Close Quarters Battle, eine spezielle Nahkampfversion ohne Waffen, die von der britischen Eliteeinheit SAS praktiziert wurde. Ein pensionierter britischer Brigadier, der jetzt in New York lebte, gab diesen Kurs, und Jessica hätte es gern gesehen, wenn Crawford ihn ebenfalls besucht hätte. Doch da ihm die Zeit dazu fehlte, ging sie allein zu den Stunden.

»Nicht mehr regelmäßig«, antwortete sie. »Nur noch ungefähr zwei Stunden pro Monat, um in Übung zu bleiben, und manchmal hält Brigadier Wade Vorträge, die ich besuche.«

Sloane nickte. »Gut.«

In dieser Nacht fand Jessica nur wenig Schlaf, denn das Gespräch ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Die Insassen des Ford Tempo vor dem Haus sahen zu, wie die Lichter eins nach dem anderen verlöschten. Nachdem sie über das Funktelefon ihren Bericht abgeliefert hatten, beendeten sie die Überwachung und fuhren davon.

8

Kurz nach 6 Uhr 30 wurde die Beobachtung des Hauses in Larchmont wiederaufgenommen. An diesem Morgen war es ein Chevrolet Celebrity, und die beiden Kolumbianer Carlos und Julio saßen zusammengesunken auf den Vordersitzen - eine durchaus gebräuchliche Beschattungstechnik, die verhinderte, daß die Männer von den Insassen vorbeifahrender Autos entdeckt wurden. Der Chevy stand in einiger Entfernung vom Haus in einer Seitenstraße, von der aus das ganze Gelände über die Rück- und Seitenspiegel gut einzusehen war.

Die beiden Männer im Auto waren nervös und angespannt, denn sie wußten, daß dieser Tag der entscheidende werden würde, der Höhepunkt einer langen und sorgfältigen Planung.

Um 7 Uhr 30 trat ein unvorhergesehenes Ereignis ein: Ein Taxi hielt vor dem Haus der Sloanes. Ein älterer Mann mit einem Koffer stieg aus. Er ging ins Haus und blieb dort. Die unerwartete Ankunft dieses Mannes bedeutete eine Komplikation, die über Funktelefon an das provisorische Hauptquartier der Beschatter in etwa zwanzig Meilen Entfernung gemeldet werden mußte.

Das gut funktionierende Kommunikationssystem und der umfangreiche Wagenpark kennzeichneten eine Operation, für die keine Kosten gescheut worden waren. Die Verschwörer, die diese Beschattung und das, was noch folgen sollte, initiiert und organisiert hatten, waren Experten, denen es weder an Einfallsreichtum noch an Geld fehlte.

Sie waren Verbündete des kriminellen Medellin-Kartells, einer Vereinigung kolumbianischer Drogenkönige, die Newsweek in einer Ausgabe des Jahres 1988 »reich wie General Motors und skrupellos wie Idi Amin« nannte. Die Mitglieder des Kartells, so das Magazin weiter, »kennen keine Grenzen, achten keine Moral und schrecken vor nichts zurück«.

In Kolumbien, wo das Kartell mit bestialischer Grausamkeit wütete, gingen zahllose Morde auf sein Konto, unter den Opfern auch Polizisten, Richter und Journalisten. Die Kartellführer standen in der Vergangenheit mehrfach mit der sozialistischen Guerillatruppe M-19 in Verbindung, die während eines Blutbads im Jahr 1986 neunzig Menschen, darunter die Hälfte der Mitglieder des Obersten Gerichtshofs Kolumbiens, umbrachte. Trotz seiner Greueltaten unterhielt das Medellin-Kartell enge Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche. Ein Kardinal nahm die Mitglieder des Kartells ausdrücklich in Schutz, und ein Bischof gab offen zu, von den Drogenhändlern Geld zu erhalten.

Doch im vorliegenden Fall arbeitete das Kartell nicht für sich selbst, sondern für die peruanische, maoistische Terrororganisation Sendero Luminoso, der »Leuchtende Pfad«. In letzter Zeit hatte der Sendero Luminoso in Peru beträchtlich an Macht gewonnen, während die offizielle Regierung immer schwächer und unfähiger wurde. War früher der Herrschaftsbereich des Sendero auf die Andenregion und Zentren wie Ayacucho und Cuzco beschränkt, so überschwemmten inzwischen seine Bomben- und Killerkommandos bereits die Hauptstadt Lima. Und in Lima besaß die Bewegung darüber hinaus heimliche Sympathisanten in Armee und Regierung.

Die Verbindung zwischen Sendero Luminoso und dem Medellin-Kartell war nichts Ungewöhnliches. Der Sendero bediente sich häufig Krimineller, um Entführungen, vor allem ausländischer Staatsbürger, durchzuführen. Solche Entführungen kamen in Peru sehr oft vor, doch die amerikanischen Medien nahmen davon nur wenig Notiz.

Geld aus den Drogenhandel trug beträchtlich zur Finanzierung des Sendero bei. Weite Gebiete der von ihm kontrollierten Andenregion dienten dem Anbau der Kokapflanze. Aus den Kokapflanzen wurde Kokapaste gewonnen, die per Flugzeug von versteckten Pisten aus nach Kolumbien transportiert und dort zu Kokain weiterverarbeitet wurde.

Obwohl der Sendero Luminoso beharrlich behauptete, nicht mit Drogen zu handeln, verlangte er Tribut von jenen, die es taten - darunter eben auch das Medellin-Kartell.

Die beiden kolumbianischen Gangster im Chevrolet sahen sich eine Sammlung von Polaroidfotos an, die Carlos, eine geschickter Fotograf, von allen Personen, die in den vergangenen vier Wochen im Haus der Sloanes ein- und ausgegangen waren, gemacht hatte. Der eben eingetroffene alte Mann war nicht darunter.

Julio sprach am Telefon in verschlüsselten Sätzen.

»Eben ist ein blaues Paket eingetroffen. Lieferart Nummer zwei. Das Paket ist im Depot. Eine entsprechende Bestellung ist nicht vorhanden.« Übersetzt hieß das: Ein Mann ist angekommen. Ein Taxi hat ihn gebracht. Er hat das Haus betreten. Wir wissen nicht, wer er ist, es gibt kein Polaroid von ihm.

Die barsche Stimme Miguels, des Projektleiters, drang aus dem Hörer: »Welche Lieferscheinnummer?«

Julio, der Probleme mit Codes hatte, fluchte leise, während er in einem Notizbuch nach dem Schlüssel zur Entzifferung suchte. Wie alt ist die betreffende Person? stand dort.

Er sah Carlos fragend an. »Un viejo. Wie alt?«

Carlos nahm das Buch und las die Frage. »Sag ihm, Lieferscheinnummer fünfundsiebzig.«

Auf Julios Antwort folgte die nächste knappe Frage: »Irgendwas Besonderes an dem blauen Paket?«

Julio hatte genug von dem Code und antwortete unverschlüsselt: »Er hat einen Koffer dabei. Sieht aus, als wolle er länger bleiben.«

In einem verfallenen Haus südlich von Hackensack in New Jersey fluchte der Mann mit dem Codenamen Miguel leise über Julios Nachlässigkeit. Diese pendejos, mit denen er arbeiten mußte! Im Codebuch stand ein Satz, der seine Frage beantwortet hätte, und er hatte sie doch alle immer wieder gewarnt, daß bei Funktelefonen jeder mithören konnte. Abhörgeräte waren in vielen Geschäften erhältlich. Miguel hatte von einer Radiostation gehört, die sich rühmte, mit einem solchen Gerät mehrere Verbrechen vereitelt zu haben.

Estüpidos! Er konnte diesen Idioten, die man ihm da zugewiesen hatte, einfach nicht klarmachen, wie wichtig es war, vorsichtig, wachsam und auf der Hut zu sein, und zwar immer, nicht nur meistens. Schließlich hing der Erfolg der Mission und ihrer aller Leben und Freiheit davon ab.

Miguel selbst war schon immer fast zwanghaft vorsichtig gewesen. Und deshalb war er auch noch nie verhaftet worden, obwohl er von Interpol und den Behörden in Nord- und Südamerika und einigen europäischen Ländern auf der Liste der meistgesuchten Verbrecher geführt wurde. In der westlichen Hemisphäre wurde ebenso intensiv nach ihm gefahndet wie in der östlichen nach seinem Terroristenkollegen Abu Nidal. Miguel gestattete sich deswegen einen gewissen Stolz, vergaß dabei jedoch nie, daß Stolz zu übergroßem Selbstvertrauen führen konnte, und auch davor war er auf der Hut.

Trotz seines langen terroristischen Vorlebens war Miguel noch immer ein junger Mann, erst Ende dreißig. Seine Erscheinung war eher unauffällig, er sah durchschnittlich gut aus, aber nicht mehr. Man konnte ihn für einen Bankangestellten oder im besten Fall für den Geschäftsführer einer kleinen Firma halten. Zum Teil kam das daher, daß er sich bewußt alle Mühe gab, unbedeutend zu wirken. Er war höflich zu Fremden, aber so unverbindlich, daß er keinen bleibenden Eindruck hinterließ; Leute, die ihn trafen und nicht wußten, wer er war, vergaßen ihn meist sofort wieder.

In der Vergangenheit war diese Unscheinbarkeit und auch die Tatsache, daß er nach außen hin keine Autorität ausstrahlte, sein großes Glück gewesen. Seine Befehlsgewalt blieb verborgen, außer für jene, über die er sie ausübte, doch die bekamen sie unmißverständlich zu spüren.

Bei dem gegenwärtigen Projekt war es für Miguel auch von Vorteil, daß er, obwohl Kolumbianer, in Auftreten und Sprache wie ein Amerikaner wirken konnte. Er hatte Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre in Berkeley Englisch studiert und sich in dieser Zeit mit viel Geduld eine akzentfreie Aussprache antrainiert.

Damals benutzte er noch seinen richtigen Namen, Ulises Rodriguez.

Seine wohlhabenden Eltern hatten ihm das Studium in Berkeley ermöglicht. Miguels Vater, ein Neurochirurg aus Bogota, hatte gehofft, sein einziger Sohn würde seinem Beispiel folgen, doch an Medizin hatte Miguel auch damals schon kein Interesse. Statt dessen sah er bereits Ende der siebziger Jahre bedeutende Veränderungen für Kolumbien voraus, die Umwandlung des damals noch aufstrebenden, demokratischen Landes mit einer soliden gesetzlichen Grundlage in ein gesetzloses, unglaublich reiches Gangsterparadies, in dem Grausamkeit und Angst diktatorisch regierten. Das, Pharaonengold des neuen Kolumbien war damals noch Marihuana, später sollte es Kokain werden.

Miguel schreckte diese bevorstehende Umwälzung nicht ab. Er hatte, ganz im Gegenteil, die feste Absicht, sich von diesem neuen Kuchen ein Stück abzuschneiden.

Unterdessen vertrieb er sich in Berkeley die Zeit und entdeckte dabei, daß er keinen Funken Gewissen besaß und Menschen schnell und entschlossen töten konnte, ohne Reue oder auch nur einen unangenehmen Nachgeschmack zu empfinden.

Das erste Mal passierte es nach einem sexuellen Abenteuer mit einer jungen Frau, die er beim Verlassen eines Busses kennengelernt hatte. Auf dem Weg von der Bushaltestelle kamen sie ins Gespräch und stellten fest, daß sie beide Studienanfänger waren. Sie schien ihn zu mögen und lud ihn in ihre Wohnung am schäbigeren Ende der Telegraph Avenue ein. Begegnungen dieser Art waren damals normal, die Angst vor AIDS gab es noch nicht.

Nach einem heftigen Bettabenteuer war Miguel eingeschlafen, und als er wieder aufwachte, sah er, wie das Mädchen seine Brieftasche durchsuchte. In ihr steckten verschiedene Ausweise mit fiktiven Namen, denn er übte schon damals für seine spätere Kriminellenkarriere. Das Mädchen interessierte sich mehr für die Papiere, als ihr guttat. Vielleicht war sie eine Informantin, doch das sollte er nie herausfinden.

Ohne lange zu zögern, sprang er aus dem Bett, packte und erwürgte sie. Noch viel später war ihm ihr ungläubiger Blick im Gedächtnis, während sie um sich schlug und sich loszureißen versuchte, und schließlich das stille, verzweifelte Flehen in ihren Augen, kurz bevor sie das Bewußtsein verlor. Mit klinisch distanziertem Interesse stellte er fest, daß das Töten ihm in keinster Weise Probleme machte.

Er blieb eiskalt, wägte seelenruhig seine Chancen ab und stellte fest, daß das Risiko, gefangen zu werden, gleich null war. Im Bus hatten die beiden nicht nebeneinander gesessen, sie hatten sich überhaupt noch nicht gekannt. Daß jemand sie auf dem Weg von der Bushaltestelle beobachtet hatte, war unwahrscheinlich. Beim Betreten des Hauses und im Aufzug zum vierten Stock war ihnen niemand begegnet.

In aller Ruhe wischte er mit einem Tuch die Stellen ab, auf denen er möglicherweise Fingerabdrücke hinterlassen hatte. Schließlich wickelte er sich ein Taschentuch um die Hand, löschte alle Lichter und verließ die Wohnung. Die Tür ließ er hinter sich ins Schloß fallen.

Er vermied den Aufzug und benutzte die Nottreppe. In der Eingangshalle sah er sich um, und als er merkte, daß sie menschenleer war, durchquerte er sie und verließ das Haus.

Am nächsten und an den folgenden Tagen suchte er in den Lokalzeitungen nach Berichten über das tote Mädchen. Doch es dauerte fast eine Woche, bis die bereits teilweise verweste Leiche gefunden wurde, und als es in den folgenden zwei oder drei Tagen keine neuen Entwicklungen und offensichtlich auch keine weiterführenden Hinweise gab, verloren die Zeitungen das Interesse an der Geschichte.

Soweit überhaupt Ermittlungen angestellt worden waren, hatten sie ihn nicht in Verbindung mit dem Mord an dem Mädchen gebracht.

Während seiner Zeit in Berkeley tötete Miguel noch zweimal - in San Francisco, auf der anderen Seite der Bucht. Beide Opfer waren Fremde. Er mordete nur des Nervenkitzels wegen und weil er darin eine gute Übung sah, um seinen sich entwickelnden Fähigkeiten als Söldner den letzten Schliff zu geben. Das war ihm offensichtlich gut gelungen, den in keinem der Fälle wurde er verdächtigt oder auch nur von der Polizei verhört.

Von Berkeley nach Kolumbien zurückgekehrt, suchte Miguel Anschluß an die eben entstehende Allianz der Drogenkönige. Er hatte einen Pilotenschein und flog mehrmals Kokapaste von Peru zur Weiterverarbeitung nach Kolumbien. Durch die Freundschaft mit der berüchtigten aber einflußreichen Familie Ochoa wurden ihm jedoch bald andere Türen geöffnet. Schließlich kam die M-19 mit ihren Mordorgien. Miguel war an allen großen und vielen kleineren Blutbädern beteiligt, und schon bald konnte er die Leichen, die er hinterließ, nicht mehr zählen. Allmählich wurde sein Name international bekannt, doch dank seiner fast pedantischen Vorsicht gab es sonst kaum Informationen über ihn.

Im Lauf der Jahre baute Miguel - oder Ulises Rodriguez -seine Beziehungen zum Medellin-Kartell, zur M-19 und schließlich zum Sendero Luminoso ständig aus. Er blieb aber immer unabhängig und wurde so zu einem internationalen Verbrecher, einem käuflichen Terroristen und Killer, der wegen seiner Effektivität sehr gefragt war.

Natürlich spielte bei der ganzen Sache auch die Politik eine gewisse Rolle. Miguel war rein gefühlsmäßig Sozialist, der den Kapitalimus von Grund auf haßte und die seiner Meinung nach heuchlerischen und korrupten Vereinigten Staaten verachtete. Doch eigentlich stand er Politik in jeder Form skeptisch gegenüber und genoß einfach die Gefahren, das Risiko und die Dramatik des Lebens, das er führte, wie andere ein Aphrodisiakum.

Ebendiese Art von Leben hatte ihn vor eineinhalb Monaten in die Vereinigten Staaten geführt, wo er versteckt und heimlich eine Operation vorbereitete, die nun in wenigen Stunden über die Bühne gehen und die Weltöffentlichkeit schockieren sollte.

Seine ausführlich geplante Reiseroute war umständlich, aber sicher gewesen: von Bogota, in Kolumbien, über Rio de Janeiro nach Miami. In Rio hatte er Papiere und Identitäten wechseln wollen, um in Miami als brasilianischer Verleger auf dem Weg zu einer Buchmesse in New York einzutreffen. Aber ein Spitzel im amerikanischen Außenministerium hatte das Medellin-Kartell gewarnt, daß die Einwanderungsbehörde in Miami dringend alle verfügbaren Informationen über Miguel erbeten habe, vor allem solche über die diversen Identitäten, die er, soweit bekannt, in der Vergangenheit benutzt hatte.

Miguel war wirklich schon einmal unter dem Namen des brasilianischen Verlegers aufgetreten, und obwohl er davon ausging, daß diese Identität noch nicht aufgedeckt war, schien es ihm sicherer, Miami zu meiden. Er nahm deshalb eine gewisse Verzögerung in Kauf und flog von Rio nach London, wo er sich eine vollkommen neue Identität und einen druckfrischen, offiziellen britischen Paß zulegte.

Die Prozedur war höchst einfach.

Ach, diese unschuldigen Demokratien! Wie dumm und naiv sie doch waren! Wie einfach es war, ihre hochgerühmte Freiheit und das liberale System zu unterlaufen und zum Vorteil derer zu nutzen, die, wie Miguel, an keins von beiden glaubten.

Kurz bevor er London erreichte, hatte er erfahren, wie es gemacht werden mußte.

Zunächst ging er zum St. Catherine's House an der Kreuzung von Kingsway und Aldwych, wo Geburten, Heiraten und Todesfälle für England und Wales registriert werden. Dort beantragte Miguel drei Geburtsurkunden.

Wessen Geburtsurkunden? Von beliebigen Personen, deren Geburtsdatum genau oder zumindest annähernd mit dem seinen übereinstimmte.

Ohne jemanden zu fragen und ohne aufgehalten zu werden, nahm er fünf leere Antragsformulare und ging damit zu einer Reihe von Regalen, auf denen großformatige, mit Jahreszahlen versehene Bände standen. Miguel suchte sich das Jahr 1951 heraus. Der Band war in vierteljährliche Abschnitte unterteilt. Er blätterte zum vierten Quartal und den Buchstaben M bis R.

Sein Geburtsdatum war der 14. November dieses Jahres. Beim Durchblättern stieß er auf den Namen »Dudley Martin«, geboren am 13. November in Keighley, Yorkshire. Der Name schien geeignet, er war weder zu ungewöhnlich noch so auffallend alltäglich wie etwa Smith. Perfecto! Miguel trug die Angaben in das rotgedruckte Antragsformular ein.

Nun brauchte er noch zwei Namen. Er hatte vor, drei Pässe zu beantragen, wobei ihm zwei nur als Sicherheit dienten, falls mit dem ersten etwas schiefging. Es war ja immerhin möglich, daß auf den Namen Dudley Martin bereits ein gültiger Paß ausgegeben worden war. In diesem Fall würde kein neuer ausgestellt werden.

Er füllte zwei weitere Antragsformulare aus. Bewußt wählte er zwei Familiennamen, deren Anfangsbuchstaben im Alphabet weit von »M« wie Martin entfernt waren; der eine begann mit »B«, der andere mit »Y«. Miguel wußte, daß im Meldeamt verschiedene Angestellte verschiedene Buchstabengruppen bearbeiteten. Die weite Streuung der Buchstaben sorgte dafür, daß die drei Anträge von verschiedenen Personen bearbeitet wurden und so keine Ähnlichkeiten festgestellt werden konnten.

Während des Schreibens achtete Miguel darauf, daß er keines der Formulare, die er ausfüllte, berührte. Deshalb hatte er fünf Formulare mitgenommen; die beiden äußeren schützten die anderen drei vor seinen Fingerabdrücken, er würde sie später vernichten. Seit Berkeley hatte er gelernt, daß nichts, auch das sorgfältigste Wischen nicht, Fingerabdrücke vollkommen auslöschen konnte - mit modernsten Verfahren, dem Ninhydrin-Test oder dem Ion-Argon-Laser etwa, waren sie trotzdem zu identifizieren.

Als nächstes kam ein kurzer Gang zur Zahlstelle. Dort legte er seine Anträge vor, wobei er es auch weiterhin vermied, die drei ausgefüllten Blätter zu berühren. Der Kassierer verlangte fünf Pfund für jede Geburtsurkunde, die Miguel bar bezahlte. Er erfuhr, daß die Dokumente in zwei Tagen fertig seien.

In dieser Zeit verschaffte er sich drei Postadressen.

Aus Kelly's London Business Directory, dem Londoner Branchenbuch, schrieb er sich verschiedene Büroagenturen heraus, über deren unauffällige Adressen er seine Post laufen lassen konnte. Er besuchte nun eine dieser Agenturen und zahlte fünfzig Pfund, wiederum in bar. Eine Deckgeschichte hatte er sich bereits zurechtgelegt: Er eröffne eben ein kleines Geschäft und könne sich kein eigenes Büro oder eine Sekretärin leisten. Wie sich zeigte, stellte man keine weiteren Fragen. Er wiederholte den Vorgang noch bei zwei anderen Agenturen, und auch bei denen zeigte man sich alles andere als wißbegierig. Nun hatte er drei verschiedene Adressen für seine drei Paßanträge, und keine konnte zu ihm selbst zurückverfolgt werden.

Ein Fotoautomat lieferte ihm drei verschiedene Sätze Paßfotos, wobei er jedesmal sein Aussehen veränderte. Bei einem klebte er sich einen Vollbart an, beim zweiten war er glattrasiert und trug das Haar gescheitelt, und für das dritte setzte er sich eine dicke, auffallende Brille auf.

Tags darauf holte er seine drei Geburtsurkunden von St. Catherine's House ab. Wie schon beim ersten Mal fragte ihn keiner danach, wozu er sie brauche.

In einem Postamt hatte er sich bereits zuvor drei Passanträge geben lassen, wobei er wiederum darauf achtete, sie nicht zu berühren. Mit Plastikhandschuhen füllte er nun diese Anträge aus. Als Adresse der Antragsteller gab er jeweils eine der drei Agenturen an.

Jedem Antrag mußten zwei Fotos beigelegt werden. Auf dem Rücken des einen Fotos mußte eine »beruflich qualifizierte Person«, ein Arzt oder ein Anwalt etwa, die Identität des Antragstellers mit seiner Unterschrift bestätigen und außerdem versichern, daß er ihn bereits seit mindestens zwei Jahren kenne. Einem Rat folgend, schrieb und unterzeichnete Miguel diese Angaben selbst, wobei er seine Handschrift verstellte und Namen verwendete, die er wahllos aus dem Telefonbuch herausgesucht hatte. Mit selbstgefertigten Gummistempeln verlieh er Namen und Adressen mehr Glaubwürdigkeit.

Trotz der Warnung auf dem Antrag, daß diese Beglaubigungen überprüft würden, kam dies höchst selten vor, und das Risiko der Entdeckung war äußerst gering. Es gab einfach zu viele Anträge und zu wenig Personal.

Für diese »Identifikationsfotos«, die nicht in den Pässen auftauchten, sondern im Meldeamt aufbewahrt wurden, gab es noch eine Sonderbehandlung: Mit einem weichen Schwamm trug Miguel eine schwache Domestoslösung auf. Unter der Säureeinwirkung würden die Fotos ausbleichen, und nach zwei oder drei Monaten würden von Miguel und seinen drei Deckidentitäten keine Bilder mehr existieren.

Miguel schickte die drei Anträge, jeden mit einer Zahlungsanweisung über fünfzehn Pfund, mit der Post, obwohl er wußte, daß es mindestens vier Wochen dauern würde, bis die Pässe ausgestellt und zurückgeschickt waren. Die ermüdende Wartezeit nahm er um der erhöhten Sicherheit willen in Kauf.

In der Zwischenzeit schickte er mehrere, an sich selbst adressierte Briefe an seine drei Postadressen. Nach ein paar Tagen rief er bei den Agenturen an, fragte, ob Post für ihn eingetroffen sei, und teilte ihnen bei einer positiven Antwort mit, daß er sie von einem Boten abholen lasse. Dann suchte er sich irgendwelche Jungen von der Straße, gab ihnen ein paar Pfund und schickte sie zu den Agenturen. Bei ihrer Rückkehr achtete er sorgfältig darauf, daß sie nicht verfolgt wurden, bevor er mit ihnen wieder in Kontakt trat. Sobald die Pässe bei seinen Lageradressen eintrafen, wollte er sie auf die gleiche Weise abholen lassen.

In der fünften Woche kamen alle drei Pässe innerhalb weniger Tage an und konnten ohne Probleme eingesammelt werden. Miguel lächelte, als er den dritten in Händen hielt. Excelente! Er hatte vor, den Paß auf den Namen Dudley Martin zu benützen und die anderen zwei für eine spätere Verwendung aufzuheben.

Nun blieb nur noch eins zutun: Er mußte sich ein Rückflugticket für die Vereinigten Staaten kaufen. Miguel erledigte das noch am selben Tag.

Bis 1988 brauchten alle Inhaber eines britischen Passes ein Visum für die Einreise in die U.S.A.. Das war inzwischen nicht mehr nötig, sofern der Reisende ein Rückflugticket besaß und sich nicht länger als neunzig Tage in den Vereinigten Staaten aufhielt. Natürlich hatte Miguel nicht die Absicht, den Rückflug wirklich anzutreten, aber die Mehrkosten waren belanglos im Vergleich zum Risiko eines erneuten Gangs durch die Bürokratie. Die Neunzigtagefrist war für ihn ohne Bedeutung, denn er hatte gar nicht vor, so lange zu bleiben, und würde die Staaten ohnehin heimlich oder wiederum unter falschem Namen verlassen.

Miguel hatte sich sehr über die Änderung der amerikanischen Visabestimmungen gefreut. Wieder einmal begünstigten diese so angenehm liberalen Systeme ihn und die Leute seines Schlags.

Am nächsten Morgen flog er nach New York und passierte im John F. Kennedy Airport ohne Probleme die Paßkontrolle.

Nach seiner Ankunft in New York fuhr Miguel sofort in das große kolumbianische Viertel in Queens, wo ein Agent des Medellin-Kartells bereits ein sicheres Haus für ihn besorgt hatte.

»Little Columbia« in Jackson Heights erstreckte sich von der Sixty-ninth bis zur Eighty-ninth Street. Es war ein blühendes Zentrum des Drogenhandels und eine der gefährlichsten Gegenden New Yorks, in der Gewalt eine Nebensächlichkeit und Mord an der Tagesordnung waren. Uniformierte Polizisten wagten sich allein kaum dorthin, und nachts waren sie auch zu zweit nie zu Fuß unterwegs.

Für Miguel war der Ruf des Viertels kein Problem, er betrachtete ihn im Gegenteil eher als Schutz, während er plante, heimlich bereitgestelltes Geld abrief und die kleine Truppe um sich versammelte, die unter seiner Führung operieren sollte. Die sieben Mitglieder dieser Truppe, Miguel eingeschlossen, waren in Bogota ausgesucht worden.

Julio, der im Augenblick vor Sloanes Haus Dienst tat, und Socorro, die einzige Frau der Gruppe, waren Kolumbianer, die das Medellin-Kartell als »Schläfer« eingesetzt hatte. Vor einigen Jahren hatte man sie nach Amerika geschickt, wo sie als Immigranten auftraten und keinen anderen Auftrag hatten, als sich einzurichten und einzuleben und zu warten, bis ihre Dienste bei Drogengeschäften oder anderen kriminellen Aktivitäten benötigt würden.

Julio war der Kommunikationsspezialist. Socorro hatte während ihrer »Schläfer«-Zeit eine Ausbildung als Schwesternhelferin abgeschlossen.

Socorro hatte noch eine zusätzliche Verbindung. Über Freunde in Peru war sie zur Symphatisantin des revolutionären Sendero Luminoso geworden und arbeitete gelegentlich in Amerika als Agentin für diese Organisation. Unter Lateinamerikanern kamen solche Grenzüberschreitungen zwischen dem politisch motivierten und dem profitorientierten Verbrechen häufig vor; und wegen ihrer Doppelrolle fungierte Socorro in dieser Operation auch als Beobachterin für den Sendero.

Von den restlichen vier waren drei ebenfalls Kolumbianer, denen man die Decknamen Rafael, Luis und Carlos zugewiesen hatte. Rafael war Mechaniker und der Handwerker der Gruppe. Luis war wegen seiner fahrerischen Fähigkeiten ausgesucht worden; er war Experte, wenn es darum ging, Verfolger abzuschütteln, vor allem bei einer Flucht vom Tatort eines Verbrechens. Carlos war jung und aufgeweckt, er hatte die Beschattungsaktion der vergangenen vier Wochen organisiert. Alle drei sprachen fließend Englisch und waren schon öfters in den Vereinigten Staaten gewesen. Für diese Operation waren sie einzeln, ohne sich gegenseitig zu kennen, und mit gefälschten Papieren eingereist. Sie hatten den Befehl, sich bei dem Medellin-Agenten zu melden, der Miguel das Haus vermittelt hatte, und sich dann direkt Miguel zu unterstellen.

Das letzte Mitglied der Truppe war ein Amerikaner mit dem Decknamen Baudelio. Miguel mißtraute Baudelio zutiefst, aber das Wissen und die Fähigkeiten dieses Mannes waren für den Erfolg der Mission unabdingbar.

Als Miguel jetzt im provisorischen Hauptquartier der Gruppe in Hackensack über den suspekten Amerikaner nachdachte, stieg die Wut in ihm hoch. Sie verstärkte nur noch seinen Unmut über Julio wegen dessen sorglosen Rückfalls in die normale Sprache. Er hatte den Hörer noch in der Hand und zwang sich, seine persönlichen Gefühle zu unterdrücken, während er sich eine Antwort überlegte.

Julio hatte von einem etwa fünfundsiebzigj ährigen Mann berichtet, der vor wenigen Minuten mit einem Koffer in der Hand das Haus der Sloanes betreten hatte, »als wolle er länger bleiben«, wie Julio so unvorsichtig bemerkt hatte.

Vor seiner Abreise aus Bogota hatte Miguel ausführliche Informationen erhalten, die er jedoch nur teilweise an seine Truppe weitergegeben hatte. So wußte er unter anderem auch, daß Crawford Sloane einen Vater hatte, auf den die Beschreibung des Neuankömmlings paßte. Miguel überlegte nun: Der Alte, der seinen Sohn besuchte, war für sie zwar lästig, aber auch nicht mehr. Man würde ihn mit Sicherheit noch an diesem Tag töten müssen, doch das war kein Problem.

Miguel drückte die Sprechtaste und befahl Julio: »Unternehmt nichts wegen des blauen Pakets. Meldet euch nur, wenn neue Bestellung eingeht.« »Neue Bestellung« hieß: Wenn eine Veränderung eintritt.

»Roger«, antwortete Julio knapp.

Miguel legte das Funktelefon weg und sah auf die Uhr. Beinahe 7 Uhr 45. In zwei Stunden würden alle sieben Mitglieder seiner Gruppe auf ihren Plätzen und bereit zum Handeln sein. Alles war sorgfältig geplant, an alle möglichen Probleme war gedacht und Vorkehrungen waren getroffen worden. Während der Aktion waren vielleicht ein paar Improvisationen nötig, aber nicht viele.

Ein Verschieben war unmöglich. Denn außerhalb der Vereinigten Staaten waren bereits andere Aktionen angelaufen, die mit der ihren präzise abgestimmt waren.

9

Angus Sloane seufzte zufrieden, stellte seine Kaffeetasse ab und wischte sich mit einer Serviette über den Mund und den silbergrauen Schnurrbart. »Eines steht fest«, verkündete er, »im ganzen Staat New York ist an diesem Morgen kein besseres Frühstück serviert worden.«

»Und auch keins mit einem höheren Cholesteringehalt«, erwiderte sein Sohn hinter einer aufgeschlagenen New York Times. »Weißt du denn nicht, daß diese Spiegeleier schlecht fürs Herz sind? Wie viele waren es? Drei?«

»Wer wird denn zählen!« sagte Jessica. »Übrigens, wenn sich einer die Eier leisten kann, Crawf, dann du. Angus, magst du noch eins?«

»Nein, vielen Dank, meine Liebe«, erwiderte der alte Mann mit einem freundlichen Lächeln. Trotz seiner dreiundsiebzig Jahre wirkte er frisch und munter.

»Drei Eier sind doch nicht viel«, sagte Nicky. »Ich hab' mal einen Film über ein Gefängnis im Süden gesehen. Da hat jemand fünfzig Eier gegessen.«

Crawford Sloane ließ die Zeitung sinken. »Der Film, den du meinst, heißt Cool Hand Luke«, sagte er. »Er ist von 1967, und Paul Newman spielte die Hauptrolle. Aber ich bin mir sicher, daß Newman nicht wirklich alle Eier gegessen hat. Er ist nur ein guter Schauspieler, der dich im Glauben läßt, daß er es tut.«

»Vor kurzem war ein Vertreter hier«, bemerkte Jessica, »der uns die Encyclopedia Britannica verkaufen wollte. Ich sagte ihm, wir hätten bereits eine, den Hausherrn selbst.«

»Was kann ich denn dafür«, erwiderte Sloane, »daß ein paar von den Nachrichten, mit denen ich täglich umgehe, bei mir hängenbleiben. Nur weiß man nie, was hängenbleibt und was man wieder vergißt.«

Sie saßen im hellen Frühstückszimmer, das sich an die Küche anschloß. Erst vor einer halben Stunde war Angus eingetroffen; zur Begrüßung hatte er seine Schwiegertochter und seinen Enkel herzlich umarmt und Crawford etwas förmlicher die Hand geschüttelt.

Das leicht gespannte Verhältnis zwischen Vater und Sohn, das bei Crawford manchmal sogar zur Verärgerung führte, reichte weit zurück. Es hatte vorwiegend mit verschiedenen Ansichten und Wertvorstellungen zu tun. Angus hatte die Aufweichung nationaler und persönlicher Moralbegriffe, die ab Ende der Sechziger von den meisten Amerikanern akzeptiert wurde, nie verwunden. Er glaubte noch immer eifrig an »Ehre, Pflicht und Vaterland« und daß seine Landsleute weiterhin den gleichen kompromißlosen Patriotismus an den Tag legen sollten, der während des Zweiten Weltkriegs existiert hatte - dem Höhepunkt von Angus' Leben, über den er sich unendlich ausbreiten konnte. Gleichzeitig stand er vielen Grundsätzen kritisch gegenüber, die sein Sohn, als Nachrichtensammler, inzwischen für normal und progressiv hielt. Crawford seinerseits besaß wenig Toleranz für die Denkweise seines Vaters, die, wie er meinte, zu sehr in der Vergangenheit verwurzelt war und den immensen Zuwachs an naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen in den vier Jahrzehnten seit dem Krieg nicht berücksichtigte. Außerdem war Crawford so vermessen zu glauben, daß er, weil er den Gipfel seiner beruflichen Karriere erreicht hatte, zu einem qualifizierteren Urteil über die Welt und die Menschen fähig sei als die meisten anderen.

Nun zeigte sich bereits in diesen frühen Morgenstunden, daß sich die Kluft zwischen Crawford und seinem Vater nicht verringert hatte.

Wie schon unzählige Male zuvor hatte Angus ihnen auch heute wieder erzählt, daß er es sein ganzes Leben lang vorgezogen hatte, bei Reisen möglichst früh am Morgen an seinem Zielort einzutreffen. Deshalb war er schon am Abend zuvor von Florida nach La Guardia geflogen, hatte bei einem alten Kumpel aus der American Legion, der in der Nähe des Flughafens wohnte, übernachtet und war schließlich, kurz nach Sonnenaufgang, mit Bus und Taxi nach Larchmont gekommen.

Crawford hatte während dieses altvertrauten Berichts die Augen zur Decke gehoben. Und Jessica, die lächelte und nickte, als würde sie die Geschichte zum ersten Mal hören, hatte Angus unterdessen seine geliebten Eier mit Schinken gebraten und für sich und die beiden anderen ein etwas gesünderes Müsli zubereitet.

»Wegen meinem Herz und den Eiern«, sagte Angus nun, denn er brauchte manchmal ein paar Minuten, um eine Bemerkung zu verdauen und darauf zu reagieren. »Ich glaube, wenn's die Pumpe schon so lange ausgehalten hat, dann brauch' ich mir wegen dem Cholesterin jetzt auch keine Sorgen mehr zu machen. Na, und wir beide, mein Herz und ich, waren schon in einigen brenzligen Situationen und sind immer wieder heil rausgekommen. Da könnt' ich euch einiges erzählen.«

Crawford ließ die Zeitung eben so weit sinken, daß er Jessica einen warnenden Blick zuwerfen konnte. Wechsel schnell das Thema, sonst fängt er wieder mit seinen Kriegserinnerungen an. Doch Jessica zuckte nur leicht mit den Achseln, was bedeuten sollte: Tu's doch selber, wenn du meinst, es wird dir zuviel.

Sloane faltete die Times zusammen und sagte: »Inzwischen gibt es genaue Angaben über die Anzahl der Opfer bei dem Flugzeugunglück in Dallas. Sieht ziemlich schlimm aus. Wir werden wahrscheinlich noch die ganze nächste Woche darüber berichten.«

»Ich hab' gestern abend euren Filmbeitrag gesehen«, bemerkte Angus. »Von diesem Partridge. Der Kerl gefällt mir. Wenn der aus dem Ausland berichtet, vor allem über unsere Streitkräfte, dann macht der mich wieder richtig stolz, Amerikaner zu sein. Viele von deinen Leuten tun das nicht, Crawford.«

»Die Sache hat aber leider einen Haken«, erwiderte Sloane. »Harry Partridge ist kein Amerikaner. Er ist Kanadier. Und außerdem wirst du eine Weile ohne ihn auskommen müssen. Er hat nämlich Urlaub.« Dann setzte er neugierig hinzu: »Wer von unseren Leuten macht dich denn nicht stolz?«

»So ziemlich alle anderen. Es ist die Art, wie die meisten Fernsehleute alles in den Schmutz ziehen, besonders unsere Regierung. Sie lassen kein gutes Haar an unserem Staat und versuchen beständig, den Präsidenten lächerlich zu machen. Kein Mensch ist mehr auf irgend etwas stolz. Macht dir denn das überhaupt nichts aus?«

Als Sloane nicht antwortete, sagte Jessica leise zu ihm: »Dein Vater hat deine Frage beantwortet. Jetzt solltest du auch auf seine antworten.«

»Dad«, erwiderte Sloane, »wie beide haben über dieses Thema doch schon öfters gesprochen, und ich glaube nicht, daß wir da je zu einer Übereinstimmung kommen werden. Was du >in den Schmutz ziehen< nennst, halten wir im Nachrichtengewerbe für legitimes Hinterfragen, für das Recht der Öffentlichkeit auf Information. Es gehört zu den Aufgaben der Nachrichtenmedien, Politiker und Bürokraten zu kritisieren, alles in Frage zu stellen, was man uns erzählt - und das ist auch gut so. Denn wenn man es genau nimmt, lügen alle Regierungen, ob nun Demokraten oder Republikaner, Liberale, Sozialisten oder Konservative. Sobald sie im Amt sind, tun sie es alle.

Natürlich gehen wir, die die Nachrichten aufspüren, manchmal sehr hart ran und gelegentlich, das muß ich zugeben, auch zu weit. Aber dank unserer Arbeit kommt ein Menge an Gaunereien und Heuchelei ans Tageslicht, die sich die Mächtigen früherer Tage ungestraft erlauben konnten. Gerade wegen der kritischeren Berichterstattung, für die übrigens das Fernsehen ein Wegbereiter war, wird unsere Gesellschaft ein wenig besser, ein wenig sauberer, kommt dieses Land seinem Ideal ein wenig näher.

Und was die Präsidenten betrifft, Dad, wenn einige von ihnen lächerlich wirken, und bei den meisten ist es der Fall, dann haben sie sich das selber zuzuschreiben. Natürlich helfen wir von den Medien ab und zu ein wenig nach, weil wir eben Skeptiker und manchmal auch Zyniker sind, und weil wir uns von diesen Präsidenten keinen Honig ums Maul schmieren lassen. Und die ganzen Mauscheleien in hohen und höchsten Ämtern geben uns allen Grund, so zu sein, wie wir sind.«

»Ich finde, der Präsident sollte irgendwie allen gehören und nicht nur einer Partei«, sagte Nicky. Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Wäre es nicht besser gewesen, wenn die Gründerväter Washington zum König gemacht hätten und Franklin oder Jefferson zum Präsidenten? Dann wären Washingtons Kinder und Enkel und Urenkel Könige und Königinnen geworden, und wir hätten ein Staatsoberhaupt, auf das wir stolz sein, und einen Präsidenten, dem wir für alles die Schuld geben könnten, so wie es die Briten mit ihrem Premierminister tun.«

»Es ist ein großer Verlust für Amerika«, entgegnete sein Vater, »daß du nicht bei der verfassunggebenden Versammlung dabei warst, um diese Idee vorzuschlagen. Mal abgesehen davon, daß Washington nur Adoptivkinder hatte, ist der Vorschlag vernünftiger als vieles, was seitdem passiert ist.«

Alle lachten, doch plötzlich wurde Angus wieder ernst und sagte: »Die Berichterstattung in meinem Krieg - dem Zweiten Weltkrieg, Nicky - war anders als heutzutage. Wir hatten das Gefühl, daß die Leute, die über den Krieg schrieben oder im Radio über ihn sprachen, auf unserer Seite standen. Heute ist das ganz anders.«

»Es war ein anderer Krieg«, erwiderte Crawford, »und eine andere Zeit. So wie es neue Arten des Nachrichtensammelns gibt, so verändern sich auch die Vorstellungen über das Wesen der Nachrichten. Viele von uns glauben nicht mehr an >Mein Land im Guten wie im Schlechtem.«

»Ich hätte nie geglaubt, je mit anhören zu müssen, daß mein Sohn so etwas sagt«, jammerte Angus.

Sloane zuckte mit den Achseln. »Tut mir leid, aber jetzt hörst du es. Nachrichtenleute, denen an der Wahrheit gelegen ist, wollen wirklich sicher sein, daß in unserem Land alles in Ordnung ist, und sich von denen, die gerade an der Macht sind, keine Märchen erzählen lassen. Aber das findet man nur heraus, wenn man unbequeme, bohrende Fragen stellt.«

»Glaubst du nicht, daß in meinem Krieg auch bohrende Fragen gestellt wurden?«

»Aber eben nicht bohrend genug.« Er hielt inne und überlegte sich, ob er fortfahren sollte. Er entschloß sich dafür. »Du warst doch bei diesem ersten Bombenangriff mit den B-17 auf Schweinfurt dabei, oder?«

»Ja.« Dann zu Nicholas: »Das ist mitten in Deutschland, Nicky. Damals nicht eben ein angenehmer Ort.«

Mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit fuhr Crawford fort: »Du hast mir einmal erzählt, Ziel des Angriffs auf Schweinfurt sei es gewesen, alle Kugellagerfabriken zu zerstören, weil diejenigen, die für das Bombardement verantwortlich waren, glaubten, ein Mangel an Kugellagern würde die deutsche Kriegsmaschinerie aufhalten können.«

Angus nickte bedächtig, er wußte, was nun kam. »Das hat man uns gesagt.«

»Dann weißt du auch, daß man nach dem Krieg herausfand, daß es nicht funktionierte. Trotz dieses Angriffs und anderer, die so viele Amerikaner das Leben kosteten, herrschte in Deutschland nie ein Mangel an Kugellagern. Die Politik, die Pläne waren einfach falsch. Ich will damit nicht sagen, daß die Presse damals diese entsetzliche Vergeudung von Menschenleben hätte aufhalten können. Aber heute würde man Fragen stellen - nicht erst nach, sondern schon während der Aktion, und diese Fragen und das öffentliche Bewußtsein würden wie ein Hemmschuh wirken und möglicherweise den Verlust von Menschenleben in Grenzen halten.«

Während Crawford sprach, sah man, wie sich Erinnerung und Schmerz im Gesicht seines Vaters arbeiteten. Er schien unter den Augen der anderen zu schrumpfen, in sich selbst zusammenzusinken, er schien plötzlich wirklich alt zu werden. Dann sagte er mit zitternder Stimme: »Über Schweinfurt haben wir fünfzig B-17 verloren. In jedem Bomber waren zehn Männer. Das waren fünfhundert Tote an einem einzigen Tag. Und in derselben Woche, in diesem Oktober '43, verloren wir noch einmal achtundachtzig Bomber - das sind fast neunhundert Männer.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich war bei diesen Angriffen mit dabei. Das Schlimmste waren die vielen leeren Betten am Abend danach, die Betten der Männer, die nicht zurückgekommen waren. Ich bin in der Nacht oft aufgewacht, habe mich umgesehen und mich gefragt: Warum ich? Warum bin ich zurückgekommen - in dieser Woche und in denen danach - und so viele andere nicht?«

Einen Augenblick lang herrschte betroffenes Schweigen, und Sloane wünschte sich, er hätte nichts gesagt, hätte nicht versucht, in der Diskussion mit seinem Vater einen Punkt zu machen. »Tut mir leid, Dad«, sagte er dann. »Ich wollte keine alten Wunden aufreißen.«

Als hätte er das gar nicht gehört, fuhr sein Vater fort: »Es waren gute Männer. So viele gute Männer. So viele von meinen Freunden.«

Sloane schüttelte den Kopf. »Hören wir auf damit. Wie gesagt, es tut mir leid.«

»Opa?« fragte nun Nicky, der sehr aufmerksam zugehört hatte. »Als du im Krieg all diese Sachen gemacht hast, hast du da große Angst gehabt?«

»O Gott, Nicky! Angst? Das blanke Entsetzen könnte man es wohl eher nennen. Wenn überall die Flak-Granaten explodierten, die einen in winzige Stücke zerreißen könnten... wenn die deutschen Kampfflieger auf uns zurasten und uns mit Maschinengewehren und Kanonen beschossen, daß man meinte, sie hätten nur dich im Visier... wenn andere B-17 abstürzten, manchmal brennend oder in so engen Spiralen, daß man wußte, die Männer würden nicht mehr rechtzeitig genug herauskommen, um noch mit den Fallschirmen abspringen zu können... und das alles in fast neuntausend Metern Höhe, in einer Luft, die so dünn und so kalt war, daß einem der Angstschweiß auf der Haut gefror... Weißt du, da ist mir wirklich manchmal das Herz in die Hose gerutscht.«

Angus hielt inne. Keiner sagte in diesem Augenblick ein Wort, irgendwie war dies anders als seine üblichen Erinnerungen. Dann fuhr er fort, und er sprach nur zu Nicky, der jedes Wort seines Großvaters verschlang. Es schien fast, als würde eine geheime Verbindung zwischen den beiden, dem alten Mann und dem kleinen Jungen, bestehen.

»Ich will dir etwas erzählen, Nicky, etwas, das ich bis jetzt noch keinem einzigen Menschen erzählt habe. Einmal hatte ich solche Angst, daß ich...« Er sah sich um, als würde er um Verständnis bitten. »... Ich hatte solche Angst, daß ich mir in die Hose gemacht habe.«

»Was hast du dann getan?« fragte Nicky.

Jessica wollte aus Sorge um Angus schon das Gespräch unterbrechen, aber Crawford winkte ab.

Die Stimme des alten Mannes wurde langsam wieder kräftiger. Man sah, wie wieder ein wenig von seinem Stolz zurückkehrte. »Was konnte ich denn schon tun? Mir gefiel's zwar nicht, aber ich war nun mal da oben, und deshalb tat ich genau das, weswegen man mich hinaufgeschickt hatte. Ich war der Erste Bombenschütze des Geschwaders. Sobald nun der Geschwaderkommandant das Einsatzgebiet erreicht und uns auf Zielkurs gebracht hatte, sagte er zu mir über Bordfunk: >Jetzt bist du dran, Angus. Also los.< Na, und ich lag da über dem Bombenzielgerät und nahm in aller Ruhe Maß. Weißt du, Nicky, in diesen paar Minuten flog der Bombenschütze die Maschine. Als ich dann das Ziel genau im Fadenkreuz hatte, warf ich meine Bomben ab. Es war das Signal für die anderen Schützen des Geschwaders, ihre Schächte ebenfalls zu öffnen.«

»Ich will dir nur das eine sagen, Nicky«, fuhr Angus fort. »Es ist nicht schlimm, Todesangst zu haben. Das kann den Besten passieren. Wichtig ist nur, daß man dran bleibt, nicht den Kopf verliert und das tut, was man tun muß.«

»Ich weiß, was du meinst, Opa«, erwiderte Nicky im Brustton der Überzeugung, und Crawford fragte sich, wieviel der Junge wirklich verstanden hatte. Vermutlich sehr viel. Nicky war intelligent und sensibel. Und Crawford fragte sich auch, ob er selbst in der Vergangenheit sich die Mühe gemacht hatte, seinem Vater das nötige Verständnis entgegenzubringen.

Er sah auf die Uhr. Zeit zum Aufbruch. Für gewöhnlich traf er um 10 Uhr 30 bei CBA News ein, aber an diesem Morgen mußte er früher dort sein, weil er mit dem Präsidenten über die Chuck Insens Entlassung reden wollte. Die Erinnerung an den Zusammenstoß vom Vorabend nagte noch an ihm, und er war entschlossen wie eh und je, bei der Auswahl der Nachrichten für Veränderung zu sorgen.

Er stand auf, entschuldigte sich bei den anderen und ging nach oben, um sich fertig anzuziehen.

Während er sich eine Krawatte aussuchte - dieselbe, die er auch an diesem Abend vor der Kamera tragen würde - und sorgfältig einen Windsorknoten band, dachte er über seinen Vater nach. Er stellte sich die Szenen vor, die sein Vater beschrieben hatte, in der Luft über Schweinfurt und an anderen Orten. Angus mußte damals Anfang Zwanzig gewesen sein, also halb so alt wie Crawford jetzt war, ein halbes Kind, das noch kaum gelebt und doch schon furchtbare, entsetzliche Angst vor dem Sterben hatte. Crawford hatte etwas Vergleichbares noch nie erlebt, vor allem nicht während seiner Zeit als Journalist in Vietnam.

Er hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil er nicht schon früher versucht hatte, wirklich zu verstehen, was seinen Vater tief im Innersten berührte.

Doch er wurde in seinem Berufsalltag ständig von einer solchen Menge neuer Nachrichten überflutet, daß er dazu neigte, die Nachrichten früherer Zeiten als Geschichte und deshalb als unwichtig für die hektische Gegenwart zu betrachten. Diese Geisteshaltung war offensichtlich ein Berufsrisiko; er hatte sie auch schon bei anderen beobachtet. Denn die Nachrichten früherer Zeiten waren ganz und gar nicht unwichtig, und für seinen Vater würden sie es auch nie werden.

Crawford war gut informiert. Er hatte ein Buch über den Angriff auf Schweinfurt gelesen, Black Thursday war der Titel. Der Autor, Martin Caidin, verglich diesen Angriff mit den »unvergeßlichen Schlachten von Gettysburgh, St. Mihiel und der Argonne, von Midway, The Bulge und Pork Chop Hill«.

Mein Vater, dachte Crawford nun, ist ein Teil dieser langen Geschichte. Unter diesem Blickwinkel betrachtete er das Ganze heute zum ersten Mal.

Er zog das Anzugjackett an, betrachtete sich im Spiegel und ging dann zufrieden wieder nach unten.

Er verabschiedete sich von Jessica und Nicky, ging dann auf seinen Vater zu und sagte zu dem alten Mann: »Steh auf.«

Angus schien verwirrt. Crawford wiederholte die Aufforderung: »Steh auf.«

Angus schob den Stuhl zurück und erhob sich langsam. Dabei nahm er instinktiv, wie er es so oft tat, eine beinahe militärisch stramme Haltung ein.

Crawford ging zu seinem Vater, nahm ihn in den Arm, drückte ihn an sich und küßte ihn auf beide Wangen.

Der alte Mann schien überrascht und verwirrt. »He! Was ist denn jetzt los?«

Crawford sah ihm direkt in die Augen und sagte: »Ich liebe dich, du alter Trottel.«

An der Tür drehte er sich noch einmal um. Auf Angus' Gesicht leuchtete ein feines, glückliches Lächeln. Jessicas Augen waren feucht. Nicky strahlte.

Carlos und Julio waren überrascht, als Crawford Sloane sein Haus früher als gewöhnlich verließ, und meldeten es deshalb sofort Miguel, ihrem Anführer.

Miguel hatte inzwischen ihre Kommandozentrale in Hackensack verlassen und fuhr, zusammen mit einigen anderen, in einem Nissan Kleinbus mit Funktelefon über die George Washington Bridge von New Jersey nach New York hinein.

Miguel blieb gelassen. Er gab, natürlich ebenfalls codiert, den Befehl aus, daß die vorher abgesprochenen Pläne nun in die Tat umzusetzen und der Beginn der Aktion, wenn nötig, zeitlich vorzuverlegen sei. Seine Zuversicht war nicht ohne Berechtigung. Denn was sie vorhatten, war das vollkommen Unerwartete, es stellte jede Logik auf den Kopf. Und es würde die verzweifelte Frage aufwerfen: Warum?

10

Etwa zur gleichen Zeit, als Crawford Sloane in Larchmont sein Haus verließ, wachte Harry Partridge in Kanada auf - in Port Credit in der Nähe von Toronto. Er hatte tief geschlafen und mußte sich in den ersten wachen Augenblicken des neuen Tages überlegen, wo er überhaupt war. Das passierte ihm häufig, denn er war daran gewöhnt, an ständig wechselnden Orten aufzuwachen.

Während langsam Ordnung in seine Gedanken kam, ließ er den Blick über die vertrauten Einzelheiten seines Schlafzimmers wandern. Er wußte, wenn er sich jetzt aufsetzte - wozu er aber noch keine Lust hatte -, könnte er durch das Fenster auf die weite Fläche des Lake Ontario hinaussehen.

Die Wohnung, zu der dieses Schlafzimmer gehörte, war Partridges Basis, sein Zufluchtsort, doch der nomadische Charakter seines Berufs brachte es mit sich, daß er sich immer nur sehr kurze Zeit dort aufhielt. Und obwohl er seine wenigen Habseligkeiten dort aufbewahrte - Kleidung, Bücher, einige gerahmte Fotos und eine Handvoll Erinnerungsstücke an andere Zeiten und andere Orte -, war die Wohnung nicht unter seinem Namen eingetragen. Wie auf dem Schild neben der Klingel sechs Stockwerke tiefer zu lesen war, hieß die offizielle Mieterin V. Williams (V wie Vivien), die auch ständig hier wohnte.

Jeden Monat schickte Partridge Vivien einen Scheck für die Miete. Als Gegenleistung lebte sie in der Wohnung und hielt sie für ihn in Ordnung. Dieses Arrangement hatte auch noch andere Vorteile, die ihnen beiden zugute kamen, nicht zuletzt ihre unkomplizierte Bettbeziehung.

Vivien arbeitete als Krankenschwester im nahegelegenen Queensway Hospital, doch im Augenblick konnte er sie in der Küche hören. Wahrscheinlich kochte sie Tee, weil sie wußte, daß er ihn morgens gern trank, und bald würde sie ihn hereinbringen.

In der Zwischenzeit kehrte er in Gedanken noch einmal zurück zu den Ereignissen des vergangenen Tages und zu dem verspäteten Flug von Dallas nach Toronto...

Bei den Ereignissen auf dem Flughafen von Dallas-Fort Worth hatte er distanziert und rein professionell reagiert und das getan, wofür ihm CBA News ein hohes Gehalt zahlte. Doch als er dann in der Nacht und auch nun am Morgen wieder darüber nachdachte, wurde er sich erst der Tragödie hinter dieser Sensationsmeldung bewußt. Nach letzten Informationen hatten mehr als siebzig Menschen an Bord des Airbus ihr Leben verloren, andere waren schwer verletzt; keine Überlebenden gab es unter den sechs Insassen der Privatmaschine, die mit dem Airbus zusammengestoßen war. An diesem Morgen, das wußte er, gab es viele verzweifelte Familienangehörige und Freunde, die unter Tränen versuchten, mit ihrem plötzlichen Verlust fertigzuwerden.

Der Gedanke erinnerte ihn daran, daß auch er sich manchmal wünschte, er könne weinen, könne Tränen vergießen wie andere auch über all das, was er in seinem Beruf schon erlebt hatte, und eben auch über die Tragödie vom Tag zuvor. Aber es war noch nie geschehen, oder doch nur bei einer einzigen Gelegenheit, die er aber verdrängte, sobald sie ihm in den Sinn kam. Woran er jetzt dachte, war jenes erste Mal, als er über sich selbst und seine scheinbare Unfähigkeit zu weinen nachgrübelte.

Als Harry Partridge am Anfang seiner Reporterlaufbahn in Großbritannien arbeitete, ereignete sich in dem kleinen Bergarbeiterstädtchen Aberfan in Wales eine Tragödie. Eine riesige Abraumhalde war einen Hang hinunter gerutscht und hatte eine Schule unter sich begraben. Hundertsechzehn Kinder starben.

Partridge war kurz nach der Katastrophe am Ort des Geschehens, so daß er noch sah, wie die Toten herausgezogen wurden. Die jammervollen kleinen Gestalten waren von schwarzem übelriechendem Kohleschlamm überzogen und mußten erst abgespritzt werden, bevor man sie zur Identifizierung abtransportieren konnte.

Viele Reporter, Photographen, Polizisten und Leute aus Aberfan, die, wie er, alles mit angesehen hatten, kämpften vergeblich gegen ihre Tränen an und weinten. Auch Harry hätte gerne geweint, aber er konnte nicht, so elend er sich auch fühlte. So machte er seine Arbeit und ging.

Seitdem hatte es zahlreiche ähnliche Szenen gegeben, wo er ebenso Grund zum Weinen gehabt hätte und es nicht tat.

Gab es da ein Defizit, eine innere Kälte in ihm? Diese Frage stellte er einmal einer befreundeten Psychiaterin, mit der er nach einem gemeinsamen Abend die Nacht verbracht hatte.

Sie antwortete ihm: »Wenn mit dir etwas nicht in Ordnung wäre, hättest du die Frage gar nicht gestellt. Was du hast, ist ein Abwehrmechanismus, der deine Gefühle entpersonalisiert. Du nimmst immer nur alles in dich auf und drängst deine Emotionen in irgendeine Ecke deiner Seele ab. Eines Tages werden die Dämme brechen und die Tränen fließen. Und wie sie fließen werden!«

Nun, seine kluge Bettgenossin hatte recht gehabt, der Tag war wirklich gekommen... Aber er wollte einfach nicht daran denken. In diesem Augenblick brachte Vivien das Tablett mit dem Tee herein.

Vivien war Mitte Vierzig, mit kantigen, kräftigen Gesichtszügen und glatten, schwarzen Haaren, in denen sich inzwischen einige graue Strähnen zeigten. Obwohl weder aufregend noch im konventionellen Sinne schön, besaß sie doch ein herzliches, unbeschwertes und großzügiges Wesen. Sie war verwitwet, als Partridge sie kennenlernte, und er nahm an, daß es keine glückliche Ehe gewesen war, doch sie sprach kaum darüber. Ihr einziges Kind, eine Tochter, lebte in Vancouver. Sie kam manchmal zu Besuch, doch nie, wenn Vivien Partridge erwartete.

Partridge mochte Vivien, doch er liebte sie nicht, und er kannte sie lange genug um zu wissen, daß er sie nie lieben würde. Er hatte den Verdacht, daß Vivien in ihn verliebt war und ihn noch mehr lieben würde, wenn er sie dazu ermutigte. Aber so akzeptierte sie die Beziehung, wie sie war.

Während er seinen Tee trank, musterte Vivien ihn kritisch. Sie bemerkte, daß seine immer schon schlanke Gestalt noch dünner geworden war und sein Gesicht, trotz einer gewissen Jungenhaftigkeit, die er sich bewahrt hatte, Falten der Überlastung und Erschöpfung zeigte. Seine widerspenstigen blonden Haare, die inzwischen deutlich grauer geworden waren, mußten dringend geschnitten werden.

Partridge spürte ihren prüfenden Blick und sagte: »Also, leg schon los.«

Vivien schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Sieh dich nur an! Du warst gesund und kräftig, als ich dich losgeschickt habe. Und zweieinhalb Monate später kommst du müde, blaß und unterernährt zurück.«

»Ich weiß.« Er schnitt eine Grimasse. »Es ist das Leben, das ich führe. Zuviel Streß, zuwenig Schlaf, schlechtes Essen und zuviel Alkohol.« Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Da bin ich also, total am Boden wie immer. Was kannst du für mich tun?«

Mit einer Mischung aus Zuneigung und Bestimmtheit antwortete sie: »Zuerst bekommst du ein gutes, gesundes Frühstück. Du kannst im Bett bleiben, ich werd's dir bringen. Zu den anderen Mahlzeiten gibt's nahrhafte Sachen wie Fisch und Geflügel, frisches Gemüse und Obst. Gleich nach dem Frühstück werde ich dir die Haare schneiden. Danach Sauna und Massage, ein Termin ist schon reserviert.«

Partridge legte sich zurück und streckte die Hände in die Luft. »Na wunderbar.«

Vivien fuhr fort: »Ich dachte mir, daß du morgen deine alten Freunde bei CBC besuchen willst, das machst du ja immer. Für den Abend habe ich dann Karten für ein Mozart-Konzert in der Roy Thomson Hall in Toronto. Da kannst du dich ganz der Musik hingeben. Ich weiß, daß du das magst. Ansonsten wirst du dich ausruhen und tun und lassen, was du willst.« Sie hob die Schultern. »Vielleicht hast du zwischendurch mal Lust auf ein bißchen Zärtlichkeit. Du hast es gestern abend noch versucht, aber du warst zu müde. Bist einfach eingeschlafen.«

In diesem Augenblick empfand Partridge mehr Dankbarkeit für Vivien als je zuvor. Sie war wie ein Fels in der Brandung, ein sicherer Hafen. In der Nacht zuvor hatte sie im Flughafen geduldig auf seine verspätete Ankunft gewartet und ihn dann in die Wohnung gebracht.

»Mußt du denn nicht arbeiten?« fragte er.

»Ich habe mir ab heute Urlaub genommen. Eine andere Schwester wird mich vertreten.«

»Vivien, du bist unersetzlich.«

Nachdem Vivien gegangen war und Partridge sie in der Küche herumhantieren hörte, kehrten seine Gedanken zum vergangenen Tag zurück.

Noch in der Abfertigungshalle hatte ihn ein Anruf von Crawford Sloane erreicht, der ihm gratulieren wollte.

Crawf hatte verlegen geklungen, wie so oft, wenn sie miteinander sprachen. Es gab Zeiten, da hätte Partridge ihm am liebsten gesagt: »Hör mal, wenn du glaubst, daß ich dir wegen irgendwas böse bin, wegen Jessica oder dem Job oder sonstwas, vergiß es. Ich bin's nicht und war's auch nie.« Aber er wußte, daß eine solche Bemerkung ihre Beziehung nur noch mehr belasten würde, und wahrscheinlich würde Crawf ihm sowieso nicht glauben.

In Vietnam hatte Partridge sehr wohl gewußt, daß Sloane sich nie weit von Saigon entfernte, um so oft wie möglich in den CBA News auftreten zu können. Doch es war ihm damals ebenso gleichgültig wie jetzt. Er hatte seine eigenen Prioritäten. Eine davon war fast als Sucht zu bezeichnen - die Sucht nach den Bildern und den Geräuschen des Krieges.

Der Krieg... das blutige Schlachtgetümmel... das Donnern und Blitzen schwerer Artillerie, das schrille Pfeifen und furchterregende Krachen fallender Bomben, das überlaute Knattern der Maschinengewehre, wenn man nicht wußte, wer schoß, und von wo und auf wen... die beinahe sinnliche Erregung des Angegriffenwerdens, obwohl man vor Angst zitterte... dies alles faszinierte Partridge, es brachte sein Blut in Wallung.

Er hatte dieses Gefühl in Vietnam entdeckt, seiner ersten Kriegserfahrung. Seitdem wurde er es nicht mehr los. Mehr als einmal hatte er sich gesagt: Gib's doch zu - du bist verrückt danach; und sich dann eingestanden: Ja, ich bin's, ich gottverdammter Trottel.

Ob nun Trottel oder nicht, er hatte sich nie gewehrt, von CBA an Kriegsschauplätze geschickt zu werden. Er wußte, daß manche Kollegen ihn »Päng-päng« nannten, eine leicht verächtliche Bezeichnung für einen Fernsehreporter, den die Kriegssucht gepackt hatte, eine schlimmere Sucht, so hieß es manchmal, als die nach Heroin und Kokain, aber mit einem fast ebenso vorhersehbaren tödlichen Ausgang.

Doch in der Zentrale von CBA News wußte man auch, daß Harry Partridge für diese Art der Berichterstattung der Beste war, und das war schließlich das wichtigste.

Es hatte ihm deshalb nicht allzuviel ausgemacht, als Sloane zum Chefsprecher der National Evening News befördert wurde. Wie jeder andere Korrespondent hatte auch Partridge mit dem Gedanken ge spielt, eines Tages in diesem Stuhl an der Spitze zu sitzen, als aber dann Sloane das Glück hatte, fühlte Partridge sich in seiner Position so wohl, daß es ihm gleichgültig war.

Doch nun war die Frage nach dem Job des Chefsprechers plötzlich und unerwartet wieder aufgetaucht. Vor zwei Wochen hatte Chuck Insen ihn in einer »streng vertraulichen Unterhaltung«, wie der Sendeleiter es nannte, wissen lassen, daß es innerhalb der National Evening News zu größeren Veränderungen kommen könne. »Falls das passiert«, hatte Insen ihn gefragt, »hättest du Lust, aus der Kälte der großen Welt zurückzukommen und Chefsprecher der National Evening News zu werden? Du kannst das verdammt gut.«

Partridge war so überrascht gewesen, daß er nicht wußte, wie er reagieren sollte. Doch dann hatte Insen hinzugefügt: »Du mußt nicht gleich antworten. Ich will nur, daß du darüber nachdenkst, falls ich später noch einmal darauf zurückkomme.«

Über seine eigenen Kanäle hatte Partridge dann von dem Machtkampf zwischen Chuck Insen und Crawford Sloane erfahren. Aber auch falls Insen gewinnen sollte, was eher unwahrscheinlich schien, war sich Partridge ganz und gar nicht sicher, ob ihm der Job des Chefsprechers zusagte und ob er ihn überhaupt ertragen konnte. Vor allem, so sagte er sich halb im Spaß, solange noch an so vielen Orten der Welt Gewehrschüsse krachten.

Immer wenn Partridge über seine persönliche Beziehung zu Crawford Sloane nachdachte, kam unausweichlich die Erinnerung an Jessica. Doch es blieb immer nur eine Erinnerung, weil keine Beziehung, nicht einmal mehr ein gelegentlicher Kontakt, zwischen ihnen bestand, und auf gesellschaftlicher Ebene sahen sie sich höchstens ein- oder zweimal im Jahr. Partridge hatte auch nie Sloane die Schuld am Verlust Jessicas gegeben, denn er wußte, daß seine eigene törichte Haltung der Grund dafür gewesen war. Als er Jessica hätte heiraten können, hatte er sich dagegen entschieden, und so war Sloane an seine Stelle getreten, der zu der Zeit ganz offensichtlich der Klügere und Weitsichtigere von beiden gewesen war...

Vivien kam wieder ins Schlafzimmer und brachte ihm sein Frühstück, das aus mehreren Gängen bestand. Es war, wie sie versprochen hatte, eine sehr nahrhafte Mahlzeit: frischgepreßter Orangensaft und dicker, heißer Porridge mit Milch und braunem Zucker, gefolgt von pochierten Eiern auf Vollkorntoast zu starkem, schwarzen Kaffee aus frischgemahlenen Bohnen, und schließlich wieder Toast und Honig aus Alberta.

Daß sie an den Honig gedacht hatte, rührte Partridge. Er erinnerte ihn, und das hatte sie auch beabsichtigt, an seine Heimatprovinz, wo er bei einem lokalen Radiosender auch seine Journalistenlaufbahn begonnen hatte. Nun fiel ihm wieder ein, daß er Vivien einmal von seiner Arbeit bei einem sogenannten 20/20 Sender erzählt hatte. Das Kürzel bedeutete, daß das übliche Rock'n'Roll-Programm alle zwanzig Minuten von ein paar laut herausgeschrienen Schlagzeilen aus dem AP-Telegramm unterbrochen wurde. Ein junger Harry Partridge war damals der Schreihals gewesen. Er lächelte bei dieser Erinnerung; es schien schon so lange her.

Als er nach dem Frühstück noch im Pyjama durch die Wohnung streifte, sagte er plötzlich: »Das wird ja immer schäbiger hier. Ein neuer Anstrich und neue Möbel wären dringend notwendig.«

»Ich weiß«, gab Vivien zu. »Ich hab' auch schon die Hausbesitzer wegen einer Renovierung gefragt. Aber da hieß es, für diese Wohnung seien noch keine Investitionen vorgesehen.«

»Die können mich doch mal! Wir machen das ohne die Besitzer. Such dir einen Maler und bestell, was du brauchst. Ich laß dir genügend Geld da, bevor ich wieder verschwinde.«

»Du bist bei solchen Sachen immer so großzügig«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Hast du eigentlich immer noch dieses einmalige Privileg, keine Einkommensteuer zahlen zu müssen?«

Er grinste. »Aber klar doch.«

»An niemand und nirgends?«

»Keinen Cent, und das ist vollkommen legal und ehrlich. Ich gebe keine Steuererklärung ab, weil ich nicht muß. Spart 'ne Menge Zeit und Geld.«

»Ich hab' nie verstanden, wie du das schaffst.«

»Dir kann ich's ja ruhig erzählen«, erwiderte er, »obwohl ich sonst nicht darüber rede. Leute, die Einkommensteuer zahlen, werden neidisch; man ist im Elend eben nicht gern allein.«

Entscheidend dafür sei, so erklärte er nun, daß er als kanadischer Staatsbürger mit einem kanadischen Paß im Ausland arbeite.

»Die meisten Leute wissen nicht, daß die Vereinigten Staaten als einziges großes Land der Welt ihre Bürger besteuern, gleichgültig wo sie leben. Auch wenn Amerikaner außerhalb der Vereinigten Staaten wohnen, müssen sie an Uncle Sam Steuern zahlen. In Kanada ist das anders. Kanadier, die das Land verlassen, sind in Kanada nicht mehr steuerpflichtig, und sobald das Finanzamt davon überzeugt ist, daß du nicht mehr da bist, hat es kein Interesse mehr an dir. Die Briten machen das genauso.«

»Bei mir läuft das nun so«, fuhr er fort, »daß CBA News mein Gehalt monatlich auf mein Konto bei der Chase Manhattan einzahlt. Von dort überweise ich das Geld auf Konten in anderen Ländern - auf den Bahamas, in Singapur, auf den Kanalinseln, wo das Geld steuerfrei Zinsen bringt.«

»Was ist mit Steuern in den Ländern, in denen du arbeitest?«

»Als Fernsehjournalist bleibe ich nie lange genug, um dort steuerpflichtig zu werden. Das trifft sogar auf die USA zu, vorausgesetzt, daß ich mich nie länger als 120 Tage im Jahr dort aufhalte, und du kannst sicher sein, daß ich nie so lange bleibe. Und in Kanada habe ich ja keinen offiziellen Wohnsitz, nicht einmal den hier. Das ist ganz allein deine Wohnung, Viv, wie wir beide wissen.«

Schließlich fügte er hinzu: »Wichtig ist nur, daß man keine Steuern hinterzieht. Das ist nicht nur illegal, sondern auch dumm und das Risiko nicht wert. Steuern umgehen ist etwas ganz anderes...« Er hielt inne. »Moment mal. Ich hab' da was.«

Partridge zog einen zusammengefalteten, abgenutzten Zeitungsausschnitt aus seiner Brieftasche. »Das ist ein Zitat aus einer Entscheidung aus dem Jahr 1934, getroffen von einem der größten Juristen Amerikas, Judge Learned Hand. Viele andere Richter haben sich bereits darauf berufen.«

Er las laut vor: »Jeder hat das Recht, seine Angelegenheiten so zu regeln, daß er so wenig Steuern wie möglich zahlt; er ist nicht verpflichtet, den für den Fiskus vorteilhaftesten Weg zu wählen; ja es existiert nicht einmal die patriotische Pflicht, soviel Steuern wie möglich zu zahlen.«

»Jetzt verstehe ich, warum die Leute dich beneiden«, sagte Vivien. »Gibt es beim Fernsehen noch andere, die das auch tun?«

»Du glaubst gar nicht, wie viele. Der Steuervorteil ist einer der Gründe, warum Kanadier gern im Ausland für amerikanische Sender arbeiten.«

Es gab noch andere Gründe, die er nicht erwähnte, nicht zuletzt die Gehälter, die bei den amerikanischen Sendern um einiges höher waren. Für einen amerikanischen Sender zu arbeiten, bedeutete aber auch, und das war wohl das Wichtigste, daß man »den großen Sprung« geschafft hatte und mit einem Mal im erregenden Mittelpunkt des Weltgeschehens stand.

Die amerikanischen Sender arbeiteten ihrerseits gern mit kanadischen Korrespondenten, denn die hatten bei CBC und CTV eine solide Ausbildung genossen. Außerdem stellte sich mit der Zeit heraus, daß die amerikanischen Zuschauer den kanadischen Akzent mochten; und das war mit ein Grund für die Popularität von Leuten wie Peter Jennings, Robert MacNeil, Morley Safer, Allen Pizzey, Barrie Dunsmore, Peter Kent, John Blackstone, Hilary Bowker, Harry Partridge und noch anderen mehr.

Während Partridge weiter durch die Wohnung schlenderte, entdeckte er auf einer Anrichte die Karten für das MozartKonzert. Er wußte, daß es ihm gefallen würde, und war einmal mehr dankbar dafür, daß Vivien seinen Geschmack immer so gut traf.

Dankbar war er auch für den dreiwöchigen Urlaub - eine Zeit des erholsamen Nichtstuns, wie er glaubte.

11

An jedem Donnerstagvormittag ging Jessica zum Einkaufen, und sie hatte nicht vor, an diesem Tag eine Ausnahme zu machen. Als Angus dies erfuhr, wollte er sie begleiten. Nicky, der schulfrei hatte, bat, ebenfalls mitkommen zu dürfen, weil er mit seinem Großvater Zusammensein wollte.

»Mußt du denn nicht üben?« fragte Jessica skeptisch.

»Doch, Mom. Aber das kann ich später auch noch. Ich habe ja Zeit.«

Da Jessica wußte, daß Nicky seine Musik sehr ernst nahm und manchmal bis zu sechs Stunden täglich übte, hatte sie nichts dagegen.

Kurz vor 11 Uhr verließen die drei in Jessicas Volvo das Haus an der Park Avenue, also etwa eineinviertel Stunden nach Crawfords Aufbruch. Es war ein wunderbarer Vormittag, die Blätter der Bäume leuchteten in herbstlichen Farben und die Sonne glitzerte auf dem Long Island Sound.

Florence, das Dienstmädchen der Sloanes, war zu der Zeit bereits im Haus und sah durch ein Fenster zu, wie die drei abfuhren. Dabei bemerkte sie, daß ein Auto, das in einer Seitenstraße geparkt stand, ebenfalls losfuhr und dem Volvo folgte. Doch in diesem Augenblick maß sie dem zweiten Auto noch keine Bedeutung zu.

Wie jeden Donnerstag fuhr Jessica zuerst zum Grand Union Supermarkt an der Chatsworth Avenue. Sie stellte den Volvo auf dem Kundenparkplatz ab und ging mit Angus und Nicky hinein.

Die beiden Kolumbianer Julio und Carlos in dem Chevrolet Celebrity waren dem Kombi in sicherem Abstand gefolgt.

Carlos, der zuvor bereits die Abfahrt gemeldet hatte, griff nun wieder zum Funktelefon und berichtete, daß »die drei Pakete im Container Nummer eins« seien.

An diesem Tag saß Julio am Steuer. Er fuhr jedoch nicht auf den Kundenparkplatz des Supermarkts, sondern blieb auf der Straße davor, um von dort aus die Umgebung beobachten zu können. Einem früheren Befehl Miguels folgend, stieg Carlos nun aus und ging zu Fuß zu einem Beobachtungsposten in der Nähe des Supermarkts. Im Gegensatz zur eher lässigen Kleidung der anderen Tage trug er heute einen ordentlichen braunen Anzug mit Krawatte.

Sobald Carlos an Ort und Stelle war, fuhr Julio den Chevrolet weg und versteckte ihn, zur Sicherheit, falls er beobachtet worden war, in ihrem abgelegenen Hauptquartier in Hackensack.

Der erste der beiden Anrufe erreichte Miguel in dem Nissan Kleinbus, der in der Nähe des Bahnhofs von Larchmont geparkt stand. In der Menge der anderen Autos, die New Yorker Pendler dort abgestellt hatten, fiel der Transporter nicht weiter auf. Miguel hatte Luis, Rafael und Baudelio bei sich, doch von den vier Insassen war kaum etwas zu sehen, weil die Heck- und Seitenscheiben mit dünner, dunkler Plastikfolie überklebt waren. Luis, der Fahrkünstler, saß am Steuer.

Als sie erfuhren, daß drei Personen das Haus verlassen hatten, rief Rafael: »Ay! Das heißt, daß der viejo mit dabei ist. Verdammt, der wird uns im Weg sein.«

»Dann legen wir den alten Trottel eben um«, sagte Luis und griff sich an die Ausbuchtung in seiner Wildlederjacke. »Eine Kugel reicht.«

»Du befolgst genau meine Befehle«, bellte Miguel ihn an. »Tu nichts, ohne daß ich es dir sage.« Er wußte, daß in Rafael und Luis beständig eine versteckte Aggressivität lauerte, wie ein schwelendes Feuer, das jeden Augenblick auflodern konnte. Der schwere und kräftige Rafael war eine Zeitlang Profiboxer gewesen und trug aus dieser Zeit deutlich sichtbare Narben. Luis war Exsoldat der kolumbianischen Armee - eine harte Schule. Es war durchaus möglich, daß die Aggressivität der beiden Männer später einmal nützlich würde, aber bis dahin mußte man sie im Zaum halten.

Was Miguel im Augenblick mehr Sorgen machte, war das Problem der überraschend dazugekommenen dritten Person. In ihrem Plan waren zu diesem Zeitpunkt nur die Frau und der Junge vorgesehen. Denn von Anfang an waren die beiden, und nicht Crawford Sloane, das Ziel der Operation gewesen. Sie sollten entführt und für spätere noch unbestimmte Forderungen als Geiseln gehalten werden.

Die Frage war nun, was mit dem alten Mann passieren sollte. Ihn zu töten, wie Luis vorgeschlagen hatte, wäre sehr einfach, konnte aber auch neue Probleme schaffen. Höchstwahrscheinlich würde Miguel die endgültige Entscheidung erst treffen, wenn sie unausweichlich wurde. Doch dieser Augenblick stand kurz bevor.

In einer Hinsicht hatten sie Glück: Die Frau und der Junge waren zusammen. Die Wochen der Beschattung hatten gezeigt, daß die Frau immer am Donnerstagmorgen zum Einkaufen ging. Daß der Junge schulfrei hatte, war ebenfalls bekannt. Carlos, der sich am Telefon als Vater eines Schülers ausgab, hatte dies bei der Grammar School in der Chatsworth Avenue, die Nicky besuchte, in Erfahrung gebracht. Fraglich war nur, ob sie die Frau und den Jungen zusammenbringen konnten. Doch nun hatten die beiden, ohne es zu wissen, dieses Problem für sie gelöst.

Sobald Carlos meldete, daß alle drei den Supermarkt betreten hatten, nickte Miguel Luis zu. »Okay. Fahr los!«

Luis legte den Gang ein. Ihr Ziel war der nur wenige Blocks entfernte Parkplatz des Supermarkts.

Während der Fahrt drehte Miguel sich um und sah Baudelio an, den Amerikaner in der Medellin-Truppe, der ihm immer noch Sorgen machte.

Baudelio - so lautete der ihm zugewiesene Deckname - war Mitte Fünfzig, sah aber zwanzig Jahre älter aus. Mit seinem ausgemergelten, hohlwangigen Gesicht, der bleichen Haut und dem hängenden, ungepflegten Schnurrbart glich er fast einem Gespenst. Er war früher Arzt gewesen, ein in Boston praktizierender Anästhesiespezialist, und vor allem ein Säufer. Wenn man ihn sich selbst überließ, war er nur noch Säufer, aber kein Arzt mehr, das auch schon lange nicht mehr offiziell. Vor zehn Jahren hatte man ihm auf Lebzeiten die Approbation als Arzt entzogen, weil er unter Alkoholeinfluß einem Patienten auf dem Operationstisch eine zu hohe Narkosedosis verabreicht hatte. Bis dahin hatten die Kollegen ihn bei ähnlichen Vorfällen immer gedeckt, doch diesmal starb der Patient, und das konnte nicht mehr vertuscht werden.

In den Vereinigten Staaten gab es danach für ihn keine Zukunft mehr, auch besaß er weder Familie noch Kinder. Seine Frau hatte ihn bereits einige Jahre zuvor verlassen. Da er schon öfters in Kolumbien gewesen war und ihm auch sonst nichts Besseres einfiel, beschloß er, dorthin zu gehen. Nach einiger Zeit entdeckte er, daß er seine beachtlichen medizinischen Fähigkeiten für zwielichtige, manchmal auch kriminelle Zwecke einsetzen konnte, ohne je Verdacht zu erregen. In seiner Situation konnte er nicht wählerisch sein, und er nahm deshalb alles, was sich ihm bot. Nebenbei schaffte er es, durch die Lektüre medizinischer Fachzeitschriften in seinem Fachgebiet auf dem neuesten Stand zu bleiben. Und dies war der Grund, warum das Medellin-Kartell, für das er zuvor schon tätig gewesen war, ihn für dieses Unternehmen ausgesucht hatte.

Miguel kannte diese Vorgeschichte und hatte den Befehl, Baudelio während der Aktion vom Alkohol fernzuhalten. Zu diesem Zweck mußte der Ex-Doktor täglich eine Antabuse-Tablette schlucken. Wer nach der Einnahme dieser Tabletten Alkohol trank, dem wurde entsetzlich schlecht, und das wußte Baudelio sehr genau.

Da es unter Alkoholikern üblich war, die Tablette heimlich wieder auszuspucken, hatte Miguel den Auftrag, sehr genau darauf zu achten, daß Baudelio sie auch wirklich schluckte. Miguel kümmerte sich auch darum, aber ohne sonderliche Begeisterung. Da er in der relativ kurzen verfügbaren Zeit ein Fülle von Pflichten zu erfüllen hatte, konnte er auf die einer Krankenschwester durchaus verzichten.

Ebenfalls in Hinblick auf Baudelios Labilität beschloß Miguel, ihm keine Waffe anzuvertrauen. So war er der einzige Unbewaffnete in der Truppe.

Mit einem argwöhnischen Blick wandte Miguel sich an Baudelio: »Bist du bereit? Weißt du, was zu tun ist?«

Der Arzt nickte. Ein Rest seines beruflichen Stolzes flackerte wieder auf. Er sah Miguel in die Augen und sagte: »Ich weiß genau, was notwendig ist. Wenn es erst so weit ist, kannst du dich auf mich verlassen und dich ganz auf das konzentrieren, was du zu tun hast.«

Miguel war zwar noch nicht ganz überzeugt, aber er drehte sich wieder um. Der Supermarkt lag direkt vor ihnen.

Carlos sah den Nissan Kleinbus kommen. Der Parkplatz war noch nicht überfüllt, und Julio fand eine freie Bucht direkt neben Jessicas Volvo. Während er einparkte, ging Carlos in den Supermarkt.

Jessica deutete auf den halbvollen Einkaufswagen. »Wenn ihr noch irgendwas Besonderes wollt, werft es einfach rein.«

»Opa mag Kaviar«, sagte Nicky.

»Wie konnte ich das nur vergessen«, sagte Jessica. »Dann holen wir welchen.«

Sie gingen zur Feinkostabteilung, wo sie eine große Auswahl verschiedener Kaviarsorten entdeckten. Angus sah sich die Preise an und sagte: »Das ist aber furchtbar teuer.«

»Weißt du überhaupt, wieviel dein Sohn verdient?« fragt Jessica leise.

Der alte Mann lächelte, und als er antwortete, flüsterte er ebenfalls: »Ich hab' irgendwo was von knappen drei Millionen pro Jahr gelesen.«

»Knapp ist gut.« Jessica lachte; in Angus' Gesellschaft fühlte sie sich immer wohl. »Dann laß uns doch ein bißchen was davon auf den Kopf hauen.« Sie deutete auf eine Zweihundertgrammdose Belugakaviar zum Preis von $ 199,95. »Den gibt's heute abend zum Aperitif.«

In diesem Augenblick bemerkte Jessica einen jungen, schlanken und elegant gekleideten Mann, der auf eine Frau in der Nähe zuging. Er schien sie etwas zu fragen. Die Frau schüttelte den Kopf. Er wandte sich an eine zweite und erhielt offensichtlich wieder eine negative Antwort. Neugierig geworden sah Jessica nun, daß der junge Mann auf sie zukam.

»Entschuldigen Sie, Madam«, sagte Carlos. »Ich suche jemanden.« Er hatte Jessica die ganze Zeit im Auge gehabt, hatte aber absichtlich zuerst andere angesprochen, damit sie auf ihn aufmerksam wurde.

Jessica bemerkte einen spanischen Akzent, aber das war in New York nichts Ungewöhnliches. Ihr fielen auch die harten, kalten Augen des Mannes auf, doch das ging sie nichts an.

»Ja?« erwiderte sie knapp.

»Eine Mrs. Crawford Sloane.«

Jessica war überrascht. »Ich bin Mrs. Sloane.«

»Tut mir leid, Madam, aber ich habe schlechte Nachrichten für Sie.« Carlos machte ein ernstes Gesicht, er spielte seine Rolle sehr gut. »Ihr Gatte hatte einen Unfall. Er ist schwer verletzt. Ein Krankenwagen hat ihn ins Doctors Hospital gebracht. Ich soll Sie begleiten. Ihr Dienstmädchen sagte mir, daß sie hier sind.«

Jessica stockte der Atem. Sie wurde totenbleich und griff sich instinktiv an die Kehle. Nicky, der eben noch die letzten Worte verstanden hatte, sah sie verwirrt an.

Angus war nicht weniger entsetzt, erholte sich aber als erster wieder und ergriff die Initiative. Er deutete auf den Einkaufswagen und sagte: »Jessica, laß alles stehen und liegen. Gehen wir.«

»Es geht um Dad, oder?« fragte Nicky.

»Leider«, erwiderte Carlos mit ernster Miene.

Jessica legte Nicky den Arm um die Schulter. »Ja, mein Liebling. Wir fahren jetzt zu ihm.«

»Bitte kommen Sie, Mrs. Sloane«, sagte Carlos. Jessica und Nicky, die von der unerwarteten, schrecklichen Nachricht noch immer etwas benommen waren, gingen schnell mit dem jungen Mann in dem braunen Anzug zum Ausgang. Angus folgte. Irgend etwas stimmte nicht, aber er wußte nicht, was.

Draußen auf dem Parkplatz ging Carlos den anderen voraus auf den Nissan Kleinbus zu. Die Türen auf der dem Volvo zugewandten Seite waren geöffnet. Carlos bemerkte, daß der Motor lief und Luis am Steuer saß. Der Schatten im hinteren Teil mußte Baudelio sein. Rafael und Miguel waren nicht zu sehen.

Sobald sie neben dem Nissan standen, sagte Carlos: »Wir nehmen diesen Wagen, Madam. Es ist... «

»Nein, nein!« Jessica suchte nervös und verängstigt in ihrer Handtasche nach den Autoschlüsseln. »Ich fahre mit meinem Auto. Ich weiß, wo das Doctors Hospital...«

Carlos stellte sich zwischen Jessica und den Volvo. Er hielt sie am Arm und sagte: »Madam, es wäre besser, wenn Sie... «

Jessica versuchte, sich loszumachen, doch Carlos packte sie fester und stieß sie vorwärts. »Lassen Sie das!« rief sie entrüstet. »Was soll denn das?« Sie dachte zum ersten Mal über die schreckliche Nachricht hinaus.

Angus, der ein paar Schritte zurückgeblieben war, wußte plötzlich, was nicht stimmte. »Er ist schwer verletzt. Ein Krankenwagen hat ihn ins Doctors Hospital gebracht«, hatte der fremde junge Mann im Supermarkt gesagt.

Aber das Doctors Hospital nahm keine Notfälle auf, Angus wußte das zufällig, weil er im Jahr zuvor einige Monate lang einen alten Kameraden aus der Luftwaffe, der dort Patient war, besucht hatte und sich deshalb gut auskannte. Das Doctors Hospital war groß und berühmt; es lag in der Nähe des Grade Mansion, dem Sitz des Bürgermeisters, und an der Straße, auf der Crawford zur Arbeit fuhr. Aber Notfälle wurden ins New York Hospital einige Blocks weiter südlich eingeliefert... Jeder Krankenwagenfahrer wußte das.

Also log der junge Mann! Die Mitteilung im Supermarkt war nur ein Vorwand gewesen! Und nun, hier draußen, ging es auch nicht mit rechten Dingen zu. Zwei Männer, die Angus ganz und gar nicht gefielen, waren plötzlich aus dem Kleinbus aufgetaucht. Der eine, ein riesiger Kerl, hatte Jessica gepackt und zerrte sie nun zusammen mit dem ersten Mann in den Bus! Nicholas, der etwas abseits stand, war noch unbeteiligt.

»Jessica, nicht!« rief Angus. »Nicky, lauf! Hol...«

Der Satz blieb unvollendet. Der Griff einer Pistole krachte Angus auf den Kopf. Er spürte einen heftigen, dumpfen Schmerz, alles drehte sich um ihn, dann fiel er bewußtlos zu Boden. Luis war blitzschnell aus dem Auto gesprungen, hatte Angus von hinten angegriffen und sich im selben Augenblick Nicky geschnappt.

Jessica begann zu schreien: »Hilfe! Ist denn da niemand?

Helft uns doch!«

Der stämmige Rafael, der Jessica zusammen mit Carlos gepackt hatte, hielt ihr seine riesige Linke vor den Mund und stieß sie mit der Rechten in den Bus. Dann sprang er selber hinein und hielt sie fest, während sie schrie und sich loszureißen versuchte. Aus ihren Augen sprach die nackte Angst. Rafael fauchte Baudelio an: »Apürate!«

Der Exdoktor hatte eine geöffnete Arzttasche neben sich und nahm nun eine Gazekompresse heraus, die er Augenblicke zuvor mit Äthylenchlorid getränkt hatte. Er hielt Jessica die Kompresse über Mund und Nase. Sofort fielen ihr die Augen zu, ihr Körper wurde schlaff, und sie verlor die Besinnung. Baudelio grunzte zufrieden, obwohl er wußte, daß die Wirkung des Äthylenchlorid nur fünf Minuten anhalten würde.

Inzwischen war auch Nicholas, der sich heftig wehrte, im Wagen. Carlos hielt in fest, während er die gleiche Behandlung wie Jessica erhielt.

Baudelio arbeitete schnell. Mit einer Schere schnitt er den Ärmel von Jessicas Kleid auf und injizierte ihr den Inhalt einer Spritze intramuskulär in den Oberarm. Die Spritze enthielt Midazo lam, ein starkes Beruhigungsmittel, das die Geiseln für mindestens eine Stunde betäuben würde. Dem Jungen gab er eine ähnliche Injektion.

In der Zwischenzeit hatte Miguel den bewußtlosen Angus zum Bus gezerrt. Rafael, der sich nun nicht mehr um Jessica kümmern mußte, sprang heraus und zog seine Pistole, ein Browning Automatic. Er entsicherte sie und drängte Miguel: »Laß mich ihn erledigen!«

»Nein, nicht hier!« Die ganze Aktion war unglaublich schnell abgelaufen, kaum eine Minute war vergangen. Miguel stellte erstaunt fest, daß es bis jetzt noch keine Zeugen gegeben hatte. Die beiden Autos hatten ihnen Schutz vor neugierigen Blicken geboten, und Passanten waren in der kurzen Zeit noch nicht aufgetaucht. Miguel, Carlos, Rafael und Luis waren bewaffnet, und im Wagen lag eine Maschinenpistole vom Typ Beretta, für den Fall, daß sie sich den Weg freischießen mußten. Doch damit war nicht mehr zu rechnen, und das gab ihnen einen guten Vorsprung vor möglichen Verfolgern. Wenn sie aber den alten Mann, der aus seiner Kopfwunde heftig blutete, auf dem Parkplatz zurückließen, würde sofort Alarm ausgelöst werden. Kurz entschlossen befahl Miguel: »Rein mit ihm.«

Es dauerte nur Sekunden. Doch beim Einsteigen merkte Miguel, daß er sich in bezug auf mögliche Zeugen getäuscht hatte. Eine alte weißhaarige Frau stand, auf einen Stock gestützt, in etwa zwanzig Metern Entfernung zwischen zwei Autos und sah ihnen zu. Sie schien unsicher und verwirrt.

Als Luis losfuhr, sah auch Rafael die alte Frau. Mit einer schnellen Bewegung packte er die Beretta, hob sie und richtete sie durch das Rückfenster auf die Zeugin. Doch rief Miguel: »Nein!«. Die Frau war ihm gleichgültig, doch wollte er die Chance, auch jetzt noch ohne großes Aufsehen zu entkommen, nicht aufs Spiel setzen. Er schob Rafael zur Seite und rief mit fröhlicher Stimme zum Fenster hinaus: »Denken Sie sich nichts. Wir drehen nur einen Film.«

Er sah, wie sich ein erleichtertes Lächeln auf dem Gesicht der alten Frau ausbreitete. Dann lag der Parkplatz bereits hinter ihnen und wenig später auch die Stadtgrenze von Larchmont. Luis fuhr geschickt und ohne Zeit zu verlieren. Fünf Minuten später rasten sie schon über den Interstate 95, den New England Thruway, nach Süden.

12

Früher war Priscilla Rhea einer der hellsten Köpfe in Larchmont gewesen. Als Lehrerin hatte sie einigen Schülergenerationen aus der Umgebung die Grundbegriffe des Wurzelziehens und der quadratischen Gleichungen beigebracht und sie in die Geheimnisse - bei ihr klang das immer wie die Suche nach dem Heiligen Gral - des algebraischen Werts von x und y eingeführt. Sie gab ihnen aber auch ein Gefühl für Bürgerpflicht und soziale Verantwortung mit auf den Weg.

Doch das alles war vor Priscillas Pensionierung vor fünfzehn Jahren, bevor Alter und Krankheit zuerst ihrem Körper und dann ihrem Geist Tribut abverlangten. Nun war sie weißhaarig und gebrechlich, ging mühsam am Stock und hatte erst kürzlich voller Abscheu über ihren Verstand gesagt, er arbeite »mit der Geschwindigkeit eines dreibeinigen Esels, der einen Hügel hinauftrottet«.

Trotzdem strengte sie nun ihren Verstand an, so gut es eben ging.

Sie hatte beobachtet, wie zwei Personen, eine Frau und ein Junge, offensichtlich gegen ihren Willen in eine Art Kleinbus gezerrt wurden. Sie wehrten sich, und Priscilla glaubte, die Frau schreien gehört zu haben; aber sie war sich nicht ganz sicher, da sich, neben allem anderen, auch ihr Gehör verschlechtert hatte. Dann wurde eine dritte Person, ein offensichtlich verletzter und bewußtloser Mann, in den Bus gezerrt, der daraufhin sofort losfuhr.

Ihre verständliche Besorgnis über den Vorfall legte sich wieder, als sie erfuhr, daß alles nur Teil eines Films sei. Das war einleuchtend. Heutzutage schienen die Leute von Film und Fernsehen ja überall zu sein, sie drehten ihre Geschichten an realen Schauplätzen und interviewten sogar die Leute auf der Straße für die Fernsehnachrichten.

Sobald der Bus losgefahren war, sah sie sich nach den Kameras und den Filmleuten um, die die Szene eigentlich hätten aufnehmen müssen. Aber sie entdeckte niemand, sosehr sie sich auch bemühte. Wenn wirklich Filmleute dagewesen wären, so überlegte sie, hätten die gar nicht so schnell verschwinden können.

Am liebsten wäre es Priscilla gewesen, wenn sie nie auf dieses Problem gestoßen wäre. Denn sie wußte nicht genau, ob sie nicht einfach nur etwas durcheinandergebracht hatte, wie es ihr so oft passierte. Am vernünftigsten wäre es, dachte sie, jetzt einfach in den Supermarkt zu gehen, ihre paar Einkäufe zu erledigen und sich nur um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Aber dagegen stand ihr lebenslanges Credo, daß man sich nicht vor der Verantwortung drücken dürfe, und eigentlich durfte sie es auch jetzt nicht. Sie wünschte sich nur, jemand zu haben, den sie um Rat fragen konnte, und genau in diesem Augenblick sah sie Erica McLean, eine ihrer ehemaligen Schülerinnen, die eben auf dem Weg in den Supermarkt war.

Erica, inzwischen verheiratet und Mutter, hatte es eilig, doch sie blieb stehen und fragte höflich: »Wie geht es Ihnen, Miss Rhea?« (Niemand, der je bei Miss Rhea in die Schule gegangen war, wagte es, sie mit dem Vornamen anzusprechen.)

»Ich bin etwas verwirrt, meine Liebe«, erwiderte Priscilla.

»Warum denn, Miss Rhea?«

»Ich habe da etwas gesehen... Aber ich bin mir nicht sicher, was. Ich möchte gern wissen, was du davon hältst.« Priscilla beschrieb den Vorfall, den sie noch erstaunlich gut im Gedächtnis behalten hatte.

»Sind Sie sicher, daß kein Filmteam mit dabei war?«

»Ich habe keins gesehen. Und du?«

»Nein.« Innerlich stöhnte Erica McLean auf. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, daß die alte Priscilla einer Halluzination zum Opfer gefallen war, und es war einfach ihr, Ericas, Pech, daß sie gerade in diesem Augenblick vorbeikommen mußte. Aber stehenlassen konnte sie die arme Alte auch nicht, denn sie mochte sie wirklich, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als zu vergessen, daß sie es eilig hatte, und zu versuchen, ihr zu helfen.

»Und wo ist das alles passiert?« fragte Erica.

»Dort drüben.« Priscilla deutete auf den leeren Parkplatz neben Jessicas Volvo. Erica ging mit ihr hin. »Hier!« sagte Priscilla. »Genau hier ist es passiert.«

Erica sah sich um. Sie hatte nicht erwartet, etwas zu finden, und sie fand auch nichts. Doch als sie sich schon abwenden wollte, fiel ihr Blick auf eine Reihe kleiner Lachen auf dem Boden. Auf dem Teerbelag des Parkplatzes wirkten sie dunkelbraun. Wahrscheinlich Öl. Oder? Erica bückte sich neugierig und strich mit den Fingern darüber. Einen Augenblick später zog sie sie entsetzt zurück. Die Flüssigkeit, die an ihnen klebte, war eindeutig Blut, und es war noch warm.

Für die Polizei von Larchmont war es bis dahin ein ruhiger Morgen gewesen. Der diensthabende Beamte in seiner Glaskabine trank eben Kaffee und blätterte durch das Lokalblatt, die Sound View News, als der Anruf kam - aus einer Telefonzelle am Boston Post Road, ganz in der Nähe des Supermarkts.

Erica McLean sprach als erste. Sie nannte ihren Namen und sagte dann: »Ich habe eine Dame bei mir, Miss Priscilla Rhea...«

»Ich kenne Miss Rhea«, entgegnete der Beamte.

»Nun, sie glaubt, ein Verbrechen beobachtet zu haben, vielleicht sogar eine Entführung. Würden Sie bitte mit ihr sprechen?«

»Da weiß ich was Besseres«, antwortete der Polizist. »Ich schicke Ihnen einen Beamten im Streifenwagen, dem können Sie es dann erzählen. Wo sind die Damen denn?«

»Wir warten vor dem Grand Union.«

»Bitte bleiben Sie dort. In ein paar Minuten wird jemand bei Ihnen sein.«

Der diensthabende Beamte sprach in das Funkmikrofon: »Revier an Wagen 423. Fahren Sie zum Grand Union Supermarkt. Eine Mrs. McLean und eine Miss Rhea erwarten Sie dort. Code eins.«

Sofort kam die Antwort: »Vier dreiundzwanzig an Revier. Zehn vier.«

Elf Minuten waren vergangen, seit der Kleinbus mit Jessica, Nicholas und Angus den Parkplatz des Supermarkts verlassen hatte.

Jensen, der junge Polizist, hörte aufmerksam zu, während Priscilla Rhea, beim zweiten Mal nun schon viel selbstbewußter, erzählte, was sie gesehen hatte. Ihr fielen sogar noch zwei zusätzliche Details ein: Die Farbe des »kleinen Busses«, wie sie ihn nannte - hellbraun -, und die Tatsache, daß er dunkle Fenster hatte. Nein, auf die Nummer hatte sie nicht geachtet, und sie wußte auch nicht, ob es New Yorker Schilder oder die eines anderen Staates waren.

Der Beamte war anfangs skeptisch, obwohl er es sich nicht anmerken ließ. Polizisten hatten oft mit Bürgern zu tun, die sich über etwas Gedanken machten, das sich später als vollkommen harmlos erwies; es kam fast täglich vor. Doch Jensen war sehr pflichtbewußt, er hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen.

Sein Interesse wuchs, als Erica McLean, die eine verantwortungsbewußte, vernünftig denkende Frau zu sein schien, ihm von den Flecken auf dem Parkplatz berichtete, die aussahen wie Blut. Er ließ sich von ihr zu der Stelle führen und untersuchte die Flecken. Ein Großteil der Flüssigkeit war inzwischen eingetrocknet, aber einiges war noch so feucht, daß es an den Fingern rot abfärbte. Es gab natürlich keinen Beweis, daß es sich um menschliches Blut handelte. Aber es machte die Geschichte glaubwürdiger, eine Weiterverfolgung war nun unbedingt notwendig.

Er lief zu Priscilla zurück und fand sie im Gespräch mit einigen Leuten, die neugierig geworden waren und wissen wollten, was vor sich ging.

Ein Mann ergriff das Wort: »Officer, ich war im Supermarkt und habe beobachtet, wie vier Leute, zwei Männer, eine Frau und ein Junge, plötzlich aus dem Laden stürmten. Die hatten es so eilig, daß die Frau ihren Einkaufswagen stehenließ. Der war voll, aber sie hat ihn einfach stehenlassen.«

»Ich hab' sie auch gesehen«, sagte eine Frau. »Das war Mrs. Sloane, die Frau des Fernsehsprechers. Sie kauft oft hier ein. Als sie ging, sah sie sehr aufgeregt aus, als wäre etwas Schlimmes passiert.«

»Eins ist komisch«, warf eine andere Frau ein. »Ein Mann kam auf mich zu und fragte mich, ob ich Mrs. Sloane sei. Und andere hat er auch gefragt.«

Inzwischen redeten alle durcheinander. Der Polizist hob die Stimme. »Diese Dame hier« - er deutete auf Priscilla -»berichtet von einem >kleinen, hellbraunen Bus<. Hat den jemand gesehen?«

»Ja, ich«, sagte der Mann. »Als ich ankam, fuhr der eben auf den Parkplatz. Es war ein Nissan.«

»Haben Sie das Nummernschild gesehen?«

»Es war eine Nummer aus New Jersey, aber mehr weiß ich auch nicht. Ach, noch was, er hatte dunkle Fenster, diese Art Glas, wo man heraus -, aber nicht hineinsehen kann.«

»Moment mal«, sagte der Beamte. »Bitte bleiben Sie alle hier. Ich bin sofort zurück.«

Er lief zu seinem weißen Streifenwagen, den er neben dem Supermarkt abgestellt hatte, und griff nach dem Funkgerät.

»Wagen 423 an Revier. Mögliche Entführung auf dem Parkplatz des Grand Union. Brauche Verstärkung. Beschreibung des verdächtigen Fahrzeugs: Nissan Kleinbus, Farbe hellbraun. Zugelassen in New Jersey, Nummer unbekannt. Dunkle Fenster, vermutlich blickdichte Scheiben. Es besteht der Verdacht, daß drei Personen von den unbekannten Insassen des Nissan verschleppt wurden.«

Die Meldung des Beamten ging über Funk an alle Streifenwagen in Larchmont und in den Nachbarorten Mamaroneck Town und Mamaroneck Village. Über eine »Notfalleitung« würde der diensthabende Polizist auf dem Revier alle anderen Einheiten in Westchester County und die New York State Police alarmieren. Die New Jersey State Police wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht informiert.

Vor dem Supermarkt waren bereits die Sirenen von zwei heranjagenden Streifenwagen zu hören, die auf den Hilferuf reagiert hatten.

Zwanzig Minuten waren seit der Abfahrt des Kleinbusses vergangen.

Gute acht Meilen weiter weg fuhr der Nissan auf dem I-95 Thruway und näherte sich der Ausfahrt in den Straßendschungel der Bronx.

Von Larchmont aus war Luis zügig vorangekommen. Er fuhr, wie die meisten anderen auch, fünf Meilen schneller als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit - ein gutes Reisetempo, aber doch nicht so schnell, daß die Polizei auf sie aufmerksam würde. Nun lag das erste Etappenziel, die Ausfahrt 13, vor ihnen. Luis wechselte auf die rechte Spur und verließ die Autobahn. Er und Miguel hatten sich während der Fahrt immer wieder nach etwaigen Verfolgern umgesehen. Aber es gab keine.

Dennoch trieb Miguel Luis zur Eile. »Schneller! Mach schon!« Seit der Abfahrt fragte er sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, die alte Frau am Leben zu lassen. Vielleicht hatte sie ihm die Geschichte mit dem Film nicht geglaubt und die Polizei alarmiert. Vielleicht waren bereits Beschreibungen von ihnen im Umlauf.

Luis stieg aufs Gas; mit hohem Tempo raste er über die holprigen Straßen der Bronx.

Baudelio hatte seit der Abfahrt immer wieder die Lebensfunktionen der beiden betäubten Gefangenen kontrolliert. Es schien alles in Ordnung zu sein. Die Wirkung des Midazolam, das er ihnen injiziert hatte, würde schätzungsweise noch eine Stunde anhalten. Falls nicht, würde er ihnen eine weitere Dosis spritzen, doch nur ungern, da dies die viel kompliziertere medizinische Aufgabe, die ihn am Ende der Fahrt erwartete, verzögern konnte.

Bei dem älteren Mann hatte er die Blutung gestoppt und die Kopfwunde verbunden. Nun kam er langsam wieder zur Besinnung, er bewegte sich und stöhnte leise. Baudelio zog eine weitere Dosis Midazolam auf eine Spritze und injizierte sie ihm, für alle Fälle. Er hatte keine Ahnung, was sie mit dem Alten machen würden. Höchstwahrscheinlich würde Miguel ihn erschießen und die Leiche verschwinden lassen; während seiner Zeit beim Medellin-Kartell hatte Baudelio so etwas schon oft gesehen. Ihn ließ das kalt. Denn die Sorge um andere Menschen war eine Empfindung, die Baudelio schon vor langer Zeit abgelegt hatte.

Rafael hatte einige braune Decken hervorgeholt, und Baudelio sah nun zu, wie er und Carlos die Frau, den Jungen und den alten Mann darin einwickelten, bis nur noch die Köpfe heraussahen. Am oberen Ende war jeweils ein Stück Decke übrig, damit man den Geiseln beim Ausladen die Gesichter bedecken konnte. Mit einem Seil verschnürte Carlos die Bündel; für einen flüchtigen Beobachter waren sie nun von gewöhnlichem Frachtgut nicht mehr zu unterscheiden.

Conner Street in der Bronx war ein heruntergekommenes, graues und deprimierendes Viertel. Luis kannte den Weg, sie waren ihn zur Probe bereits zweimal abgefahren. Bei einer Texaco Tankstelle bogen sie rechts in ein halb verlassenes Industriegebiet ein. Die am Straßenrand in großen Abständen geparkten Lastwagen sahen aus, als würden sie schon lange dort stehen. Menschen waren kaum zu sehen.

Vor der langen tür- und fensterlosen Mauer eines verlassenen Lagerhauses hielt Luis an. Im selben Augenblick fuhr ein Lastwagen, der auf der anderen Straßenseite gewartet hatte, auf den Kleinbus zu und hielt kurz vor ihm an. Es war ein weißer CMC mit der Aufschrift »Superbread« auf beiden Seiten.

Nachforschungen hätten ergeben, daß es ein Produkt mit dem Namen »Superbread« nicht gab. Der Lastwagen war eins von sechs Fahrzeugen, die Miguel, als Repräsentant einer nicht existenten Autoverleihfirma auftretend, gleich nach seiner Ankunft gekauft hatte. Der GMC war bereits gelegentlich für die Beschattung und auch für andere Zwecke benutzt worden. Rafael hatte ihn und die anderen Fahrzeuge schon mehrmals neu lackiert und die Aufschriften geändert. An diesem Vormittag saß Socorro, die einzige Frau der Truppe, am Steuer des Lasters. Sie sprang jetzt heraus, lief nach hinten und öffnete die Hecktüren.

Gleichzeitig ging auch beim Nissan die Tür auf. Rafael und Carlos sprangen heraus und trugen die verschnürten Bündel eilig zum Lastwagen. Baudelio packte seine Arzttasche zusammen und folgte ihnen.

Miguel und Luis hatten im Kleinbus zu tun. Miguel zog die dunkle Plastikfolie von den Fenstern; sie hatte ihren Zweck erfüllt und war nun ein Identifikationsmerkmal, das man verschwinden lassen mußte. Luis klaubte zwei New Yorker Nummernschilder unter dem Fahrersitz hervor, die er schon vor Beginn der Aktion dort versteckt hatte.

Nachdem er sich umgesehen hatte, um sicherzugehen, daß ihn niemand beobachtete, tauschte er die Kennzeichen aus New Jersey gegen die New Yorker aus. Es dauerte nur wenige Sekunden, weil alle Fahrzeuge der Gruppe spezielle, aufklappbare Schildhalterungen besaßen. Mit wenigen Handgriffen konnte die Klappe angehoben und die Schilder ausgewechselt werden. Ein Federmechanismus ließ die Klappe dann wieder zurückschnellen.

Bald nach seiner Ankunft in Amerika hatte Miguel sich über seine Unterweltkontakte eine Reihe von Nummernschildern aus New Jersey und New York besorgt. Dabei handelte es sich um Schilder von Autos, die zwar nicht mehr in Gebrauch waren, für die aber weiterhin Zulassungsgebühren bezahlt wurden.

Das Zulassungssystem von New York, New Jersey und den meisten anderen Staaten machte es möglich, Nummernschilder für Fahrzeuge zu erhalten, die schon längst in ihre Einzelteile zerlegt und verschrottet waren. Die Zulassungsstelle war nur an der Zulassungsgebühr und einem, ebenso leicht zu beschaffenden Versicherungsnachweis für das nicht mehr existierende Fahrzeug interessiert. Weder die Behörde noch die Versicherung, die jeden Vertrag beliebig verlängerte, solange nur die Prämie gezahlt wurde, wollten je das Fahrzeug selbst sehen.

In Kriminellenkreisen florierte das Geschäft mit solchen Nummernschildern, die zwar illegal, bei der Polizei aber nicht als solche registriert waren und deren Wert deshalb die wirklichen Kosten um ein Vielfaches übertraf.

Miguel kam mit den Plastikfolien aus dem Kleinbus und stopfte sie in eine bereits überquellende Mülltonne. Die Nummernschilder, die Luis eben entfernt hatte, folgten.

Luis setzte sich nun hinter das Steuer des Lastwagens, in dem sich bereits die bewußtlosen Geiseln Jessica, Nicholas und Angus sowie Miguel, Rafael, Baudelio und Socorro befanden. Nach einer schnellen Wende fuhr er zurück in Richtung Thruway, auf dem sie, kaum zehn Minuten, nachdem sie ihn verlassen hatten, in dem neuen Fahrzeug ihre Flucht in Richtung Süden fortsetzten.

Carlos am Steuer des leeren Nissan wendete ebenfalls. Auch er fuhr auf den I-95 zu, schlug dann aber die nördliche Richtung ein. Mit den ausgetauschten New Yorker Nummernschildern und ohne die dunkle Folie an den Fenstern sah der Bus aus wie tausend andere auch. Die Beschreibung, die die Polizei in Larchmont ausgegeben hatte, traf auf ihn jedenfalls nicht mehr zu.

Carlos hatte den Auftrag, den Nissan verschwinden zu lassen, und auch dies war sorgfältig vorbereitet. Nach drei Meilen verließ er die Autobahn und folgte der Landstraße weitere zwölf Meilen Richtung Norden bis nach White Plains. Dort fuhr er in ein öffentliches Parkhaus, ein vierstöckiges Gebäude neben einem Einkaufszentrum - die Center City Mall.

Auf der dritten Etage stellte Carlos den Nissan ab und machte sich mit scheinbarer Beiläufigkeit an die Arbeit. Supermarktkunden, die in der Nähe parkten, aus ihren Autos ausstiegen oder sie mit Waren beluden, schienen weder an ihm noch an dem Nissan im geringsten interessiert.

Zunächst wischte Carlos alle Oberflächen ab, um die Suche nach Fingerabdrücken zu erschweren - eine Vorsichtsmaßnahme, falls der Bus der Polizei in seinem augenblicklichen Zustand in die Hände fallen sollte. Doch mit dem nächsten Schritt sorgte er dafür, daß das nicht passierte.

Aus dem Handschuhfach nahm Carlos einen Styroporbehälter mit brisantem Inhalt: ein beträchtliche Menge Plastiksprengstoff, ein kleiner Zünder mit Zündstift, zwei

Drahtstücke und eine Rolle Klebeband. Mit dem Band befestigte er Sprengstoff und Zünder unten an den Vordersitzen. Die beiden Drahtstücke führte er vom Zündstift zu den inneren Türgriffen auf beiden Seiten und verknotete sie dort. Wurde nun eine der beiden Türen geöffnet, zog der Draht den Stift aus dem Zünder und die Ladung explodierte.

Abschließend warf Carlos noch einen Blick in die Fahrerkabine und vergewisserte sich, daß weder Sprengstoff noch Drähte zu sehen waren.

Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es mehrere Tage dauern, bis man den Bus entdeckte, und bis dahin waren die Entführer mit ihren Opfern längst über alle Berge. Doch bei der Entdeckung würde eine typische Terroristenüberraschung mit Nachdruck darauf hinweisen, daß mit den Entführern nicht zu spaßen war.

Carlos verließ das Parkhaus durch das Einkaufszentrum und machte sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf den Rückweg nach Hackensack, wo er sich mit den anderen treffen wollte.

Der Lastwagen fuhr noch fünf Meilen bis zum Cross Bronx Expressway und bog dort nach Westen ab. Etwa zwölf Minuten später überquerte er den Harlem River und bald darauf die George Washington Bridge, die den Hudson River überspannte.

Die Brücke bildete die Grenze zwischen New York State und New Jersey. Für Miguel und den Rest der Medellin-Gruppe waren es nun nur noch wenige Meilen bis zu ihrem sicheren Unterschlupf in Hackensack.

13

Bert Fisher lebte und arbeitete in einer winzigen Wohnung in Larchmont. Er war achtundsechzig und seit Jahrzehnten Witwer. Seine Visitenkarten wiesen ihn als Nachrichtenreporter aus, doch im Fachjargon hieß er etwas wirklichkeitsnäher Stringer, der Mann fürs Grobe vor Ort.

Wie andere Stringer auch, war Bert der örtliche Vertreter verschiedener großer Nachrichtenorganisationen, die ihren Sitz in den Metropolen hatten, und von einigen dieser Konzerne erhielt er sogar ein kleines Vorabhonorar. Er lieferte Informationen oder fertige Berichte, wurde aber nur für das bezahlt, was wirklich verwendet wurde. Da Kleinstadtnachrichten nur selten regionale, geschweige denn nationale Bedeutung hatten, war es schwierig, Material bei großen Zeitungen oder Radio- und Fernsehsendern unterzubringen. Stringer wurden deshalb auch nie reich, die meisten hielten sich wie Bert Fisher gerade so über Wasser.

Trotzdem gefiel Bert seine Arbeit. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er als amerikanischer G.I. in Europa für die Armeezeitung Stars and Stripes gearbeitet. Das hatte ihn auf den Geschmack gebracht, und seit dieser Zeit trug er seinen bescheidenen Teil zum amerikanischen Nachrichtenumsatz bei. Obwohl ihn das Alter inzwischen etwas langsamer gemacht hatte, telefonierte er noch täglich mit lokalen Informanten und hatte auch ständig mehrere Abhörgeräte eingeschaltet, mit denen er den Funkverkehr von Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen und anderer öffentlicher Dienste überwachen konnte. Er hoffte immer, auf etwas zu stoßen, das eine Weiterverfolgung lohnte und das er einem der großen Nachrichtenkonzerne verkaufen konnte.

Mit einem dieser Geräte hatte Bert auch den Funkspruch des Revierbeamten an den Streifenwagen 423 aufgefangen. Zunächst schien es sich um einen reinen Routineeinsatz zu handeln, doch kurz darauf meldete der Beamte auf dem Parkplatz des Grand Union Supermarkts eine mögliche Entführung an das Revier. Beim Wort »Entführung« richtete Bert sich auf, stellte die Frequenz des Larchmonter Polizeifunks auf seinem Abhörgerät fest ein und griff zum Notizpapier.

Am Ende der Übertragung wußte Bert, daß er sofort zum Schauplatz mußte. Doch zuerst kam ein Anruf bei der New Yorker Fernsehstation WCBA.

Bei WCBA-TV nahm ein Assistant News Director Bert Fishers Anruf entgegen.

WCBA, eine Tochtergesellschaft von CBA, war ein renommierter Lokalsender, der das Stadtgebiet von New York mit Nachrichten versorgte. Sitz des Senders waren drei Stockwerke eines Bürohauses in Manhattan, etwa eine Meile von der Konzernmutter entfernt. Obwohl nur ein Lokalsender, erreichte er ein großes Publikum. WCBA News war nicht zuletzt wegen der Fülle von Nachrichten, die New York täglich lieferte, in gewisser Weise ein Mikrokosmos von CBA News.

In dem hektischen, lärmenden Redaktionssaal, in dem dreißig Leute Schulter an Schulter arbeiteten, verglich der Assistant News Director Bert Fishers Namen mit einer Liste aus einem Loseblattordner. »Okay«, sagte er schließlich, »was haben Sie?«

Bert wiederholte die Polizeimeldung und sagte dann, er wolle selbst sofort zum Schauplatz fahren.

»Also nur eine >mögliche< Entführung, hm?« fragte der Assistant.

»Ja, Sir.«

Obwohl Bert Fisher fast dreimal so alt war wie der junge Mann am anderen Ende der Leitung, sprach er ihn mit einer dem höheren Rang entsprechenden Höflichkeit an, die er sich aus einer anderen Zeit herübergerettet hatte.

»Also gut, Fisher. Machen Sie sich auf die Socken. Und rufen Sie sofort an, falls da wirklich was dahintersteckt.«

»Jawohl, Sir. Sie können sich auf mich verlassen.«

Beim Auflegen kam dem Assistant News Director der Gedanke, daß hier möglicherweise nur jemand falschen Alarm ausgelöst hatte. Er überlegte kurz, ob er ein Kamerateam nach Larchmont schicken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Im Augenblick war der Bericht des Informanten noch sehr verworren. Außerdem waren alle verfügbaren Teams unterwegs, und das würde bedeuten, daß er eins von einer laufenden Story abziehen müßte. Ohne detaillierte Informationen gab es auch nichts, das man hätte senden können.

Trotzdem ging der Assistant hinüber zu dem etwas erhöhten Schreibtisch der Nachrichtenchefin und erzählte ihr von dem Anruf.

Sie hörte ihm zu und billigte seine Entscheidung. Doch dann fiel ihr etwas ein und sie griff zu einem Telefon, das sie über eine Standleitung direkt mit CBA News verband. Sie fragte nach Ernie LaSalle, dem Inlandschef, mit dem sie manchmal Informationen austauschte.

»Hör zu«, sagte sie, »ich hab' hier etwas, das sich möglicherweise als Ente erweist.« Sie wiederholte, was sie eben gehört hatte und fügte dann hinzu: »Aber hier geht es um Larchmont, und ich weiß, daß Crawford Sloane dort wohnt. Es ist ja nur ein kleiner Ort, und vielleicht ist jemand betroffen, den er kennt. Vielleicht solltest du es ihm sagen.«

»Danke«, erwiderte LaSalle. »Halt mich auf dem laufenden.«

Ernie LaSalle hängte ein und überlegte kurz, ob er dem eben Gehörten irgendeine Bedeutung beimessen sollte. Höchstwahrscheinlich würde die ganze Sache im Sand verlaufen. Aber trotzdem...

Kurz entschlossen griff er zum roten Haustelefon.

»Inlandsredaktion. LaSalle. Habe eben erfahren, daß im Polizeifunk von Larchmont, wiederhole, Larchmont, New York, von einer möglichen Entführung die Rede ist. Keine weiteren Informationen. Unsere Freunde von WCBA gehen der Sache nach und halten uns auf dem laufenden.«

Die Meldung des Inlandschefs war in der ganzen CBA NewsZentrale zu hören. Einige fragten sich, warum LaSalle etwas so Unwichtiges über die Haussprechanlage durchgegeben hatte. Andere dachten nicht weiter darüber nach und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Doch die Chefproduzenten am Hufeisen im Stockwerk über dem Redaktionssaal hatten aufmerksam zugehört. Einer deutete auf Crawford Sloane, der hinter der geschlossenen Glastür in seinem Büro zu sehen war, und meinte: »Falls es in Larchmont wirklich eine Entführung gegeben hat, sollten wir dankbar sein, daß es nicht Crawf, sondern jemand anderen getroffen hat. Außer der da drin ist sein Doppelgänger.« Die anderen lachten.

Crawford Sloane hörte LaSalles Meldung aus dem Lautsprecher auf seinem Schreibtisch. Die Tür hatte er geschlossen, weil er mit dem Präsidenten von CBA News, Leslie Chippingham, ein vertrauliches Gespräch führen wollte. Eigentlich hatte Sloane vorgehabt, Chippingham in dessen Büro aufzusuchen, doch der Präsident hatte es vorgezogen, zu ihm zu kommen.

Während der Mitteilung schwiegen beide, und Sloane hob bei der Erwähnung von Larchmont interessiert den Kopf. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre er sofort in den Redaktionssaal gelaufen, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Doch jetzt wollte er nicht ein Gespräch unterbrechen, das sich zu einer knallharten Konfrontation entwickelt hatte und das, sehr zu seiner Überraschung, ganz und gar nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte.

14

Der Präsident von CBA News eröffnete das Gespräch. »Crawf, meine Nase sagt mir, daß du ein Problem hast.«

»Deine Nase täuscht sich«, erwiderte Crawford Sloane. »Du bist der mit dem Problem. Es ist leicht zu lösen, aber dazu sind einige strukturelle Veränderungen nötig. Und zwar sofort.«

Leslie Chippingham seufzte. Er war seit dreißig Jahren im Nachrichtengeschäft, ein alter Hase, der seine Karriere mit neunzehn als Botenjunge bei NBC's Huntley-Brinkley-Report begonnen hatte, dem journalistischen Aushängeschild dieser Zeit. Seit damals wußte er, daß man Moderatoren so behutsam behandeln mußte wie Ming-Vasen und daß sie die gleiche Ehrerbietung verlangten wie gekrönte Häupter. Ebendieser Feinfühligkeit hatte er es, neben anderen Talenten, zu verdanken, daß er sich nach seiner Zeit als Chef im Studio an der Spitze von CBA News hatte halten können, während andere in ähnlich hohen Positionen, darunter auch einige Präsidenten, auf fernsehpolitische Nebengleise abgeschoben wurden oder in der Vergessenheit eines frühen Ruhestands versanken.

Chippingham hatte die Fähigkeit, mit jedem ungezwungen umzugehen, und er konnte dieses Gefühl auch auf den Gesprächspartner übertragen. Es ging das Gerücht, wer von ihm gefeuert werde, fühle sich noch wohl dabei.

»Also schieß los«, sagte er zu Sloane. »Welche Veränderungen?«

»Ich kann mit Chuck Insen nicht mehr zusammenarbeiten. Er muß weg. Und bei der Auswahl des Nachfolgers will ich die entscheidende Stimme haben.«

»Na schön Du hast recht, was das große Problem betrifft.« Chippingham wählte seine Worte mit Bedacht und fügte dann hinzu: »Aber es ist vielleicht ein anderes, als du dir vorstellst, Crawf.«

Crawford betrachtete seinen Vorgesetzten, denn das war Chippingham, zumindest der Stellung nach. Was er sah, war eine auch im Sitzen noch hoch aufragende Gestalt, fast zwei Meter groß und stattliche hundert Kilo schwer. Sein Gesicht war eher interessant als schön, er hatte strahlende Augen und dichte, inzwischen fast graue Locken. Im Lauf der Jahre hatte eine ganze Reihe von Frauen Vergnügen daran gefunden, mit den Händen durch diese Locken zu streichen, wobei dieses Vergnügen immer nur das Vorspiel für andere gewesen war. Frauen waren Les Chippinghams lebenslange Schwäche, ihre Eroberung ein Hobby, dem er nicht widerstehen konnte. Und wegen dieser Schwäche stand er im Augenblick vor einem ehelichen und finanziellen Desaster - doch das wußte Sloane nicht, obwohl er, wie alle anderen, Chippinghams Ruf als Frauenheld kannte.

Chippingham selbst mußte im Augenblick seine persönlichen Sorgen beiseite lassen und sich auf Crawford Sloane konzentrieren. Denn das Gespräch mit ihm war, wie jedes mit einem Moderator, ein Drahtseilakt.

»Hör auf, um den heißen Brei zu reden«, sagte Sloane, »und komm zur Sache.«

»Das wollte ich eben«, entgegnete Chippingham. »Wie wir beide wissen, hat sich bei uns in letzter Zeit einiges geändert...«

»Um Himmels willen, Les, natürlich hat sich das!« warf Sloane ungeduldig ein. »Deshalb habe ich ja Probleme mit Insen. Wir müssen die Struktur unserer Nachrichten verändern -weniger schnelle Schlagzeilen und dafür die wichtigen Meldung gründlicher recherchiert.«

»Ich weiß, was du meinst. Wir haben schon öfters darüber gesprochen. Aber ich kenne auch Chucks Haltung, und der war übrigens heute morgen bei mir und hat sich über dich beklagt.«

Sloane riß überrascht die Augen auf. Er hatte nicht erwartet, daß der Studioleiter in ihrem Streit die Initiative übernahm; es war ganz und gar nicht der gewohnte Lauf der Dinge. »Und was glaubt er, was du tun kannst?« fragte er.

Chippingham zögerte. »Zum Teufel, wahrscheinlich hat's wenig Sinn, wenn ich es dir verschweige. Er glaubt, ihr beide seid so weit voneinander entfernt, daß ein Versöhnung unmöglich ist. Er will, daß du gehst.«

Der Chefsprecher warf den Kopf zurück und lachte. »Und daß er bleibt. Das ist doch lächerlich.«

Der Präsident sah ihm direkt in die Augen. »Wirklich?«

»Natürlich. Und das weißt du ganz genau.«

»Ich hab's früher mal gewußt. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Vor ihnen beiden lag Neuland. Chippingham machte vorsichtig den ersten Schritt.

»Ich will, daß du eins verstehst, Crawf: Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Seit dem Ausverkauf der großen Sender ist alles im Fluß. Du weißt so gut wie ich, daß unsere neuen Herren - nicht nur bei uns, sondern auch bei den anderen Sendern - ihre ganz persönlichen Ansichten über die Macht der Nachrichtensprecher haben. Diese Halbgötter an der Spitze der Muttergesellschaften möchten nämlich diese Macht beschneiden, und sie sind auch nicht eben glücklich über eure Riesengehälter, weil sie glauben, daß sie dafür nicht den entsprechenden Gegenwert bekommen. In letzter Zeit gab es sogar Gerüchte über heimliche, private Absprachen.«

»Welche Art von Absprachen?« fragte Sloane scharf.

»Soweit ich weiß, die Art, wie die Herren Unternehmer sie in ihren exklusiven Clubs und Privathäusern treffen. Zum Beispiel: >Wir sagen unserem Sender, daß er deinem Sender nicht die Leute abwirbt, wenn du mir versprichst, daß deiner die unseren in Ruhe läßt. Auf diese Weise treiben wir uns nicht gegenseitig dauernd die Gehälter in die Höhe und können dann endlich anfangen, ein paar von den ganz großen zu kürzenc.«

»Das sind ja Kartellabsprachen, Wettbewerbsbeschränkungen. Und die sind verdammt noch mal illegal.«

»Nur wenn du beweisen kannst, daß sie wirklich zustande gekommen sind«, sagte Chippingham. »Aber wie kannst du das, wenn sie bei ein paar Drinks im Links Club oder im Metropolitan getroffen wurden, und wenn es keine Unterlagen, überhaupt nichts Schriftliches gibt?«

Während Sloane schwieg, wurde Chippingham noch einmal deutlich. »Im Endeffekt läuft es darauf hinaus, Crawf, daß du im Augenblick nicht zuviel Druck machen solltest.«

»Insen will einen anderen an meiner Stelle«, sagte Sloane unvermittelt. »Wen?«

»Er erwähnte Harry Partridge.«

Partridge! Wieder einmal, dachte Sloane, war er der Konkurrent. Er fragte sich, ob Partridge selbst den Stein ins Rollen gebracht hatte. Als könnte Chippingham Gedanken lesen, ergänzte er: »Offensichtlich hat Chuck es Harry vorgeschlagen, und der war zwar überrascht, aber nicht sonderlich interessiert.«

Dann fuhr er fort: »Ach, und Chuck Insen hat mir noch was gesagt: Falls es zu einer Entscheidung zwischen dir und ihm kommt, ist er fest entschlossen zu kämpfen. Er hat gedroht, bis an die Spitze zu gehen.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, daß er mit Margot Lloyd-Mason sprechen wird.«

Crawford explodierte. »Mit dieser Hexe. Das würde er nicht wagen!«

»Ich glaube schon. Sie ist vielleicht eine Hexe, aber sie hat auch die Macht.«

Les Chippingham wußte das nur zu gut.

CBA war der letzte der großen, überregionalen Sender, der einem Phänomen zum Opfer fiel, das Insider »die Invasion der Philister« nannten. Gemeint war damit die Übernahme der Sender durch Industriekonglomerate, die ihr Profitstreben über ihre Verpflichtung der Allgemeinheit gegenüber stellten. Es war ein krasser Gegensatz zu früheren Zeiten, als Führer wie Paley von CBS, Sarnoff von NBC und Goldenson von ABC, obwohl lupenreine Kapitalisten, es doch nie versäumten, ebendiese Verantwortung zu demonstrieren.

Vor neun Monaten war CBA, nach vergeblichen Versuchen, die Unabhängigkeit des Senders zu bewahren, von Globanic Industries Inc., einem weltweit operierenden Konzernriesen, geschluckt worden. Wie General Electric, der sich zuvor schon NBC einverleibt hatte, war auch Globanic ein bedeutender Rüstungskonzern. Und wie bei GE war es auch bei Globanic nicht ohne kriminelle Machenschaften abgegangen. Bei einer Gelegenheit war der Konzern wegen Preisabsprachen und Wettbewerbsverzerrungen rechtskräftig verurteilt worden, einige Topmanager wanderten ins Gefängnis. Bei einer anderen mußte er sich des Betrugs an der US-Regierung schuldig bekennen, nachdem bei der Vergabe von Rüstungsaufträgen Geschäftsbücher manipuliert worden waren. Die Strafe lautete auf eine Million Dollar, das rechtlich zulässige Höchstmaß, doch verglichen mit dem Gesamtwert des Auftrags nur ein verschwindend geringer Betrag. »Globanic hat zu viele Sonderinteressen, um CBA auch weiterhin absolute redaktionelle Unabhängigkeit zu gewähren«, schrieb ein Kommentator zur Zeit der Übernahme. »Können Sie sich vorstellen, daß CBA je wieder heikle Probleme aufgreift, wenn die Muttergesellschaft darin verwickelt ist?«

Seit der Übernahme von CBA hatten die neuen Herren immer wieder öffentlich versichert, die traditionelle Unabhängigkeit des Senders bleibe gewahrt. Doch kam man immer mehr zu der Überzeugung, daß dies nur leere Versprechen waren.

Begonnen hatte die Umwandlung von CBA mit der Ankunft von Margot Lloyd-Mason, der neuen Präsidentin und Chefin des Senders. Die als tüchtig, skrupellos und maßlos ehrgeizig bekannte Frau war bereits Vizepräsidentin bei Globanic Industries. Es ging das Gerücht, ihre Versetzung zu CBA sei nur ein Probelauf, um zu sehen, ob sie genug Härte und Durchsetzungsvermögen für den Vorsitz der Muttergesellschaft aufbringen könne.

Leslie Chippingham lernte seine neue Chefin kennen, als sie ihn wenige Tage nach ihrer Ankunft zu sich rufen ließ. Statt des üblichen persönlichen Anrufs - eine Gunst, die Mrs. Lloyd-Masons Vorgänger seinen Abteilungschefs gewährt hatte -übermittelte ihm eine Sekretärin die barsche Aufforderung, er habe sofort in »Stonehenge« zu erscheinen, so der Spitzname der CBA -Zentrale an der Third Avenue. In einer Limousine mit Chauffeur fuhr Chippingham dorthin.

Margot Lloyd-Mason war sehr groß, sie hatte hochgekämmte blonde Haare, ein leicht gebräuntes Gesicht mit hohen Wangenknochen und kühl abschätzende Augen. Sie trug ein elegantes, braun-graues Chanel-Kostüm mit einer etwas helleren Seidenbluse. Chippingham sollte sie später als »attraktiv, aber furchteinflößend« beschreiben.

Die Präsidentin war freundlich, aber kühl. »Sie dürfen mich mit Vornamen anreden«, sagte sie dem Nachrichtenchef, doch bei ihr klang es wie ein Befehl. Dann kam sie ohne Umschweife zum Thema.

»Es wird heute im Lauf des Tages zur Bekanntgabe einer Affäre kommen, die Theo Elliott betrifft.«

Theodore Elliott war der Vorsitzende von Globanic Industries.

»Das ist bereits passiert«, erwiderte Chippingham. »Das Finanzministerium in Washington hat bekanntgegeben, daß unser Oberhäuptling im Verdacht steht, fünf Millionen Dollar Steuern unterschlagen zu haben.«

Chippingham hatte die Meldung zufällig auf dem AP-Telex gesehen. Soweit bekannt war, hatte Elliott in ein Abschreibungsprojekt investiert, das sich nachträglich als illegal herausstellte. Der Initiator des Projekts mußte vor Gericht. Elliott blieb das erspart, doch mußte er die Steuern nachzahlen und erhielt außerdem eine beträchtliche Geldstrafe.

»Theo hat eben angerufen«, sagte Margot, »und mir versichert, er habe nicht gewußt, daß das Projekt illegal gewesen sei.«

»Vermutlich gibt es ein paar, die ihm das glauben«, entgegnete Chippingham und dachte dabei an die Armee von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, die der Vorsitzende von Globanic zur Verfügung hatte.

»Keine Respektlosigkeiten, bitte«, erwiderte Margot eisig. »Ich habe Sie rufen lassen, weil ich nicht will, daß über Theo und die Steuern irgend etwas in unseren Nachrichten erscheint. Und ich möchte auch, daß Sie die anderen Sender bitten, ebenfalls nicht darüber zu berichten.«

Chippingham war entsetzt, er wollte kaum glauben, was er eben gehört hatte. Nur mit Mühe konnte er den Unmut in seiner Stimme unterdrücken. »Margot, wenn ich mich mit dieser Bitte an die anderen Sender wende, würden die sie nicht nur zurückweisen, sondern darüber hinaus die Meldung bringen, daß CBA News versucht habe, seinen Chef zu decken. Und, offen gesagt, im umgekehrten Fall würden wir ähnlich reagieren.«

Noch während er sprach, erkannte er, daß die neue Präsidentin bereits in diesem kurzen Wortwechsel nicht nur ihre Unerfahrenheit im Fernsehgewerbe demonstriert hatte, sondern auch ihre totale Gleichgültigkeit gegenüber jeder Art von journalistischer Ethik. Aber dann fiel ihm ein, daß sie ja nicht deswegen auf diesem Stuhl saß, sondern wegen ihrer Kenntnisse in Finanzfragen und ihres Talents zur Profitoptimierung.

»Na gut«, sagte sie mißmutig. »Ich fürchte, ich muß akzeptieren, was Sie über die anderen Sender sagen. Aber in unseren Nachrichten will ich nichts von der Geschichte sehen.«

Chippingham seufzte innerlich, denn er wußte, daß von nun an sein Job als Nachrichtenchef um einiges schwieriger werden würde. »Bitte glauben Sie mir, Margot, wenn ich Ihnen sage, daß jeder andere Sender die Meldung über Mr. Elliott und seine Steuern in den Abendnachrichten bringen wird. Und wenn wir sie nicht ebenfalls bringen, wird das für mehr Aufmerksamkeit sorgen, als wenn wir sie bringen. Denn jeder wird unsere Nachrichten einschalten, um zu sehen, wie fair und unparteiisch wir sind, vor allem nach den Ankündigungen von Globanic, daß die Unabhängigkeit der Nachrichtenabteilung gewahrt bleibe.«

Margot kniff die Lippen zusammen und machte ein mürrisches Gesicht, aber ihr Schweigen zeigte, daß sie verstand, was Chippingham meinte. »Aber Sie werden es kurz halten?«

»Da brauch' ich mich nicht mal einzumischen. Die Sache ist einen längeren Bericht nicht wert.«

»Und ich will nicht, daß irgendein Klugscheißer von Reporter andeutet, Theo hätte von der Illegalität gewußt, obwohl er das Gegenteil behauptet.«

»Eins kann ich Ihnen versprechen«, sagte Chippingham. »Was wir auch tun, es wird fair sein. Ich werde mich persönlich darum kümmern.«

Ohne darauf einzugehen, nahm Margot ein Blatt Papier in die Hand, das auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte. »Sie sind in einer Limousine mit Chauffeur hierhergekommen.«

»Ja.« Chippingham war überrascht. Das Auto mit Fahrer gehörte zu den Privilegien eines Studioleiters, aber die Erfahrung, ausspioniert zu werden - denn das war ja offensichtlich geschehen -, war neu und beunruhigend.

»In Zukunft benutzen Sie ein Taxi. Wenn ich es tue, dann können Sie das auch. Und noch etwas.« Sie warf ihm einen eisigen Blick zu. »Das Budget der Nachrichtenabteilung ist mit sofortiger Wirkung um zwanzig Prozent zu kürzen. Ich werde Ihnen morgen noch eine schriftliche Anweisung reinschicken; und wenn ich >sofort< sage, dann meine ich es auch. Innerhalb einer Woche möchte ich einen Bericht über die Art der Einsparungen.«

Chippingham war zu verwirrt für mehr als eine höflich formelle Verabschiedung.

Die Meldung über Theodore Elliott und seine Einkommensteuer erschien zwar in den Abendnachrichten von CBA, bohrende Fragen hinsichtlich der Unschuldsbeteuerungen des Vorsitzenden von Globanic blieben jedoch aus. Einer der Redakteure am Hufeisen mokierte sich eine Woche später darüber: »Wenn es ein Politiker gewesen wäre, hätten wir ihn zuerst mit Zweifeln überschüttet und ihm dann die Haut abgezogen wie einer Zwiebel. So hatten wir nicht mal 'ne Fortsetzungsstory.«

Man hatte wirklich an eine Fortsetzung gedacht, genügend neues Material dafür war vorhanden. Doch bei einer Diskussion am Hufeisen, an der auch Chippingham teilnahm, kam man zu der Entscheidung, daß andere Nachrichten an diesem Tag wichtiger seien; die Fortsetzung wurde also nicht gesendet. Es war eine heikle Entscheidung, und nur wenige gestanden sich ein, daß Feigheit mit im Spiel gewesen war.

Die Budgetkürzung war ein viel schwierigeres Problem. Es war genau der Punkt, an dem alle Sender nach der Übernahme durch die neuen Herren verwundbar waren, und jeder wußte das, Leslie Chippingham eingeschlossen. Vor allen die Nachrichtenabteilungen waren aufgebläht, personell überbesetzt und reif für eine Beschneidung.

Bei CBA hatten diese Einsparungen sehr schmerzhafte Auswirkungen, denn über zweihundert Leute verloren ihre Arbeit.

Auf die Entlassungen folgte eine Woge der Entrüstung unter jenen, die ihre Arbeit verloren hatten, und ihren Freunden. Für die Printmedien war die Sache ein gefundenes Fressen, jede Zeitung brachte bewegende Geschichten über die Opfer der Einsparungswelle, obwohl viele Zeitungsverleger selbst ähnliche Rationalisierungen vornahmen.

Eine Gruppe innerhalb von CBA News, deren Mitglieder alle langfristige Verträge besaßen, schickte einen Protestbrief an die New York Times. Zu den Unterzeichnern gehörten Crawford Sloane, einige ranghohe Korrespondenten und mehrere Redakteure. In dem Brief beklagten sie, daß einige der so plötzlich Entlassenen altgediente Korrespondenten gewesen seien, die fast ihr gesamtes Arbeitsleben im Dienst von CBA News verbracht hatten. Sie wiesen auch darauf hin, daß CBA als Ganzes keineswegs in finanziellen Schwierigkeiten sei, sondern im Gegenteil Profite abwerfe, die sich durchaus mit denen großer Industriekonzerne messen ließen. Nach seiner Veröffentlichung fand der Brief landesweit große Beachtung.

Der Brief und das Aufsehen, das er erregte, machten Margot Lloyd- Mason wütend. Noch einmal ließ sie Leslie Chippingham zu sich rufen.

Mit der aufgeschlagenen Times vor sich schimpfte sie los: »Diese überbezahlten, eingebildeten Typen gehören doch zum Management. Die sollten Entscheidungen des Managements mittragen und sie nicht mit ihrer öffentlichen Nörgelei unterminieren.«

»Ich glaube nicht, daß sie sich als Teil des Managements verstehen«, gab der Nachrichtenchef vorsichtig zu bedenken. »Sie sind zuallererst Journalisten und machen sich Sorgen um ihre Kollegen. Und ich kann es Ihnen ruhig sagen, Margot, ich mir auch.«

Seine Chefin strafte ihn mit einem wütenden Blick. »Ich hob' schon genug Probleme, auch ohne euch, und ich will von diesem Unsinn nichts mehr hören. Sie nehmen sich die Leute vor, die diesen Brief unterzeichnet haben, und machen ihnen klar, daß ich solch ein illoyales Verhalten nicht mehr dulden werde. Sie können sie auch darauf hinweisen, daß diese Art von doppeltem Spiel bei Vertragsverlängerungen in Betracht gezogen wird. Da fällt mir ein - einige der Gehälter, die wir den Leuten zahlen, sind ja wirklich astronomisch, vor allem das für diesen arroganten Kerl Crawford Sloane.«

Leslie Chippingham gab eine etwas entschärfte Version von Margots Tirade an seine Leute weiter und gab dabei zu bedenken, daß er derjenige sei, der die Nachrichtenabteilung zusammenhalten müsse, was aber nun immer schwieriger werde.

Zum Eklat kam es schließlich einige Wochen später, als ein CBA-internes Memo mit neuen Vorschlägen von Mrs. Margot Lloyd-Mason die Gemüter erhitzte. Sie hatte die Absicht, einen politischen Aktionsfonds einzurichten, mit dem eine Lobby für die CBA in Washington finanziert werden konnte. Die Führungsetage des Senders sollte »freiwillig« zu diesem Fonds beitragen, was hieß, daß das Geld von ihren Gehältern abgezogen würde. Natürlich war auch die Leitung der Nachrichtenabteilung davon betroffen. Die Ankündigung wies darauf hin, daß dieses Arrangement einem ähnlichen in der Muttergesellschaft entspreche.

An dem Tag, als dieses Memo eintraf, wurde Chippingham am Hufeisen von einem Redakteur gestellt: »Les, du wirst uns doch diese Sauerei mit dem Fond vom Leib halten, oder?«

Crawford Sloane, der etwas abseits stand, mischte sich ein. »Natürlich wird er das. Les würde nie einer Sache zustimmen, bei der die Nachrichtenabteilung um politische Gefälligkeiten bitten müßte, anstatt über sie zu berichten. Da können wir uns auf ihn verlassen.«

Der Nachrichtenchef war sich nicht sicher, inwieweit der Moderator das ironisch gemeint hatte. Doch wußte er, daß er ein weiteres schwieriges Problem vor sich hatte; und Schuld daran war Margots Ignoranz, was journalistische Integrität betraf - oder war es einfach Gleichgültigkeit? Sollte er mit ihr über diesen Fonds streiten? Er glaubte nicht, daß es viel Sinn haben würde, da es ganz offensichtlich Margots einziges Ziel war, ihren Herren bei Globanic zu gefallen und ihre eigene Karriere zu fördern.

Schließlich löste er das Problem, indem er die ganze Geschichte und den Inhalt des internen Memorandums an die Washington Post durchsickern ließ. Er hatte dort einen Kontaktmann, den er schon öfters benutzt hatte und bei dem er sich darauf verlassen konnte, daß er seine Quelle nicht preisgab. Die Folge war ein auch von anderen Zeitungen aufgegriffener Artikel in der Post, der die Vorstellung, ein Nachrichtenmedium würde politisches Lobbyistentum betreiben, der Lächerlichkeit preisgab. Innerhalb weniger Tage wurde der Plan offiziell fallengelassen, angeblich auf persönlichen Befehl des Globanic-Vorsitzenden Theodore Elliott.

Und wieder mußte Chippingham vor seiner Chefin erscheinen.

Sie fragte ihn barsch, ohne jede Begrüßung: »Wer in der Nachrichtenabteilung hat das Memo an die Post gegeben?«

»Ich habe keine Ahnung«, log er.

»Blödsinn. Auch wenn Sie es nicht genau wissen, einen Verdacht haben Sie sicher!«

Chippingham hielt es für besser zu schweigen, und er stellte mit Erleichterung fest, daß Margot gar nicht auf die Idee kam, er selbst könne der Übeltäter sein.

Sie brach das sekundenlange Schweigen. »Seitdem ich hier bin, waren Sie nur unkooperativ.«

»Es tut mir leid, daß Sie das so sehen, weil es meiner Meinung nach nicht stimmt. Ich habe nur versucht, ehrlich zu sein.«

Ohne auf seinen Widerspruch einzugehen, fuhr Margot fort: »Wegen Ihrer widerspenstigen Haltung habe ich Erkundigungen über Sie einholen lassen und einiges erfahren. Unter anderem auch, daß Ihnen Ihr Job im Augenblick sehr wichtig ist, weil Sie es sich finanziell nicht leisten können, ihn zu verlieren.«

»Mein Job war mir schon immer wichtig. Und was die finanzielle Seite angeht, trifft das nicht auf die meisten Leute zu?« Chippingham fragte sich mit Unbehagen, was noch kommen würde.

Mit einem dünnen, überheblichen Lächeln sagte Margot: »Ich zumindest stecke nicht mitten in einem vertrackten Scheidungsprozeß. Aber Sie. Ihre Frau will eine großzügige finanzielle Entschädigung plus einen Großteil Ihres gemeinsamen Besitzes, und wenn sie das nicht bekommt, wird sie vor Gericht Beweise vorlegen für eine ganze Reihe von Ehebrüchen, die zu verheimlichen Sie sich nicht die Mühe gemacht haben. Außerdem haben Sie Schulden, darunter einen großes Bankdarlehen, und deshalb brauchen Sie dringend ein regelmäßiges Einkommen, sonst stehen Sie vor dem Bankrott.«

Chippingham hob entrüstet die Stimme. »Das ist eine Beleidigung. Und ein Eingriff in meine Intimsphäre.«

»Das mag ja sein«, erwiderte Margot gelassen. »Aber es stimmt.«

Trotz seines Protests war er entsetzt über das Ausmaß ihres Wissens. Er war in einer verzweifelten finanziellen Zwangslage, nicht zuletzt deshalb, weil er mit Geld nicht umgehen konnte und im Lauf der Jahre nicht nur sein beträchtliches Gehalt verschleudert, sondern auch noch hohe Schulden gemacht hatte. Er hatte auch nie den Reizen anderer Frauen widerstehen können, eine Schwäche, die Stasia, seine Frau seit zwanzig Jahren, offensichtlich akzeptiert hatte - bis vor drei Monaten. Ohne Vorwarnung war Stasias aufgestaute Wut explodiert, und sie hatte sich, mit dem angesammelten Belastungsmaterial in der Hinterhand, in einer wilden Scheidungsklage Luft gemacht. Trotzdem hatte er sich törichterweise auf eine neue Affäre eingelassen, diesmal mit Rita Abrams, einer Kollegin von CBA. Er hatte es eigentlich gar nicht beabsichtigt, aber es war trotzdem passiert. Dann aber fand er Gefallen daran und wollte weitermachen. Doch der Gedanke, seinen Job zu verlieren, jagte ihm Angst ein.

»Jetzt hören Sie mir gut zu«, sagte Margot. »Es ist nicht schwer, einen Nachrichtenchef zu ersetzen, und wenn ich muß, werde ich es auch tun. Bevor Sie überhaupt wissen, was los ist, sitzen Sie schon auf der Straße und ein anderer auf Ihrem Stuhl. Es gibt genügend Bewerber für Ihren Posten, innerhalb und außerhalb unseres Senders. Ist das klar?«

»Ja, es ist klar«, erwiderte Chippingham resigniert.

»Aber wenn Sie mit mir an einem Strang ziehen, können Sie bleiben. Ich bestimme, was in der Nachrichtenabteilung läuft. Und noch eins: Wenn ich etwas will, das Ihnen nicht gefällt, dann kommen Sie mir nicht mit Ihrem Gewäsch über Ethik und journalistische Keuschheit. Ihre Unschuld haben Sie verloren -falls Sie sie je hatten -, als Sie diesen Fortsetzungsbericht über Theo Elliotts Steuern nicht brachten.« Margot zeigte ihm wieder ihr dünnes Lächeln. »Oh ja, ich kenne die Geschichte. Das heißt, Sie haben sich bereits korrumpieren lassen, und die nächsten paar Male machen da keinen Unterschied mehr. Das ist alles. Sie können gehen.«

Stattgefunden hatte diese Unterhaltung zwei Tage bevor zuerst Chuck Insen und dann Crawford Sloane den Nachrichtenchef wegen ihrer persönlichen Probleme mit den National Evening News aufgesucht hatten. Chippingham wußte, daß ihre Probleme schnellstens und innerhalb der Nachrichtenabteilung gelöst werden mußten. Denn er wollte so lange wie möglich keine weiteren Besuche bei Margot, keine Konfrontationen mehr.

»Ich sag' dir eins, Crawf, und ich habe es auch Chuck gesagt«, fuhr nun Chippingham fort, »im Augenblick würdet ihr bei uns den größten Schaden anrichten, wenn ihr euren internen Streit an die Öffentlichkeit tragt. Drüben in Stonehenge ist die Nachrichtenabteilung in Ungnade gefallen. Und was Chucks Idee angeht, sich direkt an Margot Lloyd-Mason zu wenden: Sie würde für keinen von euch Partei ergreifen. Sie würde höchstens noch weitere Einsparungen anordnen, mit der Begründung, wenn wir Zeit für interne Querelen haben, dann sind wir nicht ausgelastet und deshalb personell überbesetzt.«

»Das kann ich widerlegen«, erwiderte Sloane.

»Und ich garantiere dir, daß man dich überhaupt nicht anhören würde.« Chippingham geriet nun langsam in Wut, was bei ihm nicht häufig vorkam. Für gewöhnlich war es die Aufgabe des Nachrichtenchefs, sein journalistisches Personal und eben auch den Moderator gegen das Topmanagement des Senders zu schützen. Aber es gab auch Grenzen; und dieses eine Mal beschloß er, hart zu bleiben und unverblümt seine Meinung zu sagen. »Du kannst ruhig wissen, daß unsere neue Chefin nicht viel Zeit für dich übrig hat. Wegen dieses saublöden Briefs, den ihr an die Times geschrieben habt, hat sie dich arrogant und überbezahlt genannt.«

»Der Brief traf haargenau ins Schwarze«, protestierte Sloane. »Ich habe das Recht auf meine freie Meinung, und die habe ich auch zum Ausdruck gebracht.«

»Blödsinn! Die ganze Sache ging dich überhaupt nichts an. An diesem Punkt bin ich mit Margot einer Meinung. O Mann, Crawf, werd doch endlich mal erwachsen. Man kann doch nicht ein Gehalt einschieben, wie du es tust, und trotzdem >einer der Jungs< bleiben und blöd daherreden, wenn man gerade Lust dazu hat.«

Es gab keinen Grund, dachte Chippingham, warum er sich alleine mit den neuen Besitzern herumschlagen sollte. Sloane, Insen und die anderen konnten ruhig auch die Köpfe hinhalten. Der Nachrichtenchef hatte noch einen persönlichen Grund für seine Verärgerung. Es war bereits Donnerstag, und er hatte geplant, noch an diesem Abend für ein langes, verliebtes Wochenende mit Rita Abrams nach Minnesota zu fahren. Rita war bereits am Abend zuvor dort eingetroffen. Doch er konnte nun nicht zulassen, daß dieser dumme Streit in seiner Abwesenheit weitergärte.

»Aber ich bleibe bei dem, was ich am Anfang gesagt habe«, meinte Sloane. »Es muß Änderungen in der Struktur unserer Nachrichten geben.«

»Kann es ja auch«, erwiderte Chippingham. »Ich habe mir da selbst schon einige Gedanken gemacht. Aber wir werden das Problem hier unter uns lösen.«

»Wie?«

»Nächste Woche werde ich mich mit dir und Chuck Insen zusammensetzen - und zwar so lange, bis wir zu einer Einigung gekommen sind. Und wenn ich euch die Köpfe einschlagen muß, wir werden einen akzeptablen Kompromiß erreichen.«

»Wir können es ja versuchen«, erwiderte Sloane zweifelnd. »Aber besonders begeistert bin ich nicht.«

Chippingham hob die Schultern. »Du mußt ja nicht gleich begeistert sein.«

Nachdem der Nachrichtenchef gegangen war, saß Sloane schweigend in seinem Büro und dachte über ihr Gespräch nach. Dann fiel ihm die Durchsage über Larchmont wieder ein. Weil er wissen wollte, ob sich schon etwas Neues ergeben hatte, verließ er sein Büro und ging in den Redaktionssaal.

15

Bert Fisher, der Informant aus Larchmont, blieb am Ball, nachdem ihn ein Polizeifunkspruch auf die Spur einer »möglichen Entführung« gebracht hatte. Nach seinem Anruf bei WCBA-TV stürzte Bert aus seiner Wohnung und hoffte nur, daß sein zerbeulter, zwanzig Jahre alter VW Käfer mitmachte. Nach einigen bangen Sekunden sprang er an, wenn auch unter Ächzen und Stöhnen. Bert hatte auch im Auto ein Abhörgerät, das er nun auf die Frequenz des Polizeifunks einstellte. Dann fuhr er in die Stadt, zum Grand Union Supermarkt.

Auf halbem Weg dorthin ließ ihn ein weiterer Polizeifunkspruch die Richtung ändern.

»Wagen 423 an Revier. Fahren jetzt zum Haus des potentiellen Entführungsopfers. Adresse: 66 Park Avenue. Erbitten Verstärkung durch einen Kriminalbeamten, der uns dort treffen soll.«

»Revier an 423. Zehn vier.«

Und nach einer kurzen Pause: »Revier an Wagen 426. Fahren Sie schnell zur Park Avenue, Haus Nr. 66. Streifenwagen 423 erwartet Sie dort. Lassen Sie sich von dem Streifenbeamten über den Fall berichten, und nehmen Sie die Ermittlungen auf.«

Im Klartext, das wußte Bert, hieß »Fahren Sie schnell« mit Blaulicht und Sirene. Die Sache kam also offensichtlich ins Rollen, und Bert beschleunigte sein Tempo, soweit sein uralter Volkswagen es zuließ. Während er auf die Park Avenue zufuhr, ging ihm die angegebene Hausnummer nicht mehr aus dem Kopf: Er war sich nicht ganz sicher, aber wenn das Haus demjenigen gehörte, an den er dachte, dann war er wirklich einer heißen Geschichte auf der Spur.

Officer Jensen, der auf den Hilferuf vom Grand Union Supermarkt reagiert und die alte Lady, Priscilla Rhea, befragt hatte, wurde das Gefühl nicht mehr los, in etwas Ernstes hineingeraten zu sein. In Gedanken ging er noch einmal durch, was er bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte.

Bei seiner Zeugenbefragung vor dem Supermarkt hatten einige Personen übereinstimmend ausgesagt, sie hätten gesehen, wie eine Frau in großer Eile und offensichtlich sehr bestürzt den Supermarkt verließ. Zwei der Zeugen konnten die Frau als Mrs. Crawford Sloane identifizieren. Den Angaben zufolge war sie in Begleitung ihres Sohnes und zweier Männer, der eine um die Dreißig, der andere älter. Der Dreißigjährige hatte den Laden offensichtlich alleine betreten. Er hatte zunächst einige andere Frauen gefragt, ob sie Mrs. Sloane seien. Sobald er dann die richtige Mrs. Sloane gefunden hatte, kam es zu dem überstürzten Aufbruch.

Danach war Miss Rhea die einzige, die behauptete, die vier gesehen zu haben. Ihre Geschichte eines Überfalls, bei dem die Opfer in einem »kleinen Bus« entführt worden seien, wurde immer glaubwürdiger. Unter anderem auch deshalb, weil Mrs. Sloanes Volvo, auf den ein Bekannter des Opfers Jensen hingewiesen hatte, noch immer auf dem Parkplatz des Supermarkts stand, während Mrs. Sloane und ihre Begleiter offensichtlich verschwunden waren. Und schließlich gab es noch diese Flecken auf dem Asphalt, die möglicherweise Blut waren. Jensen hatte einen der inzwischen eingetroffenen Beamten gebeten, sie als Beweismittel für eine spätere Untersuchung zu sichern.

Ein weiterer Zeuge, der in der Nähe der Sloanes wohnte, hatte Jensen die Adresse der Familie genannt. Da es nun am Supermarkt für ihn nichts mehr zu tun gab, hatte er die Adresse durchgegeben und um einen Kriminalbeamten gebeten, der ihn dort treffen sollte. Unter anderen Umständen hätte er auch den Namen der mutmaßlich Entführten genannt, zumal der Funkverkehr der Polizei von Larchmont etwas zwangloser ablief als der größerer Einheiten. Da aber Larchmonts berühmtester Einwohner betroffen war und möglicherweise Unbefugte den Funkverkehr abhörten, hielt er den Namen vorerst zurück.

Jensen war jetzt auf dem Weg zur Park Avenue - eine Fahrt von wenigen Minuten.

Er war eben in die Auffahrt zum Haus Nr. 66 eingebogen, als ein zweites - ziviles - Fahrzeug mit aufgesetztem Blinklicht und heulender Sirene auftauchte und hinter ihm anhielt. Detective Ed York, ein altgedienter Kriminalbeamter, den Jensen gut kannte, stieg aus. York und Jensen unterhielten sich kurz und gingen dann gemeinsam zum Haus. Die beiden Polizisten stellten sich Florence, dem Dienstmädchen der Sloanes, vor, die bei dem Lärm der Sirene zur Haustür gelaufen war. Mit einem Gesicht, in dem sich Überraschung und Besorgnis spiegelten, ließ sie die Beamten ein.

»Es besteht die Möglichkeit, aber wirklich nur die Möglichkeit«, begann nun Detective York, »daß Mrs. Sloane etwas zugestoßen ist.« Dann stellte er ihr einige Fragen, und während Florence darauf antwortete, wurde ihre Besorgnis immer größer.

Ja, sie sei im Haus gewesen, als Mrs. Sloane, Nicky und Mr. Sloanes Vater zum Einkaufen wegfuhren. Gegen elf Uhr sei das gewesen. Um 9 Uhr 30, als sie gekommen sei, habe gerade Mr. Sloane das Haus verlassen. Nein, seit Mrs. Sloanes Abfahrt habe sich niemand von der Familie gemeldet. Aber das habe sie auch nicht erwartet. Auch sonst habe es keine Anrufe gegeben. Nein, sie habe nichts Ungewöhnliches bemerkt, als Mrs. Sloane und die anderen wegführen. Bis auf... na ja...

Florence hie lt inne und fragte dann ängstlich: »Was ist denn überhaupt los? Was ist mit Mrs. Sloane passiert?«

»Im Augenblick haben wir keine Zeit für lange Erklärungen«, antwortete der Detective. »Was meinen Sie mit >bis auf... na ja

»Nun, als Mrs. Sloane, ihr Schwiegervater und Nicky wegfuhren, war ich da drin.« Sie deutete auf ein von der Sonne erleuchtetes Zimmer im vorderen Teil des Hauses. »Ich sah sie wegfahren.«

»Und?«

»Da stand ein Auto in dieser Nebenstraße, man kann die Stelle von hier aus sehen. Sobald Mrs. Sloane auf der Straße war, fuhr dieses andere Auto ebenfalls los und folgte ihr. Aber ich machte mir deswegen keine Gedanken.«

»Dafür hatten Sie ja auch keinen Grund«, sagte Jensen. »Können Sie das Auto beschreiben?«

»Ich glaube, es war dunkelbraun. So etwa mittelgroß.«

»Konnten Sie das Nummernschild sehen?«

»Nein.«

»Haben Sie die Marke erkannt?«

Florence schüttelte den Kopf. »Die sehen für mich alle gleich aus.«

»Lassen wir es für den Augenblick dabei«, sagte York zu Jensen. Dann wandte er sich an Florence. »Denken Sie über das Auto nach. Falls Ihnen noch irgend etwas einfällt, sagen Sie uns Bescheid.«

Der Detective und Jensen gingen nach draußen. Im selben Augenblick fuhren zwei weitere Polizeiwagen vor. Der eine brachte einen uniformierten Sergeanten, der andere den Polizeichef von Larchmont. Der Chef, ebenfalls in Uniform, war groß und schlank und hatte ein eher unauffälliges Auftreten, das viele täuschte. Die vier Beamten kamen in der Auffahrt zu einer kurzen Beratung zusammen.

Am Ende fragte der Chef den Detective York: »Glauben Sie, das ist was Ernstes - eine Entführung?«

»In diesem Augenblick«, antwortete York, »deutet alles darauf hin.«

»Jensen?«

»Ja, Sir. Es ist ernst.«

»Sie sagten, der Nissan hatte Nummernschilder aus New Jersey?«

»Nach Aussage eines Zeugen, ja, Sir.«

Der Chef überlegte. »Falls es sich um eine Entführung handelt und der Wagen über eine Staatsgrenze fährt, wird das FBI zuständig. So steht's im Lindbergh-Gesetz.« Dann fügte er hinzu: »Obwohl sich das FBI ja wenig um solche Kleinigkeiten kümmert.«

Der letzte Satz klang etwas säuerlich und spiegelte die Überzeugung vieler Ortspolizisten wider, daß das FBI jeden prestigeträchtigen Fall an sich riß, während es immer Gründe fand, andere, die es nicht interessierte, abzulehnen. Doch dann sagte der Chef kurz entschlossen: »Ich werde das FBI hinzuziehen.«

Er ging zu seinem Auto und griff nach dem Funkgerät.

Wenige Minuten später kehrte er zu den anderen zurück und befahl York, er solle ins Haus gehen und dort bleiben. »Lassen Sie sich zuallererst vom Dienstmädchen mit Mr. Sloane verbinden. Erzählen Sie ihm alles, was Sie wissen, und sagen Sie ihm, daß wir unser möglichstes tun. Und danach nehmen Sie alle Anrufe entgegen. Schreiben Sie sich alles auf. Wir werden Ihnen bald Verstärkung schicken.«

Der Sergeant und Jensen erhielten den Auftrag, vor dem Haus Wache zu halten. »Bald werden mehr Leute hier herumschwirren als Fliegen auf 'nem Örtchen. Laßt niemand durch, außer das FBI. Sobald die Presse auftaucht und Fragen stellt, schickt sie ins Revier.«

In diesem Augenblick hörten sie das laute Knattern eines herannahenden Autos. Sie drehten die Köpfe. Es war ein alter, weißer VW Käfer, und der Polizeichef meinte düster: »Da ist der erste.«

Bert Fisher mußte das Haus Nr. 66 an der Park Avenue nicht lange suchen. Das Aufgebot an Polizeifahrzeugen war nicht zu übersehen.

Als er seinen VW am Straßenrand abstellte und ausstieg, saß der Polizeichef bereits wieder in seinem Wagen und wollte losfahren. Bert lief zu ihm. »Chief, können Sie schon eine Erklärung abgeben?«

»Ach, Sie sind es!« Der Polizeichef kurbelte das Fenster herunter, er kannte den alten Nachrichtenjäger sehr gut. »Eine Erklärung wozu?«

»Ach kommen Sie, Chief. Ich hab' den ganzen Funkverkehr mitgekriegt und gerade eben noch Ihre Anweisung, das FBI zu informieren.« Bert sah sich um und merkte, daß er mit seiner Vermutung recht behalten hatte. »Das ist doch Crawford Sloanes Haus, oder?«

»Ja.«

»Und es ist Mrs. Sloane, die entführt wurde?«

Der Polizeichef zögerte etwas, doch Bert flehte ihn an: »Hören Sie, ich war der erste hier. Geben Sie doch 'nem Einheimischen auch mal'ne Chance.«

Der Polizeichef war ein einsichtiger Mann. Warum eigentlich nicht? dachte er. Eigentlich mochte er diesen Fisher sogar, obwohl er manchmal lästig sein konnte wie ein Moskito. Aber er war nie hinterhältig wie viele andere von der Presse.

»Wenn Sie den Funkverkehr gehört haben«, sagte er, »dann wissen Sie ja, daß wir noch keine gesicherten Erkenntnisse besitzen. Aber ja, wir glauben in der Tat, daß Mrs. Sloane möglicherweise entführt wurde, zusammen mit ihrem Sohn Nicholas und Mr. Sloanes Vater.«

Bert, der mitschrieb, was der Beamte sagte, wußte, daß dies die wichtigste Story seines Lebens war, und er wollte vorsichtig sein. »Sie wollen damit sagen, die Polizei von Larchmont geht von der Annahme aus, daß es sich um eine dreifache Entführung handelt.«

Der Polizeichef nickte. »Das können Sie so bringen.«

»Haben Sie schon einen Verdacht, wer dahinterstecken könnte?«

»Nein. Ach, noch eins. Mr. Sloane ist noch nicht informiert, und wir versuchen eben, mit ihm in Kontakt zu kommen. Also lassen Sie uns um Gottes willen Zeit dafür, bevor Sie die Sache an die große Glocke hängen.«

Mit diesen Worten fuhr der Polizeichef davon, und Bert lief zu seinem VW. Trotz der Bitte des Polizeichefs hatte er nicht die Absicht, auf irgend etwas zu warten. Ihn beschäftigte nur eine Frage: Wo ist das nächste Telefon?

Als Bert Augenblicke später die Park Avenue verließ, sah er ein anderes Auto in die Straße einbiegen, dessen Fahrer er kannte. Es war der lokale Kontaktmann von WNBC-TV. Dann war die Konkurrenz also auch schon an der Geschichte dran. Wenn Bert die Nase vorne behalten wollte, mußte er sich beeilen.

Gleich in der Nähe, an der Boston Post Road, fand er ein Telefon. Während er die Nummer von WCBA-TV wählte, zitterten seine Finger.

16

Es war 11 Uhr 20, und im hektischen Redaktionssaal von WCBA-TV stieg die Spannung, wie immer in der letzten Stunde vor den lokalen Mittagsnachrichten des Senders. An diesem Tag gab es eine ganze Reihe von teilweise noch gar nicht abgeschlossenen Berichten, die als Aufmacher in Frage kamen.

Ein berühmter Prediger, der sich in New York aufgehalten hatte, um eine kirchliche Ehrung entgegenzunehmen, war tot in seiner Waldorf-Suite aufgefunden worden. Als Todesursache vermutete man eine Überdosis Kokain, und eine Prostituierte, die die Nacht mit ihm verbracht hatte, wurde von der Polizei verhört. Im Zentrum von Manhattan stand ein Bürogebäude in Flammen, die in den obersten Stockwerken Eingeschlossenen wurden von Hubschraubern gerettet. Ein krebskranker Wall Street Milliardär ließ sich in einem Rollstuhl durch die Bronx schieben und warf mit vollen Händen Hundertdollarscheine in die Menge. Alle paar Minuten erhielt er Nachschub aus einem hinterherfahrenden gepanzerten Wagen.

Bert Fishers Anruf erreichte denselben Assistant News Director wie schon zuvor, der, als er hörte, wer anrief, nur kurz in den Hörer bellte: »Hier geht's zu wie im Tollhaus. Machen Sie's kurz!«

Bert tat es, worauf der junge Journalist ungläubig fragte: »Sind Sie sicher? Haben Sie eine Bestätigung?«

»Vom Polizeichef persönlich«, antwortete Bert und fügte stolz hinzu: »Er gab mir ein Exklusivinterview, und ich mußte ihm seine Angaben zur Sicherheit noch einmal wiederholen.«

Der Assistant News Director war aufgesprungen, winkte seiner Chefin und rief: »Leitung vier! Leitung vier!« Und zu einem Disponenten am Tisch neben seinem: »Wir brauchen ein Kamerateam in Larchmont, und zwar schnell. Frag mich nicht, wo du es hernehmen sollst. Zieh irgendwo eins ab und schick es hin.«

Die Nachrichtenchefin sprach bereits mit Bert Fisher. Sie notierte sich die wichtigsten Punkte und fragte dann: »Wer hat die Geschichte sonst noch?«

»Ich war der erste. Und bin's immer noch. Aber der Mann von WNBC kam an, als ich wegfuhr.«

»Hatte er ein Kamerateam dabei?«

»Nein.«

Der Assistant News Director kam an ihren Tisch und meldete: »Ein Team ist bereits unterwegs. Wir haben es aus der Bronx abgezogen.«

Sie sprach noch immer mit Bert Fisher. »Bleiben Sie dran!« Dann wandte sie sich an einen Texter: »Leitung vier. Es ist Fisher, aus Larchmont. Nimm alles, was er hat, und schreib es als Aufmacher für die Mittagsausgabe.«

Gleichzeitig griff sie zu dem Telefon, das sie direkt mit CBA verband. Ernie LaSalle nahm den Anruf entgegen, und sie sagte ihm: »Die Entführung in Larchmont ist bestätigt. Vor einer halben Stunde haben unbekannte Täter Crawford Sloanes Frau, seinen Sohn und seinen Vater verschleppt.«

»Um Himmels willen!« Ungläubigkeit und Entsetzen lagen in LaSalles Stimme. »Weiß Crawf es schon?«

»Ich glaube nicht.«

»Hat die Polizei bereits Ermittlungen aufgenommen?«

»Ja, und das FBI ist auch schon informiert. Fisher, unser Mann vor Ort, hat eine Erklärung des Polizeichefs von Larchmont.« Die Nachrichtenchefin las die Erklärung des Beamten und Fishers Nachfrage laut vor. Sie endete mit der Schlußbemerkung des Polizeichefs: »Das können Sie so bringen.«

»Lies es noch einmal vor.« LaSalle versuchte verzweifelt mitzuschreiben.

Die Nachrichtenchefin von WCBA gehorchte und fügte dann hinzu: »Soweit wir wissen, ist WNBC auch an der Story. Aber wir haben die Nase vorn. Hör zu, wir wollen die Sache auf jeden Fall in der Mittagsausgabe bringen, und ich überlege mir, ob wir nicht sofort das Programm unterbrechen und eine Sondermeldung rausgeben sollen. Aber ich dachte mir, da es doch seine Familie ist... «

Bevor sie den Satz beenden konnte, fuhr LaSalle sie an: »Ihr tut überhaupt nichts da drüben. Das ist eine Sache für die ganz oben. Und wenn die Story überhaupt jemand bringt, dann wir.«

LaSalle hatte nur Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen.

Er hatte mehrere Möglichkeiten.

Zum einen konnte er sich die Zeit nehmen, zuerst Crawford zu suchen, der aber möglicherweise gar nicht im Haus war, um ihm persönlich und so schonend wie möglich die schreckliche Nachricht beizubringen. Er konnte aber auch über das rote Telefon die gesamte Nachrichtenabteilung über die Entführung der Sloanes informieren und damit hektische Aktivität auslösen, weil man versuchen würde, einen Live-Bericht zusammenzustellen. Die dritte Möglichkeit war ein Anruf in der Kontrollzentrale des Senders mit der Ankündigung, daß CBA News in etwa drei Minuten »auf Sendung gehen« und das normale Programm mit einer Sondermeldung unterbrechen werde. LaSalle war einer der wenigen Leute mit der Befugnis zu einer solchen Unterbrechung; und seiner Meinung nach war diese Meldung nicht nur wichtig, sondern auch von außergewöhnlichem Interesse für die Öffentlichkeit.

Doch er entschied sich schließlich für die zweite Möglichkeit, unter anderem auch deshalb, weil er wußte, daß noch ein zweiter New Yorker Sender, die NBC-Tochter WNBC-TV an der Geschichte dran war. Und wie CBA würde auch NBC in Kürze einen Bericht von ihrer Tochter erhalten. Für menschliche Nettigkeiten war deshalb keine Zeit. Was die mögliche Programmunterbrechung betraf, gab es noch genügend andere Leute im Sender, darunter auch Les Chippingham, die diese Entscheidung treffen konnten.

Tut mir leid, dir das antun zu müssen, Crawf, dachte LaSalle, während er zum roten Telefon griff.

»Inlandsredaktion. LaSalle. Die früher gemeldete Entführung in Larchmont, New York, ist vom Polizeichef des Ortes bestätigt worden. Das FBI ist bereits alarmiert. Nach Angaben der Polizei handelt es sich bei den Opfern um Mrs. Crawford Sloane, den jungen Nicholas Sloane und...« La Salle mußte feststellen, daß ihm trotz seiner Entschlossenheit und seines Professionalismus die Stimme brach. Er nahm sich zusammen und fuhr fort: »... Crawfords Vater. Sie wurden unter Gewaltanwendung von Unbekannten verschleppt. WCBA ist am Tatort, erste Informationen sind bereits im Haus. Angeblich arbeitet auch NBC an der Geschichte, aber wir haben die Nase vorn. Die Inlandsredaktion empfiehlt Programmunterbrechung für eine Sondermeldung.«

Verwirrung und Entsetzen lähmten die gesamte Nachrichtenabteilung. Alle hörten auf zu arbeiten. Man sah sich gegenseitig an, auf vielen Gesichtern lag die unausgesprochene Frage: Habe ich das wirklich gehört? Und nach der Bestätigung kamen noch mehr Fragen, auf die es keine Antwort gab: Wie konnte das passieren? Wer würde denn so etwas tun? Gibt es eine Lösegeldforderung? Was wollen die Entführer? Wie stehen die Chancen, daß die Polizei sie schnell fängt? O Gott, wie wird Crawford sich jetzt fühlen?

Die Verantwortlichen am Hufeisen im Stock über dem Redaktionssaal waren ähnlich entsetzt, doch bei ihnen dauerte der Schock nur Sekunden. Danach entwickelten sie, aus Gewohnheit und aus Disziplin, hektische Aktivität.

Chuck Insen, der ranghöchste Produzent im Haus, verließ im Laufschritt sein Büro. Sein Instinkt sagte ihm, daß man den Rat der Inlandsredaktion, das Programm mit einer Sondermeldung zu unterbrechen, befolgen würde. Wenn das geschah, mußte Insen an seinem Platz im Regieraum vier Stockwerke tiefer sein. Er erreichte die Aufzüge und drückte den Abwärts-Knopf.

Während er ungeduldig auf einen Aufzug wartete, dachte er voller Mitgefühl an Sloane. Ihre Differenzen waren für den Augenblick völlig vergessen. Er fragte sich, wo Crawf steckte. Insen hatte ihn zuvor nur kurz und aus der Entfernung gesehen und wußte, daß Crawf und Les Chippingham in Sloanes Büro die Köpfe zusammensteckten und über ein Thema sprachen, das er bereits kannte. Crawf war vermutlich irgendwo im Haus und hatte sicher die Lautsprecherdurchsage gehört. Und das warf eine wichtige Frage auf.

Wenn das normale Programm für eine Sondermeldung unterbrochen wurde, dann war es immer der Moderator der Abendnachrichten - bei CBA eben Crawford Sloane -, der sie vor den Kameras verlas. War der Moderator nicht im Haus, wurde nach ihm gesucht, und in der Zwischenzeit nahm ein gerade verfügbarer Korrespondent seinen Platz ein. Aber in diesem Fall, das wußte Insen sehr wohl, konnte man von Sloane unmöglich erwarten, daß er diese so überraschende, entsetzliche Nachricht über seine Familie selbst verlas.

In diesem Augenblick öffnete sich eine Aufzugstür und der Wirtschaftskorrespondent von CBA, Don Kettering, trat heraus. Kettering, ein Mann mittleren Alters mit einem dünnen Schnurrbart, der selbst wie ein erfolgreicher Wirtschaftsmanager aussah, öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Aber er kam nicht dazu, denn Insen schob ihn in den Aufzug zurück und drückte auf den Knopf für das erste Kellergeschoß. Die Aufzugstüren schlossen sich.

»Was zum...«, stotterte Kettering.

»Halt die Klappe«, sagte Insen. »Hast du die Lautsprecherdurchsage gehört?«

»Ja, tut mir verdammt leid. Ich wollte eben zu Crawf und ihm sagen... «

»Du gehst nirgendwohin«, entgegnete Insen, »außer auf Sendung. Lauf sofort ins Sonderstudio. Crawf kann es unmöglich machen. Und du bist verfügbar. Ich sag' dir dann vom Regieraum aus Genaueres.«

Kettering, ein heller Kopf und ein in allen Bereichen erfahrener Journalist, nickte nur. Er schien sich sogar ein wenig auf die neue Aufgabe zu freuen. »Ich brauche aber genauere Informationen.«

»Du bekommst alles, was wir haben. Du hast ein paar Minuten Zeit, um es dir durchzulesen, und dann mußt du improvisieren. Wenn was Neues reinkommt, kriegst du es sofort auf den Tisch.«

»In Ordnung.«

Während Insen den Aufzug verließ, drückte Kettering auf den Knopf, der ihn wieder nach oben ins Sendestudio brachte.

Im ganzen Haus herrschte fieberhafter Betrieb, die Nachrichtenmaschinerie lief auf Hochtouren.

Im Redaktionssaal trommelte der für den Nordosten zuständige Disponent eben zwei Kamerateams mit Korrespondenten zusammen. Sie erhielten den Auftrag, so schnell wie möglich nach Larchmont zu fahren und dort Bilder vom Tatort sowie Interviews mit Polizisten und Zeugen aufzunehmen. Ein Übertragungswagen würde in Kürze folgen.

In einem kleinen Archiv neben dem Hufeisen, einem Ableger einer größeren Bibliothek in einem anderen Gebäude, stellten einige Mitarbeiter hastig eine Biographie von Crawford Sloane und seiner Familie zusammen, doch über Jessica und Nicholas war nur wenig vorhanden, da Jessica auf ihre Privatsphäre großen Wert legte.

Das Hauptarchiv hatte dennoch eine Fotografie von Jessica aufgetrieben, die in diesem Augenblick über Telefax hereinkam. Ein Grafiker stand vor dem Gerät und wartete ungeduldig, bis er das Bild herausnehmen konnte, um es in ein Dia umzuwandeln. Ein anderer Computer druckte inzwischen die Kriegsbiographie von Angus Sloane aus. Auch von ihm gab es ein Foto. Nur von Nicky hatte man bis jetzt noch keins gefunden.

Ein Assistent packte sich das ganze verfügbare Material und lief damit hinunter zum Sonderstudio, wo Don Kettering eben erst eingetroffen war. Gleich hinter ihm kam ein Bote von der Inlandsredaktion mit einem Ausdruck von Bert Fishers Bericht aus Larchmont, den WCBA-TV herübergeschickt hatte. Kettering setzte sich an den Sprechertisch, versuchte, sich vor der Hektik im Studio zu verschließen und vertiefte sich in die Lektüre. Unterdessen trafen Techniker ein, Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Jemand steckte Kettering ein Mikrofon ans Revers. Ein Kameramann stellte sein Objektiv auf Kettering ein.

Das Sonderstudio war das kleinste Studio im Haus, kaum größer als ein gewöhnliches Wohnzimmer. Es gab nur eine einzige Kamera, doch das Studio hatte den Vorteil, in Situationen wie dieser innerhalb weniger Minuten sendebereit zu sein.

Im abgedunkelten Regieraum, in dem inzwischen Chuck Insen Platz genommen hatte, setzte sich nun eine Aufnahmeleiterin in ihren Stuhl vor der Monitorwand. Einige der Schirme zeigten bereits Bilder, andere waren noch dunkel. Ein Assistent stellte sich mit einem aufgeschlagenen Notizbuch in der Hand rechts neben die Frau. Die Techniker nahmen ihre Plätze ein, Fragen und Befehle schwirrten hin und her.

»Achtung, Kamera eins. Mikrofoncheck.«

»Bill, das wird eine Livemeldung. Geh rein mit >Wir unterbrechen dieses Programm< und wieder raus mit >Und nun zurück zum Programm.««

»Okay. Hab' verstanden.«

»Gibt es schon ein Manuskript?«

»Nein. Don soll aus dem Stegreif sprechen.«

»Fahrt die Kontrollschirme an.«

»Kamera eins, zeig uns Kettering.«

Nun flackerten immer mehr Monitore auf, und einer davon brachte ein Bild aus dem Sonderstudio. Don Ketterings Gesicht füllte den Bildschirm.

Der Assistent der Aufnahmeleiterin telefonierte mit der Regiezentrale. »Hier Nachrichten. Wir wollen das Programm für eine Sondermeldung unterbrechen. Bitte haltet euch bereit.«

»Ist das Vorspanndia fertig?« fragte die Aufnahmeleiterin.

»Hier ist es«, kam die Antwort.

Ein weiterer Monitor leuchtete auf, große rote Buchstaben waren zu sehen:

CBA NEWS

SONDERMELDUNG

»Halt es da.« Die Aufnahmeleiterin wandte sich an Insen. »Chuck, wir sind soweit. Können wir loslegen?«

»Das versuche ich eben herauszufinden«, antwortete der Studioleiter, einen Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Er sprach mit Les Chippingham im Redaktionssaal, wo Crawford Sloane in diesem Augenblick um einen Aufschub bat.

Es war 11 Uhr 52.

Die entsetzliche Nachricht aus der Inlandsredaktion erreichte Crawford Sloane auf dem Weg zum Redaktionssaal, wo er Genaueres über die erste Meldung aus Larchmont in Erfahrung bringen wollte.

Bei Beginn der Durchsage horchte er auf und blieb dann entsetzt und wie betäubt stehen, denn er konnte kaum glauben, was er gehört hatte. Einen Augenblick später riß ihn eine Sekretärin aus seiner Trance, die ihn beim Verlassen seines Büros gesehen hatte und ihm nun hinterherlief. »Mr. Sloane!« rief sie. »Die Polizei von Larchmont ist am Apparat. Sie wollen dringend mit Ihnen sprechen.«

Er folgte dem Mädchen und nahm dem Anruf in seinem Büro entgegen.

»Mr. Sloane, hier spricht Detective York. Ich bin bei Ihnen zu Hause und habe leider eine... «

»Ich hab' es eben gehört. Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«

»Es ist leider nicht sehr viel, Sir. Wir wissen, daß Ihre Frau, Ihr Sohn und Ihr Vater den Grand Union Supermarkt vor fünfzig Minuten verlassen haben. Zeugenaussagen zufolge wurden sie in dem Geschäft von einem Mann angesprochen... «

Der Beamte wiederholte die ganze Geschichte bis zu der offensichtlich erzwungenen Abfahrt der drei in dem Nissan Kleinbus. Dann fügte er hinzu: »Wir haben eben erfahren, daß Sonderagenten des FBI bereits auf dem Weg hierher und auch zu Ihnen sind. Ich habe den Auftrag, Ihnen zu sagen, daß man sich Sorgen um Ihre Sicherheit macht. Sie werden Schutz erhalten, aber bis zum Eintreffen der Beamten sollten Sie das Gebäude, in dem Sie sich aufhalten, nicht verlassen.«

In Sloanes Kopf drehte sich alles, die Sorge um seine Familie fraß ihn fast auf. »Gibt es schon einen Verdacht, wer dahinterstecken könnte?« fragte er ängstlich.

»Nein, Sir. Es ist alles sehr plötzlich passiert. Wir tappen noch im Dunkeln.«

»Wie viele Leute wissen bereits von dieser - von dem, was passiert ist?«

»Soweit ich weiß, nur wenige«, antwortete der Beamte und fügte hinzu: »Je länger das so bleibt, um so besser.«

»Warum?«

»Bei einer Entführung, Mr. Sloane, kann Publicity sehr schädlich sein. Wir werden vielleicht schon bald von den Entführern hören. Sie werden vermutlich versuchen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Dann werden wir, oder genauer das FBI, mit ihnen die Verhandlungen beginnen. Die ganze Welt als Zuschauer können wir dabei nicht brauchen. Und die Entführer auch nicht, weil... «

Sloane unterbrach ihn. »Detective, ich werde später mit Ihnen reden. Im Augenblick habe ich etwas sehr Wichtiges zu erledigen.«

Sloane hatte die aufkommende Hektik am Hufeisen bemerkt, und da er wußte, was sie bedeutete, wollte er ein vorschnelles Handeln verhindern. Er stürzte aus seinem Büro und rief: »Wo ist Les Chippingham?«

»Im Redaktionssaal«, erwiderte ein Chefproduzent. Dann fügte er mitfühlend hinzu: »Crawf, es tut uns allen furchtbar leid, aber ich fürchte, wir gehen auf Sendung.«

Sloane hörte es kaum noch. Er lief zur Treppe und sprang schnell hinunter. Im Redaktionssaal sah er Chippingham im Gespräch mit einigen anderen am Tisch des Inlandschefs stehen. Les fragte eben: »Können wir diesem Informanten in Larchmont trauen?«

Ernie LaSalle antwortete: »WCBA sagt, er ist ein netter alter Kerl, der seit Jahren für sie arbeitet - solide und verläßlich.«

»Dann sollten wir das bringen, was wir haben.«

Sloane sprang dazwischen. »Nein, nein, nein! Les, tu's nicht. Wir brauchen mehr Zeit. Von der Polizei habe ich eben erfahren, daß sie auf eine Kontaktaufnahme der Entführer warten. Publicity könnte meiner Familie schaden.«

»Crawf, wir wissen alle, was du durchmachst«, entgegnete LaSalle. »Aber das ist eine heiße Story, und andere haben sie auch. Die halten sie bestimmt nicht zurück. WNBC...«

Sloane schüttelte den Kopf. »Und ich sage nein!« Er sah Les Chippingham direkt in die Augen. »Les, ich flehe dich an -verschieb es!«

Ein peinliches Schweigen folgte. Jeder wußte, daß Sloane unter anderen Umständen der erste wäre, der vorwärts drängte. Aber keiner hatte den Mut, ihm zu sagen: Crawf, du denkst nicht logisch.

Chippingham sah auf die Uhr im Redaktionssaal: 11 Uhr 54.

LaSalle hatte den Anruf von Insen übernommen. »Chuck sagt, sie sind so weit«, berichtete er. »Er will wissen, ob wir jetzt das Programm unterbrechen oder nicht.«

»Sag ihm, ich bin noch bei der Entscheidung«, erwiderte Chippingham. Sollen sie bis Mittag warten, überlegte er. Auf den Kontrollmonitoren, die von der Decke hingen, konnte er das laufende Programm aller großen Sender sehen. Bei CBA lief eben eine populäre Seifenoper, gleich im Anschluß folgte die Werbung. Eine Unterbrechung zu diesem Zeitpunkt wäre eine teure Angelegenheit. Machten diese knappen sechs Minuten wirklich so viel aus?

In diesem Augenblick piepsten mehrere Computer im Redaktionssaal laut auf. Ein leuchtendes »B« erschien auf den Bildschirmen - das Signal für eine dringende Pressemeldung. Jemand las die Meldung ab und rief: »AP hat die Entführungsgeschichte.«

Auf dem Tisch des Inlandschefs klingelte ein weiteres Telefon. LaSalle hob ab, hörte zu und sagte dann leise: »Vielen Dank für die Mitteilung.« Er legte auf und wandte sich an Chippingham: »Das war NBC. Sie wollten uns nur anstandshalber mitteilen, daß sie die Geschichte haben und sie in der Mittagsausgabe bringen.«

Die Uhr zeigte fünfzehn Sekunden vor 11 Uhr 55.

Kurz entschlossen sagte Chippingham: »Wir bringen es sofort.« Und zu LaSalle: »Sag Chuck, er soll das Programm unterbrechen.«

17

In der Zentrale von CBA News, in einem kleinen, schmucklosen Raum zwei Stockwerke unter der Erde, saßen zwei Techniker vor einem komplexen Schaltsystem mit Tausenden farbiger Lichter und Anzeigen, mit Computerterminals und Fernsehmonitoren. Zwei Seiten des Zimmers hatten Glaswände, durch die Neugierige, falls sie zufällig die tristen Korridore entlangkamen, hineinsehen konnten. Dieser Raum war die Kontrollzentrale für alle Abteilungen des Senders, die technische Kommandoleitstelle von CBA.

Von hier aus wurde das gesamte Programm gesteuert -Unterhaltungssendungen, Nachrichten, Sportberichte, Dokumentationen, Präsidentenansprachen und der Klatsch vom Capitol Hill, Liveberichte, Aufzeichnungen und die Werbung. Verglichen mit seiner Bedeutung als elektronisches Herz des Senders waren Lage und Aussehen des Raums erstaunlich unscheinbar.

In der Kontrollzentrale verlief jeder Tag routinegemäß nach einem genau abgestimmten Plan, der die vierundzwanzigstündige Sendezeit in Minuten - manchmal sogar nur sekundenlange Einheiten unterteilte. Normalerweise wurde der Ablauf von Computern gesteuert. Die Techniker hatten lediglich Überwachungsfunktion und griffen nur ein, wenn unerwartete Ereignisse eine Unterbrechung des regulären Programms notwendig machten.

Eine solche Unterbrechung stand nun bevor.

Wenige Augenblicke zuvor hatte sich Chuck Insen über Direktleitung aus dem Regieraum der Nachrichtenabteilung gemeldet und angekündigt: »Wir haben eine Sondermeldung.

Unterbrecht das Programm. Wir gehen auf Sendung - und zwar sofort!«

Noch während Insen sprach, erschien auf einem Bildschirm in der Kontrollzentrale das Dia »CBA SONDERMELDUNG«.

Der Techniker, der den Anruf entgegengenommen hatte, war ein erfahrener Mann und wußte, daß die Anordnung »sofort« genau dies meinte. Ohne dieses Wort hätte er bei Sendungen, die maximal noch eineinhalb Minuten liefen, und auch einem Werbespot bis zum Ende abgewartet und erst dann das Programm unterbrochen.

Doch »sofort« bedeutete ohne Verzögerung, ohne Aufschub. Im Augenblick lief ein einminütiger Werbespot, der noch dreißig Sekunden Sendung hatte. Der Operator legte einen Schalter um und warf damit den Spot aus dem Programm, eine einfache Handbewegung, die CBA etwa 25000 Dollar kostete. Mit einem zweiten Schalter speiste er das »SONDERMELDUNG«-Dia in die Ausstrahlung ein. Im gleichen Augenblick erschienen die leuchtendroten Buchstaben auf den Bildschirmen von über zwölf Millionen Fernsehern.

Der Operator sah auf die Digitaluhr an seinem Steuerpult: Präzise fünf Sekunden lang hielt er den Tonkanal geschlossen, um angeschlossenen Stationen, die nicht das CBA-Programm gesendet hatten, Zeit zu geben, ihr Lokalprogramm zu unterbrechen und die Sondermeldung aufzunehmen. Die meisten taten es auch.

Danach öffnete er den Tonkanal, und die Stimme eines Ansagers war zu hören.

»Wir unterbrechen unser Programm für eine Sondermeldung von CBA News. Aus New York meldet sich unser Korrespondent Don Kettering.«

Die Aufnahmeleiterin in der Nachrichtenregie rief: »Achtung, Don!«

Im ganzen Land erschien nun das Gesicht des Wirtschaftskorrespondenten von CBA auf den Fernsehschirmen.

Ohne zu lächeln und mit ernster Stimme begann Kettering. »Vor wenigen Minuten meldete die Polizei von Larchmont, New York, die mutmaßliche Entführung der Frau, des Sohnes und des Vaters von Crawford Sloane, dem Chefsprecher von CBA News.«

Ein Dia mit Sloanes vertrautem Gesicht wurde eingeblendet, während Kettering weitersprach: »Die von Unbekannten verübte Entführung ereignete sich vor etwa vierzig Minuten. Nach Aussagen der Polizei und einer Augenzeugin war ein brutaler Überfall vorausgegangen... «

Es war inzwischen 11 Uhr 56.

CBA hatte die Konkurrenz geschlagen und die Meldung als erste gebracht.

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