1
Arthur Nalesworth, der umgängliche, würdevolle Onkel Arthur, wie er inzwischen genannt wurde, war in seinen jüngeren Jahren bei CBA News ein wichtiger Mann gewesen. In den drei Jahrzehnten beim Sender hatte er sich zu einer ganzen Reihe von Spitzenpositionen hochgearbeitet. So war er unter anderem Vizepräsident der Abteilung Internationale Nachrichten, Studioleiter der National Evening News und sogar Vizedirektor der gesamten Nachrichtenabteilung. Dann verließ ihn das Glück, und er wurde, wie viele andere vor und nach ihm, mit achtundfünfzig Jahren auf ein Nebengleis abgeschoben. Man gab ihm zu verstehen, daß für ihn die Tage der Macht vorüber seien und daß er wählen könne zwischen einem frühen Ruhestand oder einer Stellung ohne Einfluß und Befugnisse.
Die meisten, die vor dieser Entscheidung standen, wählten aus Stolz den Ruhestand. Arthur Nalesworth, der wenig Eigendünkel, aber ein breitgestreutes philosophisches Wissen besaß, wollte weitermachen, ganz gleich in welcher Position. Da der Sender diese Entscheidung nicht erwartet hatte, mußte erst einmal eine Beschäftigung für ihn gefunden werden. Inzwischen gab man bekannt, daß er den Titel Vizepräsident behalten würde.
Wie Onkel Arthur selbst es später einmal treffend formulierte: »Hier bei uns gibt es drei Arten von Vizepräsidenten - solche, die arbeiten und ihr Geld wert sind, solche, die nichts tun, aber den Kopf für die hinhalten, die über ihnen stehen, und die >gewesenen< Vizepräsidenten, die nur noch für Heftklammern verantwortlich sind, und ich bin einer von denen.«
Wenn man etwas nachbohrte, erzählte er weiter: »Es gibt eine Sache, auf die sich diejenigen von uns, die in diesem Geschäft Erfolg haben, vorbereiten sollten, es aber meistens nicht tun, und das ist der Tag, an dem wir aufhören, wichtig zu sein. Noch bevor wir den Gipfel erreichen, sollten wir daran denken, daß man uns, schneller als wir glauben, abstürzen läßt, vergißt und durch Jüngere und wahrscheinlich auch Bessere ersetzt. Natürlich« - und an dieser Stelle zitierte er gerne Tennysons Ulysses - »Der Tod schließt alles ab. Doch manchem sei kurz vor dem Ende die letzte ehrenvolle Tat gewährt....«
Es war für beide, den Sender und Onkel Arthur selbst, unerwartet und überraschend, daß er, nachdem er den Zenit seiner Karriere überschritten hatte, doch noch seine ehrenvolle Tat fand.
Sie hatte mit jungen Leuten zu tun, die Arbeit suchten.
Für viele, die beim Fernsehen Macht und Einfluß hatten, war es eine Last und oft auch ein Dilemma, wenn ihnen einen ganze Reihe von Leuten - Freunde, Verwandte, Geschäftskontakte, Politiker, Allgemeinärzte, Zahnärzte, Augenärzte, Börsenmakler, Partygäste und unzählige andere - immer die gleiche Frage stellten: »Können Sie meinem Sohn/meiner Tochter/meinem Neffen/meiner Nichte/meinem Patenkind/ Schüler/Schützling helfen, beim Fernsehen Arbeit zu bekommen?«
Es gab Tage, vor allem kurz nach den Prüfungsterminen der Colleges, da mußte es denen, die bereits im Geschäft waren, so vorkommen, als wolle eine ganze Generation junger Leute die Türen einschlagen und die Sender stürmen.
Einige dieser Möchtegern-Sponsoren konnte man bedenkenlos abwimmeln, aber bei weitem nicht alle. Zu denen, die man nicht abwimmeln konnte, gehörten wichtige Werbekunden oder deren Agenturen, Mitglieder des Aufsichtsrats von CBA, Leute aus Washington mit guten Beziehungen zum Weißen Haus oder zum Capitol Hill, sonstige Politiker, die man nicht brüskieren durfte, wichtige Nachrichtenlieferanten und noch viele andere mehr.
Zu VOA-Zeiten - die Abkürzung stand für »Vor Onkel Arthur« - verbrachten die CBA-Manager mehr Zeit, als sie eigentlich sollten, damit, sich gegenseitig anzurufen, nach freien Stellen zu fragen und dann diejenigen zu besänftigen, deren Söhne, Töchter und so weiter nicht vermittelt werden konnten.
Doch inzwischen wir das anders. In seiner neuen Stellung, zunächst eher eine Verlegenheitslösung des CBA-Management gewesen war, hatte Arthur Nalesworth dafür zu sorgen, daß seinen Kollegen diese Mühe erspart blieb.
Wenn nun eins der hohen Tiere im Sender vom Fürsprecher eines Fernsehaspiranten angesprochen wurde, konnte er antworten: »Natürlich kann ich Ihnen helfen. Wir haben hier einen Vizepräsidenten, der sich ausschließlich um intelligente junge Leute kümmert. Sagen Sie Ihrem Kandidaten, er soll diese Nummer anrufen und meinen Namen erwähnen. Er oder sie wird dann einen Termin für ein Gespräch bekommen.«
Zu einem solchen Gespräch kam es immer, weil Arthur Nalesworth, in dem winzigen, fensterlosen Büro, das man ihm zugewiesen hatte, mit wirklich jedem sprach. So viele Bewerbungsgespräche hatte es noch nie gegeben, und keins lief unter einer Stunde ab. Es entstand ein reges Frage- und Antwortspiel über weitgefächerte Themenbereiche, man vertraute sich einander an. Am Ende verließen die Leute den Sender mit einem guten Gefühl, wenn auch, wie es meistens der Fall war, ohne Arbeit, und Nalesworth hatte umfassende Einsichten in Persönlichkeit und Fähigkeiten des jungen Menschen gewonnen, der ihm eben gegenübergesessen hatte. Zuerst lächelte man in der Nachrichtenabteilung nur über Anzahl und Dauer der Gespräche, man sprach von »Zeit totschlagen« und der »Schaffung einer Hausmacht«. Und weil Nalesworth jeden Bewerber freundlich ermutigte, bürgerte sich sehr bald auch der Spitzname »Onkel Arthur« ein.
Aber allmählich wich die Skepsis einem anfangs nur sehr widerwillig zugestandenem Respekt, der vor allem darauf beruhte, daß sich die auf Onkel Arthurs Betreiben eingestellten jungen Leute sehr schnell und sehr erfolgreich in die Nachrichtenabteilung eingliederten. Mit der Zeit wurde eine Empfehlung durch Onkel Arthur zu einer Auszeichnung, die fast so viel wert war wie ein Diplom.
Nun, da Onkel Arthur schon beinahe fünfundsechzig und nur noch fünf Monate vom normalen Pensionsalter entfernt war, überlegte man sich in der Führungsriege der Nachrichtenabteilung, ob man ihn nicht bitten sollte zu bleiben. Plötzlich und zur Überraschung aller war Arthur Nalesworth noch einmal wichtig geworden.
Und deshalb traf Onkel Arthur am Sonntagmorgen der dritten Septemberwoche in der Zentrale von CBA News ein, um seinen Teil zur Suche nach Jessica, Nicholas und Angus Sloane beizutragen. Wie Les Chippingham ihm am Abend zuvor am Telefon aufgetragen hatte, ging er in den Konferenzraum der Spezialeinheit, wo Partridge, Rita und Teddy Cooper ihn begrüßten.
Der Mann, dem sie nun gegenüberstanden, war breitschultrig, untersetzt und kräftig, er hatte ein pausbackiges Gesicht und dichte, sorgfältig gekämmte und gescheitelte, silbergraue Haare. Er wirkte sehr selbstbewußt und gelöst. Da der Sonntag kein normaler Arbeitstag war, trug Onkel Arthur statt seines gewohnten dunklen Anzugs ein braunes Sakko aus HarrisTweed, eine hellgraue Hose mit einer rasiermesserscharfen Bügelfalte, eine Fliege und auf Hochglanz polierte Straßenschuhe.
Onkel Arthurs Art zu reden erinnerte fast etwas an Churchill. Ein Kollege hatte einmal bemerkt, wenn Arthur Nalesworth seine Meinung ausdrücke, habe man den Eindruck, seine Worte in Stein gemeißelt vor sich zu sehen.
Nachdem er Partridge und Rita die Hand gegeben und man ihm Cooper vorgestellt hatte, sagte Onkel Arthur: »Ihr braucht also sechzig meiner intelligentesten und besten Leute - falls ich so viele in so kurzer Zeit überhaupt zusammentrommeln kann. Aber zuerst würde ich vorschlagen, daß ihr mir erzählt, worum es eigentlich geht.«
»Das macht Teddy«, sagte Partridge und deutete auf Cooper.
Onkel Arthur hörte aufmerksam zu, während der britische Rechercheur von ihren Versuchen, die Entführer zu identifizieren, und von der Sackgasse, in der sie im Augenblick steckten, erzählte. Cooper umriß dann in groben Zügen seinen Vorschlag, die Immobilienanzeigen sämtlicher in Frage kommender Zeitungen zu durchforsten und so vielleicht den Unterschlupf der Entführer aufzuspüren.
»Wir alle wissen, daß es eine unsichere Sache ist, Arthur«, fügte Partridge hinzu. »Aber im Augenblick haben wir nichts Besseres.«
»Ich weiß aus Erfahrung«, erwiderte Onkel Arthur, »daß man sich, wenn man sonst nichts hat, am besten an genau diese unsicheren Sachen hält.«
»Ich bin froh, daß Sie auch so denken, Sir.«
Onkel Arthur nickte. »Obwohl man dabei selten genau das findet, was man sucht, stolpert man oft über etwas anderes, das einem ebenso weiterhilft.« Dann fügte er, an Cooper gewandt, hinzu: »Sie werden feststellen, junger Mann, daß viele der jungen Leute, die ich jetzt gleich anrufen werde, ebenso beherzt an die Dinge herangehen wie Sie selbst.«
Cooper begleitete Onkel Arthur in dessen kleines Büro, wo der Ältere Akten und Karteikarten über den ganzen Tisch ausbreitete. Dann begann er zu telefonieren - eine lange Reihe von Anrufen, die alle nach ähnlichem Muster abliefen und doch irgendwie persönlich klangen, so als würde ein alter Freund anrufen.
»Also Ian, du wolltest doch jede, auch noch so kleine Chance wahrnehmen, um bei uns einzusteigen. Na, und diese Chance ist jetzt da.« - »Nein, Bernard, ich kann dir nicht garantieren, daß aus diesen vierzehn Tagen Arbeit etwas auf Dauer wird, aber versuch's doch einfach mal.« - »Du hast ja recht, Pamela, daß so ein Gelegenheitsjob für eine Diplomjournalistin nicht gerade viel ist. Aber vergiß nicht, daß einige der größten Namen im Fernsehen auch mal als Laufburschen angefangen haben.« - »Ja, Howard, ich weiß, daß fünf Dollar fünfzig kein Riesengeld sind. Aber wenn es dir nur darum geht, vergiß die Journalistenkarriere und geh an die Wall Street.« - »Felix, ich verstehe ja, daß es dir im Augenblick zeitlich schlecht paßt. Aber wenn du beim Fernsehen Karriere machen willst, mußt du bereit sein, notfalls sogar deine Frau an ihrem Geburtstag sitzenzulassen.« - »Du darfst nicht vergessen, Erskine, daß die Erwähnung eines Sonderauftrags für CBA in deinem Lebenslauf durchaus von Vorteil sein kann.«
Nach einer Stunde und zwölf Anrufen hatte Onkel Arthur sieben sichere Zusagen von Leuten, die gleich am nächsten Tag mit der Arbeit beginnen konnten, und ein »wahrscheinlich«. Er arbeitete sich weiter geduldig durch seine Listen.
Zwischendurch rief er seinen alten Freund und Dekan an der Columbia School of Journalism, Professor Kenneth K. Goldstein, an. Onkel Arthur erklärte ihm das Problem, und der Professor war sofort zur Mithilfe bereit.
Während beide Männer wußten, daß Studenten, die noch vor dem Examen standen, wegen des enormen Lernpensums nicht in Frage kamen, schien es doch möglich, daß Graduierte, die gerade an ihrem Diplom arbeiteten, Interesse und Zeit hatten. Dasselbe galt für frisch Graduierte, die noch keine Beschäftigung gefunden hatten.
»Wir werden den Leuten hier erklären, daß es sich bei der Sache um einen Notfall handelt«, sagte der Professor. »Ich rufe dich später zurück und hoffe, dir dann schon ein paar Namen nennen zu können.«
»Lang lebe Columbia!« rief Onkel Arthur, verabschiedete sich und machte sich wieder an seine Liste.
Teddy Cooper kehrte unterdessen in den Konferenzraum zurück, um für die Hilfskräfte, die bereits am nächsten Tag eintreffen sollten, einen Einsatzplan auszuarbeiten. Seine beiden Assistenten halfen ihm dabei, und zu dritt brüteten sie über dem Editor und Publisher International Year Book, über Landkarten und Telefonbüchern; sie suchten Bibliotheken und Zeitungsredaktionen heraus und stellten Routen und Terminpläne zusammen.
Nebenbei skizzierte Cooper die Kriterien, nach denen die Rechercheure beim Durchsuchen von über einhundertsechzig Zeitungen vorgehen sollten. Und welche Kriterien waren das?
Neben der Grundbedingung, daß sich das Anwesen im Umkreis von fünfundzwanzig Meilen um Larchmont befinden mußte, notierte Cooper folgende Punkte:
- Ein relativ einsames Anwesen in einer wenig besiedelten Gegend, das den Entführern die Möglichkeit bietet, zu kommen und zu gehen, wann sie wollen, ohne Aufsehen zu erregen. Objekte in dichtbesiedelten Gebieten mit hohem Verkehrsaufkommen sind auszuschließen.
- Bei dem Objekt handelt es sich wahrscheinlich um eine kleine ehemalige Fabrik, ein Lagerhaus oder ein großes Wohnhaus. Falls Wohnhaus, dann vermutlich ein altes, heruntergekommenes, für das wenig Nachfrage besteht. Wahrscheinlich mit Nebengebäuden, die groß genug sind, um sechs Fahrzeuge und eine Lackierwerkstatt unterzubringen. Möglicherweise auch ein verlassenes Farmhaus. Da auch andere, vergleichbare Objekte in Frage kommen, sind Eigeninitiative und Phantasie bei der Suche gefragt!
- Wohnraum für mindestens vier oder fünf Leute plus zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten. Da auf normale Wohnbedingungen vermutlich kein Wert gelegt wurde, muß der Wohnraum in der Anzeige nicht unbedingt erwähnt sein. (Mit den »zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten« meinte Cooper Möglichkeiten zur Inhaftierung der Entführungsopfer, wollte es jedoch nicht so deutlich sagen.)
- Das Objekt kommt für Leute, die normalen Arbeits- oder Wohnraum suchen, wahrscheinlich nicht in Frage. Daher besonders auf Anzeigen achten, die länger inseriert waren und dann plötzlich verschwanden. Die Anzeigenwiederholung könnte ein Zeichen für mangelndes Interesse sein, das plötzliche Verschwinden könnte Anmietung bzw. Kauf für ungewöhnliche Zwecke bedeuten.
- Der Preis für Anmietung oder Kauf des Objekts ist nicht relevant. Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß die gesuchten Personen Geld im Überfluß zur Verfügung hatten.
Das reicht, dachte Cooper. Er wollte zwar die allgemeine Richtung angeben, dabei aber die Eigeninitiative nicht allzusehr einschränken. Außerdem wollte er mit Onkel Arthurs Leuten reden, sobald sie am folgenden Morgen eintrafen, und er hatte Rita bereits gebeten, einen geeigneten Raum zu besorgen.
Zum Mittagessen traf Cooper sich mit Onkel Arthur in der Cafeteria von CBA News. Onkel Arthur entschied sich für ein Thunfischsandwich und Milch, Cooper für ein rechteckiges Stück Fleisch, das in klebriger Soße schwamm, einen kanariengelben Kuchen und - mit einem resignierten Blick -eine Tasse mit warmem Wasser und einem Teebeutel.
»Leider«, sagte Onkel Arthur entschuldigend, »ist das >21< heute geschlossen. Ein andermal vielleicht.«
Da es Sonntag war, befanden sich nur wenige Leute im Haus, und sie hatten einen Tisch für sich allein. Sobald sie saßen, begann Cooper zu sprechen. »Ich möchte Sie gerne etwas fragen, Sir... «
Mit einer Handbewegung brachte ihn Onkel Arthur zum Schweigen. »Dein britischer Respekt ist ja sehr erfrischend. Aber du bist jetzt im Land der großen Gleichmacherei, in dem das gemeine Volk Könige mit >Joe< und >He, du da< anspricht und nur noch wenige Leute >Mr.< auf den Briefumschlag schreiben. Hier nennt mich die ganze Welt nur beim Vornamen.«
»Okay, Arthur«, erwiderte Cooper etwas verlegen. »Ich wollte Sie fragen, was Sie von den heutigen Fernsehnachrichten halten, verglichen mit... «
»Verglichen mit der Zeit, als ich noch was zu sagen hatte? Meine Antwort wird dich überraschen. Sie sind viel besser. Auch die Korrespondenten und Produzenten sind heute besser als die zu meiner Zeit, mich eingeschlossen. Das kommt einfach daher, daß die Berichterstattung laufend besser wird. Das war schon immer so.«
Cooper hob die Augenbrauen. »Viele Leute denken da aber ganz anders.«
»Mein lieber Teddy, es gibt eben Leute, die an nostalgischer Verstopfung leiden. Was diese Leute brauchen, ist ein mentaler Einlauf. Eine Möglichkeit, den zu bekommen, ist ein Besuch im Museum of Broadcasting hier in New York. Ich war vor kurzen dort und habe mir ein paar alte Sendungen aus den Sechzigern angesehen. Verglichen mit den heutigen wirken die meisten schwach, ja amateurhaft, und ich meine damit nicht nur die technische Qualität, sondern auch die von Recherche und Berichterstattung.«
»Leute, die uns nicht mögen, behaupten, wir würden zu intensiv recherchieren und zu tief bohren.«
»Eine Kritik, die meistens von denen kommt, die etwas zu verbergen haben.«
Cooper lachte amüsiert auf, und Onkel Arthur fuhr fort: »Daß der Journalismus besser geworden ist, merkt man daran, daß weniger verborgen bleibt. Die meisten Betrügereien kommen ans Licht. Natürlich haben darunter auch integre Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu leiden. Mit dem Verlust ihrer Intimsphäre zum Beispiel. Aber der Gesellschaft ist damit im Endeffekt besser gedient.«
»Dann glauben Sie also nicht, das die Reporter von früher besser waren als die heutigen?«
»Sie waren nicht nur nicht besser, sondern ihnen fehlte es auch an der Unverfrorenheit, dem Biß und der Respektlosigkeit, die ein erstklassiger Journalist heute braucht. Natürlich waren auch die früheren Reporter nach den Maßstäben ihrer Zeit gut, einige sogar außergewöhnlich. Aber sogar denen wäre es peinlich, wenn sie sehen könnten, mit welchem Heiligenschein man sie heute umgibt.«
Cooper kniff verwundert die Augen zusammen. »Heiligenschein?«
»Oh ja. Weißt du denn nicht, daß wir Reporter unsere Berufung als Religion betrachten? Für uns sind Nachrichten doch ein >geheiligtes Gut<. Wir preisen das >goldene Zeitalter des Fernsehens< - das vergangene natürlich - und sprechen unsere Starjournalisten heilig. Bei CBS gibt's inzwischen den Heiligen Ed Murrow - der ja wirklich ganz hervorragend war, das will ich gar nicht bezweifeln. Und irgendwann wird es dann bei denen auch den Heiligen Cronkite geben, ich fürchte nur, daß Walter da zuerst sterben muß. Ein lebender Mensch kann doch die Last einer solchen Würde gar nicht aushalten. Und da ist ja nicht nur CBS. Die anderen, die jüngeren Sender werden sich mit der Zeit ihre eigenen Heiligen schaffen - ABC zum Beispiel seinen Heiligen Arledge. Schließlich hat Roone mehr als jeder andere die Nachrichten in ihrer heutigen Form geprägt.«
Onkel Arthur stand auf. »Mein lieber Teddy, es war höchst interessant, mit dir zu plaudern. Aber nun muß ich zum allgegenwärtigen Meister unseres Lebens zurückkehren, zum Telefon.«
Am Ende des Tages gab Onkel Arthur bekannt, daß sich achtundfünfzig seiner »Intelligentesten und Besten« am Montagmorgen zur Arbeit melden würden.
2
Früh am Sonntagmorgen flog der Learjet 55LR in den Luftraum der Provinz San Martin in Perus dünnbesiedelter Selva-Region ein.
Fünfeinviertel Stunden nach dem Start in Opa Locka näherte die Maschine sich nun ihrem Ziel - der Landepiste bei Sion in den Ausläufern der Anden. Die Zeit: 4 Uhr 15.
Die beiden Piloten im Cockpit saßen nach vorne gebeugt und spähten angestrengt in die Dunkelheit hinaus. Ihre Flughöhe betrug 3500 Fuß über dem Meeresspiegel, aber nur 1000 Fuß über dem Dschungelboden, der unter ihnen lag. Hohe Gebirgsketten ragten vor ihnen auf.
Vor achtzehn Minuten hatten sie den regulären Luftkorridor mit seinen verläßlichen Richtfunksignalen verlassen und zur Lokalisierung der Landepiste auf ein GNS-5OO VLF-Navigationssystem umgeschaltet, das so präzise war, daß es »einen Pickel auf dem Hintern einer Fliege entdecken konnte«, wie manche Piloten meinten. Doch sobald sie in der Nähe oder über der Piste waren, mußten sie auf Signale vom Boden achten.
Sie hatten die Geschwindigkeit bereits beträchtlich reduziert, flogen aber immer noch mit mehr als 300 Knoten.
Faulkner, der Kopilot, war der erste, der das weiße Licht des Signalscheinwerfers am Boden entdeckte. Er leuchtete nur dreimal auf - lange genug für Faulkner, der im Augenblick das Flugzeug steuerte, um eine Kurve zu fliegen und Kurs auf die Lichtquelle zu nehmen.
Captain Underhill, der das Licht wenige Augenblicke später gesehen hatte, machte sich nun am Funkgerät zu schaffen. Er stellte eine besondere Frequenz ein und gab eine codierte Nachricht durch: »Atenciön, amigos de Huallaga. Este es el aviön >La Dorada<. Les traemos el embarque Pizarro.«
Underhill hatte bei Abschluß der Charterverhandlungen die Instruktion erhalten, diese Codenachricht zu verwenden. Prompt kam die Antwort: »Somos sus amigos de la tierra. Les estamos esperando. >La Dorada< se puede aterrizar. No hay viento.«
Die Landeerlaubnis war willkommen, aber die Nachricht, daß es keinen Bodenwind gab, der den schweren Jet hätte abbremsen können, weniger. Doch während Underhill seine Bestätigung durchgab, leuchtete der Signalscheinwerfer wieder auf und blinkte nun beständig. Augenblicke später sprangen entlang der Staubpiste drei weitere Scheinwerfer an. Underhill, der die Bahn schon zweimal angeflogen hatte, war sich ziemlich sicher, daß der Sprechverkehr über ein tragbares Funkgerät lief, das sich höchstwahrscheinlich in einem Lastwagen befand, auf dem auch der Suchscheinwerfer montiert war. Die raffinierte Ausrüstung überraschte Underhill nicht. Drogenkuriere landeten oft hier, und bei technischem Gerät sparten die Kartelle nicht am Geld.
»Ich lande«, sagte Underhill, und der Kopilot übergab ihm das Steuer.
In tausend Fuß Höhe überflog der Pilot das Gelände, prägte sich das wenige ein, was von der Landebahn zu sehen war, und berechnete seinen Anflug. Er wußte, daß sie jeden verfügbaren Meter Piste brauchen würden, und auch, daß Bäume und dichtes Buschwerk die Bahn zu beiden Seiten begrenzte; seine Landung mußte also perfekt sein. Er begann mit dem Anflug. Den Fallwind ausnutzend, flog er parallel zu der Piste und verlor dabei an Höhe.
Faulkner neben ihm traf letzte Landevorbereitungen. Bei »Fahrgestell ausgefahren« hörte man, wie die Räder sich rumpelnd senkten. Während sie in einer engen Linkskurve wieder auf die Piste zuflogen, blinkten die drei grünen Kontrollampen des Fahrwerks auf.
Beim endgültigen Anflug zerschnitten die beiden hellen Landescheinwerfer der Maschinen die Dunkelheit vor ihnen, und Underhill drosselte die Geschwindigkeit auf 120 Knoten. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn er bei Tageslicht hätte landen können, aber sie hatten nicht mehr genug Treibstoff, um bis zum Sonnenaufgang um 6 Uhr über der Piste zu kreisen. Während der Streifen nun immer näher kam, merkte Underhill plötzlich, daß sie zu hoch waren. Er drosselte die Triebwerke. Der Anfang der Piste war nur noch fünfzehn Meter entfernt. Schub weg und die Nase hochgezogen. Das war's! Etwas unsanft setzten sie auf der rauhen, unebenen Bahn auf. Das Steuer fest in der Hand, um auf einer geraden Linie zu bleiben, die Bäume am Rand nur Schatten im Licht der Landescheinwerfer. Gegenschub... Bremsen! Das mittlere Signallicht lag bereits hinter ihnen, sie wurden langsamer. War es langsam genug? Das Ende der Piste war beunruhigend nahe, aber sie standen schon fast. Und dann hatten sie es geschafft - auf dem allerletzten Meter.
»Gut«, sagte Faulkner. Er mochte Underhill nicht besonders; sein Vorgesetzter war egoistisch, rücksichtslos und arrogant. Aber er war dennoch ein hervorragender Pilot.
Als Underhill den Lear wendete und zum Anfang der Piste zurückrollte, waren flüchtig ein Lastwagen und einige huschende Gestalten zu sehen. Seitlich hinter dem Lastwagen stand eine kleine, grob zusammengezimmerte Hütte und daneben einige Metalltonnen.
»Das ist unser Treibstoff«, sagte Underhill und wies auf die Tonnen. »Die Kerle werden dir beim Auftanken helfen; aber beeil dich, weil ich mit dem ersten Sonnenstrahl von hier verschwinden will.« Bogota in Kolumbien war ihr nächstes Ziel, dort endete der Auftrag. Waren sie erst einmal in der Luft, lag nur noch ein kurzer und einfacher Flug vor ihnen.
Underhill wußte, daß dieses Dschungelgebiet Niemandsland war, hart umkämpft vom Sendero Luminoso, der Peruanischen Armee und manchmal auch der Antiterror-Polizei der Regierung. Da alle drei wegen ihrer Brutalität berüchtigt waren, hielt sich niemand gern lange in dieser Gegend auf. Aber die Passagiere des Learjet würden hier aussteigen, und auf ein Zeichen von Underhill griff Faulkner hinter sich und öffnete die Tür zwischen Cockpit und Kabine.
Miguel, Socorro, Rafael und Baudelio waren froh, nach dem Landeanflug in der Dunkelheit nun wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Aber mit der Erleichterung kam auch das Bewußtsein, daß nun ein neuer Abschnitt ihres Unternehmens begann. Das traf vor allem auf Baudelio zu. Hatte er während des Fluges die Särge mit seinen externen Instrumenten überwacht, so begann er nun, die Betäubungsdosis zu verringern, denn er wußte, daß man in Kürze die Särge öffnen und seine Patienten - so sah er sie noch immer - herausnehmen würde.
Augenblicke später blieb der Learjet stehen, die Turbinen wurden ausgeschaltet, und Faulkner verließ seinen Platz, um die Rumpftür zu öffnen. Im Gegensatz zur kontrollierten Temperatur im Innern der Kabine war die Luft draußen erstickend heiß und schwül.
Während die Passagiere ausstiegen, wurde deutlich, daß sich Aufmerksamkeit und Respekt der Leute, die sie am Boden erwarteten, vorwiegend auf Miguel und Socorro richteten. Bei Miguel war das offensichtlich seiner Rolle als Anführer zuzuschreiben, bei Socorro ihrer Verbindung zum Sendero Luminoso.
Acht Männer bildeten das Empfangskomitee. Trotz der Dunkelheit konnte man im Widerschein der Lampen erkennen, daß alle acht kleine, aber kräftige, typisch bäuerliche Gestalten mit wettergegerbten Gesichtern waren. Der offensichtlich Jüngste der Truppe trat vor und stellte sich als Gustavo vor. Zu Miguel sagte er: »Tenemos ordenes de ayudarle cuando lo necesite, senor.«
Nach dieser Bekundung seiner Bereitschaft, Befehle entgegenzunehmen, wandte er sich mit einer Verbeugung an Socorro: »Senora, la destinaciön de sus prisioneros serä Nueva Esperanza. El viaje serä noventa kilometros, la mayor parte por el rio. El barco estä listo.«
Underhill stieg gerade rechtzeitig aus dem Flugzeug, um den letzten Satz noch mitzubekommen. »Welche Gefangenen sollen neunzig Kilometer weit mit dem Boot transportiert werden?«
Miguel war es nicht recht, daß Underhill nun den Namen ihres Zielorts, Nueva Esperanza, kannte. Davon abgesehen, hatte er ohnehin mehr als genug von diesem unverschämten Piloten; das »Ihr seid aber verdammt spät dran« zur Begrüßung in Teterboro fiel ihm wieder ein und auch die anderen Anlässe während der Reise, bei denen der Pilot seine Feindseligkeit unverhüllt zum Ausdruck gebracht hatte. Und da Miguel nun wieder auf festem Boden stand, wo der andere keine Befehlsgewalt hatte, sagte er nur verächtlich: »Das geht Sie nichts an.«
»Alles, was in diesem Flugzeug passiert, geht mich etwas an«, fauchte Underhill ihn an. Dann warf er einen flüchtigen Blick auf die Särge. Ursprünglich hatte er so wenig wie möglich über deren Inhalt wissen wollen. Doch nun schien es ihm instinktiv besser, wenn er, als Absicherung für später, mehr darüber in Erfahrung brachte. »Was ist da drin?«
Doch Miguel ignorierte den Piloten und befahl Gustavo: »Digale a los hombres que descarguen los ataudes cuidadosamente sin moverlos demasiado, y que los lleven adentro de la choza.«
»Nein!« Underhill stellte sich vor die Tür. »Sie werden diese Särge erst ausladen, wenn Sie meine Frage beantwortet haben!« Die Hitze zeigte bei ihm bereits Wirkung, der Schweiß lief ihm über das Gesicht und die kahle Stirn.
Miguel warf Gustavo einen flüchtigen Blick zu und nickte. Fast im gleichen Augenblick regte sich im Hintergrund etwas, metallisches Klicken war zu hören, und plötzlich sah Underhill in die Mündungen von sechs Kalaschnikows, die die Männer der Bodenmannschaft entsichert und mit um den Abzug gekrümmten Fingern auf ihn richteten.
Beim Anblick der MPs verließ Underhill der Mut. »Um Himmels willen, ist ja gut!« rief er. Dann sah er von den Waffen zu Miguel. »Sie haben sich deutlich genug ausgedrückt. Lassen Sie uns nur auftanken, und dann verschwinden wir von hier.«
Ohne die Bitte zu beachten, fauchte Miguel ihn an: »Weg vo n der Tür!« Underhill gehorchte, und Miguel nickte noch einmal. Die Waffen wurden wieder gesenkt, und vier der Männer kletterten in das Flugzeug. Der Kopilot begleitete sie und löste die Gurte von den Särgen, die nun, einer nach dem anderen, aus dem Flugzeug gehoben und zur Hütte getragen wurden. Baudelio und Socorro folgten.
Eineinhalb Stunden waren seit der Landung des Learjet vergangen. Inzwischen, wenige Minuten vor Sonnenaufgang, waren die Piste und ihre Umgebung deutlicher zu erkennen. Die Maschine war bereits für den Weiterflug nach Bogota aufgetankt. Mit Hilfe einer tragbaren Pumpe hatten die Männer den Treibstoff aus den Tonnen in den Flugzeugtank eingefüllt. Underhill suchte nun Miguel, um ihn über den bevorstehenden Abflug zu informieren.
Miguel und die anderen seien in der provisorischen Hütte, gab Gustavo ihm mit einem Zeichen zu verstehen. Underhill ging darauf zu.
Die Tür war nur angelehnt, und da er von drinnen Stimmen hörte, stieß der Pilot sie auf. Im nächsten Augenblick blieb er wie erstarrt stehen, entsetzt über den Anblick, der sich ihm bot.
Auf dem Lehmboden der Hütte saßen, mit den Rücken zur Wand, drei Gestalten. Sie ließen die Köpfe hängen, die Münder standen offen, man sah, daß sie betäubt worden waren, aber noch lebten. Zwei der inzwischen leeren und geöffneten Särge standen zu beiden Seiten, um sie abzustützen. Eine einzige Öllampe beleuchtete die Szene.
Underhill wußte sofort, wer die drei waren. Es war unmöglich, es nicht zu wissen. Er hörte täglich die amerikanischen Nachrichten und las amerikanische Zeitungen, die er im Ausland in Flughäfen und Hotels kaufte. Aber auch die kolumbianische Presse berichtete über die Entführung der Familie des berühmten amerikanischen Nachrichtensprechers.
Angst, eiskalte Angst beschlich Denis Underhill. Er hatte schon oft in der Grauzone der Legalität gearbeitet, bei Charterflügen von und nach Lateinamerika war das unausweichlich. Aber noch nie war er in ein solches Kapitalverbrechen verwickelt gewesen. Ohne lange darüber nachdenken zu müssen, wußte er, daß er, falls seine Beteiligung am Transport dieser Leute in den USA bekannt würde, mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen mußte.
Er wußte auch, daß die anderen in der Hütte ihn beobachteten - die drei Männer und die Frau, die von Teterboro über Opa Locka nach Sion seine Passagiere gewesen waren. Auch sie schien sein Eintreten überrascht zu haben.
In diesem Augenblick rührte sich die halb bewußtlose Frau am Boden. Sie hob schwach den Kopf. Als sie Underwood sah, schien ihr Blick plötzlich klar zu werden, und sie bewegte die Lippen, brachte aber zunächst keinen Ton hervor. Schließlich stieß sie keuchend hervor: »Hilfe... bitte helfen Sie... sagen Sie jemand...« Dann wurde ihr Blick wieder trüb, der Kopf sank ihr auf die Brust.
Aus der entfernten Ecke der Hütte kam nun hastig eine Gestalt auf Underhill zu. Es war Miguel. Er hatte eine Makarow 9mm in der Hand und schrie: »Raus!«
Mit Miguel und dessen Pistole im Rücken, verließ Underhill die Hütte. Draußen sagte Miguel beiläufig zu ihm: »Ich könnte Sie jetzt töten. Niemand würde sich darum kümmern.«
Underhill fühlte sich wie betäubt. Er zuckte mit den Achseln. »Ich bin doch eh schon erledigt. Ihr Schweine seid schuld, daß ich in diese Entführungsgeschichte verwickelt bin, und egal wie es jetzt weitergeht, es macht für mich keinen allzu großen Unterschied mehr.« Er sah auf die Makarow hinunter, sie war entsichert. Irgendwann mußte es ja so weit kommen, dachte er. Er hatte schon mehrmals in brenzligen Situationen gesteckt, und nun sah es so aus, als würde er nicht mehr davonkommen. Er kannte Typen wie diesen Palacios, oder wie immer er hieß. Ein menschliches Leben bedeutet denen nichts, die töten, wie andere in den Staub spucken. Er hoffte nur, daß der Kerl gut zielte. So wäre es wenigstens kurz und schmerzlos... Warum hatte er es eigentlich nicht schon längst getan?...Plötzlich packte Underhill trotz all dieser Überlegungen eine verzweifelte Angst. Obwohl ihm der Schweiß in Strömen über den Körper lief, zitterte er. Er öffnete den Mund, um Miguel anzuflehen, aber es hatte sich bereits zu viel Speichel angesammelt, und er brachte keinen Ton heraus.
Und dann merkte er, daß der Mann, der mit der Pistole vor ihm stand, aus irgendeinem Grund zögerte.
Miguel dachte nach. Wenn er den Pilot tötete, mußte er den Kopiloten ebenfalls umbringen, und das hieß, daß der Learjet auf der Piste stehenbleiben würde - eine Komplikation, die er ganz und gar nicht brauchen konnte. Miguel wußte auch, daß der kolumbianische Besitzer des Flugzeugs Freunde im Medellin-Kartell hatte. Und der konnte Schwierigkeiten machen...
Miguel sicherte die Pistole wieder und sagte drohend zu Underhill: »Vielleicht haben Sie sich nur eingebildet, etwas gesehen zu haben. Vielleicht haben Sie gar nichts gesehen. Vielleicht haben Sie auf dieser ganzen Reise nichts gesehen.«
Underhills Verstand registrierte die Botschaft. Aus einem Grund, den ich nicht kenne, gibt er mir noch eine Chance. »Das stimmt. Ich habe absolut nichts gesehen«, entgegnete er hastig und atemlos.
»Verschwinden Sie jetzt mit Ihrer verdammten Maschine«, knurrte Miguel »Und danach halten Sie den Mund. Wenn Sie das nicht tun, verspreche ich Ihnen, daß man Sie finden und töten wird. Ist das klar?«
Zitternd vor Erleichterung, weil er wußte, daß er dem Tod noch nie so nahe gewesen und die Drohung zum Abschluß durchaus ernst gemeint war, nickte Underhill. »Ja, es ist klar.« Dann drehte er sich um und ging zur Piste.
Morgennebel und Wolkenfetzen hingen über dem Dschungel. Der Learjet brach daraus hervor. Die aufgehende Sonne war dunstverhangen, das erste Anzeichen eines schwülheißen Tages für die, die am Boden zurückblieben.
Doch Underhill, der seine Handgriffe ganz automatisch ausführte, dachte nur an das, was vor ihm lag.
Er nahm an, daß Faulkner, der jetzt neben ihm saß, die Gefangenen nic ht gesehen hatte und auch nicht wußte, was vor wenigen Minuten passiert war. Und so sollte es auch bleiben. Es gab keinen Grund, Faulkner wissen zu lassen, daß sich in den Särgen Entführungsopfer, das heißt lebende Menschen, befunden hatten, und wenn der Kopilot nichts davon wußte, dann konnte er später schwören, daß auch Underhill selbst nichts davon gewußt hatte.
Denn falls es zu einer Untersuchung kam, und Underhill war überzeugt, daß es dazu kommen würde, war es für ihn lebenswichtig, sich darauf berufen zu können, daß er zu keinem Augenblick etwas von der Entführung der Sloanes gewußt habe.
Ob man ihm das glaubte? Und wenn nicht, dachte er mit wachsender Zuversicht, was machte es schon, solange ihm niemand das Gegenteil beweisen konnte.
Die Frau fiel ihm ein, die ihn angesprochen hatte. Jessica hieß sie, das wußte er aus den Nachrichten. Würde sie ihn wiedererkennen und bei einer Gegenüberstellung überführen? Bei dem Zustand, in dem er sie gesehen hatte, war das eher unwahrscheinlich. Und je länger er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher schien es ihm auch, daß sie Peru je wieder lebend verlassen würde.
Er gab Faulkner mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle das Steuer übernehmen. Während er sich zurücklehnte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Zu keiner Zeit dachte er an eine mögliche Rettung der entführten Sloanes. Und es kam ihm auch nie in den Sinn, die Behörden über die Identität der Entführer und deren Aufenthaltsort zu informieren.
3
Nach weniger als drei Tagen Ermittlungen konnte die Spezialeinheit von CBA News bereits einen bedeutenden Erfolg vorweisen.
In Larchmont war der berüchtigte kolumbianische Terrorist Ulises Rodriguez eindeutig als einer der Entführer und mutmaßlicher Anführer der Bande identifiziert worden.
Am Sonntagmorgen traf, wie tags zuvor versprochen, in der Zentrale von CBA News die Kopie einer Kohleskizze von Rodriguez ein, die ein Kommilitone vor zwanzig Jahren von ihm gezeichnet hatte. Carl Owens, der über seine Kontakte in Bogota und bei der amerikanischen Bnwanderungsbehörde auf Rodriguez' Namen gestoßen war, nahm die Skizze persönlich in Empfang und fuhr etwas später damit nach Larchmont. Ein Kamerateam und ein in aller Eile herbeigerufener New Yorker Korrespondent begleiteten ihn.
Vor laufenden Kameras legte der Korrespondent Priscilla Rhea, der ehemaligen Lehrerin, die Augenzeugin der Entführung geworden war, sechs Fotos vor. Eins der Fotos zeigte die Zeichnung von Rodriguez, die anderen stammten aus dem Archiv und zeigten Männer mit ähnlichem Aussehen. Miss Rhea deutete ohne zu zögern auf Rodriguez' Bild.
»Das ist er. Der hat mir zugerufen, daß sie nur einen Film drehen. Auf dem Bild sieht er jünger aus, aber es ist der Mann.« Schließlich fügte sie noch hinzu: »Ich hatte den Eindruck, als sei er der Anführer der Bande.«
Zu diesem Zeitpunkt hatte CBA diese Information exklusiv.
Später am Abend sprachen bei einer informellen Zusammenkunft vier Mitglieder der Sondereinheit - Harry Partridge, Rita Abrams, Karl Owens und Iris Everly - über diese Entdeckung. Owens, der sich über seinen Durchbruch freute, drängte darauf, die neue Entwicklung bereits in der Montagssendung der Abendnachrichten zu bringen.
Als Partridge zögerte, fuhr Owens schweres Geschütz auf.
»Hör zu, Harry, bis jetzt hat noch niemand sonst diese Information. Wir haben die Nase in dieser Sache vorn. Wenn wir damit morgen auf Sendung gehen, werden es alle anderen von uns übernehmen. Die ganze Bande muß dann unseren Namen erwähnen, einschließlich der New York Times und der Washington Post, denen das bestimmt nicht gefällt. Aber wenn wir die Sache zurückhalten und zu lange damit warten, sickert die Information über Rodriguez irgendwann durch, und wir verlieren unsere Exklusivstory. Die Leute reden eben, das weißt du so gut wie ich. Vielleicht erzählt diese Rhea es ihren Nachbarn, und die geben es weiter. Auch bei uns können einige Leute den Mund nicht halten, und deshalb besteht die Gefahr, daß auch andere Sender davon Wind bekommen.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte Iris Everly. »Du erwartest von mir doch für morgen einen Bericht. Ohne Rodriguez habe ich nichts Neues.«
»Ich weiß«, entgegnete Partridge. »Ich überlege mir auch, ob wir es bringen sollen, aber es gibt eben auch viele Gründe, damit zu warten. Ich werde mich hüten, vor morgen treffe ich eine Entscheidung.«
Die anderen mußten sich damit zufriedengeben.
Insgeheim hatte Partridge bereits entschieden, daß zuerst Crawford Sloane über diese Entdeckung informiert werden mußte. Denn Crawf litt so sehr, daß jede neue Entwicklung, auch eine, die keine direkten Folgen hatte, für ihn eine Erleichterung bedeutete. Trotz der vorgerückten Uhrzeit - kurz vor 22 Uhr - beschloß Partridge, Sloane zu Hause zu besuchen. Denn Telefonieren kam nicht in Frage. Alle Gespräche, die Sloane in Larchmont entgegennahm, wurden vom FBI abgehört, und Partridge wollte diese Information noch nicht dem FBI überlassen.
Von einem Telefon in seinem provisorischen Büro aus bestellte er für sofort ein Auto mit Fahrer zum Haupteingang der CBA-News Zentrale.
»Ich bin dir dankbar, daß du zu mir herausgekommen bist«, sagte Sloane, nachdem Partridge ihm die Neuigkeit erzählt hatte. »Willst du damit morgen auf Sendung gehen?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Partridge erklärte ihm, warum, und fügte dann hinzu: »Ich will erst mal darüber schlafen.«
Sie saßen mit Drinks im Wohnzimmer, wo, wie Sloane nun traurig dachte, er sich noch vier Abende zuvor mit Jessica und Nicholas unterhalten hatte.
Ein FBI-Agent hatte Partridge beim Betreten des Hauses neugierig gemustert. Er hatte Otis Havelock abgelöst, der an diesem Abend zu Hause bei seiner Familie war. Doch Sloane hatte die Verbindungstür zwischen Flur und Wohnzimmer fest verschlossen, und die beiden sprachen mit gedämpften Stimmen.
»Gleichgültig, wie du entscheidest«, sagte jetzt Sloane, »ich stehe hinter dir. Aber wäre denn diese Information für dich schon Grund genug, um nach Kolumbien zu fliegen?«
Partridge schüttelte den Kopf. »Nein, denn Rodriguez ist ein bezahlter Killer. Er hat in ganz Lateinamerika gearbeitet, und auch in Europa. Ich muß noch mehr wissen - vor allem, von wo diese Operation ausgeht. Morgen hänge ich mich wieder ans Telefon. Und die anderen auch.«
Partridge wollte vor allem den Anwalt mit den Verbindungen zum organisierten Verbrechen noch einmal anrufen, denn der hatte sich seit ihrem Gespräch am Freitag noch nicht gemeldet. Sein Instinkt sagte ihm, daß jemand, der in den Vereinigten Staaten auf eine Art operierte, wie Rodriguez es offensichtlich getan hatte, Verbindungen zum organisierten Verbrechen haben mußte.
Beim Abschied legte Sloane Partridge die Hand auf die Schulter. »Harry, mein Freund«, sagte er mit bewegter Stimme. »Inzwischen glaube ich, daß nur du mir Jessica, Nicky und meinen Vater zurückbringen kannst.« Er zögerte und fuhr dann fort: »Ich weiß, es hat Zeiten gegeben, in denen wir nicht gerade enge Freunde, ja nicht einmal Verbündete waren, und wenn ich daran schuld war, tut es mir leid. Aber abgesehen davon möchte ich dir einfach sagen, daß das Wichtigste, was ich im Leben habe, in deinen Händen liegt.«
Partridge versuchte, etwas zu erwidern, aber er fand nicht die richtigen Worte. Statt dessen nickte er nur, faßte dann Sloane ebenfalls an der Schulter und sagte: »Gute Nacht.«
»Wohin, Mr. Partridge?« fragte der Fahrer.
Es war bereits kurz vor Mitternacht, und Partridge antwortete müde: »Ins Inter-Continental, bitte.«
Während er sich in die Polster zurücklehnte und an Sloanes Abschiedsworte dachte, fiel ihm ein, daß auch er wußte, was es hieß, jemanden verloren zu haben oder Gefahr zu laufen, jemanden, den man liebte, zu verlieren. In seinem Fall war es, vor langer Zeit, zuerst Jessica gewesen, obwohl natürlich die Umstände damals in keiner Weise mit Crawfords verzweifelter Situation zu vergleichen waren. Und etwas später dann Gemma...
Er unterbrach sich. Nein! Er wollte an diesem Abend nicht an Gemma denken. Die Erinnerung an sie hatte ihn in letzter Zeit immer stärker und immer häufiger überfallen... offensichtlich immer, wenn er müde war... und mit der Erinnerung kam immer der Schmerz.
Statt dessen zwang er sich, wieder an Sloane zu denken, der ja nicht nur um Jessica, sondern auch um ein Kind, seinen Sohn, bangen mußte. Partridge wußte nicht, was es hieß, ein Kind zu haben. Aber dennoch wußte er, daß der Verlust eines Kindes unerträglich sein mußte, vielleicht die unerträglichste Last überhaupt. Er und Gemma hatten immer ein Kind gewollt...
Er seufzte... Ach, liebste Gemma...
Dann gab er es auf. Er saß entspannt in dem Auto, das ihn nach Manhattan zurückbrachte, und ließ nun doch seinen Gedanken freien Lauf.
Seit jener standesamtlichen Trauung in Panama City, als er und Gemma vor dem juez in seiner baumwollenen guayabera ihr schlichtes Gelübde abgelegt hatten, war Partridge überzeugt, daß aus einfachen Zeremonien bessere Ehen hervorgehen als aus spektakulären, pompösen Hochzeitsfeiern.
Er gab zu, daß es ein Vorurteil war, das sich vor allem auf seine eigene Erfahrung gründete. Seine erste Ehe, in Kanada, hatte mit einer »weißen Hochzeit« begonnen, komplett mit Brautjungfern, mehreren hundert Gästen und kirchlichem Zeremoniell - die Mutter der Braut hatte darauf bestanden. Der ganze Ablauf war zuvor minutiös einstudiert worden, so daß die Hochzeit selbst zur Farce wurde. Danach wollte die Ehe einfach nicht funktionieren, was Partridge zur Hälfte sich selbst zuschrieb, und das rhetorische Gelübde »bis daß der Tod uns scheide« wurde - in gegenseitigem Einvernehmen und diesmal vor einem Richter - auf ein Jahr verkürzt.
Die Ehe mit Gemma dagegen hatte sich seit ihren unscheinbaren Anfängen an Bord des päpstlichen Flugzeugs in dem Maße gefestigt, in dem ihre Liebe wuchs. Zu keiner Zeit seines Lebens war Partridge glücklicher gewesen.
Er arbeitete weiter als CBA-Korrespondent in Rom, wo ausländische Journalisten - so ein Kollege von CBS - »wie Könige lebten«.
Schon kurz nach ihrer Rückkehr von der Papstreise fanden Partridge und Gemma eine Wohnung in einem Palazzo aus dem sechzehnten Jahrhundert. Sie lag zwischen der Spanischen Treppe und der Fontana di Trevi und hatte acht Zimmer und drei Balkone. Damals, als die großen Sender noch Geld ausgaben, als gäbe es kein Morgen, kümmerten sich die Korrespondenten noch selber um ihre Wohnungen und ließen sich die Kosten zurückerstatten. Doch seitdem die Budgets magerer und die Buchhalter entsprechend mißtrauischer geworden waren, wurden vom Sender weniger anspruchsvolle, billigere Wohnungen zur Verfügung gestellt.
Während Gemma sich in der Wohnung, die ihr erstes gemeinsames Zuhause werden sollte, umsah, sagte sie plötzlich: »Harry, mio amore, hier fühle ich mich schon jetzt wie im Himmel. Aber für dich werde ich einen siebten Himmel daraus machen.« Und sie tat es.
Gemma hatte die Gabe, mit ihrem Lachen, ihrem Frohsinn und ihrer Liebe zum Leben ihre Umgebung zu verzaubern. Außerdem wußte sie, wie man ein Haus führte, und sie war eine hervorragende Köchin. Doch beim Umgang mit Geld oder Schecks tat sie sich, wie Harry schnell herausfand, eher schwer. Wenn Gemma mit Schecks bezahlte, vergaß sie häufig, den Kontrollabschnitt auszufüllen, so daß auf ihrem Konto immer weniger Geld war, als sie glaubte. Und selbst wenn sie an den Kontrollabschnitt dachte, verrechnete sie sich häufig, weil sie addierte, anstatt abzuziehen, und hatte so ständig Probleme mit der Bank. »Harry, tesoro«, klagte sie nach einem wenig erfreulichen Gespräch mit dem Zweigstellenleiter, »Bankleute sind so lieblos. Sie sind... wie heißt das englische Wort?«
Schmunzelnd sagte er: »Wie wär's mit pragmatisch?«
»Oh, Harry, du bist so ein kluger Kopf Ja«, sagte Gemma entschieden, »Bankleute sind zu pragmatisch.«
Partridge fand schnell eine Lösung. Er nahm die finanziellen Dinge nun selbst in die Hand - ein relativ kleiner Beitrag, wie er fand, zu einem Leben, das jetzt so viele angenehme Seiten für ihn bereithielt.
Ein anderes Problem mit Gemma erforderte mehr Behutsamkeit. Sie war vernarrt in Autos, besaß einen klapprigen Alfa Romeo und fuhr, ganz im Stil ihrer Landsleute, wie eine Wahnsinnige. Wenn er in ihrem Alfa oder seinem BMW, den sie ebenso gerne fuhr, neben ihr saß, gab es Situationen, in denen er die Augen schloß, weil er glaubte, seine letzte Stunde habe geschlagen. Jedesmal, wenn sie davongekommen waren, verglich er sich mit einer Katze, die gerade wieder eins ihrer neun Leben verloren hatte.
Vier waren ihm noch verblieben, als er den Mut aufbrachte, Gemma zu fragen, ob sie bereit sei, mit dem Fahren aufzuhören. »Es ist doch nur, weil ich dich über alles liebe«, versicherte er ihr. »Wenn ich nicht da bin, habe ich Alpträume, weil ich fürchte, du könntest in einen Unfall verwickelt und verletzt werden.«
»Aber Harry«, protestierte Gemma verständnislos, »ich bin eine gute und vorsichtige Fahrerin.«
Für den Augenblick beließ es Partridge dabei, brachte aber das Thema von Zeit zu Zeit wieder zur Sprache. Er änderte lediglich seine Taktik, indem er Gemma zugestand, daß sie in der Tat eine gute Fahrerin sei, er dagegen krankhaft nervös. Mehr als ein bedingtes Versprechen konnte er ihr allerdings nicht abringen.
»Mio amore, sobald ich schwanger bin, höre ich auf zu fahren. Das schwöre ich dir.«
Es war eine Erinnerung an ihren gemeinsamen Wunsch, Kinder zu haben. »Mindestens drei«, hatte Gemma kurz nach ihrer Heirat verkündet, und Harry hatte nichts dagegen.
In der Zwischenzeit machten seine Einsätze für CBA gelegentliche Reisen notwendig, und Gemma arbeitete zunächst weiter als Stewardess. Sehr schnell jedoch merkten sie, daß sie sich auf diese Weise wenig sehen würden, denn wenn Partridge von einer Reise zurückkehrte, war Gemma häufig unterwegs, und ebenso oft war es umgekehrt. So war es Gemma, die sich entschloß, mit der Fliegerei aufzuhören, um ihr Leben mit dem Harrys in Einklang zu bringen.
Glücklicherweise bot man ihr, nachdem sie Alitalia ihren Entschluß mitgeteilt hatte, eine Stelle beim Bodenpersonal mit Rom als festem Standort an. Gemma und Partridge waren froh darüber, denn von nun an würden sie viel mehr Zeit füreinander haben.
Sie nutzten ihre freien Stunden, um Rom zu genießen und in die Jahrtausende alte Geschichte der Stadt einzutauchen, wobei sich Gemmas Gedächtnis, wie Partridge feststellte, als wahre Schatzkammer entpuppte.
»Kaiser Augustus, Harry - er war Julius Cäsars Stiefsohn -, gründete eine Feuerwehr mit Sklaven als Feuerwehrmännern. Doch als sie bei einem großen Brand sich weigerten, das Feuer zu löschen, ersetzte er sie durch freie Bürger, die vigiles, die effektiver waren. Denn freie Menschen wollen Feuer löschen.«
Partridge fragte skeptisch: »Ist diese Geschichte auch wahr?« Gemma lächelte nur, doch er erfuhr später, daß sie recht hatte und daß der Wechsel von Sklaven zu freien Bürgern im Jahr 6 n. Chr. stattgefunden hatte. Als er später einmal über ein Freiheitssymposium der Vereinten Nationen in Rom berichten mußte, arbeitete er diese Geschichte geschickt in sein Manuskript für CBA News ein.
Bei einer anderen Gelegenheit: »Die Sixtinische Kapelle, Harry, in der die neuen Päpste gewählt werden, ist benannt nach Papst Sixtus IV. Er legalisierte Bordelle in Rom und hatte Söhne, einen sogar von seiner eigenen Schwester. Drei von seinen Söhnen machte er zu Kardinälen.«
Oder: »Unsere berühmte Scala di Spagna, die Spanische Treppe, trägt diesen Namen zu Unrecht. Eigentlich müßte sie Scala di Francia heißen. Die Franzosen gaben die Anregung für den Bau der Treppe, und ein Franzose war es, der in seinem Testament das Geld dafür bereitstellte. Die Spanische Botschaft - pffl - war zufällig daneben. Spanien hat nichts, überhaupt nichts, Harry, mit der Treppe zu tun.«
Wenn es ihre Arbeit und die Zeit erlaubten, reisten Partridge und Gemma auch nach Florenz, Venedig oder Pisa. Es war im Zug, auf der Rückreise von Florenz, als Gemma, die die ganze Zeit sehr bleich gewirkt hatte, sich mehrmals entschuldigte, um zur Toilette zu gehen. Partridge machte sich Sorgen, aber sie winkte nur ab. »Wahrscheinlich habe ich mir den Magen verdorben. Geht schon vorbei.«
Zurück in Rom, schien Gemma wieder völlig in Ordnung zu sein und am nächsten Tag ging Partridge wie gewohnt in die Redaktion. Doch als er am Abend nach Hause kam, fand er zu seiner Überraschung an seinem Platz am Eßtisch einen zusätzlichen, kleinen Teller und darauf die Schlüssel von Gemmas Alfa Romeo. Als er sie danach fragte, antwortete Gemma mit einem schwachen Lächeln: »Ein Versprechen ist ein Versprechen.«
Einen Augenblick lang war er verwirrt, doch dann fiel ihm Gemmas »Sobald ich schwanger werde, höre ich auf zu fahren.« wieder ein, und mit einem Freudenschrei nahm er sie überglücklich in die Arme.
Gemma hatte Tränen in den Augen, während sie sich küßten und eng umschlungen hielten.
Eine Woche später erfuhr Partridge von CBA News, daß er nicht länger Korrespondent in Rom sein würde und daß auf ihn eine größere Aufgabe wartete - als Chefkorrespondent in London.
Sofort dachte er an Gemma und fragte sich besorgt, wie sie darauf reagieren würde. Doch seine Sorge war unbegründet.
»Das ist eine wundervolle Nachricht, Harry caro«, sagte sie zu ihm. »Ich liebe London, mit Alitalia war ich oft dort. Wir werden ein schönes Leben zusammen haben.«
»Wir sind da, Mr. Partridge.«
Partridge, der geglaubt hatte, nur wenige Augenblicke lang die Augen geschlossen zu haben, öffnete sie nun wieder und mußte feststellen, daß sie Manhattan bereits erreicht hatten und in der Forty-eighth Street vor dem Inter-Continental standen. Er dankte dem Fahrer, wünschte ihm eine gute Nacht und ging hinein.
Im Aufzug auf dem Weg zu seinem Zimmer wurde ihm klar, daß es inzwischen Montag geworden war - der Beginn einer, wie sich zeigen sollte, sehr wichtigen Woche.
4
Jessica versuchte verzweifelt, wach zu bleiben und ihren Verstand zum Arbeiten zu bringen, damit sie begriff, was um sie herum vor sich ging, aber meistens schaffte sie es nicht. Sie hatte Augenblicke der Klarheit, in denen sie andere Leute sah und ihren eigenen Körper spürte - die Unbequemlichkeit und den Schmerz, die Übelkeit und den entsetzlichen Durst. Doch auch während sie all dies spürte, konnte sie in panischer Angst nur einen Gedanken fassen: Nicky! Wo bist du? Was ist passiert? Dann verschwamm alles wieder, und sie versank in einem Nebel von Bildern, in dem ihr Verstand nichts begreifen konnte, nicht einmal, wer sie selber war. Während dieser Ausfälle schien sie in einer klebrigen, milchigen Flüssigkeit zu schwimmen.
Doch während sie so am Rande des Bewußtseins dahindämmerte, gelang es ihr, die Erinnerung an das in den kurzen wachen Augenblicken Erlebte festzuhalten. Sie wußte, daß etwas, das in ihrem Arm gesteckt hatte, nun entfernt war und ein pulsierender Schmerz an dessen Stelle getreten war. Sie war sich bewußt, daß man ihr von irgendeinem Ruheplatz aufgeholfen und sie halb führend, halb tragend dorthin gebracht hatte, wo sie jetzt saß, ein Fleck, der - wiederum in den kurzen Augenblicken des Bewußtseins - eine glatte, flache Oberfläche zu haben schien. Im Rücken glaubte sie, ohne sich dessen sicher zu sein, etwas Festes zu spüren.
Wenn zwischen solchen Gedanken plötzlich Angst und Panik zurückkehrten, versuchte sie sich das einzuimpfen, von dem sie wußte, daß es wichtig war: Nicht die Nerven verlieren!
An etwas erinnerte sie sich ganz sicher, an einen Mann nämlich, der plötzlich vor ihr aufgetaucht war. Sein Bild war klar und deutlich. Er wir groß, mit sehr schütterem Haar und aufrechter Haltung, und er machte den Eindruck, als hätte er etwas zu sagen. Und ebendieser Eindruck veranlaßte sie, ihn anzusprechen und um Hilfe zu bitten. Sie wußte, daß ihre Stimme ihn erschreckt hatte; auch diese Reaktion hatte sich ihr deutlich eingeprägt, während ihr Bewußtsein über die wirkliche Anwesenheit des Mannes schon wieder verschwamm. Aber hatte er ihre Bitte auch verstanden? Würde er Hilfe bringen?... O Gott, wer konnte das wissen?
Wieder flackerte ihr Bewußtsein auf. Da war plötzlich ein anderer Mann, er beugte sich über sie... Moment mal! Den hatte sie schon einmal gesehen, sie erkannte sein leichenblasses Gesicht... Ja. Erst vor wenigen Minuten hatte sie doch verzweifelt mit einem Messer oder etwas ähnlichem gekämpft und ihm dabei das Gesicht zerschnitten. Sie hatte gesehen, wie das Blut herausspritzte... Aber warum blutete er jetzt nicht? Warum war sein Gesicht so plötzlich bandagiert?
In Jessicas Bewußtsein existierte die lange Periode der Bewußtlosigkeit nicht...
Dieser Mann ist ein Feind, sagte sie sich, und dann fiel es ihr plötzlich wieder ein: Er hat etwas mit Nicky angestellt. Ich könnte ihn umbringen, diesen Kerl!... Der Zorn brachte ihren Kreislauf in Schwung und neues Leben in ihre Glieder. Sie griff nach dem Pflaster auf diesem Gesicht und riß es herunter. Und dann gruben sich ihre Nägel in Fleisch und Wundschorf.
Mit einem überraschten Aufschrei sprang Baudelio zurück. Er griff sich mit der Hand an die Wange, und als er sie ansah, war sie rot vor Blut... Diese gottverdammte Frau! Jetzt hatte sie ihm schon wieder das Gesicht zerschunden, ihm, der sich bislang, trotz allem, immer für seine Patientin verantwortlich gefühlt hatte. Doch nun schlug seine Stimmung um. Wütend ballte er die Hand zur Faust, beugte sich vor und schlug ihr mit aller Kraft ins Gesicht.
Einen Augenblick später bereute er es - aus medizinischen Gründen. Er hatte sehen wollen, wie weit die drei Gefangenen bereits das Bewußtsein wiedererlangt hatten, und bis zu diesem Zeitpunkt war die Aufwachphase zufriedenstellend verlaufen, waren Puls und Atmung normal. Die Frau schien schon etwas weiter gewesen zu sein. Das hatte sie ja eben bewiesen, dachte er verärgert.
Sie würden natürlich alle unter gewissen Nachwirkungen zu leiden haben. Baudelio kannte das aus seiner langen Erfahrung als Narkosearzt. Eine gewisse Verwirrung, meist gefolgt von Depressionen, dazu heftige Kopfschmerzen und Übelkeit - die Nachwirkungen einer Betäubung glichen dem Kater eines Betrunkenen. Man mußte ihnen möglichst bald Wasser geben; er würde sich darum kümmern. Aber keine Nahrung, zumindest nicht, bis sie ihr nächstes Ziel erreicht hatten. Das Höllenlager, dachte Baudelio.
Socorro kam nun zu ihm, und er schickte sie nach Wasser. Sie nickte und ging hinaus, um etwas davon aufzutreiben. Baudelio wußte, daß in diesem feuchten, kaum besiedelten Dschungel paradoxerweise gerade Trinkwasser ein Problem war. Es gab zwar genügend Flüsse und Bäche, doch die waren verseucht mit Schwefelsäure, Kerosin und anderen Nebenprodukten, die von den Drogenhändlern zur Herstellung der Kokapaste benutzt wurden. Darüber hinaus bestand immer die Gefahr einer Malaria- oder Typhusinfektion, so daß auch die verarmten Bauern Limonaden, Bier und, wenn möglich, abgekochtes Wasser tranken.
Miguel hatte rechtzeitig die Hütte betreten, um den Vorfall zwischen Jessica und Baudelio und dessen Anordnung an Socorro mitzubekommen. Jetzt rief er ihr nach: »Besorg dir etwas, womit du diesen Idioten die Hände fesseln kannst, aber vergiß nicht - hinter dem Rücken.«
Dann wandte er sich an Baudelio: »Mach die Gefangenen fertig zur Abreise. Zuerst fahren wie mit dem Lastwagen. Aber dann geht's zu Fuß weiter.«
Jessica, die ihre Bewußtlosigkeit nur noch vortäuschte, hörte alles mit.
Mit dem Schlag hatte Baudelio ihr in gewisser Weise sogar einen Gefallen getan, denn der Schock hatte sie vollständig ins Bewußtsein zurückgebracht. Sie wußte wieder, wer sie war, ihr Erinnerungsvermögen kehrte zurück. Aber der Instinkt sagte ihr, das sie das für den Augenblick noch geheimhalten sollte.
Sie wußte, daß sie noch vor wenigen Augenblicken panische Angst gehabt hatte, daß sie aber jetzt versuchen mußte, sachlich zu denken. Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen?
Dann stürmten die Erinnerungen auf sie ein: Der Grand Union Supermarkt und die Geschichte von Crawfords Unfall -offensichtlich eine Lüge. Dann auf dem Parkplatz der brutale Überfall auf sie, Nicky und..
Nicky! Hat man ihm etwas getan? Wo ist er jetzt?
Während sie weiter versuchte, nicht die Nerven zu verlieren, fiel ihr ein, daß sie Nicky kurz auf einer Art Bett festgeschnallt gesehen hatte... und Angus auch. Ach, der arme Angus! Sie hatte ihn gesehen, während sie mit dem Mann kämpfte und sein Gesicht zerschnitt... War sie eigentlich noch am gleichen Ort? Es kam ihr nicht so vor. Aber wichtiger, war Nicky bei ihr? Sie hielt den Kopf gesenkt, drehte ihn fast unmerklich und öffnete die Augen einen Spalt. Gott sei Dank! Nicky sitzt neben mir! Seine Lider flatterten, er gähnte. Und Angus? Ja! Angus saß neben Nicky, er hatte die Augen geschlossen, atmete aber.
Das warf die Frage auf: Warum hatte man sie gefangengenommen? Sie beschloß, die Antwort darauf später zu suchen.
Was im Augenblick wichtiger war: Wo sind wir? Sie hatte bereits einen kleinen, halbdunklen, nur von einer einzigen Öllampe erhellten Raum erkannt. Warum kein Strom? Sie und die anderen saßen offenbar auf einem Lehmboden, und sie konnte Insekten spüren, obwohl sie versuchte, nicht daran zu denken. Es war unglaublich heiß und stickig in diesem Raum, und das verwirrte sie, weil der September in diesem Jahr ungewöhnlich kühl war und der Wetterbericht keine Änderung gemeldet hatte.
Wenn sie also nicht mehr in dem Raum waren, in dem sie Nicky und Angus gefesselt gesehen hatte, wie waren sie dann hierhergekommen? Hatte man sie betäubt? Bei diesen Gedanken fiel ihr etwas anderes ein: die Kompresse, die man ihr in dem Bus auf dem Parkplatz auf Mund und Nase gedrückt hatte.
Sie konnte sich nicht erinnern, was sonst noch in dem Bus passiert war; also hatte man sie wirklich betäubt, und die anderen wahrscheinlich auch. Für wie lange? Eine halbe Stunde, schätzte sie, eine Stunde im Höchstfall. Länger konnte es nicht gewesen sein, denn die Erinnerung an den Überfall auf dem Parkplatz war noch zu frisch.
So waren sie vermutlich noch in der Umgebung von Larchmont, und das hieß, irgendwo in New York State, New Jersey oder Connecticut. Jessica dachte auch kurz an Massachusetts und Pennsylvania, aber das konnte nicht sein. Beide Staaten war zu weit entfernt... Stimmen unterbrachen sie...
»Das Miststück tut nur so«, sagte Miguel.
»Ich weiß«, erwiderte Baudelio. »Sie ist voll wach und glaubt, sie kann uns hinters Licht führen. Die hört alles, was wir reden.«
Miguel streckte den rechten Fuß aus und stieß Jessica die Schuhspitze brutal in die Rippen. »Steh auf, du Miststück! Wir müssen los.«
Jessica zuckte vor Schmerz zusammen, und da ihr die Verstellung nun offensichtlich nichts mehr nutzte, hob sie den Kopf und öffnete die Augen. Sie kannte die beiden Männer, die auf sie heruntersahen - dem einen hatte sie das Gesicht zerschnitten und den anderen kurz im Bus gesehen. Ihr Mund war trocken und ihre Stimme heiser, aber es gelang ihr zu krächzen: »Das wird Ihnen noch leid tun. Man wird Sie fassen und bestrafen.«
»Schweig!« Miguel hatte wieder den Fuß gehoben, diesmal trat er sie in den Bauch. »Von jetzt ab sprichst du nur, wenn man dich etwas fragt.«
Sie hörte, wie Nicky neben ihr sich rührte. »Was ist passiert? Wo sind wir?« fragte er. Sie spürte die gleiche Panik in seiner Stimme, die sie selbst erlebt hatte.
Angus war es, der leise antwortete: »Sieht so aus, mein Junge, als hätten uns einige ziemlich gemeine Leute entführt. Aber bleib ganz ruhig! Sei stark! Dein Dad wird uns schon finden.«
Jessica, die sich nach dem brutalen Tritt noch immer vor Schmerzen krümmte, spürte plötzlich eine Hand auf ihrem Arm und hörte Nicky zärtlich fragen: »Mom, bist du in Ordnung?«
Tränen traten ihr in die Augen, als sie merkte, daß Nicky sich um sie Sorgen machte. Sie drehte den Kopf und versuchte, bestätigend zu nicken, mußte aber zusehen, wie auch Nicky brutal getreten wurde. Warum das alles? dachte sie voller Entsetzen.
»Das Redeverbot gilt auch für dich, du kleiner Trottel!« schrie Miguel. »Vergiß das nicht!«
»Oh nein, der wird das nicht vergessen«, sagte Angus, dessen Stimme trocken und spröde klang, der es aber trotzdem schaffte, Verachtung mitschwingen zu lassen. »Wer wird denn ein Stück menschlichen Abschaums vergessen, das gerade Mut genug hat, um eine hilflose Frau und einen kleinen Jungen zu treten?« Der alte Mann versuchte aufzustehen.
»Angus, nicht!« flüsterte Jessica. Sie wußte, daß kühne Worte ihre Lage nur verschlimmern würden.
Unter Schwierigkeiten fand Angus sein Gleichgewicht und kam auf die Füße. Miguel sah sich unterdessen um und hob einen Ast vom Boden auf. Er ging zu Angus und schlug ihm mit aller Kraft auf Kopf und Schultern. Der alte Mann fiel auf den Rücken und stöhnte vor Schmerzen. Das eine Auge, wo das Holz ihn getroffen hatte, war geschlossen.
»Ich hoffe, das ist eine Lektion für euch alle«, bellte Miguel. »Haltet endlich das Maul!« Dann wandte er sich an Baudelio. »Mach sie endlich fertig zum Aufbruch.«
Socorro war mit einem Wasserkrug in einer Korbhülle und einem Stück groben Seils zurückgekehrt.
»Wir sollten ihnen zuerst Wasser geben«, sagte Baudelio und fügte dann leicht gereizt hinzu: »Das heißt, wenn du sie am Leben halten willst.«
»Zuerst werden sie gefesselt«, befahl Miguel. »Ich will jetzt keine Schwierigkeiten mehr.«
Dann verließ er mit finsterer Miene die Hütte. Draußen, unter der immer höher steigenden Sonne, war die Hitze bereits unerträglich geworden.
Jessica wurde immer verwirrter, was ihren Aufenthaltsort betraf.
Vor wenigen Minuten hatte man sie, Nicky und Angus aus einer, wie Jessica nun sah, grob zusammengezimmerten Hütte gezerrt, und jetzt saßen sie auf der Ladefläche eines verdreckten Lastwagens zwischen Kisten, Schachteln und Säcken. Nachdem man sie mit auf dem Rücken gefesselten Händen aus der Hütte geführt hatte, schoben und zerrten sie verschiedene Hände unsanft über die Bordkante des Transporters. Dann sprang ein halbes Dutzend bunt gekleideter Männer, die bis auf ihre Waffen hätten Landarbeiter sein können, ebenfalls auf den Wagen, gefolgt von dem Mann, den Jessica wegen seiner Schnittwunde insgeheim »Narbengesicht« nannte, und dem anderen, den Jessica noch aus dem Kleinbus kannte. Danach wurde die Ladeklappe hochgezogen und befestigt.
Jessica hatte die ganze Zeit versucht, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren und sich alles einzuprägen, aber da war nichts. Es gab keine anderen Gebäude, nur dichten Wald, und den Lehmpfad, der zur Hütte führte, konnte man kaum eine Straße nennen. Sie versuchte, das Nummernschild des Lastwagens zu sehen, aber wenn der überhaupt eins hatte, dann war es von der heruntergelassenen Ladeklappe verdeckt.
Körperlich fühlte Jessica sich besser, weil sie Wasser getrunken hatte. Kurz vor Verlassen der Hütte hatten auch Nicky und Angus Wasser bekommen, von einer Frau mit mürrischem Gesicht, die Jessica ebenfalls schon einmal gesehen hatte, und zwar, wie sie sich nun erinnerte, während ihres ersten Kampfes mit Narbengesicht.
Jessica hatte versucht, ihr gegenüber einen weichen Ton zu finden, und ihr, während sie von ihr aus einer zerbeulten Blechtasse Wasser erhielt, zugeflüstert: »Vielen Dank für das Wasser. Bitte! - Können Sie mir sagen, wo wir sind und warum?«
Die Reaktion der Frau war grob und unerwartet. Sie stellte die Tasse weg und schlug Jessica zweimal so fest ins Gesicht, daß sie jedesmal zur Seite taumelte. »Du hast den Befehl doch gehört!« zischte die Frau. »Silencio! Wenn du noch einmal den Mund aufmachst, gibt's den ganzen Tag kein Wasser mehr.«
Danach schwieg Jessica. Und Nicky und Angus ebenfalls.
Die Frau saß nun im Führerhaus des Lastwagen neben dem Fahrer, der eben den Motor angelassen hatte. Der Mann, der Jessica und Nicky getreten und Angus geschlagen hatte, saß ebenfalls vorn. Jessica hatte gehört, daß die anderen ihn Miguel nannten; er war offensichtlich der Anführer. Der Lastwagen fuhr an und holperte über den unebenen Pfad.
Die Hitze auf dem Lastwagen war noch schlimmer als in der Hütte. Allen lief der Schweiß über das Gesicht. Wo sind wir nur? Jessicas anfängliche Vermutung, daß sie sich noch irgendwo in der Gegend um New York State aufhielten, wurde von Minute zu Minute unwahrscheinlicher. Sie kannte keinen Ort, an dem es zu dieser Jahreszeit so heiß war. Außer...
War es möglich, fragte sich Jessica, daß sie und die anderen viel länger bewußtlos gewesen waren, als sie ursprünglich angenommen hatte? Und falls das so war, hatte man sie dann vielleicht irgendwohin weiter weggebracht, weiter in den Süden, vielleicht nach Georgia oder Arkansas? Je länger sie über die Landschaft nachdachte, in der sie sich befanden, desto mehr fühlte sie sich an die abgelegeneren Regionen dieser Staaten erinnert, zumal es dort auch heiß war. Der Gedanke machte sie traurig, denn so gab es nur wenig Hoffnung auf eine baldige Rettung.
Weiter auf der Suche nach Hinweisen, begann sie nun, dem Gespräch der bewaffneten Männer zuzuhören. Sie erkannte die Sprache, es war Spanisch, und obgleich sie es selber nicht sprach, verstand sie doch einige Worte.
...»Maldito camiön! Me hace dano en la espalda.«... »Porque no te acuestas encima de la mujer? Elle es una buena almohada.«... Heiseres Lachen.... »No, esperare hasta que termine el viaje. Entonces, ella debe tener cuidado!«... »Los Sinchis, esos cabrönes, torturaron a mi hermano antes de matarlo.«... »El rio no puede llegar tan pronto como yo desearia que llegara. La Selva ve y oye todo.«...
Jessica nahm an, daß es sich um Immigranten handelte; es strömten ja genug Hispanos in die Vereinigten Staaten. Dann fiel ihr der Mann ein, der sie im Supermarkt in Larchmont angesprochen hatte. Sein Englisch hatte einen spanischen Akzent gehabt. Gab es da eine Verbindung? Sie konnte sich nicht vorstellen, welche.
Doch der Gedanke an Larchmont erinnerte sie an Crawf. Welche Qualen er durchzustehen hatte! Ihr fiel der Satz ein, mit dem Angus in der Hütte Nicky getröstet hatte. »Dein Dad wird uns schon finden.« Crawf setzte inzwischen mit Sicherheit Himmel und Erde in Bewegung, um sie aufzuspüren. Er hatte viel Einfluß und ebensoviele einflußreiche Freunde, die ihm helfen konnten. Aber hatten sie überhaupt eine Vorstellung davon, wo sie suchen mußten? Jessica mußte irgendwie herausfinden, wo sie waren, und sich dann überlegen, wie sie es Crawf wissen lassen konnte.
Angus hatte außerdem zu Nicky gesagt, daß sie entführt worden seien. Daran hatte Jessica zuvor noch gar nicht gedacht - wann denn auch! -, aber nun ging sie davon aus, daß Angus recht hatte. Doch warum entführt? Wegen Geld? War das nicht der übliche Grund? Sicher, die Sloanes hatten Geld, aber nicht im Überfluß, nicht so viel wie die »Bonzen aus Industrie und Wall Street«, von denen Crawf manchmal sprach.
Eigentlich war es unglaublich, dachte Jessica, daß Crawf erst am Abend zuvor - falls ihr Zeitgefühl sie nicht täuschte - von der Gefahr gesprochen hatte, selbst entführt zu werden...
Der Anblick Nickys lenkte sie von ihren Gedanken ab. Seit Beginn der Fahrt hatte Nicky Schwierigkeiten, sich aufrecht zu halten, weil er sich mit den gefesselten Händen nicht abstützen konnte, und nun lag er flach auf der Seite, so daß sein Kopf bei jeder Unebenheit auf dem Boden aufschlug.
Jessica, die ihm verzweifelt helfen wollte, aber nicht konnte, wollte schon das Schweigen brechen und Narbengesicht um Hilfe bitten, als sie sah, daß einer der Bewaffneten auf Nickys Notlage aufmerksam wurde und sich auf ihn zubewegte. Der Mann hob Nicky auf und lehnte ihn so gegen einen Sack, daß er sich mit den Füßen an einer Kiste abstützen und nicht mehr wegrutschen konnte. Jessica versuchte, dem Mann mit den Augen und einem schwachen Lächeln zu danken. Als Antwort nickte er kaum merklich. Es war nur ein schwacher Trost, dachte sie, aber wenigstens gab es unter diesen brutalen Leuten jemanden, der ein Herz hatte.
Der Mann saß jetzt neben Nicky. Er flüsterte etwas, das Nicky, der in der Schule seit kurzem Spanisch lernte, zu verstehen schien. Im Verlauf der Reise kam es noch zu zwei weiteren Wortwechseln zwischen dem Mann und dem Jungen.
Nach etwa zwanzig Minuten blieb der Lastwagen an einer Stelle, wo der Pfad im dichten Gebüsch verschwand, stehen. Mit vereinten Kräften hoben und schoben die Männer Jessica, Nicky und Angus vom Lastwagen. Als sie standen, kam Miguel aus der Fahrerkabine und verkündete knapp: »Von hier aus gehen wir zu Fuß weiter.«
Gustavo und die anderen Bewaffneten führten sie durch dichtes Buschwerk über einen unebenen, kaum erkennbaren Pfad. Von beiden Seiten bedrängten sie Äste und Blätter, und obwohl die Baumkronen über ihnen etwas Schatten gaben, war die Hitze ebenso unerträglich wie das unablässige Summen der Insekten.
Manchmal waren die drei Gefangenen eng beieinander. Bei einer Gelegenheit flüsterte Nicky Jessica zu: »Der Weg führt zu einem Fluß, Mom. Von dort fahren wir mit dem Boot weiter.«
»Hat der Mann dir das erzählt?« fragte Jessica ebenso leise.
»Ja.«
Wenig später hörte Jessica Angus murmeln: »Ich bin stolz auf dich, Nicky. Du bist sehr tapfer.«
Es war das erste Mal, daß Jessica seit Verlassen der Hütte Angus' Stimme hörte. Sie war froh, daß der alte Mann sich so gut hielt, aber sie fürchtete die Nachwirkungen dieses entsetzlichen Erlebnisse auf ihn und auch auf Nicky. Jessica hoffte noch immer auf Rettung. - Wie standen ihre Chancen? Wann und in welcher Form würde Hilfe eintreffen?
Nicky wartete den richtigen Augenblick ab und antwortete dann seinem Großvater leise: »Ich mache es so, wie du es mir gesagt hast. Daß man nämlich nicht den Kopf verlieren darf, wenn man Angst hat.«
Jessica erinnerte sich plötzlich gerührt an die Unterhaltung am Frühstückstisch, als sie alle vier, Crawf eingeschlossen, über dem Bombenangriff auf diese Stadt in Deutschland -Schweinfurt? - sprachen. Nicky hatte eben fast wörtlich wiederholt, was Angus ihm damals erzählt hatte. Und wie lange war dieses Frühstück her?... Heute, gestern, vorgestern?... Wieder mußte sie erkennen, daß sie ihr Zeitgefühl verloren hatte.
Etwas später fragte Nicky: »Gramps, wie geht's dir?«
»Es steckt schon noch Leben in dieser alten Haut.« Ein Pause und dann die geflüsterte Frage: »Jessica, was ist mir dir?«
Bei der nächsten Gelegenheit sagte sie: »Ich habe versucht zu erraten, wo wir sind. Georgia? Arkansas? Wo nur?«
Nicky war es, der mit einer Antwort dienen konnte. »Sie haben uns aus Amerika herausgebracht, Mom. Das weiß ich von dem Mann. Wir sind in Peru.«
5
»Noch heute morgen«, sagte Teddy zu den aufmerksamen jungen Gesichtern, die vor ihm saßen, »hatte ich vor, euch ein Märchen aufzutischen, warum ihr hier seid und was man von euch verlangt. Wie ein richtiger Klugscheißer hatte ich mir eine schöne, überzeugende Geschichte zurechtgelegt. Aber nachdem ich jetzt mit ein paar von euch gesprochen habe, weiß ich, daß ihr alle viel zu intelligent seid, um euch von irgendwelchem Gerede einwickeln zu lassen. Also keine Märchen. Ich glaube auch, daß ihr euch mit mehr Begeisterung in die Arbeit stürzt, wenn ihr wißt, was wirklich Sache ist, und daß ich mich auf eure Verschwiegenheit verlassen kann. Also setzt euch aufrecht hin, Kinder. Man wird euch jetzt gleich die Wahrheit anvertrauen.«
Coopers Eröffnung wurde mit Lächeln und ungeteilter Aufmerksamkeit belohnt.
Es war Montag morgen, 9 Uhr 30. In der letzten halben Stunde hatten sich genau sechzig junge Männer und Frauen, wobei beide Geschlechter fast gleich stark vertreten waren, in der Zentrale von CBA News zur Arbeit gemeldet, denn Onkel Arthur hatte am Abend zuvor den Telefonhörer erst aus der Hand gelegt, als die Truppe wirklich komplett war. Nun saßen alle in dem Nebengebäude, das am vergangenen Donnerstag für Crawford Sloanes Pressekonferenz benutzt worden war. Auch diesmal hatte man wieder Stühle und eine Rednertribüne aufgestellt.
Die meisten der Freiwilligen waren etwa zweiundzwanzig Jahre alt und hatten vor kurzem die Universität mit guten Zeugnissen verlassen. Und alle waren sie redegewandt, ehrgeizig und sehr begierig, endlich Fernsehluft zu schnuppern.
Etwa ein Drittel der Gruppe waren Schwarze, und auf einen von ihnen hatte Onkel Arthur Cooper besonders hingewiesen -Jonathan Mony. »Nimm dir Jonathan als Koordinator«, hatte ihm der alte Mann geraten. »Er hat ein Diplom von der Columbia School of Journalism, arbeitet aber zur Zeit als Kellner, weil er Geld braucht. Wenn du von ihm ebenso beeindruckt bist wie ich, können wir ihn nach dieser Sache vielleicht bei CBA unterbringen.«
Mony, der sich an diesem Morgen als erster gemeldet hatte, besaß die Statur und die Beweglichkeit eines professionellen Basketballspielers. Er hatte feingeschnittene Gesichtszüge und unwiderstehliche, selbstsicher blickende Augen. Seine Stimme war ein heller Bariton, und er sprach in knappen, präzisen Sätzen ohne jeden Jargon. Gleich nachdem er sich Cooper vorgestellt hatte, fragte er: »Kann ich helfen?«
Cooper, der Mony vom ersten Augenblick an mochte, antwortete: »Klar doch«, und gab ihm einen Stapel Formulare, die alle, die sich gemeldet hatten, ausfüllen mußten. Wenige Minuten später führte er bereits Neuankömmlinge zu ihren Plätzen und erklärte ihnen die Formulare, die er zuvor selbst nur überflogen hatte.
Bald darauf bat Cooper Mony, er möge telefonisch zwei Anfragen durchgeben. Mony stellte keine Fragen, sondern nickte nur und verschwand. Einige Minuten später kehrte er zurück und meldete: »Alles in Ordnung, Mr. Cooper. Beide Antworten lauten ja.«
Das war vor zehn Minuten gewesen. Nun fuhr Teddy Cooper in seiner Einführung fort, nachdem er nach seiner Ankündigung, er werde seinen Zuhörern »die Wahrheit anvertrauen«, der Wirkung halber eine Pause eingelegt hatte.
»Worum es hier eigentlich geht, ist die Entführung von Mrs. Crawford Sloane, dem kleinen Nicholas Sloane und Mr. Angus Sloane - von der ihr natürlich alle schon gehört habt. Was ihr nun tun werdet, soll den Entführungsopfern helfen und ist von allerhöchster Wichtigkeit. Wir schicken euch in Lokalredaktionen und in Bibliotheken, wo ihr euch die Zeitungsausgaben der letzten drei Monate ansehen sollt. Aber das heißt nicht nur lesen, sondern richtig Sherlock Holmes spielen und die Zeitungen nach Hinweisen durchforsten, über die ich euch gleich noch Genaueres sagen werde und die uns vielleicht auf die Spur dieser Kidnapper bringen.«
Das Interesse auf den Gesichtern vor ihm war nun noch deutlicher sichtbar als zuvor, und das leise Summen der Gespräche verstummte auch sofort wieder, als Cooper fortfuhr: »Sobald ich mit meiner Geschichte hier oben durch bin, wird man euch in Gruppen aufteilen und euch erklären, wohin ihr fahren müßt und was ihr zu tun habt, wenn ihr dort seid. Einige der Redaktionen wurden von uns bereits informiert, sie sind zur Kooperation bereit und erwarten euch. Bei anderen müßt ihr euch selber vorstellen. Sagt einfach, ihr kommt von CBA. Bevor ihr geht, bekommt jeder noch einen CBA-Presseausweis. Hebt ihn auf - als Andenken für eure Enkel.
Noch was zu den Transportmöglichkeiten: Wir haben einige Autos, die ein paar der Gruppen jeden Tag zu ihren Einsatzorten bringen. Von dort müßt ihr euch dann selbst durchschlagen. Schließlich habt ihr alle genug Eigeninitiative, und die könnt ihr hier mal richtig unter Beweis stellen. Einige werden mit dem Bus oder Zug fahren müssen. Die Reisespesen gehen natürlich in jedem Fall auf CBA.
Wenn ihr abends fertig seid, braucht ihr nicht hierher zurückzukehren, aber ihr müßt euch unbedingt telefonisch melden - die Nummer bekommt ihr noch -, und ihr müßt auch sofort anrufen, wenn ihr etwas Wichtiges entdeckt.«
Die Punkte, die Teddy Cooper hier vortrug, hatte er während des Sonntags und noch früh an diesem Morgen mit seinen beiden Assistenten und einer von der Nachrichtenredaktion ausgeliehenen Sekretärin ausgearbeitet. Einige vorbereitende Arbeiten, Anrufe bei den Lokalzeitungen etwa, waren auch jetzt noch im Gange.
»Soweit die Vorspeise«, verkündete Cooper. »Und jetzt wollen wir uns mal dem Hauptgang zuwenden. Ihr werdet jetzt gleich einen ganzen Stapel Info-Material bekommen... Ach, da ist es ja schon.«
Der vor Eifer fast überströmende Jonathan Mony hatte sich mit Coopers Assistenten unterhalten, die an einem Tisch am anderen Ende des Saales beschäftigt waren. Nun kehrte er mit einem Stapel Papier im Arm zurück - Kopien des Arbeitsplans und der Richtlinien, die Cooper am Tag zuvor ausgearbeitet und über Nacht ausgedruckt hatte. Mony verteilte die Kopien an seine neuen Kollegen.
»Wenn ihr in diese Lokalredaktionen kommt«, sagte Cooper, »laßt ihr euch zuerst die Ausgaben der letzten drei Monate geben, also ab dem 14. Juli. Bei jeder geht ihr dann die Immobilienanzeigen durch und sucht euch die heraus, in denen eine kleine Fabrik, ein Lagerhaus oder ein großes, altes Mietshaus angeboten werden - aber nicht jedes beliebige Objekt in dieser Richtung, sondern... die genauen Angaben stehen auf Seite eins der Unterlagen, die ihr gerade bekommen habt.«
Während Teddy Cooper seine Überlegungen und Pläne erläuterte, war er froh, daß er sich entschlossen hatte, die Wahrheit zu sagen. Wie viel oder wie wenig er diesen Hilfskräften sagte, lag allein in seinem Ermessen, und daß er den Leuten kein Märchen aufgetischt hatte, machte alles viel einfacher. Natürlich war auch ein gewisses Risiko dabei. Zum einen bestand nun die Gefahr, daß ein Konkurrent, ein anderer Sender vielleicht, erfuhr, was CBA plante, und das dann entweder an die Öffentlichkeit trug oder selbst ein ähnliches Projekt startete. Cooper wollte die jungen Leute davor warnen, Einzelheiten über diese verdeckte CBA-Operation preiszugeben. Und während er nun seine aufmerksamen, eifrig mitschreibenden Helfer betrachtete, kam er zu der Überzeugung, daß sie sein Vertrauen nicht mißbrauchen würden.
Zwischendurch sah Cooper immer wieder zur Tür. Die beiden Anrufe, um die er Jonathan Mony gebeten hatte, galten Harry Partridge und Crawford Sloane; er hatte sie fragen lassen, ob sie nicht kurz vorbeischauen könnten. Daß beide zugestimmt hatten, kam ihm sehr gelegen.
Sie trafen gemeinsam ein. Cooper unterbrach sich mitten im Satz und wies zur Tür. Alle drehten die Köpfe, und trotz der weltklugen Abgeklärtheit der jungen Leute ging ein unüberhörbares Raunen durch die Gruppe, als Sloane und Partridge den Saal betraten.
Cooper verließ ehrerbietig die Rednertribüne. Den Chefsprecher der National Evening News vorstellen zu wollen, wäre eine Anmaßung gewesen; er machte ihm einfach Platz.
»Hallo, Teddy«, sagte Sloane. »Was willst du denn von mir?«
»Vor allem, Sir, glaube ich, daß jeder hier Sie gern persönlich kennenlernen möchte.«
Sloane flüsterte mit Cooper. »Sag mal, wieviel hast du den Leuten denn schon erzählt?«
Partridge stand neben den beiden an der Tribüne und hörte zu.
»So ziemlich alles. Ich dachte mir, daß sie so mehr Begeisterung zeigen und daß wir ihnen trauen sollten.«
»Ganz meine Meinung«, sagte Partridge.
Sloane nickte. »Ist mir auch recht.« Er beachtete die Rednertribüne gar nicht, sondern ging auf die erste Stuhlreihe zu. Sein Gesicht war ernst; es erwartete auch niemand, daß er an einem Tag wie diesem froh und glücklich war, und als er sprach, paßte seine Stimme zu seiner ernsten Miene.
»Meine Damen und Herren, was Sie oder einige von Ihnen in den nächsten Tagen tun werden, kann unter Umständen direkt dazu beitragen, daß meine Frau, mein Sohn und mein Vater unversehrt zurückkehren. Falls wir wirklich dieses große Glück haben sollten, können Sie sicher sein, daß ich mich persönlich bei Ihnen bedanken werde. In der Zwischenzeit möchte ich Ihnen nur sagen, wie froh ich bin, daß Sie hier sind, und Ihnen alle Gute wünschen. Viel Glück für uns alle.«
Viele der jungen Leute standen nun auf und kamen vor, um Sloane die Hand zu schütteln und ihm ihr aufrichtiges Mitgefühl auszudrücken; und Teddy Cooper entdeckte unter ihnen einige mit tränenfeuchten Augen. Nach einer Weile verabschiedete sich Sloane und ging so unauffällig, wie er gekommen war. Partridge, der ebenfalls Hände geschüttelt und mit einigen Hilfskräften gesprochen hatte, begleitete ihn.
Danach nahm Cooper seine Einführung wieder auf. Als er die Gruppe zu Fragen ermunterte, schnellten sofort einige Hände hoch. Ein junger Mann in einem Sweatshirt der New York University war der erste. »Angenommen, einer von uns findet eine Anzeige, die diesen Kriterien entspricht, und es ist vielleicht das Objekt, das wir suchen. Was passiert dann?«
»Zuerst«, antwortete Cooper, »finden wir heraus, wer die Anzeige aufgegeben hat. Normalerweise steht ein Name bei der Anzeige, den gebt ihr uns dann einfach durch. Wenn kein Name angegeben ist, sondern nur eine Chiffrenummer, müßt ihr versuchen, in der Redaktion Näheres zu erfahren. Falls die nicht mit dem Namen herausrücken wollen, werden wir uns darum kümmern.«
»Und danach?«
»Wenn es möglich ist, rufen wir den Auftraggeber an und stellen ihm einige Fragen. Wenn nicht, besuchen wir ihn. Und wenn dann die Spur immer noch heiß ist, sehen wir uns das Objekt an - natürlich mit der gebotenen Vorsicht.«
»Sie reden immer von >wir<.« Eine attraktive junge Frau in einem modischen beigen Kostüm war nun an der Reihe. »Heißt das Sie und die anderen hohen Tiere, oder sind ein paar von uns auch mit dabei, wenn die Sache wirklich interessant wird?«
In das entstehende Gelächter stimmte Teddy Cooper mit ein.
»Zunächst einmal«, erwiderte er, »bin ich nur ein kleines Tier, schreibt euch das mal hinter die Ohren.« (Noch mehr Lachen.) »Aber eins kann ich euch versprechen: Soweit wir das können, beziehen wir euch in alle neuen Entwicklungen mit ein, vor allem diejenigen, die mit ihrer Entdeckung dazu beigetragen haben. Nicht zuletzt deshalb, weil wir euch brauchen. Wir sind etwas knapp an Leuten, und wenn wir wirklich eine Spur haben, ist es durchaus wahrscheinlich, daß auch einige von euch darauf angesetzt werden.«
»Und wenn's soweit ist«, wollte eine hübsche Rothaarige wissen, »sind dann auch Kamerateams mit dabei?«
»Sie meinen, ob Sie dann auch vor der Kamera stehen dürfen?«
Sie lächelte. »So was in der Richtung.«
»Das ist nicht meine Entscheidung, aber ich würde sagen, es ist durchaus möglich.«
Als keine Fragen mehr kamen, schloß Cooper noch einige Überlegungen an, die ihn in der vergangenen Nacht beschäftigt hatten, über die er aber noch mit niemandem gesprochen hatte.
»Neben dieser Suche nach der Anzeige möchte ich noch etwas anderes von euch: Wenn ihr schon die Ausgaben der letzten drei Monate vor euch liegen habt, könnt ihr sie auch gleich ganz durchblättern und auf alles Ungewöhnliche achten.
Fragt mich nicht, was das sein könnte, denn ich habe selber keine Ahnung. Aber vergeßt eins nicht: Diese Entführer, die wir suchen, waren mindestens einen, vielleicht sogar zwei Monate in dieser Gegend. In dieser Zeit haben sie trotz äußerster Vorsicht bestimmt irgendwelche Spuren hinterlassen. Und vielleicht ist eine solche Kleinigkeit irgendwie an die Presse gelangt.«
»Klingt aber ziemlich unwahrscheinlich«, meinte jemand.
Teddy Cooper nickte zustimmend. »Ich würde sagen, die Chancen stehen eins zu zehntausend, daß irgendwas in die Zeitung gekommen ist, und daß einer von euch die Information dann auch wirklich findet, ist ähnlich unwahrscheinlich. Es stimmt schon, eine große Chance haben wir nicht. Aber vergeßt nicht, daß es beim Lotto auch immer einen Gewinner gibt, und da stehen die Chancen eins zu ein paar Millionen.
Ich kann euch nur eins sagen: Denken, denken, denken! Nicht nur gründlich suchen, sondern auch mit Verstand. Benutzt eure Phantasie. Wir haben euch geholt, weil wir euch für kluge Köpfe halten, also enttäuscht uns nicht. Natürlich ist diese Anzeige unser erstes Ziel, aber haltet auch nach allem anderen die Augen offen.«
Cooper war nicht wenig überrascht, als die jungen Leute nach seiner Ansprache aufstanden und klatschten.
Schon früher an diesem Morgen, gleich mit Beginn der Geschäftszeit, hatte Harry Partridge einen seiner Kontaktmänner, nämlich den Anwalt angerufen. Die Reaktion des Mannes war nicht eben herzlich. »Ach, Sie sind es. Ich habe Ihnen doch am Freitag gesagt, daß ich mich diskret umhören werde. Das habe ich auch bereits zweimal getan, aber ohne jedes Ergebnis. Ich kann es ganz und gar nicht gebrauchen, daß Sie mir dauernd im Nacken sitzen.«
»Es tut mir leid, wenn ich...«, begann Partridge, doch der andere hörte nicht zu.
»Ist euch Journalistenschnüfflern eigentlich nie bewußt, daß ich bei so einer Sache Kopf und Kragen riskiere? Die Leute, mit denen ich es zu tun habe, meine Klienten, vertrauen mir, und ich will, daß das auch so bleibt. Und ich weiß auch, daß diese Leute sich einen Dreck um die Probleme anderer kümmern, und dazu gehört auch Ihres und Crawford Sloanes, egal für wie schlimm Sie es halten.«
»Das verstehe ich ja«, entgegnete Partridge. »Aber hier geht es um eine Entführung, und... «
»Schweigen Sie und hören Sie zu. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, bin ich sicher, daß keiner der Leute, die ich vertrete, in irgendeiner Form in die Entführung verwickelt ist. Ich habe zugegeben, daß ich Ihnen etwas schuldig bin, und versprochen, mein möglichstes zu tun, um etwas herauszufinden. Aber erstens laufe ich bei dieser Sache über ein Minenfeld und zweitens muß ich die Leute davon überzeugen, daß es für sie von Vorteil ist, wenn sie mir erzählen, was sie wissen oder gehört haben.«
»Hören Sie, ich sagte doch, daß es mir leid tut, wenn...«
Doch der Anwalt ließ sich nicht unterbrechen. »So was kann man nicht übers Knie brechen. Verstanden?«
Partridge seufzte innerlich und sagte: »Verstanden.«
Der Anwalt mäßigte seinen Ton ein wenig. »Geben Sie mir noch ein paar Tage. Aber rufen Sie mich nicht an, ich rufe Sie an.«
Beim Auflegen dachte Partridge, daß man Kontaktleute, auch wenn sie einem nützlich sein konnten, nicht unbedingt mögen mußte.
Vor seiner Ankunft in der Zentrale von CBA News an diesem Morgen hatte Partridge in der Frage, ob er die Beteiligung des kolumbianischen Terroristen an der Sloane-Entführung in den Abendnachrichten bringen sollte oder nicht, eine Entscheidung getroffen.
Er hatte beschlossen, die Information für den Augenblick noch zurückzuhalten.
Nach seinem Besuch bei Coopers Truppe machte er sich auf die Suche nach seinen Kollegen von der Spezialeinheit, um sie zu informieren. Im Konferenzraum fand er Owens und Iris Everly und erläuterte ihnen seine Entscheidung.
»Seht mal, im Augenblick ist Rodriguez die einzige Spur, die wir haben, und er weiß nicht, daß wir sie haben. Wenn wir damit auf Sendung gehen, besteht die Gefahr, daß auch Rodriguez davon erfährt, und dann haben wir einen Trumpf aus der Hand gegeben.«
»Ist das wirklich so wichtig?« fragte Owens zweifelnd.
»Ich glaube schon. Alles deutet darauf hin, daß Rodriguez verdeckt agiert, und wir würden ihn mit einer Veröffentlichung nur noch weiter in die Deckung treiben. Ich brauch' euch wohl nicht zu sagen, was das für unsere Chancen, ihn und damit die Sloanes zu finden, bedeuten würde.«
»Das sehe ich ja alles ein«, gab Iris zu. »Aber glaubst du wirklich, Harry, daß eine brandheiße Nachricht wie diese, die schon mindestens ein Dutzend Leute kennen, so lange geheim bleibt, wie es uns paßt? Vergiß nicht, daß jeder Sender, jede Zeitung und jede Presseagentur ihre besten Leute auf diese Geschichte angesetzt hat. Ich geb' dir höchstens vierundzwanzig Stunden, und dann weiß es die ganze Welt.«
Rita Abrams und Norman Jaeger waren nun ebenfalls dazugekommen und hörten zu.
»Vielleicht behältst du recht«, sagte Partridge zu Iris, »aber ich glaube, wir sollten dieses Risiko eingehen.« Dann fügte er hinzu: »Ich will ja nicht sentimental werden, aber ich glaube, wir sollten ab und zu daran denken, daß die Nachrichten, die wir produzieren, nicht das Ein und Alles sind. Wenn Berichterstattung Leben und Freiheit von Menschen gefährdet, dann müssen die Nachrichten zurückstehen.«
»Auch ich spiel' nicht gern den Moralapostel«, warf Jaeger ein. »Aber in dem Punkt stimme ich mit Harry überein.«
»Da ist noch etwas anderes«, bemerkte Owens, »und zwar das FBI. Wenn wir denen diese Information vorenthalten, kriegen wir Schwierigkeiten.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, gab Partridge zu. »Aber ich habe beschlossen, es zu riskieren. Falls sich deswegen jemand Kopfzerbrechen macht, möchte ich daran erinnern, daß ich hier die Verantwortung trage. Die Sache ist doch die: Wenn wir es dem FBI erzählen, dann können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß die auch mit anderen Journalisten darüber reden, und dann ist unsere Exklusiv-Story auch zum Teufel.«
»Um zum Wesentlichen zurückzukommen«, sagte Rita, »es gibt einen Präzedenzfall für dieses Problem. Ich erinnere mich da an eine Sache bei ABC.«
»Erzähl«, forderte Iris sie auf.
»Ihr erinnert euch doch noch an die Entführung dieser TWA-Maschine - Beirut, 1985?«
Die anderen nickten. Sie wußten, daß Rita Mitte der achtziger Jahre für ABC News gearbeitet hatte und daß diese Entführung ebenfalls auf das Konto von Terroristen ging, die damit die Welt zwei Wochen lang in Atem gehalten hatten. Einer der Passagiere dieses TWA-Fluges 847, ein Taucher der US Navy, war damals brutal ermordet worden.
»Wir bei ABC«, erzählte nun Rita, »wußten fast von Anfang an, daß drei amerikanische Soldaten in Zivil an Bord der Maschine waren, und wir glaubten, diese Information exklusiv zu besitzen. Auch wir stellten uns damals die Frage, ob wir damit auf Sendung gehen sollten. Wir taten es nicht, weil wir dachten, daß es auch die Entführer erfahren würden, und das wäre das Ende für die drei Soldaten gewesen. Die Entführer fanden es schließlich selbst heraus, aber indem wir unsere Interessen zurückstellten, hatten wir möglicherweise zwei der drei Soldaten das Leben gerettet.«
»Okay«, erwiderte Iris. »Ich glaube, das kann man akzeptieren. Aber wenn bis morgen abend kein anderer die Story gebracht hat, würde ich vorschlagen, daß wir noch mal drüber reden.«
»Einverstanden«, sagte Owens, und damit war die Diskussion beendet.
Aber wegen der Bedeutung der Information beschloß Partridge, seine Entscheidung auch Les Chippingham und Chuck Insen mitzuteilen.
Der Präsident von CBA News, der Partridge in seinem holzgetäfelten Büro empfing, nickte nur, als er es erfuhr. »Du bist derjenige, der in der Spezialeinheit die Entscheidungen trifft, Harry. Wenn wir deinem Urteil nicht trauen würden, hätten wir dir diese Aufgabe ja nicht übertragen. Aber trotzdem danke, daß du es mir gesagt hast.«
Der Studioleiter der National Evening News saß in seinen Chefsessel am Hufeisen. Beim Zuhören leuchteten Insens Augen auf. Am Ende nickte er. »Sehr interessant, Harry. Ausgezeichnete Arbeit. Sobald du es uns gibst, bringen wir es als Aufmacher. Auf keinen Fall vorher.«
Partridge hatte nun wieder Zeit, seine Telefonaktion fortzusetzen, und er ging dazu in sein provisorisches Büro.
Wieder nahm er sich das blaue Buch mit den Namen und Telefonnummern vor, aber im Gegensatz zur Woche zuvor, als er vorwiegend innerhalb der Vereinigten Staaten herumtelefonierte, versuchte er nun, seine Kontakte in Kolumbien und den Nachbarstaaten - Venezuela, Brasilien, Ecuador, Panama und Peru - sowie in Nicaragua zu erreichen. In all diesen Ländern, aus denen er schon häufig für CBA News berichtet hatte, kannte er Leute, die ihm weiterhelfen konnten.
Im Gegensatz zur Vorwoche hatte er nun auch eine konkrete Spur, und aus der ergab sich eine zweiteilige Frage: Kennen Sie einen Terroristen namens Ulises Rodriguez, und wenn ja, wissen Sie, wo er sich aufhält oder was er tut?
Obwohl am Freitag bereits Owen mit Partnern in Lateinamerika telefoniert hatte, gab es, soweit Partridge wußte, keine Überschneidungen - was auch gar nicht überraschend war, da Produzenten und Korrespondenten jeweils ihre eigenen Kontakte pflegten und sie für sich behielten.
Die Antworten, die Partridge auf seine Fragen erhielt, lauteten bei der ersten fast durchgehend »Ja«, und bei der zweiten »Nein«. Wie auch Owen schon berichtet hatte, war Rodriguez offensichtlich vor drei Monaten verschwunden, und seitdem fehlte von ihm jede Spur. Ein interessanter Aspekt ergab sich jedoch aus Partridges Unterhaltung mit einem alten Freund in Kolumbien, einem Radioreporter aus Bogota.
»Wo er auch ist«, sagte der Reporter, »ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, daß er sich nicht in Kolumbien aufhält. Immerhin ist er Kolumbianer, und obwohl die Behörden ihn nicht zu fassen kriegen, ist er zu gut bekannt, um sich länger hier aufhalten zu können, ohne bemerkt zu werden. Ich möchte wetten, daß er nicht hier ist.« Die Schlußfolgerung klang durchaus sinnvoll.
Ein Land, das Partridge politisch suspekt war, war Nicaragua, dessen Sandinistenregime berüchtigt war für seine Verschlagenheit und sein tyrannisches Gebahren, und das außerdem den Vereinigen Staaten feindlich gegenüberstand. Konnte das Regime in irgendeiner Form mit dieser Entführung zu tun haben, weil es hoffte, damit Vorteile zu gewinnen? Die Frage ergab keinen rechten Sinn, wie so vieles bei dieser Geschichte. Doch nach einem halben Dutzend Anrufen nach Managua, der Hauptstadt des Landes, hatte Partridge Gewißheit: Seine Kontakte bestätigten übereinstimmend, daß Ulises Rodriguez sich nicht in Nicaragua aufhielt und auch in der Vergangenheit nicht dort gewesen war.
Als nächstes kam Peru an die Reihe. Partridge führte verschiedene Gespräche, von denen ihn eins besonders beschäftigte.
Er hatte mit seinem alten Bekannten Manuel Leon Seminario gesprochen, dem Besitzer und Herausgeber des in Lima erscheinenden Wochenmagazins Escena.
Nachdem Partridge seinen Namen genannt hatte, kam Seminario sofort ans Telefon. Er begrüßte ihn in perfektem Englisch, und Partridge sah seinen Gesprächspartner im Geiste vor sich: schlank und elegant, in einem modischen, makellosen Anzug. »Aber mein lieber Harry! Wie schön, von dir zu hören. Wo bist du denn? Ich hoffe doch, in Lima.«
Als Seminario erfuhr, daß der Anruf aus New York kam, klang er enttäuscht. »Einen Augenblick lang habe ich gehofft, wir beide könnten uns morgen im La Pizzeria zum Mittagessen treffen. Ich versichere dir, das Essen dort ist so gut wie eh und je. Warum setzt du dich nicht einfach in ein Flugzeug und kommst rüber?«
»Ich würde ja gern, Manuel. Aber leider stecke ich bis zu den Ohren in einer sehr wichtigen Arbeit.« Partridge erzählte ihm von der Spezialeinheit, die sich mit der Sloane-Entführung beschäftigte.
»Mein Gott! Ich hätte wissen müssen, daß du damit zu tun hast. Eine entsetzliche Sache. Wir haben die Geschichte sehr genau verfolgt und bringen nächste Woche eine ganze Seite darüber. Gibt es etwas Neues, das wir noch hinzufügen sollten?«
»Es gibt wirklich etwas Neues«, antwortete Partridge, »und das ist der Grund meines Anrufs. Aber wir halten es im Augenblick noch geheim, und ich wäre dir dankbar, wenn du unser Gespräch vertraulich behandelst.«
»Nun gut...«, die Antwort war vorsichtig formuliert, »solange es keine Information ist, die wir schon besitzen.«
»Wenn es das nicht ist, Manuel, kann ich mich dann auf dich verlassen?«
»Ja.«
»Wir haben Grund zu der Annahme, daß Ulises Rodriguez in die Sache verwickelt ist.«
Es entstand ein kurzes Schweigen, bevor Seminario antwortete. »Du sprichst von sehr schlechter Gesellschaft. Dieser Mann ist bei uns absolut gefürchtet.«
»Warum gefürchtet?«
»Er steht im Verdacht, der Drahtzieher hinter all den Entführungen zu sein, die es bei uns gegeben hat. Angeblich pendelt er für seine verschiedenen Auftraggeber hier bei uns zwischen Peru und Kolumbien hin und her. Unsere kriminellrevolutionären Elemente bedienen sich häufig solcher Mittel. Du weißt sicher, daß Entführungen in Peru an der Tagesordnung sind. Wohlhabende Geschäftsleute und ihre Familien sind bevorzugte Ziele. Viele von ihnen beschäftigen Leibwächter und fahren gepanzerte Autos, weil sie hoffen, sich auf diese Weise schützen zu können.«
»Ich habe schon davon gehört«, erwiderte Partridge, »aber ich hatte es, ehrlich gesagt, vergessen.«
Seminario seufzte hörbar. »Da bist du nicht alleine, mein Freund. Die westliche Presse beschäftigt sich, höflich ausgedrückt, nur sehr sporadisch mit Peru. Und was deine Fernsehnachrichten betrifft, für die existieren wir praktisch gar nicht.«
Partridge mußte ihm recht geben. Er wußte nicht, warum, aber die Amerikaner schienen an Peru weniger Interesse zu haben als an anderen Ländern. Laut sagte er schließlich: »Hast du etwas gehört, ob Rodriguez sich im Augenblick in Peru aufhält oder ob er in letzter Zeit für peruanische Auftraggeber gearbeitet hat?«
»Hm... nein.«
»Hab' ich da ein Zögern gehört?«
»Nicht wegen Rodriguez. Ich habe nichts gehört, Harry. Sonst würde ich es dir sagen.«
»Was dann?«
»In den letzten Wochen war es an der ganzen kriminellrevolutionären Front, wie ich es nenne, verdächtig ruhig. Es ist kaum etwas passiert. Jedenfalls nichts von Bedeutung.«
»Und?«
»Ich kenne die Anzeichen, und ich glaube, daß sie typisch sind für Peru. Wenn es am ruhigsten ist, heißt das oft, daß irgendeine große Sache bevorsteht. Für gewöhnlich etwas Unangenehmes und äußerst Unerwartetes.«
Seminarios Stimme wechselte das Tempo, sie wurde geschäftsmäßiger: »Mein lieber Harry, es war ein Vergnügen, mit dir zu reden, und ich habe mich gefreut, daß du angerufen hast. Aber Escena erscheint nicht von selbst, ich muß wieder an die Arbeit. Besuch mich doch bald einmal in Lima und vergiß nicht: Mittagessen im La Pizzeria - die Einladung steht.«
Den ganzen Tag über ging Partridge der eine Satz nicht mehr aus dem Kopf: »Wenn es am ruhigsten ist, heißt das oft, daß irgendeine große Sache bevorsteht.«
6
Zufällig war am gleichen Tag, als Harry Partridge mit dem Besitzer und Herausgeber von Escena telefonierte, Peru auch Thema einer sehr privaten Zusammenkunft der Führungsspitze von Globanic Industries Inc., der Konzernmutter von CBA. Dieses Treffen war einer der zweimal jährlich stattfindenden dreitägigen »Strategie-Workshops« unter der Leitung des Aufsichtsratsvorsitzenden und Chief Executive Officers Theodore Elliott. Teilnehmer dieser Treffen waren ausschließlich Vorstände - die der neun Tochtergesellschaften, alles selbst bedeutende Firmen mit eigenen Ablegern.
Bei solchen Treffen wurden vertrauliche Informationen ausgetauscht und geheime Pläne besprochen, von denen einige das Wohl und Wehe von Konkurrenten, Investoren und Märkten auf der ganzen Welt beeinflussen konnten. Doch von keiner dieser halbjährlichen Zusammenkünfte gab es Protokolle oder andere schriftliche Unterlagen. Man achtete auf ein Höchstmaß an Sicherheit, jeden Morgen vor Beginn der Sitzung wurde der Konferenzraum elektronisch nach Wanzen abgesucht.
Vor den verschlossenen Türen wartete eine ganze Reihe Assistenten darauf, ihren jeweiligen Chefs mit Daten und Detailinformationen behilflich sein zu können. Bei den Konferenzen selbst war, keiner dieser Assistenten anwesend.
Der Ort, an dem diese Konferenzen stattfanden, war fast immer derselbe: Der Fordly Cay Club in Nassau auf den Bahamas.
Fordly Cay, einer der exklusivsten Privatclubs der Welt mit eigenem Yachthafen, Golfkurs, Tennisplätzen und schneeweißem Sandstrand, gestattete gelegentlich ausgesuchten VIP-Gruppen die teure Benutzung seiner Einrichtungen.
Größere Kongresse waren unerwünscht, Verkaufsgespräche durften in den heiligen Hallen des Clubs nicht geführt werden.
Die Mitgliedschaft in diesem Club war schwer zu erreichen, es existierten lange Wartelisten, und einige Aspiranten warteten viele Jahre vergebens. Auch Theodore Elliott war erst seit kurzem Mitglied. Bei ihm hatte es zwei Jahre gedauert, bis sein Aufnahmeantrag angenommen worden war.
Am Tag zuvor, bei der Ankunft der Konferenzteilnehmer, hatte Elliott den Gastgeber gespielt und vor allem die jeweiligen Gattinnen recht herzlich begrüßt, die nur in den Konferenzpausen, beim Tennis, Golf, Segeln oder anderen gesellschaftlichen Ereignissen, in Erscheinung traten. Nun hatte man sich zur ersten Konferenzrunde an diesem Morgen in eine kleine, komfortable Bibliothek mit tiefen, beigen Ledersesseln auf teuren Teppichen zurückgezogen. Zwischen den Bücherregalen prangten in sanft erleuchteten Vitrinen silberne Sporttrophäen. Von einem Bild über dem selten benutzten, offenen Kamin strahlte der Gründer des Clubs auf die erlauchte Runde herab.
Elliott trug, der Umgebung angemessen, eine weiße Freizeithose und ein hellblaues Polohemd mit dem Clubemblem - einem viergeteilten Schild mit Palmenornamenten, überkreuzten Tennisschlägern, Golfschlägern und einer Yacht, und das ganze über Meereswellen. Auch ohne diese Accessoires war Elliot ein im klassischen Sinne attraktiver Mann, groß und schlank, mit breiten Schultern, einem kräftigen Kinn und dichten, inzwischen beinahe weißen Haaren. Die Haarfarbe erinnerte daran, daß der Aufsichtsratsvorsitzende in zwei Jahren das Ruhestandsalter erreichte und mit ziemlicher Sicherheit einer der Anwesenden seine Stelle einnehmen würde.
Wenn man davon ausging, daß einige der Firmenvorstände zu alt waren, um für diesen Posten in Frage zu kommen, gab es drei aussichtsreiche Kandidaten. Margot Lloyd-Mason gehörte dazu.
Margot war sich dessen wohl bewußt, als sie gleich zu Beginn der Sitzung über die Lage von CBA berichtete.
In knappen, präzisen Sätzen erklärte sie, daß seit der Übernahme von CBA durch Globanic Industries strikte finanzielle Kontrollen eingeführt, Budgets gekürzt und überflüssiges Personal entlassen worden sei. Als Folge davon seien die Gewinne im Vergleich zum Vorjahr, also vor der Übernahme durch Globanic, um zweiundzwanzig Prozent gestiegen.
»Ein netter Einstieg«, bemerkte Theodore Elliott, »obwohl wir für die Zukunft noch Besseres erwarten.« Die anderen nickten bestätigend.
Margot hatte sich an diesem Morgen sehr überlegt angezogen, denn sie wollte weder zu feminin wirken, noch auf die Vorteile verzichten, die ihr Geschlecht ihr bot. Zunächst dachte sie an ein maßgeschneidertes Kostüm, wie sie es häufig in ihrem Büro in Stonehenge trug, sah aber dann ein, daß es für die Subtropen unangebracht war. Schließlich entschied sie sich für eine leichte, beige Leinenhose und einen Baumwollpullover in einem sanften Pfirsichton. Das Ensemble betonte ihre gut proportionierte Figur, und das merkte sie auch an den Blicken der Männer.
Während sie nun mit ihrem Bericht fortfuhr, erwähnte sie auch die Entführung der Familie Crawford Sloanes.
Der Direktor von International Forest Products, ein skrupelloser Oregoner namens De Witt, warf ein: »Das ist ja furchtbar, und wir alle hoffen, daß man diese Gangster bald faßt. Aber gleichzeitig erhält CBA wegen dieser Sache eine Menge Aufmerksamkeit.«
»Und zwar so viel Aufmerksamkeit«, ergänzte Margot, »daß die Einschaltquoten der National Evening News in den letzten fünf Tagen von 9,2 auf 12,1 gestiegen sind. Das sind sechs Millionen Zuschauer zusätzlich, und damit sind wir eindeutig die Nummer eins. Gleichzeitig sind auch die Quoten für unsere tägliche Show gestiegen, die unsere fünf Tochterstationen direkt nach den Nachrichten bringen. Dasselbe gilt für unsere Shows in der Hauptsendezeit, vor allem die Ben Largo Show am Freitag, die von 22,5 auf 25,9 stieg. Unsere Werbekunden sind hoch erfreut; und wir können bei der nächsten Verhandlungsrunde mit ihnen Dampf machen.«
»Bedeuten diese hohen Einschaltquoten über mehrere Sendungen hinweg, daß viele Leute nicht umschalten?« wollte jemand wissen. Die Frage zeigte Margot, daß sich auch diese abgebrühten Männer der Faszination der Fernsehwelt nicht entziehen konnten.
»Es ist ein Erfahrungswert, daß die Mehrzahl der Zuschauer, die die Nachrichten einschalten, in den nächsten neunzig Minuten und manchmal noch länger bei diesem Sender bleiben. Und gleichzeitig kommen andere mit dazu.«
»Dann ist's der böse Wind, der gute Nachricht bringt, wie das alte Sprichwort sagt«, bemerkte der Direktor von Forest Products lächelnd.
Margot lächelte zurück. »Da wir hier unter uns sind, stimme ich zu, aber ich möchte damit nicht zitiert werden.«
»Hier zitiert niemand den anderen«, sagte Elliott. »Diese Treffen sind ja dazu da, daß wir offen und ungestört reden können.«
»Weil wir gerade von Anzeigenkunden reden, Margot.« Es war Leon Ironwood von West World Aviation, ein gebräunter, athletischer Kalifornier und einer der drei Kandidaten für Elliotts Posten. Das Unternehmen, dem Ironwood vorstand, war ein erfolgreicher Rüstungsbetrieb, der vor allem Kampfflugzeuge herstellte.
»Wie sieht es eigentlich mit dem Problem der Videorecorder aus? Wie viele Haushalte haben inzwischen einen?«
»Ungefähr fünfzig Prozent«, antwortete Margot, »und es ist in der Tat ein Problem. Fast alle, die Programme aufnehmen, drücken bei den Werbespots, ohne hinzusehen, auf den Schnellvorlauf und vermindern damit unsere Werbewirksamkeit.«
Ironwood nickte. »Das ist vor allem schlimm, weil die Besitzer von Videorecordern eine kaufkräftige Bevölkerungsschicht darstellen. Ich sehe auch so fern.«
»Man darf auch die Stummschaltmöglichkeit, diese MUTEKnöpfe, nicht vergessen. Ich benutze meine bei jedem Spot.«
»Es ist nicht zu leugnen«, sagte Margot, »daß das Problem der Videorecorder und der MUTE-Knöpfe wie eine Gewitterwolke über uns hängt, und deshalb haben sich die Sender auch endlich dazu durchgerungen, die Auswirkungen zu untersuchen. Eigentlich könnten wir schon längst präzise Meßtechniken haben, aber so genau wollen wir die schlechte Nachricht ja gar nicht kennen. Da stehen wir im übrigen nicht allein, denn auch die Werbeagenturen müssen fürchten, daß dieses Wissen ihre Großkunden abschreckt, was für sie, die Agenturen, enorme Verluste bedeuten würde.«
»Ich bin sicher«, meinte nun Elliott, »daß Sie das bei Ihrer Finanzplanung berücksichtigt haben.«
»Natürlich, Theo. Da wir davon ausgehen, daß die Werbeeinnahmen in Zukunft zurückgehen, haben wir uns nach zusätzlichen Einnahmequellen umgesehen. So haben wir angefangen, in aller Stille Kabelsender aufzukaufen, und das werden wir auch weiter tun. Die großen Sender haben genug Kapital, und die Kabelanbieter werden eines Tages aufwachen und merken, daß sie fast alle den großen, überregionalen Sendern gehören. Und gleichzeitig verhandeln wir mit den Telefongesellschaften über Joint Ventures.«
»Joint Ventures?« fragte Ironwood.
»Ich werde es gleich erklären. Man muß zunächst davon ausgehen, daß das terrestrische Fernsehen - also das mit einer herkömmlichen Antenne - keine Zukunft mehr hat. In zehn bis fünfzehn Jahren wird man eine altmodische Fernsehantenne höchstens noch im Smithsonian Institute finden, und die Programmanbieter werden auch keine terrestrischen Sendungen mehr ausstrahlen, weil es unökonomisch ist.«
»Das heißt, Kabel und Parabolantennen anstelle der herkömmlichen Antennen?«
»Zum Teil, aber nicht vollständig.« Margot lächelte. Sie sprach über ein vertrautes Thema und hoffte, damit gleichzeitig ihren Weitblick zu demonstrieren.
»Man muß nun weiter wissen«, fuhr sie fort, »daß reine Kabelanbieter in diesem Geschäft keine Zukunft haben. Um zu überleben, müssen sie sich, wie wir es auch tun werden, mit den Telefongesellschaften zusammenschließen, weil deren Leitungen bereits in jeden Haushalt führen.«
Einige nickten zustimmend, während Margot fortfuhr. »Die Technologie für eine Kombination von Telefon- und Fernsehleitungen ist mit dem Glasfaserkabel inzwischen verfügbar. Jetzt geht es nur noch darum, das theoretisch Machbare in die Tat umzusetzen, und dazu gehört auch, daß Sender wie wir spezielle Kabelprogramme entwickeln. Die Profitmöglichkeiten sind enorm.«
»Aber gibt es denn keine staatlichen Beschränkungen hinsichtlich des Engagements der Telefongesellschaften bei Radio und Fernsehen?« wollte Ironwood wissen.
»Beschränkungen, die der Kongreß aufheben wird. Wir arbeiten daran, es gibt sogar schon eine entsprechende Gesetzesvorlage.«
»Und Sie sind überzeugt, daß der Kongreß mitspielt?«
Elliott lachte. »Wenn er es tut, dann nicht von ungefähr. Die meisten von uns hier kennen doch sicher das Buch The Best Congress Money Can Buy. Eine absolute Pflichtlektüre... Wie heißt der Autor gleich wieder?«
»Philip Stern«, sagte Margot.
»Richtig. Und genauso wie Stern es beschreibt, unterstützt Globanic Industries mit ansehnlichen Beträgen jedes politische Aktionskomitee, das sich um Belange kümmert, die uns angehen. Das heißt, Kongreßstimmen sind gekauft und stehen zur Verfügung, wenn wir sie brauchen. Wenn Margot will, daß diese Beschränkungen fallen, dann kann sie es mich wissen lassen, und ich werde mich darum kümmern.«
Man unterhielt sich auch weiterhin auf diese unverblümte, offene Art. Die Sloane-Entführung wurde jedoch nicht mehr erwähnt.
Etwas später war K. Phocis (»Fossie«) Xenos von Globanic Financial Services mit seinem Bericht an der Reihe.
Noch vor drei Jahren war Tri-Trade Financial Services, wie es damals hieß, ein kleines Unternehmen, das mit Verbraucherkrediten an Mittelschichtsamerikaner Umsatz machte und zusätzlich Lebens- und Unfallversicherungen verkaufte. Globanic übernahm Tri-Trade, denn Elliott betrachtete die Firma als hervorragende Basis für ein größeres Unternehmen, mit dem er internationale Investoren auf der Suche nach dem größeren Ruhm des größeren unternehmerischen Risikos anziehen wollte. Die Leitung dieses Unternehmens übertrug er Fossie Xenos, einem jungen Amerikaner griechischer Abstammung und Absolventen der Wharton Business School, der mit einigen geschickten Investmentbank-Manövern Elliotts Aufmerksamkeit erregt hatte.
Gleich zu Beginn seiner Karriere bei den Financial Services entledigte sich Xenos des Verbraucherkreditgeschäfts, das nur bescheidene Gewinne abwarf, und schloß die kleinen Ladenfilialen der Bank. Bald darauf stellte er auch den Versicherungsverkauf ein, da der in seinen Augen eine »fade Freizeitbeschäftigung für Spatzenhirne« darstellte. Was ihn viel mehr interessierte, war eine noch junge und aufregende Entwicklung auf dem Geldmarkt - Firmenaufkäufe mit Fremdkapital, sogenannte Leveraged Buyouts oder LBOs, die mit Junk Bonds finanziert wurden.
Seit dieser Zeit arbeitete Fossie Xenos mit allem, was in der Finanzszene gerade »heiß« war, und schuf so für Globanic Financial glänzende Gewinne und für sich selbst den Ruf außergewöhnlicher unternehmerischer Dynamik. Vor allem deshalb sah Margot Lloyd-Mason in Fossie, dem dritten Kandidaten für Elliotts Stuhl, ihren schärfsten Rivalen.
Trotz seiner manipulativen Fähigkeiten und Erfolge hatte sich Fossie eine jungenhafte Art bewahrt, die ihn mit seinen einundvierzig Jahren wirken ließ wie einen Mittdreißiger. Er war meistens sehr lässig gekleidet, und seine Frisur war dauernd in Unordnung, weil er sich mit den Fingern ständig durch die Haare fuhr, während er redete wie ein Schnellfeuergewehr. Die verbindliche, überzeugende Art seiner Gesprächsführung und das freundliche Lächeln, das er jedem schenkte, waren seine persönlichen Stärken.
Nun berichtete Fossie Xenos von einem komplexen, heiklen und zum Großteil geheimen Projekt, das sich noch im Anfangsstadium befand, aber eine milliardenschwere Goldgrube für Globanic zu werden versprach. Es ging dabei um sogenannte Debt-to-Equity Swaps, komplexe Umschuldungsstrategien, und um einen riesigen Immobilien-Investmentfonds, und beides betraf Peru, mit dessen Regierung Globanic Hand in Hand arbeitete.
Fossie erläuterte dann seinen Kollegen die einzelnen Schritte und Bedingungen dieses Projekts:
- Im Augenblick hatte Peru mehr als 16 Milliarden Dollar Auslandsschulden, die es nicht zurückzahlen konnte. Das bedeutete gleichzeitig, daß die internationale Finanzwelt nicht mehr bereit war, dem Land weiteres Geld zu leihen. Doch Peru litt im Augenblick unter einer bedrückenden ökonomischen Krise und mußte dringend wieder in den Ruf eines soliden Schuldners kommen, um neues Geld aufnehmen zu können.
- Globanic hatte heimlich 4,5 Milliarden der peruanischen Schulden aufgekauft, mehr als ein Viertel also, und dafür pro Dollar durchschnittlich fünf Cents bezahlt, was eine Vorabinvestition von 225 Millionen Dollar bedeutete. Die ursprünglichen Geldgeber, vorwiegend amerikanische Banken, waren sogar über den Verkauf zu einem so niedrigen Preis hoch erfreut, da sie ursprünglich damit gerechnet hatten, überhaupt nichts zurückzubekommen. Globanic »versicherte« nun diese peruanischen Schulden, das heißt, sie wandelte sie in verkehrsfähige Papiere um.
- Der Regierung von Peru, genauer den Ministern für Finanzen, Tourismus und öffentliche Arbeiten, wurde ein verlockendes Angebot unterbreitet: Sie könne die 4,5 Milliarden Dollar Schulden auf einen Schlag loswerden, wenn sie Globanic diese »versicherten« Schuldpapiere für zehn Cents pro Dollar abkaufe, wobei sie sämtliche anfallenden Verwaltungskosten in ihrer eigenen, schwachen Währung, dem Inti, bezahlen dürfe. Letzteres war ein von Fossie sehr geschickt ausgelegter Köder, da so Perus kleiner, aber kostbarer Vorrat an starken Fremdwährunge n, vorwiegend Dollars, im Land bleiben würde.
- Drei kritische Bedingungen waren mit Globanics Bereitschaft zur Anerkennung der peruanischen Währung verknüpft. Globanic wollte für die Schuldpapiere kein Geld, sondern verlangte statt dessen von der peruanischen Regierung im Rahmen dieses Debt-to-Equity Swaps die Übereignung von zwei spektakulär gelegenen Erholungsgebieten. Globanic wollte diese Gebiete erschließen und zu Touristenzentren ausbauen, da man vom Potential dieser Landstriche als erstklassige Urlaubsziele überzeugt war. Geplant war zum einen ein Erholungszentrum an der Küste, dem man jetzt schon den Namen »Punta del Este des Pazifiks« gab, und zum anderen die Erschließung eines Gebiets in den Anden, das als Ausgangspunkt für Exkursionen zum Machu Picchu und zum Cuzco, zwei weltberühmten Touristenattraktionen, dienen sollte.
- Die peruanische Regierung mußte darüber hinaus garantieren, daß Globanic die Erschließung völlig unabhängig und nach eigenen Vorstellungen vorantreiben konnte. Globanic dagegen würde zur Finanzierung der Erschließung harte Währung ins Land bringen und außerdem vor Ort eine große Anzahl von Arbeitsplätzen schaffen, was beides Peru zugute kam.
- Als letzte, zwischen Konzern und Regierung geheimzuhaltende Bedingung, verlangte Globanic, daß als Preis für die beiden Gebiete nur drei Viertel des wahren Werts berechnet werden dürfe.
- Globanic profitierte in verschiedener Hinsicht von diesem Projekt: Zunächst konnte sie die Schuldverschreibungen für das Doppelte des Einkaufspreises weiterverkaufen - ein unmittelbarer Gewinn von 225 Millionen Dollar. Zum zweiten der Preisnachlaß von fünfundzwanzig Prozent auf zwei großartige Erholungsgebiete. Zum dritten würde die Erschließung der Gebiete Investoren aus aller Welt anziehen, und die fertiggestellten Touristenzentren würden schließlich gigantische Gewinne abwerfen.
Fossie schloß mit dem Hinweis, daß es vor wenigen Tagen nach langen und behutsamen Verhandlungen zu einer Einigung zwischen der Peruanischen Regierung und Globanic Financial gekommen sei, wobei Peru alle Bedingungen akzeptiert habe.
Als K. Phocis Xenos sich setzte, applaudierte ihm sein kleines, aber ausgesprochen mächtiges Publikum spontan.
Ein strahlender Elliott fragte in die Runde: »Noch Fragen?«
»Was diese Minister angeht, die Sie erwähnt haben«, sagte Warren Graydon von Empire Chemical, »gibt es da irgendwelche Sicherheiten, daß die auch ihr Wort halten?«
»Darauf kann ich antworten«, entgegnete Elliott. »Ja, wir haben Vorkehrungen getroffen. Aber ich glaube, wir brauchen dabei auch in unserem Kreis nicht ins Detail zu gehen.«
Die anderen lächelten hintersinnig, denn die Antwort deutete darauf hin, das Bestechung mit im Spiel war. Und tatsächlich erhielt jeder der drei Minister nach Unterzeichnung des Vertrags eineinhalb Millionen Dollar, die in seinem Namen auf einem Schweizer Konto deponiert waren. Darüber hinaus standen ihnen in London, Paris und Genf Luxuswohnungen zur freien Verfügung, einschließlich gewisser Annehmlichkeiten am Rande. Internationale Konzerne wie Globanic tafen für ihre politischen Freunde häufig solche Arrangements.
Nun meldete sich Margot. »Wie sieht es denn mit der politischen Stabilität in Peru aus, Fossie? In letzter Zeit kam es dort doch verstärkt zu revolutionären Aktivitäten, und nicht nur wie früher in den Anden, sondern auch in Lima und anderen Städten. Sind diese Touristenzentren unter solchen Umständen überhaupt sinnvoll? Werden die Urlauber davon nicht abgeschreckt?«
Margot wußte, daß sie mit diesen Fragen einen Drahtseilakt vollführte. Auf der einen Seite konnte sie es sich wegen der Rivalität zu Fossie Xenos nicht leisten, dessen Bericht ohne jede kritische Anmerkung zu akzeptieren; und für den Fall, daß es mit dem Touristikprojekt später Schwierigkeiten gab, wollte sie sicherstellen, daß man sich an ihre anfänglichen Zweifel erinnerte. Andererseits brauchte sie, falls sie wirklich die neue Vorsitzende von Globanic Industries werden sollte, Fossies Freundschaft und seinen eindrucksvollen Beitrag zu den Einkünften des Konzerns. Deshalb versuchte sie, ihre Fragen möglichst neutral und sachlich klingen zu lassen.
Wenn Fossie dieses taktische Spiel durchschaute, ließ er es sich nicht anmerken, denn er antwortete fröhlich: »Nach meinen Informationen sind diese revolutionären Ausbrüche nur eine vorübergehende Erscheinung, und Peru wird langfristig als solide, gesetzestreue Demokratie überleben, die einem expandierenden Tourismus wohlwollend gegenübersteht. Außerdem hat das Land eine lange demokratische Tradition.«
Margot beließ es dabei, registrierte aber, daß Fossie eine Schwäche gezeigt hatte, die sie vielleicht eines Tages ausnutzen konnte. Sie hatte dieses Phänomen auch schon bei anderen beobachtet, vor allem bei Immobilienmaklern, deren normalerweise gesundes Urteilsvermögen von allzu glänzenden Zielen außer Kraft gesetzt wurde. Psychologen nannten das Wirklichkeitsverlust, und genau daran litt in Margots Augen jeder, der glaubte, daß ein Ende der bewaffneten Aufstände in Peru in Sicht sei.
Natürlich, so überlegte sie, konnten die Touristenzentren trotzdem gebaut werden, man mußte sie eben schützen. Schließlich lagen in immer mehr Ländern der Welt Urlaubsvergnügen und Gefahr dicht nebeneinander. Aber in Perus Fall würde eine endgültige Lösung des Problems viel Zeit und noch mehr Geld kosten.
Elliott teilte Margots Zweifel ganz offensichtlich nicht. »Wenn es keine Fragen mehr gibt«, verkündete er nun, »dann möchte ich nur noch eins sagen: Ich weiß schon seit längerer Zeit über Fossies Projekt Bescheid und habe es heute aus zwei guten Gründen auf die Tagesordnung gesetzt. Zum einen weiß ich, daß wir alle ein Geheimnis für uns behalten können, und daß es für uns von Vorteil ist, wenn wir gerade dieses für uns behalten. Zum anderen will ich nicht, daß irgend etwas unserer noch immer anfälligen Beziehung zur peruanischen Regierung schadet und dadurch ein Projekt verhindert, das zum Geschäft des Jahrhunderts werden könnte.« Der Vorsitzende stand auf. »Da das nun geklärt ist, laßt uns zum Mittagessen gehen.«
7
Jessica brauchte einige Minuten, bis sie begriff, daß an dem, was Nicky eben gesagt hatte, etwas Wahres sein konnte, und daß sie möglicherweise wirklich in Peru waren.
Das kann doch nicht sein! Dazu war doch gar keine Zeit! Doch allmählich wurden ihre Erinnerungen klarer, sie mußte einige ihrer früheren Annahmen revidieren, und es wurde immer wahrscheinlicher, daß Nicky recht hatte. War es möglich, überlegte sie, daß sie, Nicky und Angus länger bewußtlos waren, als sie angenommen hatte? Offensichtlich ja.
Aber wenn sie nun in Peru waren, wie hatte man sie hierhergebracht? Es war doch sicher nicht einfach, drei Bewußtlose...
Plötzlich durchzuckte sie die Erinnerung wie ein Blitz. Das Bild stand wieder klar und deutlich vor ihr, sie hatte es nur bis zu diesem Augenblick total vergessen.
Während ihres kurzen Handgemenges mit Narbengesicht... in diesen verzweifelten Augenblicken hatte sie zwei leere Särge bemerkt, der eine kleiner als der andere. Der entsetzliche Anblick hatte sie überzeugt, daß man sie und Nicky töten würde.
Doch jetzt erkannte Jessica erschaudernd, daß man sie anscheinend in diesen Särgen ins Land gebracht hatte - wie Tote! Die Vorstellung war so entsetzlich, daß sie nicht daran denken wollte, ja es nicht konnte. Statt dessen konzentrierte sie sich wieder auf die Gegenwart, so grausam und schmerzlich sie auch war.
Jessica, Nicky und Angus taumelten mit gefesselten Händen weiter über den schmalen, von dichtem Buschwerk eingesäumten Pfad. Einige der Bewaffneten gingen voraus, die anderen folgten. Sooft die Gefangenen langsamer wurden, riefen die Männer hinter ihnen: »Andale! Apurense!«, und trieben sie mit ihren Gewehren vorwärts.
Es war heiß. Unglaublich heiß. Ihnen allen lief der Schweiß übers Gesicht.
Jessica machte sich Sorgen um die beiden anderen. Sie selbst litt unter entsetzlichen Kopfschmerzen, Übelkeit und den unzähligen umherschwirrenden Insekten, die sie nicht verjagen konnte. Wie lange denn noch? Von Nicky wußte sie, daß sie zu einem Fluß gingen. Es ist bestimmt nicht mehr weit.
Nickys Informant hatte offensichtlich doch recht. Sie waren wirklich in Peru, und als Jessica nun bewußt wurde, wie weit sie von zu Hause weg und wie gering die Chancen einer Rettung waren, hätte sie am liebsten geweint.
Der Boden unter ihren Füßen war aufgeweicht, was das Gehen immer schwieriger machte. Plötzlich hörte Jessica einen Aufschrei und dann einen dumpfen Schlag. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß Angus hingefallen war. Er lag mit dem Gesicht im Schlamm.
Müde versuchte der alte Mann aufzustehen, schaffte es aber wegen der gefesselten Hände nicht. Die Bewaffneten hinter ihm lachten. Einer von ihnen sprang vor und wollte Angus den Lauf seines Gewehrs in den Rücken stoßen.
Jessica schrie den Mann an. »Nein, nein, nein!«
Der Mann sah überrascht hoch, und in diesem kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit lief Jessica zu Angus und fiel neben ihm auf die Knie. Trotz der Fesseln schaffte sie es, ihren Oberkörper aufrecht zu halten, aber Angus helfen konnte sie nicht. Der Mann mit dem Gewehr ging wütend auf sie los, doch Miguels scharfe Stimme stoppte ihn. Von der Spitze des Zugs kam Miguel auf sie zu, Socorro und Baudelio folgten.
Bevor ein anderer etwas sagen konnte, erhob Jessica die Stimme. »Ja, wir sind Ihre Gefangenen«, sagte sie laut und leidenschaftlich. »Wir wissen zwar nicht, warum, aber wir wissen, daß wir nicht fliehen können, und das wissen Sie auch. Warum fesseln Sie uns dann? Wir wollen uns doch nur selbst helfen, damit wir nicht fallen. Sie sehen doch, was passiert, wenn wir es nicht können. Bitte, bitte, haben Sie doch Mitleid! Ich flehe Sie an, nehmen Sie uns die Fesseln ab!«
Zum ersten Mal zögerte Miguel, vor allem, da Socorro leise zu ihm sagte: »Wenn sich einer von denen einen Arm oder ein Bein bricht oder sich auch nur schneidet, kann es zu einer Infektion kommen. Und in Nueva Esperanza haben wir keine Möglichkeit, Infektionen zu behandeln.«
Baudelio, der neben ihr stand, war derselben Meinung. »Sie hat recht.«
Miguel machte eine unwirsche Handbewegung und bellte auf Spanisch einen Befehl. Einer der Bewaffneten trat vor, es war derselbe, der Nicky im Lastwagen geholfen hatte. Er zog ein Messer aus der Scheide an seinem Gürtel und trat hinter Jessica. Sie spürte, wie sich das Seil an ihren Gelenken lockerte und zu Boden fiel. Nicky war der nächste. Angus wurde gestützt, während man auch ihm die Fesseln löste, und dann halfen Jessica und Nicky ihm beim Aufstehen.
Auf einen barschen Befehl hin setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
In diesen wenigen Minuten hatte Jessica trotz ihrer Verzweiflung einiges erfahren. So wußte sie jetzt, daß ihr Ziel Nueva Esperanza hieß, obwohl ihr das im Augenblick nichts sagte. Auch den Namen des Mannes, mit dem Nicky sich angefreundet hatte, kannte sie - jemand hatte ihn Vincente genannt, als er die Fesseln aufschnitt. Und schließlich hatte sie gemerkt, daß die Frau, die mit Miguel getuschelt und die ihr in der Hütte den Schlag versetzt hatte, medizinisches Wissen besaß. Narbengesicht ebenso. Vermutlich war einer der beiden ein Arzt, vielleicht auch beide.
Sie prägte sich diese Informationsbruchstücke ein, denn ihr Instinkt sagte ihr, daß alles, was sie erfuhr, später einmal nützlich sein konnte.
Wenige Augenblicke später tauchte nach einer Biegung im Pfad ein breiter Fluß vor ihnen auf.
Miguel erinnerte sich daran, in seinen frühen Tagen gelesen zu haben, ein erfolgreicher Terrorist müsse alle konventionellen menschlichen Empfindungen ablegen und erreiche seine Ziele nur, wenn er denjenigen, die sich seinen Wünschen widersetzen, Angst und Entsetzen einflößt. Sogar der Haß, der bis zu einem gewissen Grad durchaus stimulierend wirkt, kann im Übermaß schaden, da er dann das Urteilsvermögen beeinträchtigt.
In seiner Terroristenkarriere hatte Miguel diese Grundsätze immer gewissenhaft befolgt und ihnen noch einen weiteren hinzugefügt: Ein Terrorist braucht die stimulierende Wirkung von Aktion und Gefahr. Er selbst war darauf angewiesen wie ein Drogensüchtiger auf seinen Stoff.
Und das war auch der Grund, warum er sich über das Bevorstehende wenig Illusionen machte.
Seit vier Monaten, seit seinem Flug nach London und der illegalen Paßbeschaffung, wurde er angetrieben von der allgegenwärtigen Gefahr, der Lebensnotwendigkeit sorgfältigster Planung und ständiger Wachsamkeit und in den letzten Tagen schließlich von dem berauschenden Gefühl des Erfolgs.
Doch nun, im Dschungel des peruanischen Hinterlands, war die Gefahr nicht mehr so groß. Man mußte zwar immer damit rechnen, daß plötzlich Regierungstruppen auftauchten, die zuerst ihre Maschinenpistolen sprechen ließen und dann Fragen stellten, aber ansonsten war kaum etwas zu befürchten. Und hier, oder genauer in Nueva Esperanza, das sie in wenigen Stunden erreichten, mußte Miguel auf zunächst unbestimmte Dauer bleiben, denn der Sendero Luminoso wollte es so.
Warum, wußte er nicht.
Auch wußte er nicht genau, wozu man die Gefangenen brauchte und was jetzt mit ihnen passieren würde. Er wußte nur, daß sie streng bewacht werden mußten. Vermutlich hatte man deshalb auf seiner Anwesenheit bestanden, da er für seine Verläßlichkeit bekannt war. Alles andere lag höchstwahrscheinlich in den Händen von Abimael Guzman, dem Gründer von Sendero Luminoso, der sich selbst für den unbefleckten maoistischen Jesus hielt, für Miguel aber inzwischen nur noch ein rasender Irrer war. Natürlich nur, wenn Guzman noch lebte, denn Gerüchte über seinen Tod kamen mit der Beständigkeit - und der Unzuverlässigkeit - des Dschungelregens.
Miguel haßte den Dschungel, die Selva, wie die Peruaner ihn nannten. Er haßte die allgegenwärtige Feuchtigkeit, die Fäulnis und den Zerfall, das Gefühl des Eingeschlossenseins in diesem schnell wachsenden, undurchdringlichen Dickicht, das unaufhörliche, dissonante Summen der Insekten, bei dem die Sehnsucht nach wenigen Minuten der Stille und der Erholung immer stärker wurde, die unzähligen, lautlos dahinhuschenden Schlangen. Und dieser Dschungel war riesig, fast doppelt so groß wie Kalifornien; er bedeckte drei Fünftel der Fläche Perus, während sich nur fünf Prozent der Bevölkerung in ihm verloren.
Die Peruaner sprechen gerne von drei verschiedenen Perus: die tausend Meilen lange, dichtbevölkerte Küstenregion mit ihren Städten, dem regen Handel und den belebten Stränden, die Berge der Südlichen Anden, die in ihrer Großartigkeit denen des Himalaya in nichts nachstanden und in denen sich die Spuren uralter Inkakulturen fanden, und schließlich der Dschungel, die Amazonas-Selva - das undurchdringliche Reich der Indianer. Miguel mochte das erste und das zweite Peru. Doch nichts konnte seine Abneigung gegen das dritte mindern. Der Dschungel war asquerosa.
Seine Gedanken kehrten zum Sendero Luminoso zurück, zum »Leuchtenden Pfad« der Revolution, ein Name, der aus den Schriften des verstorbenen peruanischen Marxisten und Philosophen Jose Carlos Mariategui stammte. 1980 trat Abimael Guzman in dessen Fußstapfen und erklärte sich bald danach zum »vierten Schwert der Weltrevolution«, zum Nachfolger von Marx, Lenin und Mao Tse-tung. Alle anderen Revolutionäre, auch Lenins Nachfolger in der Sowjetunion und Kubas Castro, tat Guzman verächtlich als farblose Scharlatane ab.
Die Guerillas des Sendero Luminoso waren überzeugt, die existierende Regierung stürzen und das ganze Land beherrschen zu können. Aber nicht von heute auf morgen. Die Bewegung behauptete sogar, sie zähle die Zeit nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten. Bereits jetzt war der Sendero groß und stark, seine Macht und seine Führungskader wuchsen beständig, und Miguel erwartete den Umsturz noch zu seinen Lebzeiten. Aber nicht aus diesem odiosa Dschungel heraus.
Doch im Augenblick wartete Miguel auf Anweisungen, was mit den Gefangenen geschehen sollte, Anweisungen, die wahrscheinlich aus Ayacucho kamen, einer historischen Stadt in den Ausläufern der Anden, wo der Sendero fast unumschränkt herrschte. Miguel war es gleich, wer die Befehle gab, solange sie nur schnell kamen und ihm die Möglichkeit zum Handeln gaben.
Der Huallaga lag direkt vor ihnen - eine unerwartete Öffnung in der beklemmenden Enge des Urwalds. Miguel blieb stehen und betrachtete den Fluß.
Breit und schlammig rotbraun vom Schlick der Anden, strömte der Huallaga träge auf den dreihundert Meilen entfernten Zusammenfluß mit dem Maranon zu, der sich wiederum bald darauf mit dem mächtigen Amazonas vereinigte. Vor Jahrhunderten hatten die portugiesischen Eroberer das gesamte Amazonasgebiet O Rio Mar getauft, »Das Flußmeer«.
Beim Näherkommen bemerkte Miguel zwei hölzerne Kähne, jeder knapp zwölf Meter lang und mit doppelten Außenbordmotoren ausgestattet, die nahe am Ufer vertäut lagen. Gustavo, der Anführer der kleinen Truppe, die sie an der Landepiste erwartet hatte, überwachte das Verladen der Vorräte, die seine Männer mitgebracht hatten, und legte dann fest, wer in welchem Kahn fahren sollte. Die Gefangenen kamen in den ersten. Miguel bemerkte beifällig, daß Gustavo während des Beladens als Vorsichtsmaßnahme gegen ein plötzliches Auftauchen von Regierungstruppen zwei bewaffnete Posten aufgestellt hatte.
Da er mit dem Ablauf zufrieden war, sah er keinen Grund zum Eingreifen. Erst in Nueva Esperanza wollte er dann wieder das Kommando übernehmen.
Für Jessica verstärkte der Fluß noch das Gefühl der Isolation. Für sie war er das triste Tor zu einer unbekannten Welt, die nichts mit der zu tun hatte, die sie verlassen hatte. Mit vorgehaltenem Gewehr trieb man sie, Nicky und Angus durch das knietiefe Wasser zu einem der Kähne. Sie mußten hineinklettern und sich auf den feuchten Boden setzen, eine ebene Fläche aus Brettern, die längs über dem Kiel verliefen. Wenn sie wollten, konnten sie sich an ein einzelnes Brett lehnen, das im Bug des Kahns die Bordwände überspannte, aber das bedeutete nur die Wahl zwischen zwei ähnlich unbequemen Positionen, die beide nicht lange auszuhalten waren.
Jessica merkte, daß Nicky blaß geworden war, ein heftiger Brechreiz schüttelte ihn. Obwohl nichts kam außer ein bißchen Schleim, hob und senkte sich sein Brustkorb. Jessica rutschte zu ihm, nahm ihn in den Arm und sah sich verzweifelt nach Hilfe um.
Sie entdeckte Narbengesicht, der vom Ufer zum Boot gewatet kam. Noch bevor Jessica etwas sagen konnte, tauchte die Frau auf, die Jessica schon öfters beobachtet hatte, und Narbengesicht befahl ihr: »Gib allen Wasser, dem Jungen zuerst.«
Socorro füllte eine Blechtasse mit Wasser und gab sie Nicky, der gierig trank. Sein Körper beruhigte sich wieder. Dann sagte er mit schwacher Stimme: »Ich habe Hunger.«
»Wir haben hier nichts zu essen«, erwiderte Baudelio. »Du mußt warten.«
»Aber irgend etwas muß doch da sein, das Sie ihm geben können«, rief Jessica entrüstet.
Narbengesicht antwortete nicht, aber sein Befehl, den Gefangenen Wasser zu geben, hatte deutlich gemacht, welche Funktion er hatte, und Jessica ergänzte deshalb vorwurfsvoll: »Sie sind doch Arzt!«
»Das tut hier nichts zur Sache.«
»Außerdem ist er Amerikaner«, fügte Angus hinzu. »Hör dir nur seinen Akzent an.« Das Wasser schien Angus wieder Kraft gegeben zu haben, denn er wandte sich an Baudelio: »Nicht wahr, Sie Ungeheuer? Schämen Sie sich denn nicht?«
Doch Baudelio drehte sich einfach um und kletterte in das zweite Boot.
»Bitte, ich habe Hunger«, wiederholte Nicky. Und an Jessica gewandt: »Mom, ich habe Angst.«
Jessica drückte ihn an sich und entgegnete: »Ich auch, mein Liebling.«
Socorro, die alles gehört hatte, schien zu zögern. Dann griff sie in ihren Rucksack und zog eine große Tafel Cadbury-Schokolade heraus. Schweigend riß sie die Verpackung auf, brach einige Riegel ab und verteilte sie an die Gefangenen. Angus war der letzte, doch er schüttelte den Kopf. »Geben Sie meine dem Jungen.«
Verärgert murmelte Socorro etwas vor sich hin und warf dann aus einem Impuls heraus die ganze Tafel ins Boot. Sie fiel Jessica vor die Füße. Socorro wandte sich ab und stieg in den zweiten Kahn.
Einige der Bewaffneten, die sie im Lastwagen und auf dem Dschungelpfad bewacht hatten, kletterten nun zu den Gefangenen, und beide Kähne setzten sich in Bewegung. Jessica bemerkte, daß auch die anderen Männer, die die Boote bewacht hatten, bewaffnet waren. Sogar die Steuermänner, die vor den beiden Außenbordmotoren saßen, hatten Gewehre auf den Knien und sahen aus, als wollten sie sie auch benutzen. Die Chancen für eine Flucht, wenn auch nur eine ohne Ziel, schienen gleich Null.
Während die Kähne stromaufwärts trieben, machte sich Socorro Vorwürfe wegen dem, was sie eben getan hatte. Sie hoffte, daß es niemand gesehen hatte, denn die Tatsache, daß sie den Gefangenen die gute Schokolade, die man in Peru nicht kaufen konnte, gegeben hatte, war ein Zeichen von Schwäche, von törichtem Mitleid. Und das war für eine Revolutionärin eine verabscheuungswürdige Empfindung.
Aber Socorro war nicht so gefestigt, wie sie es gerne gewesen wäre, sie schwankte innerlich.
Erst vor knapp einer Woche hatte sie sich wieder einmal ins Gedächtnis gerufen, daß sie sich gegen solch banale Gefühle wappnen müsse. Es war der Abend nach der Entführung gewesen, als die Frau, der Junge und der alte Mann bewußtlos in dem provisorischen Sanitätszimmer in ihrem Unterschlupf in Hackensack lagen. Damals hatte Socorro sich wirklich bemüht, die Gefangenen zu hassen - reicher bourgeoiser Abschaum, hatte sie die drei damals genannt, und das waren sie für sie auch jetzt noch. Aber der Haß war damals erzwungen gewesen, und daran hatte sich, wie sie zu ihrer Schande gestehen mußte, nichts geändert.
Als die Frau sie an diesem Morgen in der Hütte etwas fragte, obwohl Miguel Schweigen befohlen hatte, schlug Socorro bewußt so hart zu, daß es die Frau zur Seite schleuderte. Da sie glaubte, Miguel sehe zu, wollte sie ihm einfach zeigen, daß sie seine Maßnahmen unterstützte. Doch schon Augenblicke später schämte sie sich dessen. Scham! So etwas durfte sie nicht empfinden.
Sie mußte, sagte sie sich, nun endgültig und ein für allemal all das aus ihrem Gedächtnis löschen, was sie einmal gemocht hatte - nein, alles, was sie geglaubt hatte zu mögen - in ihren drei Jahren in den Vereinigten Staaten. Sie mußte Amerika hassen, hassen, hassen. Und diese Gefangenen ebenfalls.
Über diesen Gedanken schlief Socorro ein, während der Fluß und die dichtbewachsenen, unbewohnten Ufer an den Booten vorbeizogen. Etwa drei Stunden nach der Abfahrt wurden die Kähne schließlich langsamer und bogen in einen schmaleren Nebenfluß ein, dessen steile, hohe Ufer heranrückten. Sie näherten sich Nueva Esperanza, dachte Socorro, und dort würde sie wieder stärker werden und ihr revolutionäres Feuer neu entfachen.
Als Baudelio sah, daß das vordere Boot in einen Nebenarm einbog, wußte er, daß die Reise nun fast zu Ende war. Er war froh darüber, denn auch das Ende seiner Beteiligung an diesem Projekt war nun in Sicht, und er würde bald wieder in Lima sein. Man hatte ihm versprochen, er dürfe gehen, sobald er die Gefangenen gesund und wohlbehalten abgeliefert hatte.
Und gesund waren sie ja, trotz dieser entsetzlichen, feuchten Hitze.
So als hätte der Gedanke an die Feuchtigkeit Schleusen geöffnet, zog sich der Himmel plötzlich zusammen, und ein Wolkenbruch wühlte den Fluß auf. In der Entfernung war zwar bereits ein Landungssteg mit vertäuten Booten zu sehen, aber noch lagen einige Minuten Fahrt vor ihnen, und den Gefangenen und ihren Bewachern blieb nichts anderes übrig, als sich naß regnen zu lassen.
Baudelio war der Regen gleichgültig, wie fast alles, was ihm widerfuhr, so auch die Beleidigungen, die ihm der alte Mann und die Frau an den Kopf geworfen hatten. Über so etwas machte er sich schon seit langem keine Gedanken mehr, und jegliches menschliche Gefühl gegenüber denen, die er behandelte, hatte er schon vor Jahren abgelegt.
Das einzige, wonach er sich in diesem Augenblick wirklich sehnte, war ein Drink, am besten gleich mehrere, denn Baudelio wollte sich so schnell wie möglich vollaufen lassen. Während er auch weiterhin die Antabuse-Pillen nahm, die es ihm unmöglich machten zu trinken, ohne daß ihm entsetzlich schlecht würde -Miguel bestand noch immer darauf, daß der alkoholsüchtige Arzt in seiner Gegenwart täglich eine Pille schluckte -, hatte er vor, damit aufzuhören, sobald er sich von Miguel trennte, was in seinen Augen gar nicht früh genug passieren konnte.
Es gab noch etwas, wonach Baudelio sich sehnte, nach seiner Frau in Lima. Er wußte, daß sie eine Schlampe war, eine ehemalige Prostituierte, und daß sie ebensoviel trank wie er; aber in den Ruinen seines zerstörten Lebens war sie alles, was er noch hatte, und er vermißte sie. Seine abgrundtiefe Einsamkeit war der Grund gewesen, warum er vor einer Woche trotz des Verbots über eins der Funktelefone diese Frau angerufen hatte. Seitdem hatte er ständig in der Angst gelebt, Miguel könnte es herausfinden. Doch offensichtlich hatte der von dem Anruf nichts gemerkt, und Baudelio war deswegen sehr erleichtert.
O Mann, einen Drink hatte er jetzt wirklich nötig!
Die Schokolade war zwar kein dauerhafter Ersatz für anständige Nahrung, aber sie half über den ersten Hunger hinweg.
Jessica wollte keinen Gedanken daran verschwenden, warum die Frau mit dem mürrischen Gesicht ihnen spontan die Schokolade dagelassen hatte; sie war wahrscheinlich sehr launisch. So versteckte Jessica die Schokolade einfach in einer Tasche ihres Kleides, damit die Männer im Boot sie nicht entdeckten.
Während der Fahrt stromaufwärts gab sie Nicky den größten Teil davon, aß aber selbst auch etwas und bestand darauf, daß auch Angus sich etwas nahm. Es sei wichtig, sagte sie ihm leise, daß sie wieder zu Kräften kamen, denn nach der Fahrt in dem offenen Lastwagen, dem anstrengenden Dschungelmarsch und den Stunden im Boot waren sie alle sehr geschwächt.
Jessica merkte plötzlich, daß sie an der Länge von Angus' Bart die Dauer ihrer Bewußtlosigkeit ablesen konnte. Es war ihr vorher gar nicht aufgefallen, doch die grauen Stoppeln in seinem Gesicht waren überraschend lang. Als sie Angus dies sagte, griff er sich ans Kinn und schätzte, daß die letzte Rasur vier oder fünf Tage her sein müsse.
Vielleicht war das im Augenblick gar nicht wichtig, aber Jessica versuchte noch immer, so viele Informationen zu bekommen wie möglich, und deshalb blieb sie während der Bootsfahrt auch wach.
Viel zu sehen gab es nicht, außer dem dichten Blätterwerk an den Ufern und den vielfachen Windungen des Flußes, der fast nie in einer geraden Linie zu verlaufen schien. Manchmal tauchten in der Entfernung Kanus auf, doch keines näherte sich ihnen.
Während der ganzen Reise plagte Jessica ein ständiger Juckreiz. Das erste, was sie nach dem Aufwachen in der Hütte gespürt hatte, waren die Insekten, die über ihren Körper krabbelten. Nun merkte sie, daß es Flöhe waren, die sich an ihr festgesetzt hatten und sie unaufhörlich bissen. Doch loswerden konnte sie die Insekten nur, wenn sie sich auszog. Sie hoffte, daß es an dem Ort, zu dem man sie und die anderen brachte, genug Wasser gab, um die Flöhe abzuspülen.
Wie alle anderen wurden auch Jessica, Nicky und Angus von dem Wolkenbruch kurz vor der Landung in Nueva Esperanza bis auf die Haut durchnäßt. Als ihr Boot dann an dem hölzernen Landungssteg festmachte, hörte der Regen so plötzlich auf, wie er begonnen hatte, und im gleichen Augenblick verließ alle drei der Mut, als sie sahen, was für ein entsetzlicher Ort da vor ihnen lag.
Vom Ufer führte ein morastiger Pfad zu einer Gruppe von heruntergekommenen Häusern, insgesamt etwa zwei Dutzend, von denen einige nur provisorische, aus Kistenbrettern und Wellblech zusammengenagelte Hütten waren. Die meisten Häuser waren fensterlos, nur bei zweien war an der Vorderseite eine Art Ladenfront erkennbar. Die Strohdächer waren verwahrlost, in einigen klafften riesige Löcher. Leere Dosen und anderer Abfall lag in der Umgebung verstreut. Einige magere Hühner liefen frei herum. Etwas abseits lag ein toter Hund, auf dem Geier herumpickten.
Sah es weiter entfernt vielleicht besser aus? Als traurige Antwort kam eine unebene, vom Regen aufgeweichte Straße in Sicht, die aus dem Dorf hinaus auf einen Hügel führte und hinter dessen Gipfel verschwand. Dichte Dschungelwände begrenzten die Straße zu beiden Seiten, Gebäude waren keine mehr zu entdecken.
Später sollten Jessica und die anderen erfahren, daß Nueva Esperanza eigentlich ein Fischerdorf war, das der Sendero Luminoso hin und wieder für Zwecke benutzte, die die Organisation geheimhalten wollte.
»Vdyanse a tierra! Muevanse! Apürense!« schrie Gustavo die Gefangenen an und gab ihnen mit Gesten zu verstehen, sie sollten sich bewegen. Niedergeschlagen folgten Jessica und die anderen dem Befehl, sie wagten gar nicht daran zu denken, was ihnen noch bevorstand.
Was Augenblicke später geschah, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen.
Gustavo und vier weitere Männer führten sie über den morastigen Weg zu der Hütte, die am weitesten vom Fluß entfernt stand. Im Inneren dauerte es dann einige Minuten, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Doch als Jessica dann etwas erkennen konnte, schrie sie entsetzt auf.
»O mein Gott, nein! Sie können uns doch nicht da hineinsperren. Doch nicht in Käfige, wie wilde Tiere. Bitte! Bitte nicht!«
Was sie im Hintergrund der Hütte entdeckt hatte, waren drei abgeteilte Zellen von je knapp drei Metern im Quadrat. Dünne, aber kräftige, fest miteinander verknotete Bambusstäbe ersetzten die Eisengitter. Zusätzlich war an die Trenngitter der einzelnen Zellen Maschendraht genagelt worden, um Körperkontakt zwischen den Gefangenen oder einen Austausch von Gegenständen unmöglich zu machen. An der Vorderseite jeder Zelle befand sich eine Tür, die sich mit einer Stange und einem schweren Vorhängeschloß verriegeln ließ.
Die Einrichtung der Zellen bestand aus einer Holzpritsche mit einer dünnen, fleckigen Matratze und einem verzinkten Blechkübel neben der Pritsche, der vermutlich als Toilette dienen mußte. In der Hütte stank es entsetzlich.
Während Jessica noch flehte und protestierte, wurde sie von Gustavo gepackt. Sie wehrte sich, doch seine Hände waren wie Stahl. Er stieß sie vorwärts und befahl: »Vete para adentro!« Dann wiederholte er in gebrochenem Englisch: »Du da rein!«
»Da rein« hieß in die Zelle, die am weitesten von der Hüttentür entfernt war, und Gustavo warf Jessica mit einem brutalen Stoß gegen die hintere Wand. Während sie dagegenfiel, wurde die Zellentür geschlossen, sie hörte das metallische Klicken des Vorhängeschlosses. Am anderen Ende der Hütte hörte sie nun Angus schreien und kämpfen, doch auch er wurde überwältigt und in die Zelle gestoßen; das Schloß schnappte ein.
In der Zelle neben sich hörte sie Nicky weinen.
Tränen der Wut, der Enttäuschung und der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen.
8
Eineinhalb Wochen waren vergangen, seitdem CBA News die sechzig Hilfskräfte losgeschickt hatte, um in den Lokalzeitungen der Gegend nach möglichen Hinweisen auf den Unterschlupf der Entführer zu suchen. Doch bis jetzt hatte man noch nichts erreicht, und auch sonst gab es keine Fortschritte.
Das FBI gab zwar nicht offen zu, daß es in einer Sackgasse steckte, hatte aber auch nichts Neues zu berichten. Und die CIA, die angeblich ebenfalls an dem Fall arbeitete, gab sowieso keine öffentlichen Erklärungen ab.
Jeder schien auf ein Zeichen von den Kidnappern zu warten, darauf, daß sie Forderungen stellten, doch das war bis jetzt noch nicht geschehen.
Die Entführungsgeschichte war noch immer gut für eine Nachrichtenmeldung, aber im Fernsehen stand sie nicht mehr an erster Stelle, und auch die Zeitungen brachten sie nur noch auf den Innenseiten.
Trotz des offensichtlich nachlassenden Interesses der Öffentlichkeit, blühten auch weiterhin die Spekulationen. Die öffentliche Meinung tendierte immer mehr zu der Annahme, die Entführungsopfer seien heimlich außer Landes gebracht worden. Die Spekulationen über die Frage wohin konzentrierten sich auf den Nahen Osten.
Nur bei CBA News gab es Hinweise in eine ganz andere Richtung. Da die Spezialeinheit den kolumbianischen Terroristen Ulises Rodriguez als Mitglied und wahrscheinlichen Anführer der Bande identifiziert hatte, konzentrierte sich dort die ganze Aufmerksamkeit auf Lateinamerika. Doch leider hatte man noch nicht feststellen können, welches Land den Entführern als Basis diente.
Zur Überraschung aller Beteiligten blieb das Wissen um Rodriguez' Beteiligung exklusiv auf CBA beschränkt. Man hatte erwartet, daß andere Sender und die Zeitungen von der Entdeckung erfahren und sie in der Öffentlichkeit verbreiten würden, doch das war bis jetzt nicht geschehen. Eine Garantie für die Zukunft war das allerdings nicht. Und einigen bei CBA war auch nicht eben wohl bei dem Gedanken, daß die Nachrichtenabteilung dem FBI die Information über Rodriguez vorenthielt.
In der Zwischenzeit hielt CBA die Entführungsgeschichte mehr als andere Sender am Leben, und zwar auf eine aggressive Art, die sie beim Rivalen CBS abgeschaut hatten. Während der Geiselkrise im Iran zwischen 1979 und 1981 hatte Walter Cronkite, der Moderator der CBS Evening News, jede Sendung mit dem Satz beendet: »Soweit die Nachrichten vom (Datum), dem -ten Tag der Gefangenschaft der amerikanischen Geiseln im Iran.« (Am Ende waren es 444 Tage.)
Barbara Matusow, Historikerin und moralische Instanz des Fernsehens, schrieb darüber in ihrem Buch The Evening Stars, Cronkite sei »zu dem Entschluß gekommen, ...die Geiseln seien so wichtig, daß man sie jeden Abend aufs Neue ins Bewußtsein der Öffentlichkeit bringen müsse«.
Ähnlich begann auch Harry Partridge, der als zweiter Sprecher noch immer alles moderierte, was die Entführung betraf, seine Meldungen: »Heute, am (soundsovielten) Tag seit der brutalen Entführung der Familie des Chefsprechers von CBA News, Crawford Sloane...« Danach folgte der eigentliche Bericht.
Nach Absprache mit Les Chippingham und Chuck Insen brachte man in jeder Ausgabe der National Evening News eine Erwähnung der Entführung, auch wenn man nur berichten konnte, daß es noch keine neuen Entwicklungen gab.
Doch am Mittwochmorgen, zehn Tage nach Beginn der Zeitungsaktion, ereignete sich etwas, das die gesamte Nachrichtenabteilung wieder auf Hochtouren brachte. Es bedeutete gleichzeitig das Ende der Tatenlosigkeit, die schwer auf den Mitgliedern der Spezialeinheit lastete.
Zu der Zeit saß Harry Partridge in seinem Büro. Plötzlich standen Teddy Cooper und Jonathan Mony, der junge, vielversprechende Schwarze, in seiner Tür.
»Vielleicht haben wir etwas, Harry«, sagte Cooper.
Partridge winkte die beiden in sein Zimmer.
»Jonathan wird es dir erzählen«, sagte Cooper. »Schieß los.«
»Ich war gestern bei einem Lokalblatt in Astoria, Mr. Partridge«, begann Mony selbstbewußt. »Das ist in Queens, in der Nähe von Jackson Heights. Ich konnte dort zwar nichts finden, aber als ich wieder draußen war, fiel mit das Büro einer spanischen Zeitung mit dem Namen Semana auf. Ich bin dann einfach reingegangen, obwohl die nicht auf der Liste war.«
»Sie sprechen Spanisch?«
Mony nickte. »Ziemlich gut. Ich hab' mich dann erkundigt, ob ich die Ausgaben der letzten drei Monate einsehen dürfte, und sie hatten nichts dagegen. Es war zwar auch Fehlanzeige, aber beim Gehen drückten die mir noch ihre letzte Ausgabe in die Hand. Ich habe sie mit nach Hause genommen und gestern abend gelesen.«
»Und heute morgen hat er sie mir gezeigt«, ergänzte Cooper. Er zog ein Boulevardblättchen aus der Tasche und breitete es vor Partridge aus. »Da ist ein Artikel, von dem wir glauben, daß er dich interessiert, und das ist Jonathans Übersetzung.«
Partridge warf einen flüchtigen Blick auf die Zeitung und las dann die Übersetzung.
Hallo Leute, es ist zwar kaum zu glauben, aber es gibt wirklich Spinner, die sich Särge kaufen wie andere Käse im Supermarkt. Ist wirklich passiert, ihr braucht nur Alberto Godoy von Godoys Bestattungsinstitut zu fragen.
Kam also dieser Kerl einfach in den Laden und kaufte sich zwei Särge von der Stange - einen normalen und einen kleinen. Meinte, er wolle sie seiner Mom und seinem Dad bringen, den kleinen für seine Mom. Ein hübscher Wink mit dem Zaunpfahl für die Alten, was? »Macht 'ne Kurve, meine Lieben, die Party ist aus!«
Aber es kommt noch viel besser. Letzte Woche, das heißt also sechs Wochen später, kommt derselbe Kerl noch mal und will noch einen Sarg, 'nen normalen. Hat bar bezahlt und ihn gleich mitgenommen, wie beim ersten Mal. Für wen er den brauchte, hat er aber nicht gesagt. Na, vielleicht hat ihn seine Frau betrogen.
Unserem Albert Godoy ist das eigentlich ziemlich schnuppe. - Der meint, von solchen Geschäften kann es gar nicht genug geben.
»Da ist noch etwas, Harry«, sagte Cooper. »Wir haben eben in der Redaktion der Semana angerufen. Wir hatten Glück, der Kerl, von dem die Kolumne stammt, war da. Jonathan hat mit ihm gesprochen.«
»Der hat mir erzählt«, ergänzte Mony, »daß er den Artikel am vorletzten Freitag geschrieben hat. Am selben Tag hatte er Godoy in einer Bar gesehen, und der hatte kurz zuvor den dritten Sarg verkauft.«
»Und das«, warf Cooper dazwischen, »war zufällig gleich nach der Entführung, am nächsten Tag.«
»Moment mal«, sagte Partridge. »Laßt mich mal überlegen.« Die beiden anderen verstummten.
Ganz ruhig, sagte sich Partridge. Jetzt nur keine voreiligen Schlüsse. Aber die Indizien waren unmißverständlich: Die ersten beiden Särge, die sechs Wochen vor der Entführung gekauft wurden, also knapp vor dem geschätzten Beginn der einmonatigen Überwachung der Sloanes und innerhalb der drei Monate, die die Spezialeinheit als maximale Operationsdauer annahm. Dann die Größe der beiden Särge: ein normaler, ein kleiner, und der zweite angeblich für eine kleine alte Frau, höchstwahrscheinlich aber für einen elfjährigen Jungen.
Dann der dritte Sarg - der Zeitung zufolge eine normaler. Eins war klar: Angus, Crawfs Vater, war praktisch unerwartet aufgetaucht, da er sich erst am Tag zuvor angekündigt hatte. Wenn also die Familie ihn nicht erwartet hatte, dann die Entführer ebensowenig. Und doch nahmen sie ihn mit. Also drei Gefangene anstatt zwei.
Frage: Hatten die Entführer bereits zwei Särge? Brauchten sie wegen des alten Mannes einen dritten? Wurde für ihn der dritte Sarg bei Godoys Bestattungsinstitut gekauft, gleich am ersten Tag nach der Entführung? Oder war die ganze Sache nur ein unglaublicher Zufall? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Partridge sah die anderen an, die ihn aufmerksam betrachteten.
»Wirft ein paar Fragen auf, was?« fragte Cooper.
»Glaubst du...«
»Was ich glaube, ist, daß wir jetzt möglicherweise wissen, wie Mrs. Sloane und die anderen aus dem Land geschafft wurden.«
»In Särgen? Glaubst du, daß sie da bereits tot waren?«
Cooper schüttelte den Kopf. »Betäubt. Das wäre nicht das erste Mal, daß so was passiert.«
Coopers These bestätigte nur, was Partridge selbst schon gedacht hatte.
»Und wie geht's jetzt weiter, Mr. Partridge?« Die Frage kam von Mony.
»Wir werden uns so schnell wie möglich diesen Leichenbestatter vornehmen...« Partridge warf eine flüchtigen Blick auf die Übersetzung, auf der sich Mony auch die Adresse des Bestattungsinstituts notiert hatte. »Ja, Godoy. Um den werde mich selber kümmern.«
»Ich würde gern mitkommen.«
»Ich glaube, er hat es verdient, Harry«, meinte Cooper.
»Ich auch.« Er lächelte Mony zu. »Gute Arbeit, Jonathan.«
Der junge Rechercheur strahlte.
Sie würden sich, zusammen mit einem Kameramann, sofort auf den Weg machen, beschloß Partridge. »Teddy, ich glaube, Minh Van Canh ist im Konferenzraum. Sag ihm, er soll sein Zeug zusammenpacken und kommen.«
Während Cooper hinauseilte, griff Partridge zum Telefon und bestellte einen Wagen.
Auf dem Weg nach draußen stießen Partridge und Mony im Redaktionssaal auf Don Kettering, den Wirtschaftskorrespondenten. Kettering war es gewesen, der gleich nach Bekanntwerden der Entführung die Sondermeldung verlesen hatte.
Jetzt fragte er: »Gibt's was Neues, Harry?« In seinem makellosen, braunen Maßanzug und mit dem dünnen, ordentlich gestutzten Schnurrbart sah Kettering auch heute wieder wie ein erfolgreicher Geschäftsmann aus.
Partridge wollte ihm schon eine ausweichende Antwort geben und weitereilen, doch dann zögerte er. Er respektierte Kettering nicht nur als Spezialisten, sondern auch als erstklassigen Reporter. Möglicherweise war Kettering in der Sache, die nun auf sie zukam, sogar kompetenter als er selbst.
»Es gibt wirklich was Neues, Don. Was tust du im Augenblick?«
»Nicht viel. Wall Street ist heute sehr ruhig. Braucht ihr Hilfe?«
»Schon möglich. Komm mit uns. Ich erkläre es dir unterwegs.«
»Ich will nur das Hufeisen informieren.« Kettering griff zum nächsten Telefon. »Ich komme gleich nach.«
Kaum eine Minute nachdem Partridge, Mony und Minh Van Canh auf die Straße getreten waren, fuhr ein Jeep Wagoneer des Senders vor. Der Kameramann kletterte mit seiner Ausrüstung auf den Rücksitz, Mony half ihm dabei. Partridge setzte sich neben den Fahrer. Als er die Beifahrertür zuschlug, erschien auch Don Kettering und zwängte sich noch auf den Rücksitz.
»Wir fahren nach Queens«, sagte Partridge zum Fahrer. Er hatte die Zeitung und Monys Übersetzung dabei und las die Adresse von Godoys Bestattungsinstitut laut vor.
Der Fahrer wendete und fuhr Richtung Osten auf die Queensboro Bridge zu.
»Don«, sagte Partridge und drehte sich um. »Folgendes...«
Zwanzig Minuten später standen Harry Partridge, Don Kettering und Jonathan Mony einem fetten, glatzköpfigen Alberto Godoy in dessen engem, verrauchtem Büro gegenüber. Das Trio war einfach eingedrungen, ohne auf die Fragen der Empfangsdame zu reagieren.
Partridge hatte Minh Van Canh aufgetragen, im Jeep Wagoneer zu warten. Falls man Filmmaterial brauchte, wollte man ihn hereinrufen. In der Zwischenzeit filmte Van Canh heimlich aus dem Jeep heraus das Gebäude.
Der Leichenbestatter sah seine Besucher mit der gewohnten Zigarette zwischen den Lippen mißtrauisch an. Sie dagegen hatten bereits die Schäbigkeit des Instituts, Godoys aufgeschwemmte Gesichtszüge, die auf übermäßigen Alkoholgenuß hindeuteten, und die Speiseflecken auf seinem schwarzen Frack und den grau gestreiften Hosen registriert. Das war kein erstklassiges Institut und vermutlich auch kein sonderlich seriöses.
»Mr. Godoy«, sagte Partridge, »wie ich Ihrer Dame am Empfang bereits gesagt habe, sind wir von CBA.«
Godoy machte plötzlich ein erstauntes Gesicht. »Habe ich Sie nicht schon im Fernsehen gesehen? Aus dem Weißen Haus?«
»Das ist John Cochran; man verwechselt uns manchmal. Er arbeitet für NBC. Mein Name ist Harry Partridge.«
Godoy schlug sich auf die Schenkel. »Sie haben diese ganze Entführungsgeschichte gemacht.«
»Ja, das stimmt, und in gewisser Weise sind wir genau deswegen hier. Dürfen wir uns setzen?«
Godoy deutete auf einige Stühle. Partridge und die anderen setzten sich ihm gegenüber.
Partridge zog die Semana aus der Tasche und fragte: »Darf ich Sie fragen, ob Sie das kennen?«
Godoys Miene verdüsterte sich. »Dieser gottverdammte Hurensohn von einem Schnüffler! Er hat nicht das Recht, etwas zu drucken, das er nur zufällig mitgehört hat, etwas, das ich ihm nicht persönlich erzählt habe.«
»Dann kennen Sie also das Blatt und wissen, was drin steht.«
»Klar doch. Und?«
»Wir würden uns freuen, wenn Sie uns einige Fragen beantworten könnten, Mr. Godoy. Zuerst, wie hieß der Mann, der diese Särge kaufte? Wie sah er aus? Können Sie ihn beschreiben?«
Der Leichenbestatter schüttelte den Kopf. »Das ist meine Privatangelegenheit.«
»Aber es ist sehr wichtig.« Partridge bemühte sich bewußt um einen höflichen Ton. »Es ist sogar möglich, daß eine Verbindung besteht zu etwas, das Sie eben erwähnt haben - zur Entführung der Sloanes.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.« Dann fügte Godoy dickköpfig hinzu: »Wie gesagt, das ist meine Privatangelegenheit, das geht Sie nichts an. Außerdem, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich habe zu arbeiten.«
Nun sprach Don Kettering zum ersten Mal: »Wieviel haben Sie für diese Särge verlangt, Godoy? Wollen Sie uns das nicht sagen?«
Der Leichenbestatter wurde rot. »Wie oft muß ich das euch Leuten denn noch sagen. Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten. Kümmert ihr euch um eure.«
»Das tun wir durchaus«, erwiderte Kettering. »Und es wird uns ein besonderes Anliegen sein, von hier direkt zum New Yorker Finanzamt zu fahren. Obwohl es hier in diesem Artikel heißt« - er klopfte auf die Semana - »daß Sie für alle drei Särge bar bezahlt wurden, bin ich sicher, daß Sie die Verkaufssteuer verlangt, angegeben und abgeführt haben, und das wird ja, zusammen mit dem Namen des Käufers, bei der Behörde vermerkt sein.« Kettering wandte sich an Partridge. »Harry, warum lassen wir diesen wenig hilfsbereiten Menschen nicht in Ruhe und wenden uns direkt an das Finanzamt?«
Godoy war blaß geworden und stotterte los: »Heh, Moment mal. Einen Augenblick.«
Kettering drehte sich um und sah Godoy unschuldig an: »Ja?« »Vielleicht kann ich... «
»Vielleicht haben Sie die Verkaufssteuer doch nicht abgeführt und auch nicht angegeben, obwohl ich wetten würde, daß Sie sie verlangt haben.« Ketterings Stimme klang plötzlich barsch, die frühere Freundlichkeit war verschwunden, und er beugte sich über den Tisch des Leichenbestatters. Partridge, der den Wirtschaftskorrespondenten so noch nie gesehen hatte, war froh, ihn mitgenommen zu haben.
»Hören Sie mir gut zu, Godoy«, fuhr Kettering fort. »Ein Sender wir der unsere hat jede Menge Beziehungen, und wenn nötig, machen wir davon auch Gebrauch, vor allem jetzt, da wir für einen von uns kämpfen - und gegen ein abscheuliches Verbrechen, die Entführung seiner Familie. Wir wollen Antworten auf unsere Fragen, und zwar schnell. Wenn Sie uns helfen, werden wir versuchen, Ihnen zu helfen, indem wir dem Finanzamt nicht melden, was für uns unwichtig ist, Ihren Steuerbetrug zum Beispiel. Aber wenn wir keine ehrlichen Antworten bekommen, stehen noch heute das FBI, die New Yorker Polizei und die Leute von der Steuerfahndung vor Ihrer Tür. Natürlich auch die von der Einkommenssteuer, denn die haben Sie ja sicher auch nicht bezahlt. Sie haben die Wahl. Entweder antworten Sie uns oder denen.«
Godoy leckte sich die Lippen. »Also gut, ich werde Ihre Fragen beantworten.« Seine Stimme klang gequält.
Kettering nickte. »Du bist dran, Harry.«
»Mr. Godoy«, fragte Partridge, »wer hat diese Särge gekauft?«
»Er stellte sich als Novack vor. Hab' ich ihm nicht abgenommen.«
»Da hatten Sie wahrscheinlich recht. Wissen Sie sonst noch etwas über ihn?«
»Nein.«
Partridge griff in seine Tasche. »Ich zeige Ihnen jetzt ein Foto. Ich will nur wissen, ob Ihnen das irgendwas sagt.« Er zeigte ihm die Kopie der zwanzig Jahre alten Zeichnung von Ulises Rodriguez.
Godoy antwortete, ohne zu zögern: »Das ist er. Das ist Novack. Er ist älter als auf dem Bild...«
»Ja, das wissen wir. Sind Sie sich absolut sicher?«
Zum ersten Mal an diesem Tag spürte Partridge so etwas wie Befriedigung. Wieder einmal hatte die Spezialeinheit einen Durchbruch geschafft. Zwischen den Särgen und der Entführung war eine eindeutige Beziehung hergestellt. Er warf Kettering und Mony einen kurzen Blick zu und sah, daß sie dasselbe dachten.
»Erzählen Sie uns doch von Ihrem Gespräch mit diesem Novack«, forderte er Alberto Godoy auf. »Von Anfang an.«
In dem folgenden Frage- und Antwortspiel holte Partridge so viel aus dem Leichenbestatter heraus, wie er nur konnte. Doch viel war es nicht, es wurde nur deutlich, daß Rodriguez sich Mühe gegeben hatte, keine Spuren zu hinterlassen.
Partridge wandte sich an Kettering. »Hast du noch Fragen, Don?«
»Eine oder zwei.«
»Das Geld, das Novack Ihnen gegeben hat«, sagte Kettering zu Godoy. »Sie sagten doch, es wären insgesamt fast 10000 Dollar gewesen, vorwiegend Hunderter. Stimmt das?«
»Ja.«
»War an den Scheinen irgendwas Besonderes?«
Godoy schüttelte den Kopf. »Was soll denn an Geld besonders sein, außer daß es Geld ist?«
»Waren es neue Scheine?«
Der Leichenbestatter dachte nach. »Ein paar vielleicht, aber die meisten nicht.«
»Was ist mit dem ganzen Geld passiert?«
»Alles weg. Ich habe es ausgegeben, ein paar Rechnungen bezahlt.« Godoy zuckte mit den Achseln. »Heutzutage ist Geld doch gleich wieder fort.«
Jonathan Mony hatte den Leichenbestatter während der ganzen Befragung genau beobachtet. Und er war sicher, an Godoy Zeichen von Nervosität bemerkt zu haben, als zuvor das Geld zur Sprache kam. Jetzt hatte er das gleiche Gefühl. Er kritzelte etwas auf einen Zettel und gab ihn Kettering. Er lügt.
Er hat noch was von dem Geld. Er will es uns nur nicht sagen, weil er noch Angst vor der Steuer hat - Verkaufs- und Einkommenssteuer, stand darauf.
Der Wirtschaftskorrespondent las die Notiz, nickte unmerklich und gab sie zurück. Er stand auf, als wolle er gehen, und fragte Godoy höflich: »Können Sie sich sonst noch an etwas erinnern oder haben Sie etwas, das uns vielleicht weiterhelfen würde?« Dann wandte er sich zur Tür.
Godoy, der nun wieder entspannt und offensichtlich froh war, daß die Sache ausgestanden war, antwortete: »Nein, absolut nichts.«
Kettering wirbelte auf dem Absatz herum. Sein Gesicht war, verzerrt und rot vor Wut, er machte eine Satz zum Tisch, beugte sich darüber und packte den Leichenbestatter bei den Schultern. Er zog ihn zu sich, bis dessen Gesicht knapp vor seinem war und zischte ihn an: »Sie sind ein verdammter Lügner, Godoy. Sie haben noch was von dem Geld. Und da Sie es uns nicht zeigen wollen, werden wir dafür sorgen, daß das Finanzamt es zu sehen bekommt. Ich sagte Ihnen, wir würden Sie nicht anzeigen, wenn Sie uns helfen. Das können Sie jetzt vergessen.«
Kettering stieß Godoy in seinen Stuhl, zog ein dünnes Adreßbuch aus der Tasche und griff nach dem Telefon.
»Nein«, rief Godoy. Er riß Kettering das Telefon aus der Hand und stöhnte verärgert. »Sie Schwein. Also gut, ich zeig' es Ihnen.«
»Das ist absolut das letzte Mal«, entgegnete Kettering, »daß Sie uns zum Narren gehalten haben. Beim nächsten Mal... «
Aber Godoy stand bereits vor einem gerahmten Einbalsamierungszertifikat an der Wand hinter seinem Schreibtisch. Ein Safe kam zum Vorschein. Der Leichenbestatter drehte an dem Zahlenschloß.
Wenige Minuten später untersuchte Kettering unter den interessierten Blicken der anderen sorgfältig das Geld, das Godoy aus dem Safe geholt hatte - fast 4000 Dollar. Der Wirtschaftskorrespondent sah sich jede Seite der Scheine genau an und trennte sie in drei Stapel, zwei kleinere und einen größeren. Dann schob er Godoy den größeren Stapel wieder zu und deutete auf die beiden kleineren.
»Wir müssen uns die ausleihen. Sie bekommen dafür auch eine ordentliche Quittung von CBA News. Sie können sich die Seriennummern aufschreiben, wenn Sie wollen, und Mr. Partridge und ich werden die Quittung unterschreiben. Ich garantiere Ihnen persönlich, daß Sie das Geld in achtundvierzig Stunden zurückerhalten und daß es keine weiteren Fragen geben wird.«
»Wenn es sein muß«, murmelte Godoy mißmutig.
Kettering winkte Partridge und Mony näher an die Stapel heran. Es waren lauter Hundertdollarscheine.
»Viele Geschäftsleute sind bei Hundertern vorsichtig«, sagte er, »weil sie Angst haben, sie könnten gefälscht sein. Deshalb machen sie sich oft Notizen auf die Scheine, damit sie sie später zurückverfolgen können. Wenn du bei Hertz zum Beispiel ein Auto mietest und bei der Rückgabe mit Hunderterscheinen zahlst, schreiben sie die Nummer des Mietvertrags auf jeden Schein, und das heißt, daß sie dich aufspüren können, wenn der Schein eine Blüte ist. Aus dem gleichen Grund notieren sich die Kassierer von Banken die Kontonummer oder den Namen des Einzahlers, wenn er ihnen Hunderter bringt.«
»Ich hab' das schon manchmal auf Hundertern gesehen«, sagte Partridge, »und mich immer gefragt, wozu das dient.«
»Ich nicht«, warf Mony dazwischen. »Solche Scheine kriege ich nie in die Hand.«
Kettering lächelte. »Bleib beim Fernsehen, Junge. Dann kommen die auch zu dir.«
Dann fuhr er fort. »Diese Markierungen sind natürlich unzulässig. Sie gelten als Beschädigung von Banknoten und sind daher strafbar, obwohl das praktisch nie verfolgt wird. Auf jeden Fall stehen auf den Scheinen im ersten Stapel Nummern, auf denen im zweiten Namen. Wenn du willst, Harry, zeige ich die mit den Nummern meinen Freunden bei den Banken, die sie durch ihre Computer laufen lassen und möglicherweise feststellen können, wer sie benutzt hat. Wer die Scheine mit den Namen in der Tasche gehabt hat, bekomme ich vielleicht raus, wenn ich einfach im Telefonbuch nachschlage.«
»Ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst«, sagte Partridge. »Aber erzähl weiter, Don, wonach du genau suchst.«
»Wir suchen bestimmte Banken, und die Informationen, die wir bekommen, werden uns helfen, die Banken zu finden, die diese Scheine irgendwann gehabt haben; vielleicht hat jemand in einer Bank diese Nummern und Namen auf die Scheine geschrieben. Und wenn wir Glück haben, stoßen wir dabei auch auf die Bank, die das ganze Geld ausgezahlt hat.«
»Hab' schon verstanden«, sagte Mony. »Ausgezahlt an die Entführer, die damit die Särge von Mr. Godoy gekauft haben.«
Kettering nickte. »Genau. Die Sache ist natürlich ziemlich unsicher, aber falls es funktioniert, kennen wir die Bank, die unsere Entführer benutzten und bei der sie wahrscheinlich ein Konto hatten.« Der Wirtschaftskorrespondent hob die Schultern. »Sobald wir das wissen, Harry, kannst du von da aus weitermachen.«
»Großartig, Don«, sagte Partridge. »Bis jetzt hatten wir nichts als unsichere Sachen.« Sein Blick fiel auf die Semana, die sie überhaupt erst hierhergebracht hatte, und er erinnerte sich an Onkel Arthurs Ausspruch zu Beginn der Zeitungsaktion: »Obwohl man dabei selten genau das findet, was man sucht, stolpert man oft über etwas anderes, das einem ebenso weiterhilft.«
9
Die Stimmung in Alberto Godoys Büro wurde ein wenig gelöster. Da seine Besucher vom Fernsehen offensichtlich zufrieden waren und er sich nun nicht mehr bedroht fühlte, entspannte sich der Leichenbestatter. Schließlich, dachte Godoy, hatte er ja nichts Verbotenes getan, als er Novack, oder wie der Kerl auch immer hieß, die drei Särge verkaufte. Wie sollte er wissen, daß diese verdammten Särge zu kriminellen Zwecken dienten. Sicher, dieser Novack war ihm bei bei den Besuchen verdächtig vorgekommen, und er hatte ihm kein Wort seiner Geschichte geglaubt. Aber das konnte ihm kein Mensch beweisen.
Am Anfang der Fragerei hatte er es mit der Angst zu tun bekommen, weil er die Verkaufssteuer, die er für die ersten zwei Särge verlangt hatte, nicht abgeführt und weil er seine Bücher gefälscht hatte, so daß die zehn Riesen überhaupt nicht als Einnahmen auftauchten. Wenn das Finanzamt davon Wind bekäme, würden sie ihm die Hölle heiß machen. Jetzt hatten die Typen vom Fernsehen aber versprochen, daß sie den Mund halten würden, und er glaubte ihnen. Soweit er wußte, gingen Reporter öfters solche Abmachungen ein, um an Informationen zu kommen. Und jetzt, da es vorbei war, mußte er zugeben, daß es schon faszinierend war zu sehen, wie sie arbeiteten. Aber er würde kein Wort von dem erzählen, was ihm eben passiert war, wenn dieser verdammte Schnüffler von dem Schmierblättchen Semana in der Nähe war.
»Wenn Sie mir ein Blatt Papier geben«, sagte Kettering und wies auf die zwei Stapel, die noch immer auf dem Tisch lagen, »dann schreibe ich Ihnen einen Quittung für das Geld aus.«
Godoy zog eine Schublade auf, in der er seinen ganzen Kleinkram aufbewahrte, und nahm ein Blatt liniertes Papier heraus. Beim Zuschieben fiel sein Blick auf einen Zettel mit seiner Handschrift. Er hatte den Fetzen vor mehr als einer Woche in die Schublade gesteckt und ihn vollkommen vergessen.
»Heh, da ist noch was! Als dieser Novack zum zweiten Mal... «
»Zum zweiten Mal was?« fragte Partridge scharf.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er einen CadillacLeichenwagen hatte, mit einem anderen Kerl am Steuer. Sie haben den Sarg damit abtransportiert.«
»Und?«
Godoy streckte ihnen den Notizzettel entgegen. »Das ist die Autonummer des Leichenwagens. Ich habe sie mir aufgeschrieben, den Zettel da hineingesteckt und ihn total vergessen.«
»Warum haben Sie das getan?« fragte Kettering.
»Wahrscheinlich aus 'nem unbestimmten Gefühl heraus.« Godoy zuckte mit den Achseln. »Ist das wichtig?«
»Nein«, antwortete Partridge, »ist es nicht. Aber auf jeden Fall danke. Wir werden die Nummer überprüfen.« Er faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche, obwohl er wenig Hoffnung hatte, daß bei der Überprüfung etwas herauskommen würde. Schließlich waren auch die Nummernschilder des Nissan, der in White Plains explodiert war, gefälscht gewesen und hatten zu nichts geführt. Aber man mußte jeder Spur nachgehen und durfte nichts als selbstverständlich hinnehmen.
Doch dann fiel Partridge etwas ganz anderes ein. Er wußte, daß sie mit einigen oder den meisten Informationen, darunter auch die über Rodriguez, bald auf Sendung gehen mußten, mit ziemlicher Sicherheit in den nächsten ein oder zwei Tagen. Man konnte bei CBA nicht unbegrenzt Informationen zurückhalten, ohne daß sie durchsickerten; sie hatten zwar bis jetzt Glück gehabt, aber das konnte sich jeden Augenblick ändern. Und schließlich waren sie ja in erster Linie Journalisten. Partridge wurde richtig aufgeregt bei dem Gedanken, über diese Fortschritte berichten zu können, und er beschloß, jetzt gleich für eine angemessene Art der Präsentation zu sorgen.
»Mr. Godoy«, sagte er, »wir haben es am Anfang vielleicht nicht ganz richtig angefaßt, aber Sie waren sehr hilfreich. Hätten Sie etwas dagegen, einen Großteil Ihrer Aussagen vor einer Kamera zu wiederholen?«
Godoy gefiel natürlich die Vorstellung, im Fernsehen zu erscheinen, und dazu noch bei einem so bekannten Sender. Aber dann erkannte er, daß er sich nach dieser Publicity wahrscheinlich unangenehmen Fragen aussetzen mußte, und eben auch solchen nach der Steuer. Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Als könne er Gedanken lesen, sagte nun Partridge: »Wir brauchen Ihren Namen nicht zu nennen und auch Ihr Gesicht nicht zu zeigen. Wir können ein sogenanntes Silhouetteninterview machen, mit Scheinwerfern, die so positioniert werden, daß man von Ihnen nur einen Schattenriß sieht. Und wir können sogar Ihre Stimme unkenntlich machen.«
»Die klingt dann so, als würde sie aus einer Kaffeemühle kommen«, ergänzte Kettering. »Die würde nicht mal Ihre Frau erkennen. Also los, Godoy, was haben Sie schon zu verlieren? Draußen im Auto haben wir einen Kameramann, der in solchen Sachen ein richtiger Experte ist, und Sie würden uns helfen, die Entführungsopfer wiederzufinden.«
»Hm...« Der Leichenbestatter zögerte. »Aber Sie versprechen mir, die Sache vertraulich zu behandeln und nichts weiterzuerzählen?«
»Das verspreche ich Ihnen«, entgegnete Partridge. »Ich auch«, pflichtete Kettering ihm bei.
»Und ich ebenfalls«, ergänzte Mony.
Kettering und Partridge wechselten einen flüchtigen Blick, denn sie wußten, daß dieses Versprechen, das sie Godoy gegeben hatten und das sie auch halten würden - für seriöse Journalisten Ehrensache -, ihnen später Probleme bereiten konnte. Das FBI und andere waren vielleicht mit der Geheimhaltung nicht einverstanden und würden wissen wollen, wer diese Silhouette war. Aber darum sollten sich die Anwälte des Senders kümmern; Probleme dieser Art hatte es schon mehrfach gegeben.
Partridge erinnerte sich an einen Fall aus dem Jahr 1986, als NBC ein spektakuläres, wenn auch sehr kontroverses Interview mit dem palästinensischen Terroristen Mohammed Abul Abbas zustande brachte. Danach stand NBC im Kreuzfeuer der Kritik, nicht nur wegen des Interviews selbst, sondern auch wegen der zuvor getroffenen Abmachung - an die der Sender sich hielt -, den Ort des Treffens nicht preiszugeben. Unter den Kritikern waren auch einige Journalisten, doch bei denen war offensichtlich beruflicher Neid im Spiel. Ein Vertreter des Außenministeriums schäumte vor Wut, und das Justizministerium drohte mit Vorladung und Verhör des verantwortlichen Fernsehteams, doch im Endeffekt passierte nichts. (Der damalige Außenminister George Shultz antwortete auf eine entsprechende Frage lediglich: »Ich glaube an die Freiheit der Presse.«)
Es war eine allgemein bekannte Tatsache, daß für Nachrichtensender in vielfacher Hinsicht gewissermaßen eigene Gesetze galten. Zum einen wollte sich keine Regierungsbehörde juristisch mit ihnen anlegen. Zum anderen stand der Journalismus der freien Welt für Wahrheit, Freiheit und Integrität. Natürlich wurde man diesen Maßstäben nicht immer gerecht, weil Journalisten eben auch nur Menschen waren. Wenn man aber als unbelehrbarer Gegner dieses freien Journalismus auftrat, lief man Gefahr, nicht der »sauberen«, sondern der »schmutzigen« Seite zugerechnet zu werden.
Während Harry Partridge über diese Grundlagen seines Berufs nachdachte, baute Minh Van Canh seine Ausrüstung für das Interview auf, das Don Kettering mit Alberto Godoy führen würde.
Partridge hatte vorgeschlagen, daß Kettering das Interview übernehmen solle, nicht zuletzt deshalb, weil der Wirtschaftskorrespondent ganz offensichtlich auch weiterhin an den Ermittlungen beteiligt sein wollte. Schließlich lag dieses Thema der ganzen Nachrichtenabteilung sehr am Herzen. Außerdem hatte Partridge für sich selbst bereits andere Pläne.
Er hatte beschlossen, sobald wie möglich nach Bogota zu fliegen. Obwohl er die Meinung seines kolumbianischen Kollegen teilte, daß Ulises Rodriguez nicht im Land sei, hielt er nun die Zeit für gekommen, um die Suche in Lateinamerika zu beginnen, und dazu war Kolumbien der geeignete Ausgangspunkt.
Minh Van Canh meldete, daß er bereit sei.
Als man ihn wenige Minuten zuvor hereinrief, hatte er sich in dem Bestattungsinstitut umgesehen und beschlossen, das Interview im Keller, wo die Särge aufbewahrt wurden, zu filmen. Wegen der speziellen Beleuchtung war zwar von dem Raum selbst nicht viel zu sehen; nur die Wand, vor der Godoy saß, war angestrahlt, der Interviewte selbst saß im Schatten. Aber neben Godoys Silhouette war der Umriß eines Sargs zu erkennen, und das schuf einen makabren Effekt. Die Stimme des Leichenbestatters würde erst später in der Zentrale von CBA News verfremdet.
Da Minh keinen Tontechniker zur Unterstützung hatte, benutzte er eine Ein-Mann-Ausrüstung, eine Betacam mit Halbzollband, die Bild und Ton gleichzeitig aufnahm. Er hatte auch einen kleinen Kontrollmonitor mitgebracht und stellte ihn so, daß Godoy von seinem Stuhl aus genau das sehen konnte, was die Kamera sah. In solch speziellen Situationen wurde dieser Kunstgriff häufig angewendet, um den Interviewpartner entspannter zu machen.
Doch Godoy war nicht nur entspannt, sondern auch amüsiert. »Heh«, sagte er zu Kettering, der etwas abseits, außerhalb des Blickfeldes der Kamera saß, »ihr seid ja echt raffiniert.«
Kettering, der seine eigenen Vorstellungen über den Verlauf dieses Interviews hatte, sah von seinen flüchtig zusammengeschriebenen Notizen hoch und lächelte ihn dünn an. Auf ein Nicken von Minh schwieg er zunächst einige Sekunden, um Platz zu lassen für eine Einführung, die erst später aufgenommen würde, und begann dann.
»Als Sie diesen Mann, von dem Sie jetzt wissen, daß es sich um den Terroristen Ulises Rodriguez handelte, zum ersten Mal sahen, welchen Eindruck hatten Sie da?«
»Eigentlich keinen besonderen. Der Mann wirkte auf mich ganz gewöhnlich.« Godoy hatte die Absicht, trotz seiner Tarnung nichts von seinem anfänglichen Verdacht preiszugeben.
»Sie waren also in keiner Weise beunruhigt, als der Mann zuerst zwei und später dann noch einen Sarg bei Ihnen kaufte?«
Die Silhouette zuckte mit den Achseln. »Warum sollte ich? Das ist schließlich mein Geschäft.«
»Sie sagen: >Warum sollte ich?<« Indem Kettering Godoys Worte wiederholte, brachte er seine Skepsis zum Ausdruck. »Aber ist denn diese Art von Verkauf nicht sehr ungewöhnlich?«
»Vielleicht... Irgendwie schon.«
»Als Leichenbestatter verkaufen Sie doch gewöhnlich sogenannte Leistungspakete - also komplette Bestattungen?«
»Ja. Meistens schon.«
»Und wahrscheinlich haben Sie doch vor diesem Geschäft mit dem Terroristen Rodriguez noch kein einziges Mal Särge auf diese Art verkauft, oder?«
»Ich glaube nicht«, murmelte Godoy. Das Interview lief ganz und gar nicht so, wie er es erwartet hatte. Er warf Kettering, der im Halbdunkel saß, einen wütenden Blick zu, doch der drängte weiter.
»Mit anderen Worten, es war das erste Mal.«
Der Leichenbestatter hob die Stimme. »Ich dachte mir, es geht mich nichts an, wozu er die braucht.«
»Dachten Sie denn nie daran, zur Polizei zu gehen und den Beamten zu sagen: >Hören Sie, man ist da mit einer sehr eigenartigen Bitte an mich herangetreten, etwas, das noch niemand von mir verlangt hat, und ich frage mich, ob Sie vielleicht diese Person überprüfen wollen.< Haben Sie sich das nicht überlegt?«
»Nein. Es gab ja keinen Grund dazu.«
»Weil Sie keinen Verdacht hatten?«
»Genau.« Kettering bohrte nach. »Wenn Sie also keinen Verdacht hatten, warum haben Sie sich dann bei Rodriguez' zweitem Besuch heimlich die Nummer des Leichenwagens, mit dem der Sarg abtransportiert wurde, aufgeschrieben und den Zettel bis heute versteckt?«
Nun brüllte Godoy wütend auf. »Hören Sie mal! Nur weil ich Ihnen etwas Vertrauliches erzählt habe, heißt das noch nicht... «
»Verzeihung, Herr Leichenbestatter! Sie haben mit keinem Wort erwähnt, daß das vertraulich ist.«
»Wollte ich aber.«
»Das ist etwas anderes. Und übrigens, Sie haben auch nicht gesagt, daß es vertraulich sei, als Sie uns vor diesem Interview erzählten, Sie hätten für diese drei Särge fast zehntausend Dollar verlangt. Ist das nicht etwas viel für die Art von Särgen, wie Sie sie beschrieben haben?«
»Der Kerl, der sie gekauft hat, hat sich nicht beklagt. Also warum, Sie?«
»Vielleicht hatte er seine Gründe dafür.« Ketterings Stimme wurde eisig und anklagend. »Sie haben diesen übertrieben hohen Preis doch nur verlangt, weil Sie wußten, daß der Mann ihn zahlen würde, weil Sie die ganze Zeit wußten, daß an der Sache etwas verdächtig war, und weil Sie so einen Vorteil aus der Situation schlagen und etwas Geld nebenbei verdienen konnten... «
»Moment mal! Ich werde mir diesen Unsinn nicht länger mit anhören. Vergessen Sie die Sache! Ich steige aus.« Wütend stand Godoy auf und verließ seinen Platz, wobei er mit den Füßen ein Mikrofonkabel aus der Buchse zog. Er näherte sich der Kamera, und Minh, der aus einem Reflex heraus mitschwang, fing sein Gesicht frontal und in voller Beleuchtung ein. Godoy hatte damit seine Tarnung selbst durchbrochen. Später würde es Diskussionen geben, ob man diese Bilder bringen sollte oder nicht.
»Mistkerl!« schrie Godoy Kettering an.
»Ich mag Sie auch nicht«, erwiderte der Wirtschaftskorrespondent.
»Hören Sie«, sagte Godoy zu Partridge. »Aus der Abmachung wird nichts.« Er wies auf die Kamera. »Und das werden Sie nicht verwenden. Verstanden?«
»Ich verstehe Sie schon«, erwiderte Partridge. »Aber ich kann Ihnen nicht garantieren, daß wir es nicht verwenden. Das ist Sache des Senders.«
»Verschwinden Sie von hier!« Mit wütender Miene sah Godoy zu, wie die Ausrüstung abgebaut wurde und das Team von CBA News sein Institut verließ.
Während der Rückfahrt von Queens verkündete Kettering: »Ich möchte aussteigen, sobald wir in Manhattan sind. Ich will mich sofort um diese markierten Geldscheine kümmern, und an der Lex kenne ich ein Maklerbüro, wo ich telefonieren kann.«
»Kann ich vielleicht mitkommen?« fragte Jonathan Mony. »Ich möchte gern sehen, was sich aus unseren Entdeckungen entwickelt.«
»Von mir aus gern«, antwortete Kettering. »Wenn Harry einverstanden ist, zeige ich Ihnen, was praxisbezogener Journalismus heißt.«
Partridge stimmte zu, und man trennte sich nach der Queensboro Bridge. Während der Jeep Wagoneer zur CBA News-Zentrale weiterfuhr, nahmen Kettering und Mony ein Taxi zum Büro eines Börsenmaklers in einer Nebenstraße der Lexington Avenue in der Nähe des Summit Hotels.
Sie betraten einen großen Raum, in dem etwa zwei Dutzend Leute, einige sitzend, die anderen stehend, auf einen von der Decke hängenden Monitor mit schnell wechselnden Börsennotierungen sahen. Der dunkelgrüne Teppichboden bildete einen angenehmen Kontrast zu den hellgrünen Wänden, bequeme, mit grünem und orangefarbenem Tweed bezogene Sessel waren in Reihen auf dem Boden befestigt. Einige der Börsenbeobachter hielten gespannt Papier und Bleistift in der Hand, andere schienen weniger interessiert. Ein junger Orientale studierte eine Partitur, andere lasen Zeitungen, und einige schliefen.
An der einen Wand befanden sich eine Reihe von Computern und einige Telefone. Auf einem Schild über den Apparaten stand: FÜR GESPRÄCHE IN DIE BÖRSE BITTE HÖRER ABHEBEN. Von mehreren Apparaten wurde gesprochen. Trotz der geflüsterten Gespräche konnte man einige Bruchstücke verstehen: »Sie haben zweitausend gekauft? Verkaufen.« -»Können Sie fünfhundert zu achtzehn kriegen? Dann tun Sie es.« - »Okay, bei fünfzehneinviertel aussteigen.«
Eine Rezeptionistin auf der anderes Seite des Saals sah die beiden Journalisten hereinkommen, begrüßte Kettering mit einem Lächeln und griff zum Telefon. Hinter ihr waren einige, teils geöffnete Türen, die zu Büros im Inneren des Gebäudes führten.
»Sehen Sie sich gut um«, sagte Kettering zu Mony. »Diese Art von Aktienumschlagplatz gehört bald der Vergangenheit an. Der hier ist einer der letzten. Die meisten anderen sind verschwunden wie die Flüsterkneipen nach der Prohibition.«
»Aber der Aktienhandel geht doch weiter.«
»Klar. Aber die Broker haben sich ihre Unkosten angesehen und gemerkt, daß sich Verkaufsräume wie dieser nicht mehr rentieren. Es kommen zu viele Leute, die sich hier ausruhen wollen oder einfach nur neugierig sind. Und dann die Obdachlosen - im Winter gibt es für die keinen besseren Ort, wenn sie einen angenehmen Tag im Warmen verbringen wollen. Nur bringen Obdachlose keine Provisionen.«
»Vielleicht sollten Sie was darüber bringen«, meinte Mony. »Einen schönen, nostalgischen Bericht, bevor, wie Sie eben sagten, der letzte verschwunden ist.«
Kettering sah ihn eindringlich an. »Das ist eine ganz hervorragende Idee, junger Mann. Warum bin ich da eigentlich nicht selber drauf gekommen? Ich werde es nächste Woche am Hufeisen zur Sprache bringen.«
Eine Tür hinter der Empfangsdame öffnete sich, und ein stämmiger Mann mit buschigen Augenbrauen kam heraus, der Kettering herzlich begrüßte. »Schön, dich zu sehen, Don. Du warst ja schon länger nicht mehr bei uns, aber wir verfolgen deine Berichte immer sehr aufmerksam. Kann ich etwas für dich tun?«
»Danke, Kevin.« Kettering deutete auf Mony. »Mein junger Kollege Jonathan hier möchte wissen, mit welchen Aktien er sein Geld bis morgen vervierfachen kann. Außerdem hätte ich gerne für eine halbe Stunde einen Schreibtisch und ein Telefon.«
»Schreibtisch und Telefon sind kein Problem. Ihr kommt am besten in mein Büro, da seid ihr ungestört. Aber was das andere angeht - tut mir leid, Jonathan, unsere Kristallkugel ist gerade in Reparatur. Falls sie zurückkommt, solange Sie noch da sind, werde ich es Sie wissen lassen.«
Man führte sie in ein kleines, gemütliches Büro mit einem Mahagonischreibtisch, zwei Ledersesseln, dem unvermeidlichen Computer und einem Telefon. An der Tür stand der Name: Kevin Fane.
»Fühlt euch wie zu Hause«, sagte Fane. »Ich werde Kaffee und Sandwiches bringen lassen.«
Als sie allein waren, sagte Kettering zu Mony: »Kevin und ich waren zusammen auf dem College. In den Sommerferien haben wir als Laufburschen in der New Yorker Börse gearbeitet und sind seitdem in Kontakt geblieben. Wollen Sie einen beruflichen Rat?«
Mony nickte. »Klar.«
»Als Korrespondent, und es sieht ja ganz so aus, als könnten Sie einer werden, sollten Sie so viele Kontakte wie möglich pflegen, nicht nur in den Führungsetagen, sondern auch weiter unten, und Sie dürfen sie nicht einschlafen lassen, sondern müssen sich immer wieder mal bei den Leuten melden, so wie wir es jetzt tun. Und vergessen Sie nicht, die Leute helfen Fernsehjournalisten gern; sie fühlen sich wichtig, auch wenn sie einen nur das Telefon benutzen lassen, und irgendwie sind sie dankbar dafür.«
Während er noch sprach, zog Kettering die Hundertdollarscheine, die er sich von Godoy ausgeborgt hatte, aus einer Innentasche seines Anzugs und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Er öffnete eine Schublade und nahm ein Blatt Papier heraus.
»Zuerst versuchen wir unser Glück mit den Scheinen, auf denen die Namen stehen. Falls uns das nicht weiterbringt, kümmern wir uns um die mit den Kontonummern.« Er nahm einen Schein in die Hand, las laut »James W. Mortell« und fügte hinzu: »Der hat diesen Hunderter irgendwann in der Hand gehabt. Sehen Sie mal nach, ob Sie ihn im Telefonbuch von Manhattan finden, Jonathan.«
Wenige Minuten später verkündete Mony: »Hier ist er.« Er las die Nummer vor, und Kettering tippte gleichzeitig auf die Tasten des Telefons. Es klingelte zweimal, dann meldete sich eine angenehme Frauenstimme: »Mortell Installationen.«
»Guten Morgen. Könnte ich bitte Mr. Mortell sprechen?«
»Er ist unterwegs. Ich bin seine Frau. Kann ich Ihnen helfen?« Nicht nur angenehm, sondern auch jung und charmant, dachte Kettering.
»Vielen Dank, Mrs. Mortell. Mein Name ist Don Kettering. Ich bin der Wirtschaftskorrespondent von CBA News.«
Eine Pause, dann eine zweifelnde Erwiderung: »Soll das ein Witz sein?«
»Das soll kein Witz sein, Madam.« Kettering klang gelöst und freundlich. »Ich dachte, daß Mr. Mortell mir vielleicht bei einer Ermittlung weiterhelfen kann. Aber in seiner Abwesenheit können Sie es eventuell.«
»Sie sind ja wirklich Don Kettering. Ich kenne Ihre Stimme. Aber wie sollen denn gerade wir Ihnen helfen können?« Ein leises Lachen. »Außer Sie haben irgendwo eine undichte Leitung.«
»Soviel ich weiß, nicht, aber falls mir etwas in dieser Richtung zu Ohren kommen sollte, werde ich an Sie denken. Aber eigentlich geht es mir um einen Hundertdollarschein, auf dem der Name Ihres Mannes steht.«
»Ich hoffe doch, wir haben nichts Ungesetzliches getan.«
»Aber nein, Mrs. Mortell. Es sieht nur so aus, als hätte Ihr Mann den Schein irgendwann in der Hand gehabt, und ich möchte herausfinden, welchen Weg er genommen hat.«
Die Antwort der Frau klang nachdenklich: »Nun, wir haben Kunden, die bar bezahlen, und einige auch mit Hundertdollarscheinen. Aber wir stellen keine Fragen.«
»Dazu haben Sie auch keinen Grund.«
»Wenn wir dann diese großen Scheine bei der Bank einzahlen, schreibt der Kassierer manchmal unseren Namen drauf. Ich glaube, das dürfen sie eigentlich nicht, aber sie tun es trotzdem.« Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich habe einen Kassierer einmal gefragt, warum er das tut. Und er hat mir geantwortet, es sei eine Vorsichtsmaßnahme, weil es so viele gefälschte Hunderter gibt.«
»Genau das habe ich mir auch gedacht, und das ist vermutlich auch der Grund, warum auf dem Schein, den ich vor mir habe, Ihr Name steht.« Während Kettering sprach, streckte er Mony den hochgereckten Daumen entgegen. »Mrs. Mortell, hätten Sie etwas dagegen, mir den Namen Ihrer Bank zu nennen?«
»Warum eigentlich nicht? Es ist die Citibank.« Sie nannte den Namen einer Filiale im Norden.
»Vielen Dank, Mrs. Mortell. Mehr wollte ich gar nicht wissen.«
»Einen Auge nblick noch, Mr. Kettering. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Natürlich.«
»Kommt über die Sache was in den Nachrichten? Und falls etwas kommt, wie kann ich sicher sein, daß ich es nicht verpasse?«
»Das ist ganz einfach, Mrs. Mortell. Sie haben mir so viel geholfen, daß ich Ihnen verspreche, ich werde Sie persönlich anrufen und Ihnen sagen, wann es kommt.«
Als Kettering auflegte, sagte Jonathan Mony: »Ich dachte mir, daß ich heute etwas lernen würde. Und das habe ich eben getan.«
»Und was?«
»Wie man sich Freunde schafft.«
Kettering lächelte. Diese Mrs. Mortell hatte so charmant und fast etwas einladend geklungen, daß er beschloß, sie persönlich zu besuchen. Er notierte sich die Adresse, sie lag im Norden, gar nicht weit weg. Natürlich konnte er auch eine Enttäuschung erleben. Stimmen waren manchmal trügerisch, vielleicht war die Frau älter, als sie klang, und sah aus wie das Heck eines Busses. Aber sein Instinkt war anderer Meinung. Auch Jonathan würde zweifellos irgendwann lernen, daß die Arbeit beim Fernsehen am Rande auch noch den Vorteil häufiger romantischer Begegnungen hatte, aus denen sich angenehme Exkursionen entwickeln konnten.
Er nahm sich einen anderen Schein vor. »Versuchen wir den mal«, sagte er zu Mony und deutete auf das Telefonbuch. »Der Name ist Nicolini Brothers.«
Es war eine Bäckerei an der Third Avenue. Der Mann, der den Anruf entgegennahm, war argwöhnisch und schien nach den ersten Fragen gleich wieder auflegen zu wollen. Doch Kettering blieb auf seine Art beharrlich und brachte ihn dazu, es nicht zu tun. Schließlich nannte der Mann den Namen der Bank, bei der die Geschäftseinnahmen eingezahlt wurden. Es war die American-Amazonas Bank an der Dag Hammarskjöld Plaza.
Die Namen auf den nächsten beiden Scheinen waren nicht im Telefonbuch von Manhattan zu finden.
Der nächste Schein führte zu einem sehr hilfsbereiten Geschäftsführer eines Herrenbekleidungsgeschäfts. Das Geschäft, so gab er an, habe ein Konto bei der Bank Leumi, in der Filiale an der Third Avenue Ecke Sixty-seventh Street.
Dann gab es wieder einen Namen, der nicht im Telefonbuch stand, und beim nächsten hatte Kettering eine mißtrauische und unverschämte Frau am Apparat, bei der er nichts ausrichten konnte und schließlich aufgab.
Der fünfte Anruf erreichte einen sechsundachtzigjährigen Mann in der East End Avenue. Er war zu schwach, um den Hörer selbst zu halten, eine Pflegerin übernahm das für ihn. Doch mit seinem Verstand war offensichtlich noch alles in Ordnung, denn man hörte ihn fröhlich flüstern, daß sein Sohn, der mehrere Nachtclubs besitze, ihn oft besuche und ihm dabei Hundertdollarscheine zustecke, die er auf ein Konto einzahle. Als Reserve fürs Alter, wie der - Sechsundachtzigjährige - mit einem schwachen Kichern meinte. Ja, und das Konto sei bei der American-Amazonas Bank an der Dag Hammarskjöld Plaza.
Ketterings nächster Anruf ging an ein Fischrestaurant. Er sprach mit fünf verschiedenen Leuten, doch niemand wollte die Verantwortung auf sich nehmen und etwas so Wichtiges wie die Bankverbindung preisgeben. Doch schließlich bekam er den Restaurantbesitzer an den Apparat, der nur unwirsch meinte: »Was soll's schon. Natürlich können Sie den Namen meiner Bank erfahren. Ich hoffe nur, daß Sie unser Restaurant dann in den Nachrichten erwähnen. Also, die Bank ist an diesem verdammten Platz, den ich nie richtig schreiben kann - Dag Hammarskjöld - na, jedenfalls die American-Amazonas.«
Nach dem Auflegen schob Kettering die Hunderter zusammen und sagte zu Mony: »Wir haben ins Schwarze getroffen. Keine Anrufe mehr. Wir haben die Lösung.«
Als Antwort auf Monys fragenden Blick ergänzte er: »Überlegen Sie sich folgendes: Daß drei von fünf Leuten dieselbe Bank nennen, kann kein Zufall mehr sein. Also wurden die beiden Namen auf den anderen Scheinen, die durch Citibank und Leumi liefen, früher aufgeschrieben, die Scheine kamen wieder in Umlauf und wurden wahrscheinlich ebenfalls von der American-Amazonas ausgegeben.
»Von dort kam also das Geld, mit dem Novack-Rodriguez Godoy die Särge bezahlte.«
»Genau!« Ketterings Stimme wurde hart. »Und ich schätze, daß diese verdammten Entführer ihr ganzes Geld von dieser Bank bezogen und dort auch ein Konto hatten - oder vielleicht immer noch haben.« »Also ab zur Dag Hammarskjöld Plaza?« fragte Mony.
Kettering schob den Stuhl zurück und stand auf. »Natürlich. Wohin denn sonst? Gehen wir!«
10
Don Kettering wurde beim Betreten der American-Amazonas Bank sofort erkannt, und er hatte den Eindruck, als sei sein Besuch für die Angestellten keine Überraschung.
Als er eine etwas hausmütterliche Sekretärin fragte, ob er den Direktor sprechen könne, sagte sie ihm: »Er hat im Augenblick Besuch, Mr. Kettering, aber ich werde hineingehen und ihm sagen, daß Sie hier sind.« Sie sah Jonathan Mony an. »Ich bin sicher, daß er die Gentlemen nicht lange wird warten lassen.«
In der Zwischenzeit sah Kettering sich in der Filiale um. Sie lag im Erdgeschoß eines bejahrten Backsteinbaus am Nordende des Platzes. Von außen betrachtet war der schiefergraue Eingang eher unauffällig. Der für New Yorker Verhältnisse kleine Innenraum war dagegen attraktiv und farbenfroh. Statt der üblichen Fliesen bedeckte ein gedämpft kirschroter Teppich mit hellroten und orangefarbenen Mustern den Boden des gesamten Geschäftsbereichs; auf einem kleinen Schild war in Goldschrift zu lesen, daß er aus der Amazonas-Region in Brasilien stammte.
Die Einrichtung entsprach dem üblichen Standard, eine Reihe von Kassenschaltern auf der einen, drei Schreibtische auf der anderen Seite, doch die Holzvertäfelung war von allererster Qualität. Ins Auge sprang ein außergewöhnliches, riesiges Wandgemälde - eine Revolutionsszene mit fliehenden Pferden und uniformierten Soldaten.
Kettering betrachtete eben das Gemälde, als die Sekretärin meldete: »Mr. Armando hat jetzt Zeit für Sie. Wenn Sie bitte hereinkommen wollen.«
Sie betraten ein Büro, das nur durch eine Glaswand vom Kundenbereich getrennt war. Der Direktor kam ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen. Ein Schild auf dem Tisch wies ihn als Emiliano W. Armando, Jr. aus.
»Mr. Kettering, es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich sehe Sie oft im Fernsehen und bewundere Ihre Reportagen. Aber das hören Sie wahrscheinlich die ganze Zeit.«
»Ich weiß es aber trotzdem zu schätzen.« Der Wirtschaftskorrespondent stellte Mony vor. Armando wies auf die Sessel, und seine Besucher plazierten sich so, daß sie einen Wandteppich in leuchtenden Blau- und Gelbtönen im Blick hatten, der das dekorative Thema der Schalterhalle wiederaufnahm.
Kettering beobachtete den Direktor, eine kleine Gestalt mit einem faltigen, leicht müde wirkenden Gesicht, schütteren weißen Haaren und buschigen Augenbrauen. Armando bewegte sich schnell und fahrig, sein Gesicht wirkte besorgt, und er machte auf Kettering den Eindruck eines alternden Terriers, der mit seiner sich verändernden Umwelt unzufrieden ist. Doch instinktiv mochte er den Mann, ganz im Gegensatz zu Alberto Godoy.
Der Banker lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und seufzte: »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie oder einer Ihrer Kollegen bald hier aufkreuzen würden. Wir sind alle nicht sehr glücklich über die verwirrenden Ereignisse der letzten Zeit, wie Sie sicher verstehen werden.«
Kettering beugte sich vor. Der Direktor nahm an, daß sein Gesprächspartner etwas wußte, von dem er in Wirklichkeit keine Ahnung hatte. Deshalb stimmte er ihm vorsichtig zu. »Doch ja, aber so ist das nun einmal.«
»Mich würde interessieren, wie Sie davon erfahren haben.«
Der Wirtschaftskorrespondent stand auf und fragte lächelnd: »Wie erfahren? Wir beim Fernsehen haben Informationsquellen, die wir manchmal nicht preisgeben dürfen.« Er bemerkte, daß Mony der Unterhaltung aufmerksam, aber mit ausdruckslosem Gesicht folgte. Für den ehrgeizigen jungen Mann war dieser Tag ein Intensivkurs in Sachen Journalismus.
»Ich habe mir schon überlegt, ob es der Artikel in der Post war«, sagte Armando. »Der ließ ja viele Fragen offen.«
Kettering runzelte die Stirn. »Vielleicht habe ich den gelesen. Haben Sie zufällig ein Exemplar da?«
»Natürlich.« Armando zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen Zeitungsausschnitt in einer Plastikhülle heraus. Die Überschrift lautete:
UN-DIPLOMAT TÖTET IN RASENDER EIFERSUCHT GELIEBTE UND SICH SELBST
Kettering überflog den Bericht und bemerkte dabei, daß er aus einer zehn Tage alten Zeitung stammte, deren Erscheinungsdatum auf den vorletzten Sonntag lautete. Als er Namen und Berufsbezeichnungen der beiden Opfer las - Helga Efferen von der American-Amazonas Bank und Jose Antonio Salaverry, Mitglied der peruanischen Delegation bei den Vereinten Nationen -, wurde ihm klar, worüber sich der Direktor Sorgen machte. Noch unklar war ihm jedoch, ob eine Verbindung bestand zwischen diesem Vorfall und dem Problem, das ihn und Mony hierhergeführt hatte.
Kettering gab Mony den Bericht und wandte sich wieder Armando zu: »Sie sagten etwas von offenen Fragen, wenn ich mich recht erinnere.«
Der Direktor nickte. »Die Zeitung gibt nur die Verlautbarungen der Polizei wieder. Ich persönlich glaube nicht daran.«
Kettering, der immer noch nach einer möglichen Verbindung suchte, bohrte weiter. »Wollen Sie mir Ihren Grund dafür nennen?«
»Die ganze Sache ist viel zu komplex für eine so einfache Erklärung.«
»Die Frau war Ihnen ja sicher bekannt, sie arbeitete ja hier. Kannten Sie auch den Mann, Salaverry?«
»Ja. Leider - wie ich inzwischen sagen muß.«
»Würden Sie mir das bitte erklären?«
Armando zögerte, bevor er antwortete. »Ich möchte ganz offen mit Ihnen sprechen, Mr. Kettering, vor allem weil ich glaube, daß das, was wir in den letzten zehn Tagen hier in der Bank entdeckt haben, irgendwann sowieso an die Öffentlichkeit dringen wird, und weil ich weiß, daß Sie in Ihrer Berichterstattung fair sind. Aber ich habe auch eine Verpflichtung der Bank gegenüber. Wir sind in Lateinamerika ein bedeutendes und renommiertes Institut und haben neben dieser Filiale noch andere in den Vereinigten Staaten. Könnten Sie vielleicht ein oder zwei Tage warten, damit ich mich mit der Geschäftsleitung außerhalb der Zentrale absprechen kann?«
Es muß eine Verbindung geben, dachte Kettering und schüttelte entschieden den Kopf. »Ich kann leider nicht warten. Es handelt sich um eine kritische Situation, die Sicherheit und das Leben von Menschen stehen auf dem Spiel.« Nun war es an der Zeit, daß auch er einige Informationen preisgab.
»Mr. Armando, wir bei CBA haben Grund zu der Annahme, daß Ihre Bank in die Entführung der Familie von Mr. Crawford Sloane verwickelt ist. Sie haben sicher schon davon gehört. Nun stellt sich die Frage, ob dieser andere Vorfall - der Tod von Helga Efferen und Salaverry - etwas mit der Entführung zu tun hat.«
Hatte man Armando schon zuvor seine Sorgen angesehen, so wirkte Ketterings Enthüllung nun wie ein Blitzschlag auf ihn. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. Nach ein paar Sekunden hob er die Augen.
»Ja, das ist durchaus möglich«, sagte er, und seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Jetzt wird mir einiges klar. Es ist nicht nur möglich, es ist sogar wahrscheinlich.« In seinen Gesten lag Überdruß und Erschöpfung. »Ich weiß, es klingt vielleicht egoistisch, aber ich habe nur noch wenige Monate bis zur Pensionierung, und ich frage mich, warum diese ganze Sache nicht warten konnte, bis ich nicht mehr hier bin.«
»Ich kann Sie gut verstehen.« Kettering versuchte, seine Ungeduld zu zügeln. »Aber Sie und ich sind nun einmal hier, und wir sind beide von der Sache betroffen. Ganz offensichtlich besitzen wir unterschiedliche Informationen, und es ist ebenso offensichtlich, daß es uns beiden weiterhilft, wenn wir sie austauschen.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte Armando. »Wo sollen wir anfange n?«
»Lassen Sie mich anfangen. Wir wissen, daß ein großer Geldbetrag, mindestens zehntausend Dollar, wahrscheinlich aber mehr, über Ihre Bank den Entführern zugeflossen ist.«
Der Direktor nickte ernst. »Wenn ich zusammennehme, was Sie wissen und was ich weiß, muß ich sagen, daß es mit Sicherheit sehr, sehr viel mehr ist.« Er hielt inne. »Wenn ich Ihnen mit Details weiterhelfe, ist es dann notwendig, daß Sie mich namentlich erwähnen?«
Kettering überlegte einen Augenblick. »Wahrscheinlich nicht. Es gibt bei uns ein Arrangement, das wir als >anonyme Hintergrundinformation< bezeichnen. Wenn Sie wollen, können wir auf dieser Basis weiterreden.«
»Es wäre mir lieber.« Armando machte eine Pause, um sich zu sammeln. »Wir führen in dieser Bank Konten von einigen UN-Delegationen. Ich will da nicht zu weit ausholen, sondern nur soviel sagen, daß unsere Bank enge Beziehungen zu gewissen Ländern hat, und deshalb liegt diese Filiale auch so nahe an den Vereinten Nationen. Verschiedene Delegationsmitglieder haben Vollmachten für diese Konten, und eins davon wurde von diesem Mr. Salaverry kontrolliert.«
»Ein Konto, das der peruanischen Delegation gehörte?«
»Das in Zusammenhang mit der peruanischen Delegation stand - ja. Aber ich bin nicht sicher, wie viele Leute außer Salaverry, der zeichnungs- und nutzungsberechtigt war, von diesem Konto überhaupt wußten. Sie müssen wissen, daß jede UN-Delegation eine ganze Reihe von Konten besitzt, und einige davon für besondere Zwecke.«
»Okay, aber wir sollten uns besser auf das konzentrieren, was für uns wichtig ist.«
»Nun gut. In den letzten Monaten liefen größere Geldbeträge über dieses Konto - alles ganz legal, auch von seiten der Bank, bis auf eins, das ungewöhnlich war.«
»Und das war?«
»Miss Efferen, die als eine der stellvertretenden Direktoren beträchtlichen Einfluß hatte, tat alles, um das Konto selbst verwalten zu können, ohne daß ich oder andere über dessen Existenz und die einzelnen Geldbewegungen Genaueres erfuhren.«
»Mit anderen Worten, die Herkunft und die Empfänger des Geldes wurden geheimgehalten.«
Armando nickte. »Genau so war es.«
»Und an wen wurde das Geld ausbezahlt?«
»Immer nur an Jose Antonio Salaverry. In den Unterlagen taucht nie eine andere Unterschrift auf, und es wurde immer bar ausbezahlt.«
»Kehren wir noch einmal zu einem früheren Punkt zurück«, sagte Kettering. »Sie haben uns gesagt, daß Sie diese Schlußfolgerungen der Polizei über die Todesart von Efferen und Salaverry nicht teilen. Warum?«
»Als ich letzte Woche die Sache mit dem Konto entdeckte und dann noch von diesem doppelten Todesfall erfuhr, kam mir der Gedanke, daß diejenigen, die Geld über dieses Konto laufen ließen und dabei, meiner Meinung nach, Salaverry als Vermittler benutzten, auch für diese Todesfälle verantwortlich sein könnten. Und das würde bedeuten, daß es sich um einen Doppelmord handelt, der nur so aussehen sollte wie ein Mord mit anschließendem Selbstmord. Und da Sie mir nun erzählen, daß in dieser Sache eine Verbindung zu den Entführern der Sloanes besteht, ist es durchaus wahrscheinlich, daß die dafür verantwortlich sind.«
Kettering konnte nicht umhin, die Logik des Älteren zu bewundern, der trotz des Drucks, unter dem er stand, zu brillanten Schlußfolgerungen kam. Dann bemerkte er, das Mony unruhig wurde, und meinte: »Jonathan, wenn Sie irgendwelche Fragen haben, stellen Sie sie ruhig.«
Mony legte seine Notizen weg und setzte sich auf. »Mr. Armando, nehmen wir einmal an, es stimmt alles, was Sie sagen. Haben Sie dann nicht auch einen Verdacht, warum diese Leute umgebracht wurden?«
Der Direktor zuckte mit den Achseln. »Meiner Meinung nach wußten die einfach zuviel.«
»Die Namen der Entführer zum Beispiel?«
»Wenn man davon ausgeht, was Mr. Kettering mir gesagt hat, scheint mir das eine Möglichkeit zu sein.«
»Und was ist mit der Herkunft des Geldes, das dieser Salaverry kontrollierte? Wissen Sie, woher das kam?«
Nun zögerte der Direktor zum ersten Mal. »Seit Montag stehe ich mit Angehörigen der peruanischen Delegation in Verbindung - die führen nämlich eigene Untersuchungen durch. Aber was sie bis jetzt entdeckt und mir mitgeteilt haben, ist vertraulich... «
Kettering mischte sich ein. »Wir haben doch bereits vereinbart, daß wir Ihren Namen nicht erwähnen. Also los -erzählen Sie! Woher stammt das Geld?«
Armando seufzte. »Ich möchte Sie etwas fragen, Mr. Kettering. Haben Sie je von einer Organisation mit dem Namen >Sendero Luminoso< oder...«
Mony beendete den Satz für ihn. »Der Leuchtende Pfad?«
Mit verbissenem Gesicht antwortete Kettering: »Ja, ich habe davon gehört.«
»Wir sind noch nicht ganz sicher«, sagte der Direktor, »aber es besteht die Möglichkeit, daß das Geld von denen stammt.«
Nachdem sie Kettering und Mony hinter der Queensboro Bridge abgesetzt hatten, beschlossen Harry Partridge und Minh Van Canh, sich bei Wolfs Delicatessen an der Ecke West Fifthy-seventh und Sixth Avenue ein frühes Mittagessen zu genehmigen. Während sie über ihren riesigen, warmen Pastrami-Sandwiches saßen, betrachtete Partridge Minh, der an diesem Tag sehr nachdenklich und beinahe abwesend wirkte, was aber seine Arbeit in Godoys Bestattungsinstitut nicht beeinträchtigt hatte. Minhs kantiges, pockennarbiges Gesicht wirkte so undurchdringlich wie immer; zwischen zwei Bissen erwiderte er Partridges Blick.
»Was geht dir denn im Kopf herum, mein Freund?« fragte Partridge.
»Einiges.« Die Antwort war typisch für Van Canh, und Partridge wußte, daß es keinen Sinn hatte weiterzubohren. Wenn Minh die Zeit für gekommen hielt, würde er ihm auf seine Art Genaueres mitteilen.
Partridge erzählte Minh nun von seiner Absicht, nach Kolumbien zu fliegen. Er fügte hinzu, daß er nicht sicher sei, ob ihn überhaupt jemand begleiten sollte; er werde das mit Rita besprechen. Aber falls er einen Kameramann brauche, ob nun gleich für den folgenden Tag oder später, dann wolle er ihn.
Van Canh überlegte eine Weile. Dann nickte er. »Okay, Harry, ich tu' es für dich und für Crawf. Aber es ist das letzte Mal, das letzte Abenteuer.«
Partridge war überrascht. »Soll das heißen, du willst aufhören?«
»Ich habe es meiner Familie versprochen; wir haben gestern abend darüber geredet. Mein Frau will, daß ich mehr zu Hause bin. Unsere Kinder brauchen mich, und das Geschäft auch. Sobald wir aus Kolumbien zurück sind, kündige ich.«
»Das kommt aber verdammt plötzlich.«
Van Canh lächelte, was er nur sehr selten tat. »So plötzlich wie ein Befehl, um drei Uhr morgens nach Sri Lanka oder Gdansk aufzubrechen?«
»Ich weiß, was du meinst. Aber ich werde dich sehr vermissen, ohne dich ist es einfach nicht dasselbe.« Partridge schüttelte traurig den Kopf, doch eigentlich überraschte die Entscheidung ihn nicht - Minh hatte sich bei seiner Arbeit für CBA News in Vietnam ständig den allergrößten Gefahren ausgesetzt und es gegen Ende geschafft, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern aus seinem Heimatland fliehen zu können.
In den folgenden Jahren lebten sich die Van Canhs gut in Amerika ein. Die Kinder waren, wie die vieler vietnamesischer Immigranten, sehr fleißig und erhielten in der Schule und nun auch auf dem College hervorragende Zeugnisse. Partridge kannte sie gut und bewunderte ihren Zusammenhalt; manchmal beneidete er sie sogar darum. Die Familie lebte sehr bescheiden, denn Minh sparte und investierte einen Großteil seines nicht eben geringen Gehalts von CBA. Diese Sparsamkeit war so offensichtlich, daß unter Kollegen inzwischen das Gerücht ging, Minh sei Millionär.
Partridge hielt das für durchaus möglich, denn Minh hatte in den vergangenen fünf Jahren einige kleine Fotogeschäfte in den Außenbezirken von New York gekauft und sie mit Unterstützung seiner Frau Thanh zu einer Kette ausgebaut.
So war es nur vernünftig, daß Minh an diesem Punkt seines Lebens zu der Entscheidung kam, er habe nun genug von den Reisen und den langen Zeiten der Abwesenheit und auch von den Risiken, die er, nicht zuletzt bei gefährlichen Einsätzen mit Harry Partridge, auf sich nahm.
»Weil wir gerade von deinem Geschäft reden, wie läuft es denn?«
»Sehr gut.« Mit dem Anflug eines Lächelns fügte er hinzu: »Aber Thanh schafft es nicht mehr alleine, wenn ich unterwegs bin.«
»Ich freue mich für dich«, sagte Partridge, »weil es keiner so verdient hat wie du. Ich hoffe nur, daß wir uns ab und zu sehen werden.«
»Worauf du dich verlassen kannst. In unserem Haus stehst du ganz oben auf der Liste der Ehrengäste.«
Nach dem Essen trennte sich Partridge von Van Canh und ging in ein Sportgeschäft, wo er sich einige Paar dicke Socken, Wanderstiefel und eine robuste Taschenlampe kaufte. Denn er ging davon aus, daß er dies alles sehr bald brauchen würde. Als er in die CBA News-Zentrale zurückkehrte, war es bereits Nachmittag.
Im Konferenzraum der Spezialeinheit winkte Rita Abrams ihn zu sich. »Ein Mann hat versucht, dich zu erreichen. Er hat seit heute vormittag schon dreimal angerufen. Wollte seinen Namen nicht nennen, muß dich aber unbedingt heute noch sprechen. Ich hab' ihm gesagt, daß du irgendwann zurückkommst.«
»Danke. Ich muß dir übrigens auch etwas sagen. Ich habe beschlossen, nach Bogota zu fliegen...«
Partridge hielt inne, und beide sahen auf, als sie hinter sich schnell näher kommende Schritte hörten. Einen Augenblick später trat Don Kettering ins Zimmer, dicht gefolgt von Jonathan Mony.
»Harry! Rita!« rief Kettering, und seine Stimme klang atemlos vom Laufen. »Ich glaube, wir haben die Nuß geknackt!«
Rita sah sich ängstlich um, weil sich noch andere im Zimmer befanden. »Sprechen wir in meinem Büro«, sagte sie und ging voraus.
In den nächsten zwanzig Minuten erzählte Kettering, mit gelegentlicher Unterstützung von Mony, alles, was sie erfahren hatten. Kettering zog eine Kopie des Post-Artikels über den angeblichen Mord mit anschließendem Selbstmord aus der Tasche. Die beiden Korrespondenten und Rita wußten, daß nach ihrer Besprechung die Recherchenabteilung von CBA routinemäßig alles verfügbare Material über den Fall beschaffen würde.
Rita überflog den Zeitungsausschnitt und fragte dann Kettering: »Glaubst du, daß wir diesen Todesfällen weiter nachgehen sollten?«
»So am Rande vielleicht, aber die Sache ist eigentlich nicht mehr relevant. Was relevant ist, ist diese Verbindung nach Peru.«
»Das glaube ich auch«, sagte Partridge. »Der Name Peru ist ja schon einmal gefallen.« Er dachte an sein Gespräch mit Manuel Leon Seminario, dem Besitzer und Herausgeber von Escana, der erwähnt hatte, daß Entführungen in Peru inzwischen an der Tagesordnung seien.
»Auch wenn wir jetzt diese Spur nach Peru haben«, gab Rita zu bedenken, »dürfen wir nicht vergessen, daß wir noch gar nicht sicher wissen, ob die Entführungsopfer überhaupt außer Landes gebracht wurden.«
»Das vergesse ich nicht«, sagte Partridge. »Don, hast du sonst noch etwas?«
Kettering nickte. »Ja. Ich habe mir von dem Bankdirektor die Zustimmung zu einem Interview vor der Kamera geben lassen, das wir vielleicht sogar noch heute machen. Er weiß zwar, daß er damit Kopf und Kragen riskiert, aber er ist ein guter alter Kerl mit viel Verantwortungsgefühl, und er meint, er werde es riskieren. Harry, wenn du willst, übernehme ich das.«
»Ist mir recht. Es ist sowieso deine Geschichte.« Dann wandte Partridge sich an Rita: »Vergiß die Sache mit Bogota. Ich fliege nach Lima. Gleich morgen früh will ich dort sein.«
»Und mit wieviel Material gehen wir auf Sendung, und wann?«
»Mit allem, und zwar bald. Wir werden mit Les und Chuck besprechen, wann genau, aber ich hätte in Peru gern vierundzwanzig Stunden Zeit, bevor die Reporterhorden über das Land hereinbrechen. Denn das wird passieren, sobald wir mit unseren Informationen an die Öffentlichkeit gehen.«
Nach kurzem Schweigen fuhr er fort. »Wir fangen jetzt sofort an, die ganze Geschichte zusammenstellen, und arbeiten die Nacht durch. Ruf alle von der Spezialeinheit zu einer Konferenz zusammen« - er sah auf die Uhr: 15 Uhr 15 - »um fünf.«
»Jawohl, Sir!« Rita lächelte, sie war froh, daß endlich etwas passierte.
Im selben Augenblick klingelte das Telefon. Rita meldete sich, legte dann die Hand über den Hörer und sagte zu Partridge: »Es ist wieder dieser Mann, der schon den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen.«
Harry nahm den Hörer. »Partridge.«
»Nennen Sie während dieses Gesprächs nie meinen Namen. Ist das klar?« Die Worte klangen gedämpft, vielleicht beabsichtigt, aber Partridge erkannte die Stimme des Anwalts sofort.
»Ja, ist klar.«
»Sie wissen, wer ich bin?«
»Ja.«
»Ich rufe aus einer Telefonzelle an, der Anruf kann also nicht zurückverfolgt werden. Und noch etwas: Sollten Sie mich je öffentlich mit dem, was ich Ihnen jetzt sage, in Verbindung bringen, werde ich schwören, daß Sie die Unwahrheit sagen, und alles leugnen. Ist auch das klar?«
»Ja.«
»Ich bin ein großes Risiko eingegangen, um das herauszubekommen, was ich jetzt weiß, und falls gewisse Leute von unserer Unterhaltung erfahren, könnte es mich das Leben kosten. Verstanden?«
»Voll und ganz.«
Die anderen drei in dem kleinen Büro schwiegen und sahen Partridge an, während die gedämpfte Stimme, die sie alle hören konnten, fortfuhr.
»Einige meiner Klienten haben Verbindungen nach Lateinamerika.« Verbindungen zum Kokainhandel, dachte Partridge, sagte es aber nicht.
»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, lassen diese Leute die Finger von Geschichten wie der Ihren, aber es kommen ihnen gewisse Sachen zu Ohren.«
»Ich verstehe«, sagte Partridge.
»Also, was ich Ihnen jetzt sage, stammt aus absolut zuverlässiger Quelle, dafür kann ich garantieren. Die Leute, die Sie suchen, wurden letzten Samstag aus Amerika herausgeflogen und werden jetzt in Peru gefangengehalten. Verstanden?«
»Ja«, antwortete Partridge. »Darf ich Sie etwas fragen?« »Nein.«
»Ich brauche einen Namen«, bat Partridge. »Wer steckt dahinter? Wer hält sie gefangen?«
»Auf Wiederhören.«
»Warten Sie, bitte warten Sie. Also gut, ich werde Sie nicht bitten, einen Namen zu nennen, sondern ich werde Ihnen einen nennen, und wenn ich mich täusche, geben Sie mir das irgendwie zu verstehen. Wenn ich recht habe, sagen Sie gar nichts.«
Ein Pause und dann: »Aber schnell.«
Partridge holte Atem, bevor er flüsterte: »Sendero Luminoso.«
Am anderen Ende herrschte Schweigen. Dann kam ein Klicken, als der Anrufer auflegte.
11
Jessica hatte sehr bald nach dem Aufwachen in dieser dunklen Hütte in Sion gemerkt, daß sie in der Not die Führung dieses Trios übernehmen und ihre Leidensgenossen trösten und ermutigen mußte. Denn beides, eine gewisse Führung und die Ermutigung waren für alle drei überlebensnotwendig, während sie auf Rettung warteten und hofften. Die Alternative war abgrundtiefe Verzweiflung, die schließlich zu einer emotionalen Unterwerfung führte, die sie alle zerstören konnte.
Angus war mutig, aber zu schwach und zu alt, um die Führung übernehmen zu können, und würde letztlich immer auf Jessicas Stärke angewiesen sein. Doch Jessicas erste Sorge galt, wie immer, Nicky.
Wenn sie diesen Alptraum heil überstanden, und Jessica weigerte sich, an etwas anderes zu denken, bestand doch die Gefahr, daß bei ihm seelische Narben zurückblieben. Jessica wollte dafür sorgen, daß dies nicht geschah, gleichgültig, welche Qualen und welche Entbehrungen noch vor ihnen liegen sollten. Sie wollte Nicky, und, wenn nötig, auch Angus zeigen, wie man vor allem seine Würde und Selbstachtung bewahrte.
Sie wußte auch, wie. Schließlich hatte sie einen Kurs besucht, was manche ihrer Freundinnen als Schrulle abgetan hatten. Dabei hatte sie es nur getan, weil Crawford, der den Kurs eigentlich hätte besuchen sollen, keine Zeit hatte, denn sie hatte das Gefühl, daß wenigstens einer in der Familie es tun sollte.
Vielen Dank und Gottes Segen für Sie, Brigadier Wade! Als ich Ihre Trainingsstunden und Ihre Vorlesungen besuchte, hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich das, was Sie mir beibrachten, einmal brauchen und anwenden würde.
Brigadier Cedric Wade, MC, DMC, war im Koreakrieg Sergeant der britischen Armee und später Offizier der Elitetruppe SAS. Seit seiner Pensionierung lebte er in New York, wo er für kleine Gruppen von Interessenten Antiterror-Kurse veranstaltete. Sein Ruf war so gut, daß sogar die amerikanische Armee ihm manchmal Schüler schickte.
Im Jahr 1951 wurde Sergeant Wade von den Streitkräften Nordkoreas gefangengenommen und neuneinhalb Monate in einem Erdloch von etwa drei Metern im Quadrat in Einzelhaft gehalten. Über seinem Kopf hatte er nur ein fest verankertes Gitter, das weder Schutz gegen die Sonne noch gegen den Regen bot. Während seiner ganzen Gefangenschaft durfte er dieses Loch kein einziges Mal verlassen. Unterhalten konnte er sich, wenn überhaupt, nur mit seinen Bewachern, er hatte nichts zu lesen und sah nichts als den Himmel über sich.
Bei einer seiner Vorlesungen erzählte er von dieser Erfahrung mit ruhigen Worten, an die sich Jessica noch ganz genau erinnerte: »Ich wußte von Anfang an, daß sie meinen Willen brechen wollten. Aber ich war fest entschlossen, das nicht zuzulassen und meine Selbstachtung unter allen Umständen zu bewahren, auch wenn ich in diesem Loch hätte sterben müssen.«
Er habe sich die Selbstachtung bewahrt, erzählte Brigadier Wade seinen Schülern, indem er sich selbst ein Mindestmaß an Normalität und Ordnung auferlegte. Zunächst wies er jeder Ecke seiner Zelle eine andere Funktion zu. Als erstes die unangenehmste: Er hatte keine andere Wahl, als sich in seiner Zelle zu entleeren. Also reservierte er eine Ecke für diesen Zweck und achtete streng darauf, daß er keine andere beschmutzte. »Am Anfang war der Gestank entsetzlich und ekelerregend. Aber nach einer Weile gewöhnte ich mich daran, weil ich wußte, daß mir nichts anderes übrigblieb.«
In der gegenüberliegenden Ecke aß er die karge Nahrung, die man ihm hinunterreichte. In der dritten Ecke schlief und in der vierten meditierte er. Die Mitte der Zelle war für gymnastische Übungen wie etwa Laufen auf der Stelle vorbehalten, die er dreimal täglich absolvierte. »Für mich war auch dieses körperliche Training eine Möglichkeit, meine Würde und Selbstachtung zu bewahren.«
Täglich erhielt er eine Ration Trinkwasser, jedoch keins zum Waschen. Deshalb behielt er von dem Trinkwasser immer ein wenig zurück, um sich damit zu waschen. »Es war nicht einfach, und ich kam mehr als einmal in Versuchung, alles zu trinken. Aber ich tat es nicht und war so immer sauber, denn auch das ist für das Selbstwertgefühl sehr wichtig.«
Nach neun Monaten nutzte Sergeant Wade die Unaufmerksamkeit seiner Wachen aus und floh. Drei Tage später wurde er wieder eingefangen und in seine Zelle zurückgebracht, aber nach weniger als zwei Wochen nahmen die amerikanischen Streitkräfte den nordkoreanischen Stützpunkt ein und befreiten ihn. Er schloß damals Freundschaften, die ihn viel später, nach der Pens ionierung, zu seiner Übersiedelung in die Vereinigten Staaten bewegten.
Doch Brigadier Wade hatte Jessica noch etwas anderes beigebracht: CQB, diese spezielle Technik des waffenlosen Nahkampfs, mit der auch schwache, leichtgewichtige Personen einen bewaffneten Angreifer entwaffnen und ihn entweder blenden oder ihm einen Arm, ein Bein und, wenn nötig, auch das Genick brechen konnten. Jessica war damals eine geschickte, schnell lernende Schülerin gewesen.
Seit ihrer Ankunft als Gefangene in Peru hatten sich ihr schon mehrfach Gelegenheiten zur Anwendung dieser CQB-Technik geboten, doch hatte sie sich bis jetzt zurückgehalten, da sie wußte, daß sie bei einem zu überstürzten Handeln nur verlieren konnte. Sie wollte diese Kunst lieber geheimhalten bis zu dem Augenblick - falls der je eintrat -, da es für sie entscheidend werden konnte.
Doch eine solche Gelegenheit hatte es in Nueva Esperanza noch nicht gegeben. Es war auch nicht sehr wahrscheinlich, daß es eine geben würde.
Diese entsetzlichen ersten Minuten, nachdem sie alle drei in getrennte Käfige geworfen wurden und Jessica die Tränen in die Augen schossen, weil sie Nicky weinen hörte, waren eine Zeit der Verzweiflung und des Leids, gegen die man auch mit den besten Absichten nichts ausrichten konnte. Jessica hatte, wie die anderen, dieser Verzweiflung nachgegeben.
Aber nicht lange.
Nach etwa zehn Minuten rief Jessica leise: »Nicky, kannst du mich hören?«
Bald kam gedämpft die Antwort: »Ja, Mom.« Dann hörte Jessica, wie Nicky sich dem Gitternetz zwischen ihren Zellen näherte. Ihre Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt, sie konnten sich sehen, aber nicht berühren.
»Bist du in Ordnung?« fragte Jessica.
»Ich glaube schon.« Dann, mit zitternder Stimme: »Aber ich mag nicht hiersein.«
»Ach Liebling, ich auch nicht. Aber wir müssen durchhalten, bis wir etwas tun können. Denk immer daran, daß dein Vater und viele andere nach dir suchen.« Jessica hoffte, daß ihre Stimme aufmunternd klang.
»Ich kann dich hören, Jessie. Und dich auch, Nicky.« Es war Angus, der aus der Zelle hinter der Nickys sprach, doch seine Stimme klang schwach. »Du mußt nur immer daran glauben, daß wir alle von hier wegkommen. Und wir werden wegkommen.«
»Versuche, etwas zu schlafen, Angus.« Jessica dachte an die Prügel, die ihr Schwiegervater in der Hütte in Sion von Miguel bezogen hatte, an den zermürbenden Marsch durch den Dschungel, an Angus' Sturz, die lange Bootsfahrt und schließlich seinen Kampf hier.
Während sie sprach, war plötzlich ein Scharren von Füßen zu hören, und eine Gestalt kam aus dem Schatten auf die Zellen zu. Es war einer der Bewaffneten, die sie auf dem Marsch begleitet hatten, ein kräftiger Mann mit einem Schnurrbart, Ramon, wie sie später erfahren sollten.
Er zielte mit seiner Kalaschnikow auf Jessica und befahl: »Silencio!«
Jessica wollte protestieren, hörte aber dann Angus' leise Stimme: »Nicht, Jessica!« Sie beherrschte sich, und alle schwiegen. Nach einer Weile senkte der Mann die Waffe und kehrte zu seinem Stuhl zurück.
Es war ihr erstes Erlebnis mit einem der bewaffneten Wärter, die sich von nun an ständig in der Hütte aufhielten und sich im Vierstundenrhythmus abwechselten.
Sie fanden sehr schnell heraus, daß die Wachen nicht alle gleich streng waren. Der freundlichste war Vincente, der Mann, der Nicky auf dem Lastwagen geholfen und ihnen, auf Miguels Befehl, die Fesseln durchschnitten hatte. Er ließ sie reden, so viel sie wollten, solange sie es nur leise taten. Ramon war der strengste, er verbot jede Unterhaltung, und die anderen Wärter standen zwischen den beiden Extremen.
Wenn sie reden konnten, erzählte Jessica Nicky und Angus, was sie in dem Antiterror-Kurs gelernt hatte. Ausführlich berichtete sie von Brigadier Wades' Gefangenschaft und den Regeln, die er aufgestellt hatte. Nicky schien fasziniert von der Geschichte, wahrscheinlich lenkte sie ihn von der Monotonie und der Enge ab. Es war eine grausame Einschränkung für einen aktiven und hochintelligenten Elfjährigen, und er fragte immer wieder: »Mom, was glaubst du, was Dad gerade macht, um uns hier rauszuholen?«
Jessica versuchte immer, sehr fantasievoll zu antworten. Einmal sagte sie: »Dein Vater kennt so viele Leute, und er wird sie sicher alle um Hilfe bitten. Er hat ganz bestimmt schon mit dem Präsidenten gesprochen, der viele Leute mobilisieren kann, um uns zu suchen.«
Auch wenn das stimmte, war es doch ein Ausdruck der Eitelkeit, der Jessica unter normalen Umständen nie über die Lippen gekommen wäre. Doch solange es Nicky wieder Hoffnung gab, war das gleichgültig.
Jessica spornte die anderen an, Brigadier Wades Regeln zu befolgen, so gut es eben ging. Bei der Benutzung der provisorischen Toiletten respektierten sie jeweils die Intimsphäre des anderen, indem sie sich abwandten, wenn einer sie benutzte. Am zweiten Tag begannen sie, unter Jessicas Anleitung, mit gymnastischen Übungen.
Während der folgenden Tage entstand so ein zwar elendes, aber regelmäßiges Lebensmuster. Dreimal täglich erhielten sie eine unappetitliche, fettige Mahlzeit, vorwiegend Cassava, Reis und Nudeln. Am ersten Tag konnte Nicky das säuerlich schmeckende Fett nur mühsam hinunterwürgen, und auch Jessica hätte sich beinahe übergeben. Jeden zweiten Tag wurden die stinkenden Toilettenkübel von einer Indianerin geleert. Wenn sie überhaupt ausgewaschen wurden, dann nur oberflächlich, denn wenn die Frau sie zurückbrachte, stanken sie fast genauso schlimm wie zuvor. Trinkwasser erhielten sie in gebrauchten Limonadenflaschen, und manchmal gab es auch Schüsseln und Waschwasser. Mit Handzeichen warnten die Wachen sie davor, das schlammig braune Waschwasser zu trinken.
Nickys Stimmung war zwar nicht die beste, blieb aber zumindest stabil, und das war Jessica sehr wichtig. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, zeigte er sich erstaunlich widerstandsfähig. Jessica, die in New York im freiwilligen Sozialdienst für bedürftige Familien arbeitete, hatte festgestellt, daß Kinder mit dem Elend oft besser fertigwurden als Erwachsene. Wahrscheinlich, so dachte sie, weil Kinder weniger kompliziert und ehrlicher dachten, oder vielleicht, weil Kinder geistig erwachsen wurden, wenn sie in Not gerieten. Nicky auf jeden Fall wurde, aus welchem Grund auch immer, ganz offensichtlich mit der Situation fertig.
Er versuchte, sich mit den Wachen zu unterhalten. Nickys Spanisch war zwar nur sehr rudimentär, doch wenn seine Gesprächspartner Geduld und Bereitschaft zeigten, gelang es ihm, einiges zu erfahren. Vincente war ihm am zugewandtesten.
Von Vincente erfuhren sie auch von der bevorstehenden Abreise des »Doktors«, also vermutlich des Mannes, den Jessica Narbengesicht nannte. Er gehe »heim nach Lima«, erzählte Vincente. Doch die »Krankenschwester« bleibe, und damit meinte er die Frau mit dem mürrischen Gesicht, die sie unter dem Namen Socorro kannten.
Sie unterhielten sich darüber, warum Vincente anders und offenbar freundlicher war als die restlichen Wachen. Doch Jessica warnte Nicky und Angus vor zuviel Zutrauen. »So anders ist der gar nicht. Vincente ist immer noch einer von denen, die uns hierhergebracht haben und uns gefangenhalten -das dürfen wir nie vergessen. Aber er ist nicht so gemein und rücksichtslos wie die anderen, und deshalb wirkt er im Vergleich freundlicher.«
Es gab noch einige andere Aspekte dieses Themas, über die Jessica gern gesprochen hätte, aber sie beschloß, sich das für später aufzuheben. Im Augenblick fügte sie nur hinzu: »Aber weil Vincente nun mal so ist, sollten wir es zu unserem Vorteil ausnutzen.«
Auf Jessicas Anregung fragte Nicky Vincente, ob die Gefangenen ihre Zellen verlassen und an die Luft gehen dürften. Vincente schüttelte nur den Kopf, doch es war nicht klar, ob das nein hieß oder ob er die Frage nicht verstanden hatte. Jessica blieb beharrlich und ließ Nicky fragen, ob Vincente Socorro die Nachricht überbringen könne, daß die Gefangenen sie sehen wollten. Nicky tat sein möglichstes, doch ein erneutes Kopfschütteln ließ wenig Hoffnung, daß die Nachricht
überbracht würde.
Nickys relativer Erfolg mit der Sprache überraschte Jessica, da er erst seit wenigen Wochen in der Schule Spanischunterricht hatte. Als sie es erwähnte, erzählte Nicky, daß zwei seiner Freunde kubanische Immigranten seien, die im Pausenhof immer Spanisch redeten. »Ein paar von uns hören zu, und wir schnappen einiges auf...« Nicky unterbrach sich und kicherte. »Das wird dir zwar gar nicht gefallen, Mom, aber die kennen alle schmutzigen Wörter. Und die haben sie uns beigebracht.«
Angus, der zugehört hatte, fragte nun: »Hast du auch ein paar richtig gemeine Schimpfwörter gelernt?«
»Aber klar doch, Gramps.«
»Bringst du sie mir bei? Damit ich sie den Kerlen hier an den Kopf werfen kann, wenn's nötig ist.«
»Ich glaube, Mom hat da etwas dagegen.«
»Mach' nur«, sagte Jessica. »Ich hab' nichts dagegen.« Nickys Lachen war wunderbar gewesen.
»Also gut, Gramps. Wenn du zu jemand so richtig gemein sein willst, sagst du...« Nicky ging zur gegenüberliegenden Zellenwand und tuschelte durch das Maschengitter hindurch mit seinem Großvater.
Auf diese Weise hatten sie einen neuen Zeitvertreib gefunden, dachte Jessica.
Später an diesem Tag kam Socorro, sie hatte die Nachricht also doch erhalten.
Ihr schlanker, geschmeidiger Körper zeichnete sich als Silhouette unter der Tür ab. Sie musterte die drei Zellen und rümpfte über den durchdringenden Gestank die Nase.
Ohne langes Zögern sprach Jessica sie an. »Socorro, wir wissen, daß Sie Krankenschwester sind. Deshalb haben Sie uns die Fesseln abnehmen lassen und uns die Schokolade gegeben.«
»Keine Krankenschwester, nur Schwesternhelferin«, erwiderte Socorro mürrisch. Mit verkniffenen Lippen näherte sie sich den Zellen.
»Das ist gleichgültig, zumindest hier«, sagte Jessica. »Da der Doktor geht, sind Sie die einzige, die über Medizin Bescheid weiß.«
»Kommen Sie mir bloß nicht so, ich werde Ihnen nicht helfen. Sie wollten mich sehen. Warum?«
»Weil Sie schon einmal gezeigt haben, daß Sie um unser Leben und unsere Gesundheit besorgt sind. Aber wenn wir nicht einmal an die Luft kommen, werden wir alle krank.«
»Ihr müßt in der Hütte bleiben. Sie wollen nicht, daß man euch sieht.«
»Warum nicht? Und wer ist >sie«
»Das geht Sie nichts an, Sie haben nicht das Recht, Fragen zu stellen.«
»Ich habe das Recht einer Mutter, mich um meinen Sohn zu kümmern«, fuhr Jessica sie an. »Und mein Schwiegervater ist alt und wurde sehr brutal behandelt.«
»Das geschah ihm recht. Er redet zu viel. Und Sie auch.«
Jessica spürte, daß Socorros Feindseligkeit über weite Strecken nur aufgesetzt war. Sie versuchte es mit einem Kompliment. »Ihr Englisch ist hervorragend. Sie müssen lange in Amerika gelebt haben.«
»Das geht Sie...« Socorro unterbrach sich und zuckte mit den Schultern. »Drei Jahre. Ich hasse Amerika. Es ist ein ekelhaftes, korruptes Land.«
»Ich glaube nicht, daß Sie das wirklich denken«, erwiderte Jessica leise. »Ich glaube, man hat Sie gut behandelt, und jetzt haben Sie Schwierigkeiten, uns zu hassen.«
»Glauben Sie doch, was Sie wollen«, fauchte Socorro und ging weg. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ich werde versuchen, hier etwas zu lüften.« Ihre Lippen zuckten, es sah beinahe aus wie ein Lächeln. »Es ist gesünder für die Wachen.«
Am nächsten Tag kamen zwei Männer mit Werkzeugen. Sie schnitten Fenster aus der Wand gegenüber den Zellen. Das Halbdunkel wich dem Tageslicht, und nun konnten sich die drei Gefangenen untereinander und auch die Wächter klar sehen. Es entstand auch ein Luftzug, der den Gestank zwar nicht ganz vertrieb, aber doch beträchtlich minderte.
Diese Fenster waren ein Sieg für Jessica und auch, dachte sie, ein Hinweis darauf, daß Socorro unter der Oberfläche gar nicht so feindselig war, wie sie wirkte - eine Schwäche, die man später vielleicht noch nachhaltiger ausnutzen konnte.
Aber dieser Licht-und-Luft-Erfolg war nur ein kleiner Sieg, und es sollte sich zeigen, daß sie noch viel schlimmere Qualen würden ertragen müssen. Eine davon wurde bereits vorbereitet, ohne daß Jessica es ahnte.
12
Sechs Tage nach der Ankunft in Nueva Esperanza erhielt Miguel eine Reihe von schriftlichen Befehlen vom Sendero Luminoso aus Ayacucho. Überbracht wurden sie von einem Boten in einem Lastwagen, der für die fünfhundert Meilen zwei Tage brauchte und eine mörderische Fahrt über gefährliche Bergpässe und sumpfige Dschungelpisten hinter sich hatte. Neben den Befehlen brachte er auch einige spezielle Geräte.
Die wichtigste Instruktion betraf die Aufnahme einer Videocassette mit der gefangenen Frau. Der Text, den sie sprechen sollte, wurde mitgeliefert. Abweichungen oder Änderungen waren verboten. Miguel selbst sollte die Aufnahme überwachen.
Eine weitere Instruktion bestätigte den Abschluß von Baudelios Einsatz. Er sollte mit dem Boten im Lastwagen nach Ayacucho fahren und von dort nach Lima weiterfliegen. Einige Tage später würde der Lastwagen mit weiterem Nachschub nach Nueva Esperanza zurückkehren und die Videocassette abholen.
Die Nachricht, daß Baudelio nach Lima zurückkehren konnte, kam zwar nicht unerwartet, war Miguel aber dennoch nicht recht. Zum einen wußte der Arzt zu viel. Zum anderen würde er sicher wieder anfangen zu trinken, und Schnaps lockerte die Zunge. Wenn also Baudelio frei herumlief, war das eine Gefahr nicht nur für die Sicherheit ihrer kleinen Garnison, sondern auch, was Miguel wichtiger war, für seine eigene.
Unter anderen Umständen hätte Miguel Baudelio zu einem Dschungelspaziergang gezwungen, von dem nur er allein zurückkehren würde. Doch so skrupellos der Sendero Luminoso in vieler Hinsicht war, wenn ein Außenseiter die eigenen Leute tötete, konnte man sehr ungehalten werden.
Miguel gab deshalb dem Boten eine eindringlich formulierte Nachricht mit, in der er vor der Gefahr, die Baudelio darstellte, warnte. Die Organisation sollte dann ihre eigene Entscheidung treffen. Miguel war sich ziemlich sicher, wie sie ausfallen würde.
Über einen Befehl freute er sich besonders. Es war der Auftrag, »die drei Geiseln bei guter Gesundheit zu halten, bis neue Befehle eintreffen«. Der Hinweis auf die »drei Geiseln« bedeutete, daß der Führungsstab vom Sendero Luminoso Miguels Entscheidung, den alten Mann mitzunehmen, nachträglich abgesegnet hatte, obwohl das ursprünglich nicht geplant gewesen war.
Miguel wandte sich nun der Videoausrüstung zu, die er aus Ayacucho bekommen hatte. Sie bestand aus einem Sony Camcorder mit Cassetten, einem Stativ, einem Scheinwerfer und einem tragbaren 110-Volt-Generator mit Benzinmotor. Die Geräte waren für Miguel kein Problem, denn er hatte schon öfters Videoaufnahmen von Entführungsopfern gemacht.
Er ahnte aber, daß er Hilfe und einige strenge Maßnahmen benötigte, um die Frau gefügig zu machen, denn er befürchtete, daß sie ihm Schwierigkeiten bereiten würde. Miguel entschied sich schließlich für Gustavo und Ramon als Hilfskräfte, weil er wußte, daß sie hart mit den Gefangenen umsprangen und sich nicht zierten, wenn er von ihnen Brutalitäten verlangte.
Miguel hatte vor, gleich am nächsten Morgen mit der Aufnahme zu beginnen.
Sobald Jessica genug Tageslicht hatte, machte sie sich an die Arbeit.
Bald nach dem Aufwachen in Peru hatten sie alle drei bemerkt, daß man ihnen die Taschen geleert und fast alles weggenommen hatte, auch das Geld, das sie bei sich trugen. Jessicas Handtasche war ebenfalls verschwunden. Zu den wenigen Dingen, die man ihnen gelassen hatte, gehörten einige Büroklammern, Jessicas Kamm und ein kleines Notizbuch aus Angus' Gesäßtasche, das man offensichtlich übersehen hatte. Im Futter von Nickys Jacke fand sich noch ein Kugelschreiber, der durch ein Loch in der Innentasche gerutscht und deshalb nicht entdeckt worden war.
Auf Jessicas Betreiben wurden Notizbuch und Kugelschreiber sorgfältig versteckt und nur benutzt, wenn die weniger strengen Wachen Dienst hatten.
Am Tag zuvor hatte Jessica sich Angus' Notizbuch und Nickys Kugelschreiber ausgeliehen. Da die beiden wegen der Gitternetze die Sachen nicht selber in Jessicas Zelle hinüberreichen konnten, hatte Vincente, der zu dieser Zeit Dienst hatte, sie freundlicherweise eingesammelt und ihr gegeben.
Jessica hatte vor, von allen an der Entführung Beteiligten Skizzen zu machen, solange sie deren Gesichter noch deutlich in Erinnerung hatte. Sie war zwar keine perfekte Künstlerin, aber doch ein geschickter Amateur, und sie war sicher, daß die Gesichter auf den Zeichnungen wiedererkennbar sein würden, falls sie sie später zur Identifizierung der Verbrecher brauchen sollte.
Die erste Zeichnung, die sie am Tag zuvor begonnen hatte und an der sie auch jetzt noch arbeitete, zeigte den großen Mann mit den schütteren Haaren und dem bestimmten Auftreten, den sie gleich nach dem Aufwachen in der dunklen Hütte bemerkt hatte. Trotz ihrer Benommenheit zu diesem Zeitpunkt konnte sie sich an ihr verzweifeltes Flehen um Hilfe noch gut erinnern. Und es war ihr auch noch klar und deutlich im Gedächtnis, daß der Mann sehr überrascht auf ihre Bitte reagiert hatte. Unternommen hatte er jedoch nichts, das war inzwischen klar.
Wer war er? Was hatte er in dieser Hütte zu suchen? Irgendwie mußte er in die Entführung verwickelt sein. Jessica hielt ihn für einen Amerikaner. Aber auch wenn er es nicht war, hoffte sie doch, daß ihre Zeichnung die Fahndung nach ihm erleichtern würde.
Als Jessica schließlich den Stift weglegte, hatte sie ein recht brauchbares Porträt des Learjetpiloten Captain Denis Underhill gezeichnet.
Bei dem Geräusch von Schritten vor der Tür faltete Jessica die Zeichnung hastig zusammen und stopfte sie sich in den BH, das erste Versteck, das ihr spontan einfiel. Notizbuch und Kugelschreiber schob sie unter die dünne Matratze ihres Betts.
Im nächsten Augenblick standen Miguel, Gustavo und Ramon in der Hütte. Sie trugen Geräte, die Jessica sofort erkannte. »O nein«, rief sie Miguel zu. »Das brauchen Sie gar nicht aufzubauen. Wir werden uns nicht filmen lassen.«
Miguel achtete nicht auf sie. Bedächtig schraubte er den Camcorder auf das Stativ, stellte den Scheinwerfer auf und schloß ihn an ein Verlängerungskabel an. Das Kabel lief nach draußen, von wo nun auch das Geräusch des startenden Generators kam. Augenblicke später war die Mitte der Zelle, wo vor der Kamera ein leerer Stuhl stand, hell erleuchtet.
Miguel kam seelenruhig auf Jessicas Käfig zu. Seine Stimme klang kalt und hart. »Du Schlampe wirst genau das tun, was ich dir sage, und wann ich es sage.« Er gab ihr drei Seiten mit handschriftlichem Text. »Du wirst das aufsagen - genau das und nicht mehr, und ohne ein Wort zu ändern.«
Jessica nahm die Seiten, überflog sie und zerriß sie in kleine Fetzen, die sie durch die Gitterstäbe hinauswarf. »Ich habe doch gesagt, daß ich es nicht tue, und daran hat sich nichts geändert.«
Miguel reagierte nicht auf sie, sondern sah nur Gustavo an, der in der Nähe wartete. »Hol dir den Jungen.«
Trotz der Entschlossenheit, die Jessica eben noch gezeigt hatte, lief ihr nun ein Schauer der Angst über den Rücken.
Sie mußte zusehen, wie Gustavo das Vorhängeschloß an Nickys Zelle öffnete und hineinging. Er packte Nicky an Schulter und Arm, drehte ihm den Arm auf den Rücken und warf ihn aus der Zelle.
Jessica war außer sich vor Angst, der Schweiß stand ihr auf der Stirn. »Was macht ihr mit ihm?« fragte sie die Männer.
Doch keiner antwortete.
Statt dessen brachte Ramon nun aus einer anderen Ecke der Hütte den Stuhl, auf dem sonst die Wachen saßen. Gustavo stieß Nicky auf den Stuhl, und die beiden Männer fesselten ihn. Bevor Gustavo Nickys Arme am Stuhl festband, knöpfte er ihm das Hemd auf und entblößte seine schmale Brust. Ramon zündete sich unterdessen eine Zigarette an.
Jessica, die sich nur zu gut vorstellen konnte, was nun kommen würde, rief Miguel zu: »Warten Sie! Vielleicht war ich zu voreilig. Bitte warten Sie! Wir können doch darüber reden!«
Miguel antwortete nicht. Er bückte sich und hob einige der Fetzen auf, die Jessica auf den Boden geworfen hatte. »Das waren drei Seiten«, sagte er. »Ich habe mir schon gedacht, daß so etwas passieren würde und dir deshalb nur eine Kopie gegeben. Aber die Zahl drei hast du uns damit vorgegeben.«
Er sah Ramon an und hielt drei Finger in die Höhe. »Quemelo bien... tres veces.«
Ramon zog an der Zigarette, bis das Ende rot aufglühte. Dann nahm er sie entschlossen und mit einer schnellen Bewegung aus dem Mund und drückte die Glut Nicky auf die Brust. Im ersten Augenblick war der Junge so überrascht, daß er keinen Ton über die Lippen brachte. Doch als er den entsetzlichen, brennenden Schmerz spürte, schrie er auf.
Auch Jessica schrie - wild und unzusammenhängend brach es aus ihr heraus, sie flehte Miguel unter Tränen an, er solle mit der Quälerei aufhören, denn sie werde alles tun, was er von ihr verlange. »Alles! Alles! Egal was. Sagen Sie mir nur, was Sie wollen. Aber hören Sie auf. Bitte, hören Sie auf!«
Angus trommelte mit den Fäusten gegen das Maschengitter seiner Zelle und schrie ebenfalls. Das meiste ging in dem übrigen Lärm unter, doch ein paar seiner Worte waren zu verstehen. »Ihr elenden Schweine! Feiglinge! Ihr seid Tiere, keine Menschen!«
Ramon sah und hörte zu, ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. Dann steckte er sich die Zigarette wieder in den Mund und zog fest daran, bis die Glut wieder aufleuchtete. Schließlich drückte er das rote Ende ein zweites Mal auf Nickys Brust. Nicky schrie immer lauter, während Ramon ein drittes Mal an der Zigarette zog und die Tortur wiederholte. Nun begleitete der Geruch von versengter Haut die Schreie und das verzweifelte Weinen des Jungen.
Miguel blieb kühl und gelassen, als wäre ihm die ganze Sache vollkommen gleichgültig.
Nach dem dritten Mal wartete er, bis sich der Lärm etwas gelegt hatte, und sagte dann zu Jessica: »Du setzt dich jetzt vor die Kamera und fängst an zu reden, wenn ich es dir sage. Ich habe den Text auf Kartons geschrieben. Es ist der gleiche wie der, den du gelesen hast. Die Kartons werden hochgehalten, und du liest Wort für Wort ab. Verstanden?«
»Ja«, erwiderte Jessica wie betäubt. »Ich habe verstanden.«
Als Miguel hörte, wie brüchig und trocken ihre Stimme klang, befahl er Gustavo: »Gib ihr Wasser.«
»Ich brauche keins«, protestierte Jessica. »Um Nicky muß man sich kümmern - er braucht etwas für die Brandwunden. Socorro weiß...«
»Halt den Mund!« fauchte Miguel. »Wenn du weiter Schwierigkeiten machst, wird der Junge wieder leiden. Er bleibt, wo er ist. Und du wirst jetzt gehorchen!« Er warf dem wimmernden Nicky einen bösen Blick zu. »Und du halt auch den Rand!« Miguel wandte sich um. »Ramon, halt den Stengel bereit!«
Ramon nickte. »Si, jefe.« Er zog an der Zigarette, bis sie wieder glühte.
Jessica schloß die Augen. Ihre Halsstarrigkeit war schuld, daß es so weit gekommen war. Vielleicht würde Nicky ihr das nie verzeihen. Um ihn wenigstens jetzt zu schützen, mußte sie sich auf das konzentrieren, was zu tun war, sie mußte es ohne Fehler zu Ende bringen.
Zu Hause in Larchmont, an dem Abend vor der Entführung, hatte Crawf ihr noch von bestimmten Signalen erzählt, die eine Geisel heimlich bei einer Videoaufzeichnung übermitteln konnte. Wichtig war nur, daß jemand diese Signale kannte und sie interpretieren konnte. Crawf war davon ausgegangen, daß man ihn eines Tages entführen und zu einer solchen Videoaufnahme zwingen könnte. Doch nun war Jessica in dieser Lage - daran hätten die beiden nicht im Traum gedacht -, und sie versuchte, sich an die Signale zu erinnern, da sie wußte, daß Crawf die Aufzeichnung mit Sicherheit sehen würde... Wie waren die Zeichen gleich wieder?
Sie rief sich das Gespräch in Erinnerung... Sie hatte schon immer ein gutes Gedächtnis besessen... Crawf hatte gesagt: »Wenn ich mir mit der Zunge über die Lippen lecke, was man ja leicht unbeobachtet tun kann, heißt das: >Ich mache das gegen meinen Willen. Glaubt kein Wort von dem, was ich sage.< Wenn ich mich am rechten Ohr kratze, heißt das: Meine Entführer sind gut organisiert und schwer bewaffnet.< Wenn es das linke Ohr ist, heißt es: >Die Bewachung hier ist eher nachlässig. Ein Angriff von außen könnte Erfolg haben.<«... Es gäbe noch andere Signale, hatte Crawf gesagt, aber sie nicht näher beschrieben. Also mußten diese drei - oder genauer zwei, da sie ja nur ein Ohrläppchensignal benutzen konnte - genügen.
Gustavo öffnete Jessicas Zelle und winkte sie heraus.
Sie wollte sofort zu Nicky laufen, doch Miguel warf ihr einen finsteren Blick zu, und Ramon, der sie ebenfalls beobachtete, hatte sich eine neue Zigarette angezündet. Jessica blieb stehen, wechselte einen Blick mit Nicky und wußte, daß er verstand. Dann ließ sie sich von Gustavo zu dem Stuhl vor der Kamera führen. Gehorsam trank sie das Wasser, das er ihr gab.
Die Erklärung, die sie lesen sollte, stand in großen Buchstaben auf zwei Kartons, die Gustavo nun hochhielt. Miguel stand hinter dem Camcorder und hatte das Auge am Sucher. »Fang' an, wenn ich die Hand sinken lasse!« befahl er.
Auf das Signal hin begann Jessica. Sie versuchte, ihre Stimme neutral klingen zu lassen. »Wir werden hier gut behandelt. Man hat uns erklärt, warum wir entführt wurden, und wir verstehen nun, daß es notwendig war. Wir wissen auch, daß die Bedingungen, die für unsere sichere Rückkehr gestellt werden, von unseren amerikanischen Freunden sehr leicht zu erfüllen sind. Als Gegenleistung für unsere Freilassung...«
»Stop!«
Miguels Gesicht war rot vor Wut.
»Du Miststück! Du liest das ab wie einen Einkaufszettel -ohne jeden Ausdruck. Du willst mich übers Ohr hauen und es unglaubwürdig klingen lassen, so als hätte man dich dazu gezwungen... «
»Aber Sie zwingen mich doch!« Einen Augenblick später bereute Jessica diese Trotzigkeit.
Auf ein Zeichen von Miguel hielt Ramon Nicky erneut die brennende Zigarette an die Brust. Nicky schrie wieder auf.
Jessica wurde fast wahnsinnig bei dem Schrei; sie sprang auf und flehte: »Nein! Nicht mehr! Ich mach' es besser!... So wie Sie wollen!... Ich verspreche es!«
Zu ihrer Erleichterung beließ es Ramon bei dem einen Mal. Miguel legte eine neue Cassette ein und winkte Jessica in den Stuhl zurück. Wieder gab Gustavo ihr Wasser. Augenblicke später begann sie von neuem.
Sie nahm sich zusammen und versuchte, die Einleitungssätze so überzeugend wie möglich klingen zu lassen. Dann fuhr sie fort: »Als Gegenleistung für unsere Freilassung sind die Anweisungen, die dieser Aufnahme beiliegen, schnell und Punkt für Punkt zu befolgen...«
Gleich nach dem Wort »befolgen« befeuchtete Jessica sich die Lippen mit der Zunge. Sie wußte, daß es ein Risiko war, nicht nur für sie selbst, sondern auch für Nicky, aber sie hoffte, daß es natürlich aussehen und so von keinem bemerkt würde. Daß niemand etwas sagte, schien ihr recht zu geben, und sie hatte nun Crawf und den anderen mitgeteilt, daß sie die Botschaft gegen ihren Willen vortrug. Trotz allem, was geschehen war, spürte sie eine gewisse Befriedigung, während sie weiter von den Kartons ablas, die Gustavo hochhielt.
»... aber seid euch über eines im klaren: Wenn ihr diese Instruktionen nicht befolgt, werdet ihr keinen von uns je wiedersehen. Wir flehen euch an, laßt das nicht geschehen...«
Wie lauteten diese Instruktionen? Wie sahen die Gegenleistungen aus, die die Entführer für ihre Freilassung verlangten? Jessica hütete sich, diese Fragen laut zu stellen. Sie hatte nur noch wenig Zeit und mußte sich überlegen, welches zweite Signal sie verwenden sollte. Das linke Ohrläppchen oder das rechte? Welches?
Die Leute hier waren zwar bewaffnet und wahrscheinlich gut organisiert, aber die Bewachung wurde manchmal trotzdem vernachlässigt. Nachts schliefen die Wachen oft ein, man konnte sie schnarchen hören... Jessica traf eine Entscheidung und kratzte sich beiläufig am linken Ohr. Geschafft! Keiner hatte es bemerkt! Erleichtert las sie den Text zu Ende.
»Wir warten, wir zählen auf euch und hoffen verzweifelt, daß ihr die richtige Entscheidung trefft und... «
Augenblicke später war es vorbei. Während Jessica beruhigt die Augen schloß, schaltete Miguel den Schweinwerfer aus und lächelte zufrieden.
Es dauerte eine ganze Stunde, bis Socorro endlich kam, eine Stunde des Schmerzes für Nicky und der Angst für Jessica, die Nicky auf seiner Pritsche leise stöhnen hörte, aber nicht zu ihm konnte. Mit Worten und mit Gesten hatte sie die diensthabende Wache angefleht, sie zu Nicky in die Zelle zu lassen, und es war deutlich, daß der Mann, obwohl er kein Englisch sprach, sehr wohl verstand, was sie wollte. Aber er hatte nur den Kopf geschüttelt und immer wieder gesagt: »No se permite.«
Entsetzliche Schuldgefühle überfielen Jessica. Durch das Maschengitter sagte sie zu Nicky: »Ach Liebling, es tut mir so furchtbar leid. Wenn ich gewußt hätte, was sie dir antun, hätte ich diese Aufnahme sofort gemacht. Ich hätte nie geglaubt...«
»Mach dir keine Sorgen, Mom.« Trotz seiner Schmerzen versuchte Nicky, sie zu beruhigen. »Du konntest ja nichts dafür.«
»Das hätte keiner geglaubt, daß diese Wilden zu so etwas fähig wären«, kam Angus' Stimme aus der hinteren Zelle. »Tut's noch sehr weh, alter Junge?«
»Ziemlich.«
Wieder flehte Jessica die Wache an: »Holen Sie Socorro! Die Krankenschwester! Sie verstehen? Socorro!«
Doch der Mann reagierte nicht. Er saß auf seinem Stuhl, las ein Comic-Heft und sah nicht auf. Schließlich kam Socorro doch, wie es schien, aus eigener Entscheidung.
»Bitte helfen Sie Nicky«, bat Jessica. »Ihre Freunde haben ihm Brandwunden zugefügt.«
»Er hat es wahrscheinlich verdient.« Socorro ließ sich von der Wache Nickys Zelle aufschließen und ging hinein. Als sie die vier versengten Stellen sah, schnalzte sie leise mit der Zunge, drehte sich um und verließ die Zelle. Die Wache sah ihr nach.
»Kommen Sie wieder?« rief Jessica ihr nach.
Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Socorro wieder nur eine barsche Antwort geben. Doch dann nickte sie knapp und ging. Wenige Minuten später kehrte sie mit einer Schüssel, einem Krug Wasser und gefalteten Tüchern und Kompressen zurück.
Jessica sah durch das Maschengitter zu, wie Socorro vorsichtig die Wunden mit Wasser auswusch. Nicky zuckte dabei zusammen, doch er schrie nicht. Socorro trocknete die Stellen mit einem Tuch und legte Kompressen darüber, die sie mit Heftpflaster befestigte.
»Danke«, sagte Jessica erschöpft. »Sie machen das sehr gut. Darf ich fragen... «
»Es sind Verbrennungen zweiten Grades, sie werden heilen. In ein paar Tagen nehme ich den Verband wieder ab.«
»Können Sie etwas gegen die Schmerzen tun?«
»Das hier ist kein Krankenhaus. Er muß sie ertragen.« Socorro wandte sich Nicky zu, ihre Stimme klang gereizt, sie lächelte nicht. »Heute mußt du still liegenbleiben, Junge. Morgen tut's dann schon nicht mehr so weh.«
Jessica versuchte es mit einer letzten Bitte. »Darf ich zu ihm, bitte? Er ist doch erst elf, und ich bin seine Mutter. Können wir denn nicht Zusammensein, wenigstens die nächsten paar Stunden?«
»Ich habe Miguel gefragt. Aber er sagt nein.« Sekunden später war Socorro verschwunden.
Nach einer Weile sagte Angus leise. »Wenn ich nur etwas für dich tun könnte, Nicky. Das Leben ist ungerecht. Du hast das alles nicht verdient.«
Eine Pause. Und dann: »Gramps?«
»Ja, mein Sohn?«
»Es gibt schon etwas.«
»Das ich tun kann? Was denn?«
»Erzähl mir von diesen alten Liedern. Und sing mir eins vor.«
Angus traten die Tränen in die Augen. Für diese Bitte brauchte es keine Erklärung.
Alles, was mit Liedern und Musik zu tun hatte, faszinierte Nicky, und an manchen Sommerabenden in dem Haus am See, das die Sloanes in der Nähe von Johnstown in Upstate New York besaßen, saßen Großvater und Enkel beieinander und hörten Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg, die damals Angus und anderen seiner Generation in schwierigen Zeiten Trost gespendet hatten. Nicky konnte nie genug davon bekommen, und Angus versuchte nun, sich Worte und Sätze ins Gedächtnis zu rufen, die er früher schon zu Nicky gesagt hatte. »Wir Flieger hüteten unsere achtundsiebziger Platten wie unseren Augapfel... Diese Achtundsiebziger gibt's schon lange nicht mehr... Ich wette, du hast noch nie eine gesehen... «
»Einmal schon. Der Vater von einem Freund von mir hat welche.«
Angus lächelte. Beide wußten, daß ein ähnlicher Dialog schon vor einigen Monaten stattgefunden hatte.
»Na, auf jeden Fall nahmen wir diese Platten von Stützpunkt zu Stützpunkt mit, und weil sie so zerbrechlich waren, vertraute keiner sie einem anderen an. Aus jedem BOQ - so hießen die Quartiere für die ledigen Offiziere - drang die Musik der Bigbands: Benny Goodman, Tommy Dorsey, Glenn Miller. Und die Sänger waren der junge Frank Sinatra, Ray Eberle, Dick Haymes. Wir haben deren Lieder gehört und sie unter der Dusche nachgesungen.«
»Sing' eins, Gramps.«
»Mein Gott, ich weiß nicht, ob ich das noch kann. Meine Stimme wird langsam alt.«
»Versuch's, Angus!« drängte ihn Jessica. »Wenn ich kann, sing' ich mit.«
Er suchte in seiner Erinnerung. Welches Lied hatte Nicky immer ganz besonders gemocht? Dann fiel es ihm ein - ja, das war es. Er holte Atem und begann, doch nicht ohne zuvor der Wache einen flüchtigen Blick zuzuwerfen, weil er sich fragte, ob der Mann auf dem Schweigegebot bestehen würde.
Früher hatte Angus eine gute Singstimme besessen, doch nun war sie abgenutzt und zittrig wie er selber auch. Aber den Text hatte er noch deutlich in Erinnerung...
I'll be seeing you
In all the old familiar places
That this heart of mine embraces all day thru...
Jessica stimmte mit ein, die Worte tauchten plötzlich in ihrem Gedächtnis auf. Einen Augenblick später kam auch Nickys junger Tenor mit dazu.
In a small cafe,
The park across the way,
The children's carousel,
The chestnut trees, the wishing well.
I'll be seeing you
In ev'ry lovely summer's day,
In everything that's light andgay,
I'll always think of you that way
I'll find you in the morning sun;
And when the night is new,
I'll be looking at the moon
But I'll be seeing you!
Die Jahre fielen von Angus ab. Jessica faßte wieder Mut. Und Nicky vergaß seine Schmerzen.
13
Als Harry Partridge am Mittwochnachmittag seine Entscheidung, gleich am nächsten Morgen nach Peru zu fliegen, bekanntgab, verfiel die Spezialeinheit von CBA News in hektische Betriebsamkeit.
Partridges zweite Entscheidung - sechsunddreißig Stunden nach seinem Abflug mit sämtlichen Informationen an die Öffentlichkeit zu gehen - hatte eine ganze Reihe von Konferenzen und Beratungen zur Folge, in denen ein Prioriätenprogramm für die nächsten drei Tage aufgestellt wurde.
Zuallererst mußte noch in dieser Nacht ein Bericht für die Freitagssendung der National Evening News geschrieben und teilweise auch aufgenommen werden, ein Bericht, den Partridge noch selbst moderieren wollte. Er sollte alles enthalten, was bis jetzt über die Sloane-Entführung bekannt war, also auch die letzten Informationen über Peru und den Sendero Luminoso; über die Rolle des Terroristen Ulises Rodriguez als vermutlichen Anführer; über die Särge und den Leichenbestatter Alberto Godoy; über die American-Amazonas Bank und den mysteriösen Tod von Helga Efferen und Jose Antonio Salaverry.
Doch vor Beginn all dieser Vorbereitungen suchte Harry Partridge Crawford Sloane in dessen Büro im dritten Stock auf. Denn Partridge war noch immer der Überzeugung, daß Sloane einer der ersten sein sollte, die von neuen Entwicklungen oder Plänen erfuhren.
Seit der Entführung vor dreizehn Tagen hatte Crawford Sloane weitergearbeitet, obwohl man manchmal den Eindruck hatte, er würde nur die Zeit absitzen, ohne mit Herz und Verstand bei der Arbeit zu sein. An diesem Tag sah er noch eingefallener aus als sonst, seine Augen wirkten müde und die Falten in seinem Gesicht noch tiefer als vor ein paar Tagen. Er unterhielt sich gerade mit einer Texterin und einem Produzenten und blickte auf, als Partridge erschien. »Du willst mit mir reden, Harry?«
Als Partridge nickte, bat Sloane die anderen beiden: »Laßt uns doch bitte alleine. Wir besprechen das dann später.«
Sloane winkte Partridge zu einem Stuhl. »Du machst ein ernstes Gesicht. Schlechte Nachrichten?«
»Ich fürchte ja. Wir haben herausgefunden, daß deine Familie nicht mehr im Land ist. Sie werden in Peru gefangengehalten.«
Sloane beugte sich vor, er stützte die Ellbogen auf den Tisch und, strich sich mit den Händen über das Gesicht, bevor er erwiderte: »Ich habe so etwas schon erwartet - genauer gesagt, befürchtet. Weißt du, wer sie gefangenhält?«
»Wir glauben der Sendero Luminoso.«
»O Gott! Nicht diese Fanatiker!«
»Ich fliege morgen nach Lima, Crawf.«
»Ich komme mit!«
Partridge schüttelte den Kopf. »Wir wissen beide, daß das nicht geht; es würde nicht funktionieren. Außerdem würde es der Sender nie erlauben.«
Sloane seufzte, sagte aber nichts dagegen. Dann fragte er: »Haben wir schon irgendeine Vorstellung, was diese Gangster verlangen?«
»Noch nicht. Aber ich bin sicher, daß wir bald von ihnen hören werden.« Nach kurzem Schweigen sagte Partridge: »Ich habe für fünf Uhr eine Konferenz der Spezialeinheit angesetzt. Ich dachte mir, daß du vielleicht gern dabei wärst. Danach werden die meisten von uns die Nacht durcharbeiten.« Er berichtete nun von den Entwicklungen des Tages und von der Entscheidung, am Freitag mit sämtlichen Informationen an die
Öffentlichkeit zu gehen.
»Ich komme zu der Konferenz«, sagte Sloane. »Und vielen Dank.« Und als Partridge aufstand: »Mußt du gleich wieder gehen?«
Partridge zögerte. Er hatte viel zu tun und nur sehr wenig Zeit, aber er spürte, daß Crawf gern mit ihm gesprochen hätte. Er zuckte die Achseln: »Na, ein paar Minuten machen wahrscheinlich auch nichts aus.«
Nach einer Pause begann Sloane verlegen: »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll, und ob ich es überhaupt sagen sollte. Aber in einer solchen Zeit denkt man über eine Menge Dinge nach.« Partridge wartete und fragte sich, worauf Sloane hinauswollte. »Und da habe ich mir eben überlegt, was du für Jessica noch empfinden magst. Schließlich habt ihr euch vor Jahren ja sehr nahegestanden.«
Das war es also: Ein heimlicher Gedanke, der nun endlich zur Sprache kam. Partridge überlegte sich genau, was er sagte, denn er wußte, daß dies ein entscheidender Augenblick war. »Ja, ich mag sie sehr gern, zum Teil auch, weil wir - wie du es nennst -uns vor Jahren sehr nahegestanden haben. Aber vor allem mag ich sie, weil sie deine Frau und du mein Freund bist. Was je zwischen Jessica und mir existierte, war an dem Tag zu Ende, als sie dich heiratete.«
»Wahrscheinlich sage ich das jetzt nur, weil diese furchtbare Sache passiert ist, aber Gedanken darüber habe ich mir schon oft gemacht.«
»Das weiß ich, Crawf, und es gab Zeiten, da wollte ich dir das schon sagen, was ich dir erst jetzt gesagt habe, und auch, daß ich dir nie böse war, weder wegen Jessica noch wegen deiner Karriere als Moderator. Es gab keinen Grund dafür. Aber ich hatte immer das Gefühl, du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir sage.«
»Da hast du wahrscheinlich recht.« Sloane hielt inne und überlegte. »Aber falls es dich interessiert, Harry, jetzt glaube ich dir.«
Partridge nickte. Er mußte gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich werde in Lima Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Das ist mein Ernst, Crawf.«
Partridge hatte vor Sloanes Büro den FBI-Agenten Otis Havelock vermißt, dessen Anwesenheit in der ersten Woche nach der Entführung so überdeutlich zu spüren gewesen war. Als er nun Chuck Insen am Hufeisen über die Konferenz der Spezialeinheit informierte, fragte er auch nach dem FBI-Mann.
»Er zeigt sich immer noch ziemlich häufig«, sagte der Studioleiter, »aber ich glaube, er verfolgt inzwischen auch andere Spuren.«
»Weiß du, ob er heute noch einmal kommt?«
»Keine Ahnung.«
Partridge ertappte sich bei dem Wunsch, der FBI-Mann möge für den Rest des Tages weiter tun, was er im Augenblick tat. Dann wäre es leichter, die Nachtarbeit und seine Abreise morgen früh geheimzuhalten. Für den Fall, daß am Freitag im voraus bekannt wurde, daß CBA News für die Abendsendung größere Enthüllungen plante, würden natürlich die Leute vom FBI wissen wollen, was eigentlich los sei, und man würde sie bis zu den Nachrichten vertrösten müssen. Doch zu diesem Zeitpunkt war Partridge bereits in Peru, und ein anderer trug die Verantwortung.
Trotzdem wußte Partridge, daß man bei der Planung der nächsten beiden Tage auch das FBI in Betracht ziehen mußte.
Die Fünf-Uhr-Konferenz der Spezialeinheit war gut besucht. Les Chippingham und Crawford Sloane waren anwesend. Chuck Insen ging nach fünfzehn Minuten wieder, weil die ersten Abendnachrichten vorbereitet werden mußten; ein anderer Produzent vom Hufeisen nahm seinen Platz ein. Partridge saß am Kopfende des langen Konferenztisches, Rita Abrams neben ihm. Iris Everly, die den Entführungsbericht für die Abendsendung produziert hatte - er enthielt noch nichts von den neuen Entwicklungen -, kam ein paar Minuten zu spät. Teddy Cooper war anwesend, nachdem er den Tag mit den Rechercheuren verbracht hatte, die noch immer mit den Lokalzeitungen beschäftigt waren - bisher ohne Ergebnis. Minh Van Canh kam dazu sowie die beiden Producer Norman Jaeger und Karl Owens. Don Kettering war ein neues Gesicht am Tisch. Jonathan Mony war ebenfalls dabei und wurde der Runde vorgestellt. Im Hintergrund warteten die Assistenten auf Anweisungen.
Partridge begann mit einer Zusammenfassung der Ereignisse des Tages, berichtete dann von seiner Absicht, am nächsten Morgen nach Peru zu fliegen, und von der Entscheidung, mit dem gesamten neuen Material am Freitag an die Öffentlichkeit zu gehen.
Les Chippingham meldete sich. »Ich stimme dir in allem zu, was du sagst, Harry, und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und schlage für den Freitag eine einstündige Sondersendung vor, in der wir ausführlich über die ganze Geschichte berichten.«
Von allen Seiten kam zustimmendes Gemurmel, während Chippingham fortfuhr. »Ich möchte euch nur daran erinnern, daß für die Hauptsendezeit um neun Uhr sowieso eine Nachrichtensendung geplant ist, die wir dafür herausnehmen können. Und es sieht ja ganz so aus, als hättet ihr genug, um die Stunde vollzumachen.«
»Mehr als genug«, bestätigte Rita Abrams. Kurz zuvor hatte sie sich das Interview mit Alberto Godoy und Don Ketterings Gespräch mit dem Direktor der American-Amazonas Bank, Emiliano Armando, das eben hereingekommen war, angesehen.
Sie war von beidem begeistert.
Danach hatte sie mit Partridge und Kettering diskutiert, ob man die Identität des Leichenbestatters überhaupt noch geheimhalten sollte, da er bei der aggressiven Beendigung des Interviews selbst sein Gesicht ins Licht und vor die Kamera gesteckt hatte. Man war versucht, dieses Versehen auszunutzen, da die Geheimhaltung der Identität dem Sender Probleme bereiten konnte. Wegen der ursprünglichen Abmachung mit Godoy lagen die Dinge aber etwas komplizierter.
Man kam schließlich zu dem Entschluß, sich an die Abmachung zu halten, da Godoy gar nicht wußte, was seine abrupte Bewegung aufnahmetechnisch bedeutet hatte. Um sicherzustellen, daß die Entscheidung auch in die Tat umgesetzt wurde, löschte Partridge die Sequenz mit Godoys Gesicht, damit man nicht später doch noch darauf zurückgreifen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war das Löschen noch legal, illegal wurde es erst nach Beginn der offiziellen Ermittlungen.
Jeder am Konferenztisch wußte, daß die Entscheidung für eine einstündige Sondersendung relativ leicht durchzusetzen war, weil die dafür benötigte Stunde in der Hauptsendezeit sowieso der Nachrichtenabteilung gehörte und man sich folglich nicht lange mit der Senderleitung abzusprechen brauchte. Ursprünglich war für Freitagabend, 21 Uhr, das Nachrichtenmagazin »Hinter den Schlagzeilen« geplant, bei dem Norman Jaeger sonst als Produzent arbeitete und zu dem er nach diesem Sondereinsatz auch wieder zurückkehren würde. Chippingham beschloß insgeheim, Margot Lloyd-Mason nicht sofort von der Programmänderung zu unterrichten, sondern es ihr erst im Laufe des Freitags mitzuteilen.
Nun folgte ein ganze Reihe weiterführender Entscheidungen.
Partridge gab bekannt, daß er Minh Van Canh und Ken O'Hara, den Tontechniker, der auch bei der Flugzeugtragödie in Dallas-Fort Worth dabeigewesen war, nach Peru mitnehmen wolle.
Rita warf Chippingham einen flüchtigen Blick zu und ergänzte: »Les, wir haben für Harry und die anderen einen Learjet gechartert, der morgen früh um sechs von Teterboro abfliegen wird. Ich brauche noch deine Genehmigung.«
»Bist du sicher...« Chippingham, der an die Mehrkosten dachte, wollte schon sagen: ...daß es ein Linienflug nicht auch tut?, als er aber Crawfords stahlharten Blick auf sich gerichtet sah, vollendete er nur knapp: »Genehmigt.«
Rita, so wurde beschlossen, sollte vorerst in New York bleiben und die Produktion des Berichts für die Abendnachrichten und der einstündigen Sondersendung überwachen. Zum Produzenten für den Bericht wurde Iris Everly bestimmt, für die Sondersendung Norm Jaeger und Karl Owens. Freitagnacht sollte Rita dann Partridge und den anderen nach Lima folgen und Jaeger die Funktion des Chefproduzenten in New York übernehmen.
Partridge, der die Sache zuvor schon mit Chippingham abgesprochen hatte, berichtete, daß nach seiner Abreise Don Kettering die Leitung der Sondereinheit in New York übernehmen werde. Ein Assistent sollte in dieser Zeit Ketterings Aufgaben als Wirtschaftskorrespondent übernehmen.
Dann erinnerte Partridge die Runde daran, daß weder der Bericht in den Nachrichten noch die Sondersendung - er trat in beiden als Korrespondent auf - einen Hinweis darauf enthalten durften, daß er bereits nach Peru abgereist war. Falls man, ohne allerdings auf wirkliche Täuschungsmanöver zurückgreifen zu müssen, den Sendungen den Anschein geben könnte, als würde er live berichten, wäre das um so besser.
Es war zwar nicht sehr wahrscheinlich, daß sich die anderen Sender und die Printmedien davon täuschen ließen, aber alles, was die Entsendung von Reporterteams nach Peru verzögerte, war für Partridge von Vorteil. Dabei ging es weniger um unerwünschte Konkurrenz, sondern mehr um die Tatsache, daß Partridge als Einzelner in seinen Nachforschungen besser vorankommen würde als inmitten eines Rudels von Reportern.
Und dies warf die Frage der Sicherheit auf.
Les Chippingham erklärte, daß alles, was in der folgenden Nacht und den nächsten beiden Tagen passieren würde, weder mit anderen aus der Nachrichtenabteilung, die mit dem Fall nichts zu tun hatten, noch mit irgend jemandem draußen, und das hieß auch Familien, besprochen werden dürfe. Absolute Vertraulichkeit, hieß die Devise. »Und das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.«
Der Präsident von CBA News sah sich in der Runde um und fuhr dann fort. »Wir dürfen absolut nichts tun oder sagen, was die Informationen vorzeitig ans Licht bringen und damit Harrys Vierundzwanzigstundenvorsprung, den er so dringend braucht, zunichte machen würde. Schließlich geht es hier um Menschenleben« - er sah Crawford Sloane an - »um das Leben von ganz besonderen Menschen, die uns allen am Herzen liegen.«
Es wurden noch weitere Sicherheitsvorkehrungen getroffen.
In den nächsten beiden Tagen sollten vor dem Studio und dem Regieraum, in denen die einstündige Sondersendung produziert werden sollte, Wachen aufgestellt werden, die nur die Leute durchließen, die auf einer von Rita zusammengestellten Liste standen. Auch wollte man alle vom Studio und vom Regieraum nach draußen führenden Leitungen unterbrechen, damit niemand auf einem Außenmonitor verfolgen konnte, was drinnen passierte.
Man einigte sich schließlich darauf, ab Freitag vormittag die Sicherheitsvorkehrungen etwas zu lockern und während des Tages Ankündigungen der Sondersendung auszustrahlen, damit das Publikum auch erfuhr, daß CBA News wichtige Neuigkeiten über die Entführung besaß. Als Zeichen des kollegialen Anstands wollte man auch die anderen Sender, die Presseagenturen und die Printmedien informieren.
Am Ende fragte Partridge: »Ist sonst noch etwas, oder können wir uns an die Arbeit machen?«
»Nur noch eins.« Es war Rita, und in ihrer Stimme lag ein gewisser Schalk. »Les, ich brauche deine Genehmigung für einen zweiten Learjet für Freitagnacht, wenn ich nach Peru fliege. Ich will einen Cutter - Bob Watson - und einen Editpak mitnehmen. Außerdem brauche ich genug Geld.«
Die am Tisch kicherten, und sogar von Crawford Sloane kam eine dünnes Lächeln. Indem Rita einen Cutter und einen Editpak, das heißt eine ziemlich sperrige und umfangreiche Schneideausrüstung, die sonst kaum zu transportieren wäre, mitnahm, erhöhten sich ihre Chancen auf ein Privatflugzeug. Darüber hinaus wäre es unklug, mit einem hohen Geldbetrag in einem Linienflugzeug zu reisen. Rita hatte zwar noch keine konkrete Summe genannt, aber es würde sich bei dem Betrag um etwa 50000 Dollar handeln. Denn harte Währung war notwendig in einem Land wie Peru, in dem die Landeswährung so gut wie nichts wert war, wo man aber für Dollars alles kaufen konnte, nicht zuletzt auch gewisse Privilegien, die sie sicher brauchten.
Innerlich seufzte Chippingham. Trotz ihrer Liebesbeziehung hatte Rita ihn ziemlich rücksichtslos in die Enge getrieben.
»Schon gut«, sagte er. »Du kannst buchen.«
Wenige Minuten nach dem Ende der Sitzung saß Partridge bereits an einem Computer und arbeitete an seiner Einleitung für die Freitagssendung der National Evening News. Er schrieb:
Sie alle wissen von der Entführung der Frau, des Sohnes und des Vaters unseres Nachrichtenmoderators Crawford Sloane, die jetzt bereits fünfzehn Tage zurückliegt. Nun gibt es überraschende neue Entwicklungen. Nachforschungen eines CBA-Reporterteams haben ergeben, daß die drei Entführungsopfer nach Peru verschleppt wurden, wo sie von der maoistischen Guerillaorganisation Sendero Luminoso oder Leuchtender Pfad gefangengehalten werden. Seit Jahren schon terrorisiert diese Gruppe große Teile Perus.
Ein Motiv für die Entführung ist bis jetzt noch nicht bekannt.
Bekannt ist allerdings, daß ein Diplomat bei den Vereinten Nationen die Entführer über ein Konto in New York mit Geld versorgte, was diese Entführung, wie auch andere terroristische Akte, überhaupt erst möglich machte.
Unser ausführlicher Bericht beginnt, wie bei so vielen Verbrechen, beim Geld. Hören Sie dazu unseren Wirtschaftskorrespondenten Don Kettering.
Das war nur die erste von vielen, ähnlichen Einleitungen, die er vor seiner Abreise am nächsten Morgen um fünf Uhr schreiben mußte, überlegte Partridge, während er sich den Text noch einmal durchlas.