1
Es war noch dunkel und es regnete, als ein Learjet 36A wenige Minuten vor sechs Uhr morgens östlicher Sommerzeit von Teterboro Airport in New Jersey nach Bogota abflog. An Bord der Maschine waren Harry Partridge, Minh Van Canh und Ken O'Hara.
Die 36A besaß nicht genug Reichweite für einen Non-Stop-Flug nach Lima. Da man in Bogota aber nur auftanken wollte, hofften die drei, Lima um 13 Uhr 30 östlicher Standardzeit zu erreichen, die in Peru das ganze Jahr galt.
Partridge und die beiden anderen waren in einem Dienstwagen direkt von der CBA News-Zentrale zum Flugplatz gefahren. Während der hektischen Nacht hatte Partridge gerade eine halbe Stunde erübrigen können, um im Inter-Continental seinen Koffer zu packen. Er hatte keine Zeit damit vergeudet, auszuchecken; jemand vom Sender würde das für ihn erledigen.
Einen Disponenten von CBA News hatte er gebeten, im Learjet für eine Schlafmöglichkeit zu sorgen, und er war sehr froh, als er in der Maschine auch wirklich eine vorfand. An der rechten Seite der Passagierkabine hatte man zwei Sitze umgeklappt und so zusammengestellt, daß sie ein Bett bildeten. Kissen und Bettzeug waren ebenfalls vorhanden. Auf der linken Seite konnte man auf die gleiche Art einen zweiten Schlafplatz herrichten, aber um den müßten sich Minh und O'Hara streiten. Partridge glaubte jedoch nicht, daß sie eine ähnlich anstrengende Nacht gehabt hatten wie er.
Bald nach dem Start schlief Partridge ein. Nach drei erholsamen Stunden wachte er wieder auf und bemerkte, daß die Kabine im Halbdunkel lag. Jemand war so rücksichtsvoll gewesen, die Sichtblenden herunterzulassen. Nur an den Rändern drang helles Sonnenlicht herein, genug, um sich in der Kabine umsehen zu können. Minh saß an der gegenüberliegenden Seite zusammengerollt auf einem Sitz und schlief. O'Hara saß hinter ihm und schlief ebenfalls.
Partridge sah auf die Uhr: 9 Uhr New Yorker Zeit, erst 8 Uhr in Lima. Er griff nach dem Flugplan, den der Kopilot vor dem Start in die Kabine gebracht hatte, und sah, daß es noch zwei Stunden bis zur Zwischenlandung in Bogota waren. Von draußen kam das beständige, leise Brummen der Turbinen, Turbulenzen waren keine zu spüren. Ein seidenweicher Flug, dachte Partridge. Er genoß den Luxus, legte sich wieder hin und schloß die Augen.
Doch er schlief nicht mehr ein. Vielleicht waren die drei Stunden bereits genug gewesen. Vielleicht war auch zu viel in zu kurzer Zeit passiert, um ihn länger zur Ruhe kommen zu lassen. Er wußte noch von früheren Aufträgen, daß er in Zeiten der Belastung und des kurz entschlossenen Handelns wenig Schlaf brauchte. Ja, jetzt war wieder die Zeit des Handelns gekommen, er zog in die Schlacht, höchstwahrscheinlich sogar in eine sehr reale, und er spürte, wie der Gedanke daran seine Lebensgeister weckte.
Vermutlich hatte dieses Gefühl schon immer in ihm geschlummert, Vietnam hatte es nur geweckt, und danach hatten andere Kriege an anderen Orten sein Bedürfnis befriedigt. Und ebendieses Gefühl machte ihn zu einem sogenannten »Päng-päng«-Korrespondenten, eine Bezeichnung, die ihn früher geärgert hatte, aber nun nicht mehr.
Warum nicht? Weil es Zeiten gab, in denen ein »Päng-päng« wie er gebraucht wurden, so wie in jedem Krieg Soldaten gebraucht wurden, die inmitten des Schlachtgetümmels tapfer ihre Pflicht erfüllten. Er lächelte über seinen pathetischen Vergleich.
Es war nicht immer so gewesen. In der Zeit mit Gemma hatte er Kriege und Gefahren ganz bewußt gemieden, weil das Leben zu schön und zu glücklich war, um ein plötzliches Ende zu riskieren Er wußte, daß es zu dieser Zeit im Sender eine stillschweigende Übereinkunft gab, die ihn betraf: Gebt Harry ungefährliche Aufträge; er hat sie verdient. Sollen sich doch die jüngeren Reporter eine Zeitlang die Kugeln um die Ohren pfeifen lassen.
Später änderte sich das natürlich wieder. Als Gemma dann nicht mehr da war, verlor er diesen Schutz; man schickte ihn wieder zu den Kriegsschauplätzen, zum Teil, weil er diese Berichterstattung so hervorragend beherrschte, zum Teil aber auch, weil er zu erkennen gab, daß es ihm gleichgültig war, welches Risiko er einging. Und letzteres war wohl mit ein Grund, so überlegte er, warum er jetzt diese Reise machte.
Es war schon eigenartig, daß er seit Beginn dieser Geschichte seine Zeit mit Gemma im Geiste noch einmal durchlebt hatte. Auf dem Flug von Toronto direkt nach der Entführung hatte er sich die Reise in der DC-10 des Papstes in Erinnerung gerufen... seine Unterhaltung mit dem Papst und wie er das Problem mit der Slawen/Sklaven-Verwechslung löste... und schließlich Gemma, die ihm sein Frühstück mit einer Rose servierte.
Einen oder zwei Tage später dann die nächtlichen Erinnerungen in seinem Hotelzimmer... wie er sich in Gemma verliebte und ihr noch während der Papstreise einen Heiratsantrag machte... der kurze Aufenthalt in Panama, ihre Taxifahrt in die Altstadt und der juez, der ihn und Gemma zu Mann und Frau erklärte.
Und schließlich vor knapp einer Woche, auf der Rückfahrt von Larchmont nach dem Besuch bei Crawford Sloane, die idyllischen, glücklichen Bilder ihres gemeinsamen Lebens in Rom, wo ihre Liebe erst richtig wuchs... Gemmas glockenhelles, fröhliches Lachen, ihre ständigen Probleme mit der Bank, ihr halsbrecherischer Fahrstil, der ihn immer in Angst und Schrecken versetzte... bis sie ihm die Schlüssel aushändigte, als sie erfuhr, daß sie schwanger war... und danach der Umzug von Rom nach London...
Nun lag er hier in diesem Flugzeug, alles war still um ihn, und die Erinnerung an Gemma kehrte zurück. Diesmal wehrte er sich nicht dagegen, sondern gab sich ganz den Gedanken hin.
Ihr Leben in London war unglaublich schön.
Sie übernahmen von Partridges Vorgänger eine hübsche möblierte Wohnung in St. John's Wood, die Gemma schnell mit eigenen stilistischen und farblichen Akzenten versah. Frische Blumen standen in jedem Zimmer. Sie hängte Bilder auf, die sie aus Rom mitgebracht hatten, kaufte Porzellan und Tischwäsche in Kensington sowie eine bemerkenswerte Bronzeskulptur von einem jungen Künstler aus einer Galerie in der Cork Street.
Auch Partridges Arbeit für das Londoner Büro von CEA News lief gut. Er berichtete teils aus Großbritannien, teils vom Kontinent - aus Frankreich, den Niederlanden, Dänemark und Schweden -, war aber nie allzulange von zu Hause fort. Wenn er nicht arbeitete, unternahmen Gemma und er Streifzüge durch London, sie entdeckten gemeinsam die glanzvolle Geschichte dieser Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten, schlenderten durch geheimnisvolle, enge Straßen mit verwinkelten Ecken, die aussahen wie aus einem Dickensschen Roman.
Gemma fand sich nur schwer zurecht in dem unüberschaubaren Straßengewirr und verlief sich häufig. Als Partridge meinte, daß es in Rom ähnlich schwierig sei, sich zu orientieren, schüttelte Gemma den Kopf und widersprach. »Man nennt Rom nicht umsonst >die Ewige Stadt<, Harry caro. In Rom bewegt man sich beständig vorwärts, man hat einfach ein Gefühl für die Stadt. London spielt mit dir Katz und Maus; links, rechts, vorwärts, rückwärts - man weiß nie, in welche Richtung man läuft. Aber ich finde es wunderbar; es ist wirklich wie ein Spiel.
Auch der Verkehr brachte Gemma durcheinander. Als sie mit Partridge einmal auf den Stufen der National Gallery stand und den nie abreißenden Strom von Autos, Taxis und Doppeldeckerbussen auf dem Trafalgar Square beobachtete, sagte sie zu ihm: »Es ist so gefährlich, Liebling. Sie fahren alle falsch herum.« Daß Gemma sich nicht einmal in ihrer Vorstellung an den Linksverkehr gewöhnen konnte, war ein Glück, denn so hatte sie nie das geringste Bedürfnis, den Wagen zu benutzen, und wenn Partridge sie nicht fahren konnte, ging sie entweder zu Fuß oder fuhr mit der U-Bahn oder dem Taxi.
Neben der National Gallery besuchten sie noch viele andere Museen. Sie ließen weder die klassischen Touristenattraktionen wie den Wachwechsel am Buckingham Palace aus noch die obskureren Sehenswürdigkeiten wie die zugemauerten Fenster an alten Gebäuden, ein Überbleibsel aus dem beginnenden 19. Jahrhundert, als Fenster zur Finanzierung der napoleonischen Kriege besteuert wurden.
Ein Fremdenführer, den sie für einen Tag engagierten, zeigte ihnen eine Statue von Queen Anne und erzählte ihnen, daß die Königin neunzehn Schwangerschaften gehabt habe und in einem Sarg von einem Meter vierzig im Quadrat beerdigt worden sei. Und am New Zealand House, dem ehemaligen Hotel Carlton, erfuhren sie, daß Ho Chi Minh dort früher als Küchenhilfe gearbeitet hatte. Gemma liebte diese Art von Geschichten und schrieb in ihrem immer dicker werdenden Notizbuch eifrig mit.
An Sonntagen gingen sie am liebsten zur Speakers' Corner beim Marble Arch, wo, wie Partridge erklärte, »Propheten, Großmäuler und Spinner gleiche Redezeit haben«.
»Was ist eigentlich daran so anders, Harry?« fragte Gemma einmal, nachdem sie eine Rede gehört hatte. »Einige der Reden, die euer seriöses Fernsehen bringt, sind keineswegs besser. Du solltest für eure Nachrichten einen Bericht über die Speakers' Corner machen.«
Bald darauf unterbreitete Harry den Vorschlag der Zentrale in New York, und nachdem er vom Hufeisen grünes Licht bekommen hatte, machte er seinen Bericht, der wenig später, an einem Freitag, als humoristisches »Schlußstück« der Abendnachrichten gesendet und mit viel Beifall bedacht wurde.
Ein weiterer Höhepunkt war ein Besuch des von Lord Byrons Butler gegründeten Brown's Hotel zum Tee - diesem höchsten Ausdruck englischer Lebensart, mit exzellentem Service, köstlichen Sandwiches, feinem Teegebäck, Erdbeermarmelade und dicker Sahne aus Devonshire. »Es ist ein geheiligtes Ritual, mio amore«, erklärte Gemma. »Wie die Kommunion, nur schmackhafter.«
Für sie beide gab es nichts Schöneres als diese gemeinsamen Unternehmungen. Und gleichzeitig schritt Gemmas Schwangerschaft voran und versprach zusätzliches Glück.
Sie war im siebten Monat, als Partridge für einen Tag zur Berichterstattung nach Paris mußte. Die unter Personalmangel leidende Pariser Redaktion von CBA News brauchte jemanden, um über Vorwürfe gegen einen amerikanischen Film zu berichten, der sich kritisch - zu unrecht, wie man behauptete -mit der Rolle der französischen Resistance im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzte. Partridge machte seinen Bericht, der über Satellit via London nach New York überspielt wurde, obwohl er Zweifel hatte, daß er für die National Evening News wichtig genug sein würde - Zweifel, die sich letztlich bestätigten.
Dann, im Pariser Büro und kurz vor seinem Rückflug nach London, rief man ihn ans Telefon. »Es ist Zeke aus London.
Zeke war Ezekiel Thomson, der Leiter des Londoner Büros -riesig, hartgesotten, eigensinnig und schwarz; für die, die mit ihm arbeiteten, schien er ein Mann ohne Gefühle. Das erste, was Partridge auffiel, war, daß Zekes Stimme gebrochen, fast erstickt klang.
»Harry, es ist das erste Mal, das ich so etwas tun muß... Ich weiß nicht, wie... aber ich muß dir sagen...«, stammelte er.
Irgendwie gelang es ihm, den Rest zu erzählen.
Gemma war tot. Sie wollte an einer belebten Kreuzung in Knightsbridge eine Straße überqueren, und Zeugen berichteten, daß sie nach links anstatt nach rechts geschaut hatte... Oh, Gemma! Liebste, wunderbare, naive Gemma, du hast ja immer geglaubt, daß die Autos in Großbritannien auf der falschen Seite fahren, und du hast nie gewußt, in welche Richtung du als Fußgänger zuerst schauen mußt, ...Sie war in einen von rechts kommenden Lastwagen gelaufen und überfahren worden. Zeugen des Unfalls meinten, man könne dem Lastwagenfahrer keinen Vorwurf machen, er hatte keine Chance...
Ihr Baby - ein Junge, wie Partridge später erfuhr - starb mit ihr.
Partridge kehrte nach London zurück, und als er sich nach Erledigung der Formalitäten in ihrer gemeinsamen Wohnung wiederfand, begann er zu weinen. Er blieb tagelang allein und wollte niemanden sehen, während seine Tränen flossen - nicht nur die für Gemma, sondern all die Tränen, die er in den vielen Jahren nicht vergossen hatte.
Endlich weinte er auch für die toten walisischen Kinder aus Aberfan, jene jammervollen kleinen Gestalten, die man aus dem Schlamm gezogen hatte. Er weinte für die Hungernden in Afrika, von denen einige gestorben waren, während die Kameras liefen und er, nach außen ungerührt, an seinem Manuskript arbeitete. Er weinte für all die Toten an vielen tragischen Orten der Welt, wo er bei den Hinterbliebenen stand, ihr Wehklagen hörte und doch nur ein Chronist des Leidens war, ein Journalist, der seine Arbeit tat und nicht mehr.
Irgendwann in dieser Zeit fielen ihm die Worte der Psychiaterin ein, die ihm einmal gesagt hatte: »Du nimmst immer nur alles in dich auf und drängst deine Emotionen in irgendeine Ecke deiner Seele ab. Eines Tages werden die Dämme brechen und die Tränen fließen. Und wie sie fließen werden!«
Danach versuchte er, so gut es ging, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Bei CBA News glaubte man, ihm am besten helfen zu können, wenn man ihn ständig beschäftigte und ihm keine Zeit zum Grübeln ließ. So schickte man ihn, kaum daß ein Auftrag beendet war, gleich zum nächsten. Wo immer auf der Welt es gefährliche Konflikte gab, war Harry Partridge am Ort des Geschehens. Er riskierte viel und kam immer unbeschadet davon, bis es ihm und den anderen so schien, als könne er dem Leben wieder etwas abgewinnen. So vergingen die Monate und schließlich die Jahre.
Inzwischen war Harry soweit, daß er bisweilen zumindest für längere Zeit nicht an Gemma denken mußte, wenn er sie schon nicht vergessen konnte. Dann gab es wieder Zeiten - wie die beiden Wochen nach der Entführung der Sloanes -, in denen der Gedanke an sie alles andere beherrschte.
Doch hatte er seit jenen verzweifelten Tagen nach Gemmas Tod nicht mehr geweint.
Der Learjet war noch ein Stunde von Bogota entfernt, und Harry Partridge sank langsam wieder in den Schlaf. Vergangenheit und Gegenwart vermischten sich... Gemma und Jessica wurden eins... Gemma-Jessica... Jessica-Gemma... Auch wenn es fast unmöglich schien, er würde sie finden und sie zurückbringen... Irgendwie würde er sie retten.
Er schlief ein.
Als er wieder aufwachte, befand sich der Lear bereits auf dem Landeanflug nach Bogota.
2
Die Kontraste, die Lima bot, dachte Harry Partridge, waren so kraß und so erschreckend deutlich wie die politischen und ökonomischen Krisen und Konflikte, die ganz Peru auf eine schmerzliche, oft grausame Weise zerrissen.
Die trockene, riesig wuchernde Hauptstadt zerfällt in verschiedene Teile, von protzigem Reichtum die einen, von erbärmlichster Armut die anderen, und zwischen beiden Extremen fliegt der Haß hin und her wie vergiftete Pfeile. Im Gegensatz zu fast allen anderen Städten, die Partridge kannte, gab es in Lima keinen neutralen Boden. Die reichen Viertel mit ihren grandiosen Palästen und ihren gepflegten Gärten lagen direkt neben den Elendsvierteln, den sogenannten barriadas.
Den meisten der in Verschlägen aus Karton zusammengepferchten »Habenichtse« stand das Elend deutlich im Gesicht geschrieben, und ihre stumpfen Augen blickten so voller Haß, daß Partridge bei früheren Besuchen das Gefühl gehabt hatte, hier gärt eine Revolution. Und alles, was er jetzt, an seinem ersten Tag in der Stadt, sah, schien darauf hinzudeuten, daß es jeden Augenblick zu irgendeiner Form von Aufstand kommen konnte.
Um 12 Uhr 40 waren Partridge, Minh Van Canh und Ken O'Hara auf dem Jorge Chavez Airport in Lima gelandet. Fernandez Pabur, der Kontaktmann von CBA in Peru, hatte sie vom Flughafen abgeholt.
Er hatte sie an den anderen Passagieren vorbei durch die Zoll-und Paßkontrolle geschleust - offensichtlich hatten zuvor gewisse Geldbeträge den Besitzer gewechselt - und sie anschließend zu einem Ford Kombi mit Fahrer begleitet.
Fernandez war kräftig und schwarzhaarig, von dunkler Gesichtsfarbe und mit seinen etwa fünfunddreißig Jahren ein Energiebündel. Seine vorstehenden Zähne unter den wulstigen Lippen hatte er ständig gebleckt, was er wohl für ein strahlendes Lächeln hielt. Es wirkte zwar falsch und aufgesetzt, aber Partridge war das gleichgültig. Er mochte Fernandez, den er noch von früher kannte, denn der wußte stets, was nötig war, und er konnte es auch beschaffen.
So hatte er zum Beispiel für Partridge eine Suite in dem eleganten Fünf-Sterne-Hotel Caesar's in Miraflores und auch für die anderen beiden gute Zimmer besorgt.
Während Partridge sich wusch und ein frisches Hemd anzog, telefonierte Fernandez in der Hotelhalle, um auf Partridges Bitte ein erstes Treffen zu vereinbaren. Der Gesprächspartner war ein alter Bekannter, Sergio Hurtado, Nachrichtenredakteur und Sprecher von Radio Anden.
Ein Stunde später saßen der Radioreporter und Partridge in einem kleinen Sendestudio, das auch als Büro diente.
»Harry, mein Freund, ich habe leider nur schlimme Nachrichten«, sagte Sergio auf eine Frage von Partridge. »In unserem Land ist das Gesetz außer Kraft. Die Demokratie ist nicht einmal mehr eine Fassade, nein, sie existiert nicht mehr. Wir sind in jeder Hinsicht bankrott. Politisch motivierte Massaker sind an der Tagesordnung. Da sind diese privaten Todesschwadronen der Präsidentenpartei; Leute verschwinden einfach. Wir sind einem Blutbad näher als je zuvor in der Geschichte Perus. Ich wünschte mir, daß das alles nicht wahr wäre. Aber leider ist es so!«
Obwohl sie aus einem grotesk verfetteten Körper kam, war die tiefe, wohlklingende Stimme so unwiderstehlich und überzeugend wie immer, bemerkte Partridge. So war es auch gar nicht verwunderlich, daß Sergio das größte Publikum des Landes hatte, denn das Radio war noch immer das am meisten verbreitete Nachrichtenmedium, wichtiger und einflußreicher als das Fernsehen. Fernsehpublikum gab es nur unter den Wohlhabenden in den größeren Städten.
Sergios Stuhl ächzte, als er seine Fleischmassen bewegte. Die Fettwülste an Wangen und Kinn wirkten wie riesige Würste. Die Augen, die über die Jahre immer weiter zurücktraten, während das Gesicht aufschwemmte, waren nun nur noch Schweinsäuglein. Aber mit seinem Verstand war alles in Ordnung, und auch seine hervorragende amerikanische Ausbildung, inklusive Harvard, hatte nicht gelitten. Sergio hatte es, wie viele lateinamerikanische Kollegen, gern, wenn Reporter aus den Vereinigten Staaten ihn besuchten, denn er legte Wert auf ihre umfassenden Informationen und ihre fundierten Meinungen.
Nachdem die beiden vereinbart hatten, daß ihre Unterhaltung bis zum folgenden Abend vertraulich behandelt würde, berichtete Partridge über die bisherigen Entwicklungen in der Entführungsgeschichte und fragte dann: »Hast du Informationen für mich? Hast du irgend etwas gehört, das mir weiterhelfen könnte?«
Der Radioreporter schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gehört, aber das ist auch nicht überraschend. Über den Sendero erfährt man kaum etwas, vor allem, weil sie alle umbringen, die plaudern; wer am Leben bleiben will, hält deshalb den Mund. Aber ich will dir helfen, soweit ich das kann, indem ich meine Fühler ausstrecke. Ich habe meine Quellen überall.«
»Danke.«
»Und was eure Nachrichtensendung morgen abend angeht, ich werde mir via Satellit ein Band besorgen und es für meine Zwecke umarbeiten. Aber wir haben ja auch selber genügend Schreckensmeldungen. Dieses Land geht in politischer und finanzieller, überhaupt in jeder Hinsicht, den Bach hinunter.«
»Über den Sendero Luminoso dringen sehr unterschiedliche Nachrichten zu uns. Werden sie wirklich stärker?«
»Die Antwort ist ja - sie werden nicht nur jeden Tag stärker, sondern kontrollieren auch immer größere Teile des Landes, und deshalb ist deine Aufgabe sehr schwierig, um nicht zu sagen unmöglich. Angenommen, deine Entführungsopfer sind wirklich hier, dann gibt es tausend abgelegene Flecken, wo sie versteckt sein könnten. Aber ich bin froh, daß du zuerst zu mir gekommen bist, weil ich dir einen Rat geben kann.«
»Und zwar?«
»Wende dich nicht an offizielle Stellen, das heißt, an die peruanische Armee oder an die Polizei. Vermeide am besten jeden Kontakt mit ihnen, weil man sich nicht mehr auf sie verlassen kann, falls man das je konnte. Was Mord und Verwüstungen angeht, sind die nicht besser als der Sendero und mit Sicherheit genauso skrupellos.«
»Gibt es dafür Beispiele aus der letzten Zeit?«
»Genügend. Ich kann dir einige nennen, wenn du willst.«
Partridge dachte bereits an die Berichte, die er für die National Evening News nach New York schicken wollte. Mit Rita Abrams und dem Cutter Bob Watson hatte er vereinbart, daß sie nach ihrer Ankunft am Samstag eine Meldung für die Montagssendung zusammenstellen würden. Partridge hoffte nun, Sergio Hurtado und andere für Interviews gewinnen zu können.
»Du hast gesagt, Demokratie gibt es bei euch nicht mehr«, fuhr er fort. »War das nur rhetorisch gemeint oder stimmt das wirklich?«
»Es stimmt. Und für viele Menschen in unserem Land macht es in ihrem Leben auch keinen Unterschied, ob die Demokratie existiert oder nicht.«
»Ein hartes Wort, Sergio.«
»Nur aus deinem beschränkten Blickwinkel heraus, Harry. Amerikaner sehen die Demokratie als Heilmittel für alle Krankheiten - wie eine Medizin dreimal täglich einzunehmen. Da es für sie funktioniert, denken sie, es müßte auch für den Rest der Welt so sein. Was die Amerikaner aber in ihrer naiven Weltsicht vergessen, ist die wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren von Demokratie, nämlich daß der Großteil der Bevölkerung persönlichen Besitz haben muß, den er erhalten will. Doch die meisten Lateinamerikaner besitzen nichts. Was natürlich sofort die Frage aufwirft, warum?«
»Soweit akzeptiert. Also warum?«
»In den Teilen der Welt, die am tiefsten in Schwierigkeiten stecken, und eben auch bei uns, gibt es im wesentlichen zwei Bevölkerungsschichten: auf der einen Seite die Gebildeten und Wohlhabenden, auf der anderen die Unwissenden und hoffnungslos Armen, die auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht vermittelbar sind. Die erste Gruppe pflanzt sich nur sehr mäßig fort, die zweite dagegen vermehrt sich wie die Fliegen, sie wird zwangsläufig immer größer - eine menschliche Zeitbombe, die die erste Gruppe zerstören wird.« Sergio deutete mit der Hand hinter sich. »Du brauchst bloß rauszugehen und dich umzusehen.«
»Und hast du eine Lösung?«
»Amerika könnte eine haben. Nicht indem es Waffen oder Geld verteilt, sondern indem es die Welt mit Ärzteteams überschwemmt, die die Armen in Geburtenkontrolle unterrichten, so wie Kennedy seine Friedenscorps ausgeschickt hat. Natürlich würde es Generationen dauern, aber eine Beschränkung des Bevölkerungswachstums könnte die Welt retten.«
»Aber vergißt du da nicht etwas?« wollte Partridge wissen.
»Wenn du die katholische Kirche meinst, möchte ich dich daran erinnern, daß ich selbst Katholik bin. Ich habe auch viele katholische Freunde, bedeutende, gebildete und reiche Leute. Eigenartigerweise haben sie alle nur kleine Familien. Ich habe mich gefragt: Unterdrücken die alle ihren Sexualtrieb? Da ich die Männer und die Frauen kenne, bin ich sicher, daß sie es nicht tun. Und einige bekennen auch ganz offen, daß sie sich nicht an das kirchliche Dogma zur Geburtenkontrolle halten, ein Dogma, das übrigens von Menschen geschaffen ist.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wenn sich Amerika hier an die Spitze stellt, könnte die Opposition gegen dieses Dogma immer stärker werden.«
»Weil du gerade von offenem Bekennen sprichst«, sagte Partridge. »Wärst du bereit, einen Großteil des eben Gesagten vor einer Kamera zu wiederholen?«
Sergio warf die Hände in die Luft. »Aber warum denn nicht, mein lieber Harry? Was mir Amerika vor allem beigebracht hat, ist das leidenschaftliche Eintreten für die freie Meinung. Ich sage im Radio offen, was ich denke, obwohl ich mich manchmal frage, wie lang sie mich das noch tun lassen. Weder die Regierung noch dem Sendero gefällt, was ich sage, und beide haben Kugeln und Gewehre. Aber man kann ja nicht ewig leben, und deshalb, Harry, werde ich das für dich tun.«
Partridge mußte sich eingestehen, daß hinter diesem unförmigen Fleischberg ein Mensch mit Prinzipien und großem Mut steckte.
Schon vor seiner Ankunft in Peru war Partridge zu der Überzeugung gekommen, daß es für ihn nur eine Möglichkeit gab, die Entführungsopfer zu finden. Er mußte genau das tun, was ein Fernsehkorrespondent unter normalen Umständen immer tat - sich mit bekannten Kontaktpersonen treffen, neue aufspüren, nach Informationen suchen, herumreisen, fragen und immer wieder fragen und dabei hoffen, daß irgendwann ein Informationsbruchstück, ein Hinweis auftauchte, der ihn auf die Spur der Entführten brachte.
Das größte Problem kam natürlich erst danach, die Frage nämlich, wie man sie retten sollte. Doch damit konnte er sich erst beschäftigen, wenn es so weit war.
Falls es nicht zu einem unerwarteten, glücklichen Durchbruch kam, erwartete Partridge ein lange, mühevolle Suche.
Er durfte natürlich auch die Routinearbeit als Fernsehkorrespondent nicht vergessen. Deshalb ging er als nächstes zu Entel Peru, der nationalen Telekommunikationsgesellschaft, die ihre Zentrale in der Innenstadt von Lima hatte. Entel sollte ihm als Basis für die Verbindung mit CBA News in New York dienen, auch Satellitenübertragungen waren von dort aus möglich. Wenn in ein oder zwei Tagen die Teams der anderen Sender eintrafen, würden sie höchstwahrscheinlich dieselben Einrichtungen benutzen.
Victor Velasco war der vielbeschäftigte, vom Streß gezeichnete Auslandsdirektor von Entel, den Fernandez Pabur bereits benachrichtigt hatte. Er war Mitte Vierzig, vor der Zeit ergraut und trug ständig eine besorgte Miene zur Schau. So hatte er auch offensichtlich andere Probleme im Kopf, als er Partridge sagte: »Es war schwierig, Platz zu finden, aber wir haben eine Kabine für Ihren Cutter und seine Ausrüstung, und wir haben zwei Telefonleitungen hineingelegt. Sie und Ihre Leute werden Kennkarten brauchen... «
Partridge wußte sehr gut, daß in einem Land wie Peru, wo Politiker und ranghohe Militärs großspurig auftraten und sich bereicherten, es die unauffälligen Manager wie dieser Velasco waren, die mit ihrer gewissenhaften, aber unterbezahlten Arbeit das Land am Laufen hielten. Er hatte deshalb in seiner Hotelsuite tausend Dollar in einen Umschlag gesteckt, den er nun aus der Tasche zog und Velasco unauffällig gab.
»Als kleines Dankeschön für Ihre Bemühungen, Senor Velasco. Wir werden in Kontakt bleiben.«
Einen Augenblick wirkte Velasco verlegen, und Partridge fragte sich, ob er ablehnen wollte. Doch als Velasco den Umschlag öffnete und das amerikanische Geld sah, nickte er und steckte ihn ein.
»Vielen Dank. Wenn sonst noch etwas ist...«
»Ich werde Sie bestimmt noch brauchen«, sagte Partridge. »Das ist das einzige, was ich sicher weiß.«
»Was hat dich denn so lange aufgehalten, Harry?« fragte Manuel Leon Seminario, als Partridge ihn nach der Rückkehr von Entel Peru um kurz nach fünf vom Hotel aus anrief. »Seit unserer kleinen Unterhaltung habe ich auf dich gewartet.«
»Ich hatte in New York noch einiges zu erledigen.« Partridge dachte an das Telefongespräch, das er vor zehn Tagen mit dem Besitzer und Herausgeber von Escena geführt hatte; damals war die Spur nach Peru nur eine Möglichkeit gewesen, noch keine Gewißheit wie jetzt. »Manuel, ich wollte nur wissen, ob du heute abend schon etwas vorhast«, sagte er.
»Aber natürlich. Ich habe um acht Uhr eine Verabredung zum Abendessen im La Pizzeria, und zwar mit einem gewissen Harry Partridge.«
Inzwischen war es 20 Uhr 15, und die beiden tranken Pisco sours, einen in Peru sehr beliebten, pikant erfrischenden Cocktail. La Pizzeria war eine Mischung aus Bistro und traditionellem Restaurant, ein Stammlokal der Leute, die in Lima das Sagen hatten.
Seminario war ein schlanker, eleganter Mann mit einem sehr gepflegten Vandyke-Bart. Er trug eine modische Brille von Cartier, einen Anzug von Brioni und hatte eine burgunderrote Ledermappe mit an den Tisch gebracht.
Partridge hatte ihm bereits erzählt, warum er in Peru war. Nun fügte er hinzu: »Ich habe gehört, die Lage hier ist ziemlich schlecht.«
Seminario seufzte. »Das ist sie wirklich. Aber unser Leben war schon immer eine extreme Mischung. Wir können... wie sagte Milton gleich wieder... >einen Himmel aus der Hölle, eine Hölle aus dem Himmel< machen. Wir limenos sind Überlebenskünstler, und eben das will ich auf den Titelblättern von Escena zum Ausdruck bringen.« Er griff nach seiner Aktenmappe und öffnete sie. »Sieh dir mal diese beiden an -unsere aktuelle Ausgabe und der Entwurf für nächste Woche. Zusammen sagen sie, glaube ich, etwas aus.«
Partridge sah sich zuerst das gedruckte Magazin an. Das Titelblatt zeigte in Farbe das Flachdach eines großen Gebäudes in der Innenstadt. Eine Menge Schutt lag auf dem Dach, vermutlich von einer Explosion. Den Mittelpunkt des Bildes nahm eine auf dem Rücken liegende, tote Frau ein. Sie war offensichtlich noch jung; ihr Gesicht, das kaum verletzt war, mochte im Leben schön gewesen sein. Aber ihr Bauch war zerfetzt, die blutigen Gedärme quollen heraus. Partridge erschauerte, obwohl er mit Kriegsbildern vertraut war.
»Ich will dir die Lektüre des Artikels ersparen, Harry. Gegenüber fand eine Tagung von Geschäftsleuten statt. Der Sendero Luminoso, bei dem die junge Frau Aktivistin war, hatte beschlossen, das Konferenzzentrum mit einem Granatwerfer zu beschießen. Zum Glück für die Konferenzteilnehmer, aber nicht für die junge Frau, explodierte der selbstgebastelte Werfer, bevor sie die Ladung abfeuern konnte.«
Partridge warf noch einen flüchtigen Blick auf das Bild und sah dann weg. »Soviel ich weiß, wird der Sendero in Lima immer aktiver.«
»Und zwar in erschreckendem Umfang. Die Leute bewegen sich frei in der Stadt, und daß dieses Bombardement schiefging, war eine Ausnahme. Die meisten Anschläge sind erfolgreich. Aber jetzt sieh dir mal das Cover für nächste Woche an.« Der Herausgeber schob ihm den Entwurf zu.
Es war Sex pur, nur um Haaresbreite von Pornographie entfernt. Ein junges, vielleicht neunzehnjähriges Mädchen in einem sehr gewagten Badeanzug stützte sich mit zurückgeworfenem Kopf und zerzausten Haaren auf ein seidenes Kissen. Die Augen hatte sie geschlossen, die Beine leicht gespreizt.
»Das Leben geht weiter, und es hat immer zwei Seiten, sogar in Peru«, sagte Seminario. »Weil wir gerade dabei sind, laß uns doch das Essen bestellen, und dann, Harry, werde ich dir ein paar Vorschläge machen, damit auch dein Leben weitergeht.«
Das Essen war italienisch und ausgezeichnet, der Service einwandfrei. Gegen Ende des letzten Ganges lehnte Seminario sich zurück.
»Über eins mußt du dir im klaren sein, Harry, daß nämlich der Sendero Luminoso vermutlich bereits von deiner Anwesenheit weiß; die haben ihre Spione überall. Aber auch wenn sie es noch nicht wissen, werden sie es bald erfahren, spätestens nach den CBA-Nachrichten morgen abend, die man sicher auch bei uns zu sehen bekommt. Du brauchst also zuallererst einen Leibwächter, vor allem wenn du nachts auf die Straße gehst.«
Partridge lächelte. »Dafür scheint ja bereits gesorgt zu sein.« Fernandez Pabur hatte darauf bestanden, ihn vom Hotel abzuholen und ins Lokal zu bringen. Als Begleitung war in dem Ford Kombi noch ein schweigsamer, kräftiger Mann mit dabei, der aussah wie ein Schwergewichtsboxer. Der Ausbuchtung an seinem Sakko nach zu urteilen, war er bewaffnet. Am Ziel stieg der Mann dann als erster aus, während Partridge und Pabur im Auto sitzenblieben, bis er ihnen winkte. Ohne von Partridge danach gefragt worden zu sein, hatte Fernandez erklärt: »Er wartet hier, solange Sie im Restaurant sind.« Wahrscheinlich stand der Mann immer noch draußen.
»Gut«, bemerkte Seminario. »Dein Mann weiß, was er tut.
Trägst du selbst eine Waffe?«
Partridge schüttelte den Kopf.
»Mußt du aber. Viele von uns haben eine. Und um American Express zu zitieren: >Verlassen Sie nie das Haus ohne sie.< Noch etwas: Fahr nicht nach Ayacucho. Das ist eine Hochburg des Sendero. Sie würden davon erfahren, und deine Anwesenheit dort wäre der reine Selbstmord.«
»Irgendwann muß ich vielleicht doch hin.«
»Du meinst, wenn ich oder andere, die versuchen, dir zu helfen, erfahren haben, wo deine Freunde gefangengehalten werden. In diesem Fall mußt du sie überraschen, indem du schnell dort auftauchst und ebenso schnell wieder verschwindest. Du wirst ein Charterflugzeug dafür brauchen. Einige Piloten sind zu solchen Aufträgen bereit, wenn du ihnen genug Risikozulage zahlst.«
Als sie endlich alles besprochen hatten, waren die meisten anderen Gäste bereits gegangen, das Restaurant wollte schließen.
Vor der Tür warteten Fernandez und der Leibwächter.
Während sie im Kombi zum Caesar's Hotel zurückfuhren, fragte Partridge Fernandez: »Können Sie mir eine Waffe besorgen?«
»Natürlich. Irgendwelche besonderen Wünsche?«
Partridge dachte nach. Die Art seiner Aufträge brachte es mit sich, daß er sich mit Waffen auskannte und sie auch benutzen konnte. »Am liebsten eine Browning neun Millimeter mit Schalldämpfer.«
»Bis morgen haben Sie sie. Apropos morgen - haben Sie besondere Pläne, die ich kennen sollte?«
»Das gleiche wie heute, ich werde mich mit Leuten treffen.« Im Geist fügte Partridge hinzu: Und in den Tagen danach ebenso - bis der Durchbruch geschafft ist.
3
Freitag war ein hektischer Tag bei CBA in New York. Einen Teil der Hektik hatte man vorausgesehen, doch vieles kam überraschend.
Wie gewöhnlich begann der Sendetag mit dem »Sunrise Journal«, dem Frühstücksfernsehen um 6 Uhr. Während dieses Magazins wurde im Werbeblock eine Programmankündigung von CBA News ausgestrahlt, die während des ganzen Tages wiederholt werden sollte. Die Ankündigung war von Harry Partridge noch vor seinem Abflug aufgenommen worden.
»Heute abend in den CBA National Evening News - ein Exklusivbericht über verblüffende neue Entwicklungen im Entführungsfall der Familie Crawford Sloanes.
Um 21 Uhr östlicher und um 19 Uhr zentraler Zeit eine einstündige Sondersendung - >Ein Sender in Bedrängnis: Die Entführung der Sloanes.<
Schalten Sie rechtzeitig ein, damit Sie die National Evening News und die Sondersendung nicht verpassen.«
Man hatte Partridge als Sprecher gewählt, weil er die Entführungsberichte regelmäßig moderiert hatte. Darüber hinaus war es ein kluger Schachzug, da es die Annahme nahelegte, er befinde sich noch in den Vereinigten Staaten, obwohl er sich um 6 Uhr morgens bereits seit achtzehn Stunden in Peru aufhielt.
Les Chippingham sah die Vorankündigung, während er in seiner Wohnung an der Eighty-second Street ein schnell selbst zubereitetes Frühstück hinunterschlang. Er hatte es eilig, denn er wußte, daß an diesem Tag einiges passieren würde, und durch das Küchenfenster sah er, daß seine CBA-Limousine bereits vor der Tür wartete. Das Auto erinnerte ihn an Margot Lloyd-Masons Ermahnung bei ihrer ersten Begegnung, er solle mit dem Taxi fahren, eine Anordnung, die er bis jetzt ignoriert hatte. Er durfte aber auf keinen Fall vergessen, Margot auf dem laufenden zu halten; er hatte vor, sie anzurufen, sobald er in seinem Büro war, da sie die Ankündigung wahrscheinlich auch sah.
Doch dazu kam es gar nicht. Kaum war er ins Auto eingestiegen, da gab der Fahrer ihm bereits den Hörer. Margot bellte ihn an:
»Was sind das für neue Entwicklungen, und warum weiß ich nichts davon?«
»Es ist alles sehr plötzlich passiert. Ich hatte vor, Sie gleich als erstes vom Büro aus anzurufen.«
»Die Öffentlichkeit weiß bereits Bescheid. Und warum ich nicht?«
»Margot, die Öffentlichkeit weiß überhaupt nichts; sie erfährt es erst heute abend. Sie dagegen werden es erfahren, sobald ich an meinem Schreibtisch sitze, aber über diese Leitung will ich nichts sagen, weil wir nicht wissen, wer alles mithört.«
Es entstand eine kurze Pause, in der er sie schwer atmen hörte. »Aber Sie rufen mich sofort an, wenn Sie im Büro sind.«
»Jawohl.«
Fünfzehn Minuten später war Chippingham wieder mit der Präsidentin von CBA verbunden. Er begann: »Es gibt eine Menge zu erzählen.«
»Also heraus damit!«
»Hervorragende Neuigkeiten, zumindest aus Ihrer Sicht. Einige unserer besten Leute haben eine Menge exklusiver Informationen zusammengetragen, die CBA heute abend das größte Publikum und damit die höchsten Einschaltquoten in der Geschichte des Senders verschaffen werden. Für Crawf sind die Neuigkeiten über seine Familie leider alles andere als gut.«
»Wo sind sie?
»In Peru. Als Gefangene des Sendero Luminoso.«
»Peru! Sind Sie ganz sicher?«
»Wie gesagt, einige unserer erfahrensten Leute haben an dem Fall gearbeitet, darunter auch Harry Partridge, und was sie entdeckt haben, ist absolut überzeugend. Ich habe keine Zweifel daran, und ich bin sicher, Sie auch nicht.« Doch Margots erschrockene Reaktion auf die Erwähnung Perus überraschte Chippingham, und er fragte sich, was dahintersteckte.
»Ich möchte Partridge sprechen«, sagte sie scharf.
»Ich fürchte, das ist nicht möglich. Er ist bereits seit gestern in Lima. Wir erwarten von ihm einen Bericht für die Montagsausgabe.«
»Warum diese Hast?«
»So ist das Nachrichtengeschäft, Margot. Wir arbeiten immer so.« Die Frage erstaunte ihn, ebenso wie eine gewisse Unsicherheit und Nervosität in Margots Stimme. Er sagte deshalb: »Sie scheinen besorgt wegen Peru. Dürfte ich vielleicht erfahren, warum?«
Zunächst kam nur Schweigen, es war offensichtlich, daß sie mit der Antwort zögerte. »Globanic Industries ist im Augenblick geschäftlich sehr stark in Peru engagiert. Es steht viel auf dem Spiel, und wir haben ein eminentes Interesse daran, daß unsere guten Beziehungen zur peruanischen Regierung nicht gestört werden.«
»Darf ich Sie darauf hinweisen, daß CBA keine, also weder gute noch schlechte Beziehungen zur peruanischen Regierung, noch zu irgendeiner anderen unterhält.«
»CBA ist Globanic«, erwiderte Margot ungeduldig. »Globanic hat ein Abkommen mit Peru, und CBA deshalb auch.
Wann geht diese einfache Tatsache denn endlich in Ihren Kopf?«
Nie! hätte Chippingham am liebsten geantwortet. Doch er wußte, daß das unmöglich war, und sagte statt dessen: »Wir sind in erster Linie ein Nachrichtensender, und wir müssen die Nachrichten so bringen, wie sie sind. Und ich möchte auch darauf hinweisen, daß es hier nicht um die peruanische Regierung geht. Nicht die, sondern der Sendero Luminoso hat allem Anschein nach die Familie unseres Moderators entführt. Auf jeden Fall, sobald wir heute abend mit der Story an die Öffentlichkeit gehen, werden auch alle anderen - die anderen Sender und die Printmedien und wer sonst noch alles - sich auf die Sache mit Peru stürzen.«
Insgeheim fragte sich Chippingham: Ist es möglich, daß diese Unterhaltung überhaupt stattfindet? Und soll ich lachen oder weinen?
»Halten Sie mich auf dem laufenden«, erwiderte Margot knapp. »Falls es Neuigkeiten gibt, vor allem über Peru, will ich es sofort erfahren, nicht erst am nächsten Tag.«
Chippingham hörte ein Klicken, Margot hatte aufgelegt.
Margot Lloyd-Mason saß in ihrem eleganten Büro in Stonehenge und dachte nach. Obwohl das für sie sehr untypisch war, wußte sie nicht genau, was sie als nächstes tun sollte. Sollte sie den Vorsitzenden von Globanic, Theo Elliott, anrufen oder nicht? Sie erinnerte sich noch an seine warnenden Worte bei der Konferenz im Fordly Cay Club: »Ich will nicht, daß irgend etwas unserer noch immer anfälligen Beziehung zur peruanischen Regierung schadet und dadurch ein Projekt verhindert, das zum Geschäft des Jahrhunderts werden könnte.« Schließlich kam sie zu dem Entschluß, daß sie ihn informieren mußte. Er erfuhr es besser von ihr als aus der Nachrichtensendung.
Bei dem Gespräch reagierte Elliott dann überraschend ruhig. »Na, wenn dieser Pöbel vom Leuchtenden Pfad für die Entführung verantwortlich ist, können wir die Berichterstattung wohl kaum verhindern. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die peruanische Regierung mit der Sache nichts zu tun hat, schließlich sind sie und der Leuchtende Pfad ja Todfeinde. Sorgen Sie dafür, daß unsere Nachrichtenleute das deutlich herausstellen.«
»Ich werde mich darum kümmern«, entgegnete Margot.
»Sie können sogar noch weitergehen«, fuhr Elliott fort. »Die Ereignisse bieten doch eine Gelegenheit, die Regierung positiv herauszustellen, und genau das sollte CBA tun.«
Die Bemerkung verwirrte Margot. »Aber wie?«
»Nun, die peruanische Regierung wird doch offensichtlich alles tun, um die entführten Amerikaner zu finden und zu befreien, auch unter Einsatz von Militär und Polizei. Und wenn sie das tut, wollen wir dafür sorgen, daß das auch bekannt wird, mit aktuellen Bildern in unseren Nachrichten. Dann kann ich Präsident Castaneda, den ich persönlich kenne, anrufen und ihm sagen: >Sehen Sie, wir sorgen dafür, daß Sie und Ihre Regierung hervorragend dastehen.<
Das hilft uns sicher bei unseren Abschlußverhandlungen über die Umschuldung.«
Nun zögerte sogar Margot. »Ich bin nicht sicher, ob wir so weit gehen sollten, Theo.«
»Sollten Sie aber sein! Ich weiß, was Sie denken - daß wir die Nachrichten manipulieren. Und wenn schon, schließlich ist die Sache für uns äußerst wichtig!« Der Vorsitzende hob die Stimme. »Verdammt noch mal, schließlich gehört der Sender doch uns, oder? Und ab und zu können wir dieses Besitzerrecht doch zu unserem Vorteil nutzen. Außerdem sollten Sie Ihre Nachrichtenleute daran erinnern, daß es ein profit- und wettbewerbsorientiertes Unternehmen ist, das ihnen ihre Wahnsinnsgehälter zahlt, und sie sind ein Teil davon, ob es ihnen nun gefällt oder nicht. Wenn es ihnen nicht gefällt, haben sie ein klare Alternative: Raus!«
»Schon kapiert, Theo«, antwortete Margot. Beim Zuhören hatte sie sich Notizen gemacht, und dabei war ihr ein modus vivendi eingefallen, der drei Schritte umfaßte.
Zunächst wollte sie Chippingham anrufen und darauf beharren, daß CBA News die Unschuld der peruanischen Regierung an der Entführung deutlich herausstellte, also genau so, wie Theo es verlangt hatte. Zweitens wollte sie sich als Präsidentin von CBA selbst an das US-Außenministerium wenden und darauf drängen, daß von dort auf die peruanische Regierung Druck ausgeübt würde, damit diese alles tue, um die entführten Sloanes zu retten, gegebenenfalls auch unter Einsatz von Militär. Drittens sollte die CBA-Zentrale die Kooperation mit der peruanischen Regierung öffentlich bekanntgeben. Und gleichzeitig mußte CBA News positiv über die aktuellen Bemühungen der Regierung berichten.
Daß es dabei zu Schwierigkeiten und Diskussionen kommen würde, war unvermeidlich, aber eins wußte Margot ganz genau: Ihre Beziehung zu Theo Elliott und ihre Loyalität zu Globanic waren wichtiger als alles andere.
Les Chippingham war allmählich an Margots Launen gewöhnt, es überraschte ihn deshalb gar nicht, als er kurz nach ihrem ersten Gespräch einen zweiten Anruf erhielt. Das Thema, das sie anschnitt, bereitete ihm jedoch Unbehagen, denn dies war ein direkter Eingriff des Konzerns in den Inhalt der Nachrichten. So etwas passierte zwar gelegentlich bei allen Sendern, nie jedoch bei einer so wichtigen Sache. Er war deshalb froh, daß er in diesem Fall etwas Positives melden konnte.
»Wir wissen doch alle, daß die peruanische Regierung mit der Entführung nichts zu tun hat«, sagte er. »Ich bin sicher, daß das in unserer Nachrichtensendung heute abend angedeutet wird.«
»Ich will mehr als eine Andeutung. Ich will eine eindeutige Aussage.«
Chippingham zögerte, er wußte zwar, daß er, was die Unabhängigkeit seiner Abteilung betraf, durchaus hart bleiben konnte, war sich aber auch seiner starken persönlichen Abhängigkeit von Margot bewußt. »Da muß ich mir zuerst die Manuskripte ansehen«, erwiderte er. »Ich werde Sie in fünfzehn Minuten wieder anrufen.«
»Aber keine Minute später.«
Zehn Minuten später rief Chippingham zurück. »Das wird Ihnen gefallen. Harry Partridge hat das geschrieben, bevor er nach Peru abreiste, und wir bringen es heute in der Sendung. >Die Regierung von Peru und der Sendero Luminoso sind seit Jahren erbitterte Feinde. Jeder will nichts mehr als die Zerstörung des anderen. Perus Präsident Castaneda hat erklärt: Senderos Existenz ist eine tödliche Gefahr für Peru. Diese Kriminellen sind wie ein Messer in meiner Seite.< Das letzte bringen wir als Bild- und Tonzitat von Castaneda.«
In Chippinghams Stimme klang Erleichterung und auch ein wenig Humor an. »Ich glaube, Harry hat Ihre Gedanken gelesen, Margot. Ich hoffe, Sie sind damit zufrieden.«
»Schon gut. Lesen Sie es noch einmal vor. Ich will mitschreiben.«
Nach dem Telefongespräch rief Margot ihre Sekretärin an und diktierte ihr eine Nachricht an Theo Elliott.
Theo:
Als Ergebnis unseres Gesprächs werden die National Evening News heute abend folgende Meldung bringen:
»Die Regierung von Peru und Sendero Luminoso sind seit Jahren erbitterte Feinde. Jeder will nichts mehr als die Zerstörung des anderen. Perus Präsident Castaneda hat erklärt: >Senderos Existenz ist eine tödliche Gefahr für Peru. Diese Kriminellen sind wie ein Messer in meiner Seite.<«
Die letzte Aussage wird als Bild- und Tonzitat Castanedas gesendet.
Vielen Dank für Rat und Hilfe. Margot Lloyd-Mason
Die Nachricht ging sofort per Kurier an die Zentrale von Globanic Industries.
Margots nächster Anruf ging nach Washington - zum Außenminister.
Während des ganzen Freitags bis zur ersten Sendung der National Evening News um 18 Uhr 30 war bei CBA Abschottung oberstes Gebot, während nicht wenige Außenstehende versuchten, sie zu durchbrechen und Zugang zu den Exklusivinformationen zu erhalten, mit deren Ankündigung der Sender Publikum und Konkurrenz nun schon den ganzen Tag auf die Folter spannte. Journalisten der anderen Sender, von Radiostationen, Presseagenturen und den Printmedien, versuchten teils direkt, teils mit verschleierten Fragen, bei Freunden und Kontakten innerhalb von CBA zu erfahren, worum es sich nun eigentlich handelte. Da aber nur sehr wenige Leute überhaupt etwas wußten und man die Computer der Spezialeinheit zeitweise vom Datennetz abgekoppelt hatte, konnte bei CBA bis zum letzten Augenblick Stillschweigen gewahrt werden.
Doch unmittelbar nach Bekanntgabe der Informationen wurde die Meldung von allen übernommen und, unter Hinweis auf CBA News als Quelle, in der ganzen Welt verbreitet. Bei den anderen Sendern mußten sich einige Leute peinliche Fragen stellen lassen: Warum haben wir das verpaßt? Was hätten wir tun können, was wir nicht getan haben? Warum hast du das nicht nachgeprüft, und warum bist du dem nicht nachgegangen? Warum hat denn niemand daran gedacht, dort anzurufen? Was können wir tun, damit so etwas nicht noch einmal passiert?
Unterdessen warfen die Sender hastig ihre Spätsendungen um und verwendeten in aller Eile besorgtes Videomaterial mit dem Zusatz »Mit freundlicher Genehmigung von CBA«, während die Zeitungen den Umbruch ihrer Titelseiten änderten. Gleichzeitig alarmierten alle großen Nachrichtenorganisationen ihre Kontakte in Peru und versuchten, so schnell wie möglich eigene Korrespondenten und Kamerateams in Flugzeuge nach Lima zu setzen.
Inmitten dieses Trubels kam es zu einer weiteren, bedeutenden Entwicklung.
Don Kettering, der nun die Spezialeinheit leitete, hörte kurz vor 22 Uhr davon, als die Sondersendung eben dem Ende zuging. Er saß noch an dem Tisch, an dem er, zusammen mit Harry Partridge, die Sendung moderiert hatte - so sah es zumindest für die Zuschauer aus, die nicht wissen konnten, daß Partridges Beitrag in Wirklichkeit vom Band kam.
Norman Jaeger teilte ihm die Neuigkeit während eines Werbeblocks über Telefon mit. Jaeger war nun Chefproduzent, da Rita Abrams bereits im Flugzeug nach Peru saß.
»Don, wir müssen unbedingt gleich nach der Sendung eine Konferenz der Spezialeinheit ansetzen.«
»Ist irgendwas passiert, Norm? Irgendwas Heißes?«
»Brandheiß. Ich hab' es eben von Les erfahren. Drüben in Stonehenge ist ein Paket mit den Forderungen der Entführer und einem Videoband von Jessica Sloane eingetroffen.«
4
Das Band mit Jessicas Erklärung ließen sie zuerst laufen.
Es war Freitag, 22 Uhr 30. In einem Vorführraum, der sonst nur vom obersten Management benutzt wurde, saßen zehn Personen: Les Chippingham und Crawford Sloane, von der Spezialeinheit Don Kettering, Norm Jaeger, Karl Owens und Iris Everly, von der Senderzentrale in Stonehenge Margot Lloyd-Mason und Tom Nortandra, einer der Vizepräsidenten, und Irwin Bracebridge, der Präsident der CBA Broadcast Group, sowie vom FBI Sonderagent Otis Havelock.
Daß dieses Treffen überhaupt zustande kam, war zu einem Großteil dem Zufall zu verdanken. Etwas früher am Abend, gegen 19 Uhr 30, gab ein Bote in der Eingangshalle von Stonehenge ein kleines, unscheinbares Paket mit der Adresse President, CBA Network ab. Nach einer Routineüberprüfung schickte man es in Margot Lloyd-Masons Büro, wo es normalerweise bis Montag morgen ungeöffnet liegengeblieben wäre. Nortandra, dessen Büro direkt neben Margots lag, arbeitete aber noch, und zwei seiner Sekretärinnen ebenso. Eine der beiden nahm das Paket in Empfang und öffnete es. Sie erkannte natürlich sofort seine Bedeutung und informierte Nortandra, der Margot im Waldorf anrief, wo sie an einem Empfang zu Ehren des französischen Staatspräsidenten teilnahm.
Margot verließ den Empfang und eilte nach Stonehenge, wo sie sich zusammen mit Nortandra und Bracebridge, den man ebenfalls hinzugerufen hatte, das Band ansah und den beiliegenden Brief las. Sie wußten natürlich sofort, daß sie die Nachrichtenabteilung informieren mußten, und beriefen eine Sitzung in der CBA News-Zentrale ein.
Wenige Minuten vor Beginn der Sitzung nahm Bracebridge, selbst ehemaliger Präsident von CBA News, Crawford Sloane beiseite. »Ich weiß, daß das sehr schwer für dich wird, Crawf, und ich muß dich warnen. Auf diesem Band sind einige Geräusche, die mir gar nicht gefallen haben. Wenn du dir die Aufnahme also zuerst alleine ansehen willst, dann verstehen wir das und warten vor der Tür.«
Crawford Sloane war von Larchmont gekommen, zusammen mit Otis Havelock, der im Haus gewesen war, als der Anruf mit der Nachricht über die Botschaft der Entführer sie erreichte. Jetzt schüttelte Sloane den Kopf. »Vielen Dank, Irwin. Aber ich will es mir mit euch zusammen ansehen.«
Don Kettering war es, der nun die Leitung übernahm und dem Vorführer zurief: »Also los!«
Es wurde dunkel im Saal. Fast gleichzeitig zeigte sich auf dem riesigen, erhöhten Fernsehschirm vor den Zuschauern das schwarzweiße Flimmern, das typisch ist, wenn der Vorspann eines Bands ohne Bilder läuft. Aber Ton war bereits vorhanden - eine Reihe markerschütternder Schreie drang unvermittelt aus den Lautsprechern. Die Gruppe saß wie erstarrt. Dann richtete Crawford Sloane sich auf und rief mit gebrochener Stimme: »O Gott! Das ist Nicky!«
Plötzlich hörten die Schreie so abrupt auf, wie sie begonnen hatten. Einen Augenblick später tauchte ein Bild auf - Jessicas Gesicht und Schultern vor einem nackten braunen Hintergrund, offensichtlich einer Wand. Jessicas Gesicht war ernst und starr, und auf diejenigen, die sie kannten, auf die meisten also, wirkte sie erschöpft und schwach. Doch als sie zu reden begann, klang ihre Stimme fest und entschlossen, wobei man allerdings das Gefühl nicht loswurde, daß sie sich zwang, ihre Stimme normal klingen zu lassen.
Sie begann: »Wir werden hier gut behandelt. Man hat uns erklärt, warum wir entführt wurden, und wir verstehen nun, daß es notwendig war. Wir wissen auch, daß die Bedingungen, die für unsere sichere Rückkehr gestellt werden, von unseren amerikanischen Freunden sehr leicht zu erfüllen sind. Als Gegenleistung für unsere Freilassung sind die Anweisungen, die dieser Aufnahme beiliegen, schnell und Punkt für Punkt zu befolgen. Aber seid euch über eins im klaren...«
Bei den Worten »über eins im klaren« hörte man, wie Crawford Sloane überrascht die Luft anhielt und dann etwas murmelte.
»...wenn ihr diese Instruktionen nicht befolgt, werdet ihr keinen von uns je wiedersehen. Wir flehen euch an, laßt das nicht geschehen... «
Wieder kam ein plötzliches Geräusch von Sloane, ein geflüsterter Ausruf: »Da!«
»Wir warten, wir zählen auf euch und hoffen verzweifelt, daß ihr die richtige Entscheidung trefft und uns wohlbehalten nach Hause holt.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Jessicas Gesicht war noch auf dem Monitor zu sehen, sie starrte mit ausdrucksloser Miene ins Leere. Dann war die Aufzeichnung zu Ende. Die Lichter gingen wieder an.
»Wir haben das Band zuvor ganz durchlaufen lassen«, sagte Irwin Bracebridge. »Es ist sonst nichts drauf. Aber wir glauben, daß die Schreie am Anfang von einem anderen Band herüberkopiert wurden. Wenn man sich das Band in Zeitlupe genau ansieht, erkennt man einen optischen Schnitt an der Stelle, wo zwei Aufnahmen zusammenkopiert wurden.«
»Warum sollten sie so etwas tun?« wollte jemand wissen.
Bracebridge zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, um uns aufzurütteln und uns Angst einzujagen. Und das hat ja auch funktioniert, oder?«
Die anderen murmelten zustimmend.
Les Chippingham fragte behutsam: »Bist du sicher, daß diese ersten Geräusche von Nicky stammen?«
»Ganz sicher«, erwiderte er traurig und fügte dann hinzu: »Jessica hat zwei Signale übermittelt.«
»Welche Signale?« Chippingham klang verwirrt.
»Zuerst hat sie sich über die Lippen geleckt, und das heißt: >Ich mache das gegen meinen Willen. Glaubt kein Wort von dem, was ich sage.<«
»Raffiniert!« sagte Bracebridge.
»Sehr mutig«, bemerkte jemand. Andere nickten zustimmend.
»Wir haben noch am Abend vor der Entführung über solche Signale geredet, weil ich glaubte, daß ich selber sie eines Tages brauchen würde... Das Leben ist voller Zufälle. Offensichtlich hat Jessica sich daran erinnert.«
»Was konnte sie dir sonst noch mitteilen?« fragte Chippingham.
»Nein, Sir!« Die Stimme des FBI-Manns Havelock mischte sich in die Unterhaltung. »Mr. Sloane, was Sie sonst noch erfahren haben, sollten Sie im Augenblick für sich behalten. Je weniger Leute davon wissen, desto besser. Bitte, lassen Sie uns später darüber reden.«
»Ich möchte das aber wissen«, sagte Norm Jaeger. »Die Spezialeinheit hat es ja bis jetzt sehr gut geschafft, Geheimnisse für sich zu behalten.« Dann fügte er spitz hinzu: »Und sie aufzudecken.«
Der FBI-Agent sah ihn mürrisch an. »Soweit ich weiß, werden Sie wegen dieser Sache noch von unserem Direktor hören - warum Sie uns nicht informiert haben.«
»Das ist doch alles Zeitverschwendung«, sagte Iris Everly ungeduldig. »Mrs. Sloane hat auf dem Band Anweisungen erwähnt. Haben wir die?« Obwohl Iris die Jüngste der Gruppe war, war sie von der hochkarätigen Besetzung wenig beeindruckt. Sie hatte den ganzen Tag hart gearbeitet, um die Sondersendung fertigzubekommen, und war jetzt müde, aber ihr Verstand reagierte so schnell wie immer.
Margot, die noch immer das lavendelfarbene Chiffonkleid von Oscar de la Renta trug, in dem sie den französischen Präsidenten getroffen hatte, antwortete: »Wir haben es hier.« Sie nickte Nortandra zu. »Ich glaube, Sie sollten es laut vorlesen.«
Der Vizepräsident nahm ihr das Bündel zusammengehefteter Blätter ab, setzte sich eine Lesebrille auf die Nase und ging zur nächsten Lampe. Das Licht hob sein schlohweißes Haar und das nachdenkliche Gesicht hervor. Nortandra war Anwalt eines großen Konzerns gewesen, bevor er Manager bei CBA wurde; in seiner Stimme lag eine selbstbewußte Bestimmtheit, die er sich in den vielen Plädoyers im Gerichtssaal angeeignet hatte.
»Der Titel dieses Dokuments - oder vielleicht sollte ich besser sagen, dieser außergewöhnlichen Schmähschrift - lautet: >Die leuchtende Zeit ist gekommen.< Ich werde es Ihnen wörtlich vorlesen, ohne Kommentar oder Zwischenbemerkungen.
In der Geschichte der erleuchteten Revolutionen gab es Zeiten, in denen diejenigen, die sie anführten und inspirierten, es vorzogen zu schweigen und geduldig zu leiden, manchmal auch im Elend zu sterben, immer aber zu hoffen und zu planen. Dann gab es andere Zeiten -Augenblicke des Ruhms und des Sieges, wenn eine unterdrückte und ausgebeutete Mehrheit sich erhob, wenn Imperialismus und Tyrannei gestürzt wurden und wenn eine verkrustete kapitalistisch-bourgeoise Klasse ihre verdiente Vernichtung erfuhr.
Für den Sendero Luminoso ist die Zeit des Schweigens, der Geduld und des Leidens zu Ende. Die leuchtende Zeit, die zu beiden Seiten des Leuchtenden Pfads liegt, ist gekommen. Wir sind bereit zum Aufbruch.
Während die selbsternannten Supermächte dieser Welt sich nach außen hin durch Verhandlungen um Frieden bemühen, bereiten sie sich in Wahrheit auf eine katastrophale Konfrontation zwischen dem imperialistischen und dem sozialistisch-imperialistischen Block vor, die beide die Vorherrschaft über die Welt anstreben. Die bereits versklavte und vergewaltigte Mehrheit wird darunter nur noch mehr leiden. Wenn nichts gegen die immer weiter fortschreitende Ausbeutung der Welt unternommen wird, werden einige wenige machtbesessene Geldbonzen die gesamte Menschheit um ihrer eigenen Zwecke willen unterwerfen.
Aber wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch brodelt überall die Revolution. Die Partei - der Sendero Luminoso - wird diese Revolution anführen. Sie hat das Wissen und die Erfahrung. Ihr wachsender Einfluß erstreckt sich über die ganz Welt.
Es ist an der Zeit, daß die Öffentlichkeit uns kennenlernt und versteht.
Die verlogenen kapitalistisch-imperialistischen Medien, die nur drucken und senden, was ihre geldscheffelnden Herren ihnen sagen, ignorieren oder entstellen seit Jahren den heroischen Kampf des Sendero Luminoso.
Das wird sich nun ändern. Und das ist der Grund, warum wir kapitalistische Gefangene als Geiseln halten.
An den amerikanischen Fernsehsender CBA ergehen hiermit folgende Befehle:
Erstens: Beginnend mit dem zweiten Montag nach Erhalt dieser Forderungen wird das Programm CBA National Evening News (beide Ausgaben) an fünf Wochentagen, also eine ganze Woche lang, abgesetzt.
Zweitens: Statt des abgesetzten Programms wird ein anderes gesendet, das CBA in Form von fünf Cassetten zugeschickt wird. Der Titel dieses Programms lautet: >Die Weltrevolution: der Sendero Luminoso zeigt den Weg.<
Drittens: Während dieser Programme darf keine Werbung ausgestrahlt werden.
Viertens: Weder CBA noch eine andere Institution wird versuchen, die Herkunft dieser Cassetten zu ermitteln, von denen die erste CBA am Donnerstag nächster Woche zugehen wird. Die anderen folgen in täglichem Abstand. Jeder Versuch einer Nachforschung wird die sofortige Exekution einer der in Peru festgehaltenen Geiseln zur Folge haben. Bei allen weiteren Versuchen wird ebenso verfahren.
Fünftens: Diese Befehle stehen nicht zur Diskussion, sie sind Punkt für Punkt auszuführen.
Wenn CBA und andere diese Forderungen zur Gänze erfüllen, werden die drei Gefangenen vier Tage nach der letzten Ausstrahlung des Sendero Luminoso-Programms freigelassen. Wenn nicht, bleiben die Gefangenen verschwunden, und auch ihre Leichen wird man nirgends finden.«
»Da ist noch etwas«, sagte Nortandra. »Es steht auf einem separaten Blatt.«
»Kopien von >Die leuchtende Zeit ist gekommen und von der Videocassette mit der Erklärung der weiblichen Gefangenen gehen auch an die anderen Fernsehsender und die Presse.«
»Das ist alles«, stellte Nortandra fest. »Die Papiere sind nicht unterzeichnet, aber die Tatsache, daß sie als Begleitschreiben mit der Cassette kamen, macht sie meiner Meinung nach authentisch.«
Schweigen folgte. Niemand schien als erster etwas sagen zu wollen. Einige sahen Crawford Sloane an, der zusammengesunken und mit verbissenem Gesicht in seinem Sessel saß. Die anderen teilten seine Verzweiflung.
Schließlich war es Les Chippingham, der sprach. »Jetzt wissen wir es wenigstens. Die ganze Zeit haben wir uns schon gefragt, was diese Leute wollen. Zuerst haben wir an Geld gedacht. Jetzt zeigt sich, daß es viel mehr ist.«
»Viel, viel mehr«, ergänzte Bracebridge. »In Geld ist das überhaupt nicht umzurechnen, aber das steht ja auch gar nicht zur Debatte.«
»Wie ich anfangs schon angedeutet habe«, bemerkte Nortandra, »ergibt das Ganze, vor allem dieser Revolutionsjargon, wenig Sinn.«
Norm Jaeger meldete sich. »Das Gerede von Revolutionären ergibt selten Sinn, außer für sie selbst. Aber das ist kein Grund, sie nicht ernst zu nehmen. Das haben wir im Iran gesehen.« Jaeger sah auf die Uhr über ihnen: 22 Uhr 55. Dann wandte er sich an Chippingham. »Les, sollen wir mit einer Sondermeldung das Programm unterbrechen? Wenn wir schnell sind, schaffen wir es bis zur vollen Stunde. Wir könnten Ausschnitte aus dem Band mit Mrs. Sloane verwenden. Wenn es stimmt, daß die anderen Sender die Cassette auch erhalten haben, dann bringen sie die Geschichte wahrscheinlich sofort.«
»Sollen sie ruhig«, erwiderte Chippingham entschlossen. »Das ist eine ganz neue Situation, in der wir unter Zugzwang stehen und nichts überstürzen dürfen. Wir werden um Mitternacht eine Meldung bringen; das gibt uns Zeit, uns zu überlegen, wie wir vorgehen, und wichtiger noch, wie wir auf die Forderungen reagieren wollen - falls wir reagieren.«
»Die Art unserer Reaktion steht ja wohl außer Frage«, erklärte Margot Lloyd-Mason. »Es ist doch klar, daß wir diese lächerlichen Bedingungen unmöglich akzeptieren können. Wir werden doch nicht unsere Abendnachrichten eine ganze Woche lang stillegen.«
»Aber das müssen wir ja nicht sagen, zumindest nicht gleich am Anfang«, gab Nortandra zu bedenken. »Wir könnten zum Beispiel bekanntgeben, daß wir über die Forderungen nachdenken und später eine Erklärung abgeben werden.«
»Verzeihen Sie, wenn ich das sage«, unterbrach ihn Jaeger, »aber ich bezweifle, daß uns das irgend jemand abnimmt, am allerwenigsten der Sendero Luminoso. Ich habe mich eingehend mit diesen Leuten beschäftigt, und ich weiß, daß sie eins bestimmt nicht sind, nämlich Narren; die sind gerissen und intelligent. Und sie haben sich offensichtlich gut über unser Gewerbe informiert - so wissen sie zum Beispiel, daß die National Evening News am Samstag und Sonntag weniger Zuschauer haben, und deshalb wollen sie diese Termine nicht.«
»Was würden Sie dann vorschlagen?«
»Daß man der Nachrichtenabteilung die Ausarbeitung einer Antwort überläßt. Hier ist Raffinesse gefragt, keine undifferenzierten Pauschalaussagen wie >lächerliche Bedingungen<. Wir bei CBA News sind dafür besser ausgerüstet, haben ein feineres Gespür, und außerdem wissen wir in dieser Szene besser Bescheid...« Auf ein Zeichen von Chippingham hielt Jaeger inne.
»Ich stimme Norman im wesentlichen zu«, sagte er, »aber da dies in meinen Verantwortungsbereich fällt, sollte das wohl von mir kommen. Man sollte in der Tat der Nachrichtenabteilung diese Aufgabe überlassen, weil wir besser informiert sind, weil wir uns auf diesem Gebiet auskennen und weil einer unserer besten Korrespondenten, Harry Partridge, bereits in Peru ist. An ihn müssen wir uns zuerst wenden.«
»Wendet euch doch an wen ihr wollt, ihr mit eurer Raffinesse«, fauchte Margot. Sie war bei Jaegers Erwähnung der Lächerlichen Bedingungen rot geworden. »Hier geht es doch um eine Angelegenheit des Konzerns, die eine Entscheidung des Managements erfordert.«
»Nein, verdammt noch mal! Nein!« Die Worte wurden geschrien. Alle drehten sich um. Geschrien hatte Crawford Sloane, der nun nicht mehr niedergeschlagen in seinem Sessel saß, sondern stand und mit wütendem Blick und rotem Kopf die anderen ansah. Als er sprach, klang seine Stimme belegt, manchmal erstickt.
»Lassen Sie den Konzern aus dem Spiel. Norman hat recht mit den undifferenzierten Pauschalaussagen; wir alle haben eben eine gehört, und das kommt daher, weil die Leute vom Konzern weder das Wissen noch die Erfahrung für ein präzises journalistisches Urteil haben. Außerdem wurde eine Konzernentscheidung ja bereits getroffen, wir haben sie ebenfalls gehört: Wir können diese Bedingungen nicht akzeptieren. Wir werden doch nicht unsere Abendnachrichten eine ganze Woche lang stillegen. War es wirklich nötig, uns das zu sagen? Als ob das nicht alle von den Nachrichten wüßten -ich eingeschlossen. Wenn Sie eine Bestätigung brauchen, Mrs. Lloyd-Mason, hier haben Sie sie: Ich weiß, daß wir CBA News nicht einfach eine Woche lang dichtmachen und dem Sendero Luminoso übergeben können. Mein Gott - das akzeptiere ich doch! Ich sage das hier vor Zeugen.«
Sloane hielt inne, schluckte und fuhr dann fort: »Aber wir in der Nachrichtenabteilung können eins tun: Wir können unsere Fähigkeiten, unser Know-how benutzen und versuchen, Zeit zu schinden. Denn im Augenblick ist Zeit das, was wir am nötigsten brauchen. Und wir können auf Harry Partridge vertrauen, denn in ihn setze ich meine größte Hoffnung, meine Familie wohlbehalten wiederzubekommen.«
Sloane blieb stehen, nachdem er geendet hatte.
Bevor ein anderer etwas sagen konnte, versuchte Bracebridge, der ehemalige Nachrichtenmann und jetzige Konzernmanager, einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen. »In einer solchen Lage ist es für alle schwierig. Die Anspannung ist so groß, daß man emotional und gereizt reagiert. Einiges von dem, was gesagt wurde, hätte man höflicher formulieren können und wahrscheinlich auch sollen.« Er wandte sich an die CBA-Präsidentin. »Aber dennoch, Margot, glaube ich, daß man über diesen Vorschlag nachdenken sollte, zumal Ihre Entscheidung, wie Crawf deutlich gemacht hat, verstanden und akzeptiert wird. Das steht ja wohl außer Frage.«
Margot merkte, daß ihr hier eine Möglichkeit geboten wurde, das Gesicht zu wahren. Sie zögerte und sagte dann zu Chippingham: »Also gut, auf dieser Basis können Sie eine vorläufige Strategie ausarbeiten.«
»Vielen Dank«, erwiderte er. »Können wir noch eines klarstellen?«
»Und was?«
»Daß die grundlegende Entscheidung, auf die wir uns geeinigt haben, für den Augenblick geheim bleibt.«
»Einverstanden. Aber diese Zusicherung lassen Sie sich besser auch von den anderen hier geben. Und halten Sie mich auf jeden Fall auf dem laufenden.«
Die anderen hatten aufmerksam zugehört. Nun sah Chippingham sie an und fragte: »Kann ich bitte diese Zusicherung haben?«
Während einer nach dem anderen ihm sein Wort gab, verließ Margot den Saal.
Als Chippingham in sein Büro zurückkehrte, war es 23 Uhr 25. Um 23 Uhr 30 erhielt er den Ausdruck einer ReuterMeldung aus Lima mit Informationen über die Forderungen des Sendero Luminoso an CBA. Augenblicke später kam von AP aus Washington ein ausführlicher Bericht herein, der »Die leuchtende Zeit ist gekommen« in voller Länge zitierte.
Innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten brachten ABC, NBC und CBS Sondermeldungen mit kurzen Ausschnitten aus dem Band mit Jessica. Für die Nachrichtensendungen des folgenden Tages wurden ausführlichere Berichte angekündigt sowie, falls notwendig, weitere Sondermeldungen. CNN, das gerade eine Nachrichtensendung laufen hatte, nahm die Meldung einfach mit auf und hatte so die Nase vorn. Chippingham blieb bei seinem Entschluß, das Programm im Augenblick nicht zu unterbrechen, sondern um Mitternacht eine vorsichtig formulierte Erklärung zu bringen, die nun vorbereitet wurde.
Um 23 Uhr 45 verließ er sein Büro und ging zum Hufeisen. Norman Jaeger saß auf dem Platz des Chefproduzenten. Iris Everly arbeitete in einem Schneideraum an dem Band mit Jessica und an anderen, die als Hintergrundinformation benutzt werden sollten. Don Kettering, der die Mitternachtssendung moderieren sollte, saß in der Maske und arbeitete an seinem Manuskript.
»Wir werden ganz sachlich darüber berichten«, sagte Jaeger zu Chippingham, »ohne jede Reaktion von unserer Seite. Dafür haben wir später wahrscheinlich noch genug Zeit - egal wie die Reaktion dann aussieht. Übrigens, alle Welt, darunter auch die Times und die Post, ruft bei uns an, um zu erfahren, wie wir reagieren werden. Wir haben ihnen gesagt, daß wir das im Augenblick noch nicht wissen und daß wir darüber erst diskutieren müssen.«
Chippingham nickte. »Gut.«
Jaeger wies auf Karl Owens, der am anderen Ende des Hufeisens saß. »Karl hat eine Idee, wie diese Reaktion aussehen könnte.«
»Laß hören.«
Owens, das ideenreiche Arbeitstier, dessen hartnäckiges Nachbohren bereits zur Identifizierung des Terroristen Ulises Rodriguez geführt hatte, warf einen Blick auf eine seiner Karteikarten, seine gewohnte Datenbank.
»Aus dem Brief von Sendero wissen wir, daß CBA fünf einzelne Cassetten, die jeweils unsere Abendnachrichten ersetzen sollen, erhalten wird - die erste am Donnerstag nächster Woche, die anderen im Abstand von einem Tag. Im Gegensatz zu dem Band mit Mrs. Sloane werden diese Cassetten offenbar nur an CBA geschickt.«
»Das weiß ich doch alles«, entgegnete Chippingham.
Jaeger lächelte, als Owens unbeirrt in der ihm eigenen Ausführlichkeit fortfuhr. »Ich würde nun vorschlagen, daß wir bis Dienstag überhaupt nichts über eine mögliche Reaktion von CBA verlauten lassen. Nur am Montag sollten wir, um das Interesse wachzuhalten, ankündigen, daß wir am nächsten Tag eine öffentliche Erklärung abgeben werden. Und diese wird lauten: Kein Kommentar, bis wir das angekündigte Band am Donnerstag erhalten haben, unsere Entscheidung werden wir erst danach bekanntgeben.«
»Und was bringt uns das?«
»Das bringt uns erst einmal einen Aufschub bis Donnerstag, das sind von heute ab sechs Tage. Dann nehmen wir einmal an, der Sendero schickt uns das Band.«
»Okay, es ist also da. Was dann?«
»Wir legen es in einen Safe, damit niemand dran kann, und gehen dann sofort auf Sendung. Wir unterbrechen das Programm, tun sehr aufgeregt und sagen, wir hätten die Cassette erhalten, sie sei aber kaputt. Sie muß beim Transport beschädigt worden sein, es ist fast alles gelöscht. Wir haben versucht, sie abzuspielen und irgendwie zu reparieren, aber es ging nicht. Und das bringen wir nicht nur im Fernsehen, sondern geben es auch an die Presse und die Presseagenturen weiter, damit es auch wirklich bis nach Peru gelangt und der Sendero Luminoso davon erfährt.«
»Ich glaube, ich verstehe, worauf du hinauswillst«, sagte Chippingham. »Aber erzähl's mir trotzdem.«
»Diese Typen vom Sendero wissen dann nicht, ob wir lügen oder die Wahrheit sagen. Aber sie wissen - wie wir auch -, daß so etwas passieren kann. Vielleicht entscheiden sie im Zweifelsfall zu unseren Gunsten und schicken uns eine Kopie, was wiederum einige Tage dauert... «
Chippingham beendete den Satz für ihn: »...und das würde heißen, daß wir auf keinem Fall an dem Tag, den sie angegeben haben, mit den Sendungen beginnen können.«
»Genau.«
»Karl wäre sicher auch gleich dazu gekommen, Les«, bemerkte Jaeger. »Aber ich glaube, er will damit sagen, daß wir so einige Tage Aufschub erreichen - falls es funktioniert, und es besteht durchaus die Chance, daß es funktioniert. Was hältst du davon?«
»Ich halte es für brillant«, erwiderte Chippingham. »Ich bin wirklich froh, daß wir die Sache in die Hand genommen haben.«
Während des ganzen Wochenendes beherrschten die Forderungen des Sendero Luminoso und das Video mit Jessica die Nachrichtensendungen. Die Meldung erregte weltweit Aufsehen. CBA wurde mit Bitten um Stellungnahme, vorzugsweise in Form einer offiziellen Verlautbarung, bestürmt. Man einigte sich darauf, sämtlich Anrufe dieser Art direkt an CBA News weiterzuleiten. Dem Management der anderen Abteilungen wurde nahegelegt, auf Fragen zu diesem Thema nicht zu antworten, auch nicht inoffiziell.
Bei CBA News kümmerten sich drei Sekretärinnen, die extra deswegen Wochenenddienst leisten mußten, um diese Anrufe. Ihre Antwort war immer dieselbe: Kein Kommentar von CBA und nein, es sei auch nicht möglich zu sagen, wann der Sender einen Kommentar abgeben würde.
Daß CBA sich in Schweigen hüllte, hielt andere nicht davon ab, ihre Meinung zu äußern. Der Tenor der meisten dieser Kommentare lautete: Bleibt stark! Gebt nicht nach!
Eine überraschende Zahl von Leuten war jedoch auch der Ansicht, es schade nichts, die Forderungen der Entführer zu erfüllen, wenn damit die Freilassung der Geiseln zu erreichen wäre. Norman Jaeger reagierte auf diese Haltung mit Empörung: »Sehen diese Spatzenhirne denn nicht, daß es hier ums Prinzip geht? Wenn wir einen Präzedenzfall schaffen, wäre das doch eine Einladung für jede Gruppe von Verrückten auf der ganzen Welt, Leute vom Fernsehen zu entführen!«
In den sonntäglichen Talkshows Face the Nation, Meet the Press und The Week with DavidBrinkley wurde über das Thema diskutiert und Auszüge aus Crawford Sloanes Buch Die Kamera und die Wahrheit zitiert. Besonders beliebt waren folgende Stellen:
- daß Geiseln im Notfall zu opfern sind.
- Das einzige Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus ist, ...daß man nie, ich wiederhole, nie, mit Terroristen verhandelt oder Lösegelder zahlt, ob nun auf direktem oder indirektem Weg.
Innerhalb von CBA schienen diejenigen, die Les Chippingham versprochen hatten, die grundsätzliche Entscheidung gegen ein Eingehen auf die Forderungen der Entführer geheimzuhalten, zu ihrem Wort zu stehen. Die einzige, die dieses Versprechen brach, war Margot Lloyd-Mason, denn sie telefonierte am Sonntag mit Theodore Elliott und berichtete ihm von den Ereignissen des vergangenen Abends.
Darauf angesprochen, hätte Margot zweifellos argumentiert, daß sie sich nur korrekt verhalte, wenn sie den Vorsitzenden von Globanic über die laufenden Ereignisse informierte. Leider gab aber ihr Vorgehen, ob es nun richtig war oder nicht, den Anstoß für ein Informationsleck mit verheerenden Folgen.
5
Globanic Industries World Headquarters, die Zentrale von Globanic, war ein villenähnlicher Bürokomplex mit eigenem Park in Pleasantville im Staat New York, etwa dreißig Meilen von Manhattan entfernt. Diese Residenz war bewußt gewählt, um die Denkfabrik des Konzerns, in der über Strategien nachgedacht wurde und weitreichende Entscheidungen getroffen wurden, von der hektischen Atmosphäre der Einzelgesellschaften in den industriellen und Finanzzentren zu isolieren. Globanic Financial zum Beispiel, die das Umschuldungsgeschäft mit Peru abwickelte, residierte in drei Stockwerken des World Trade Center in der Nähe der Wall Street.
In Wirklichkeit aber drangen viele der untergeordneten Probleme, die die einzelnen Tochtergesellschaften betrafen, bis in die Zentrale in Pleasantville. Und das war auch der Grund, warum am Montagvormittag um zehn Uhr Glen Dawson, ein forscher junger Reporter des Baltimore Star, darauf wartete, den Chefbuchhalter von Globanic zum Thema Palladium interviewen zu können. Das wertvolle Metall machte im Augenblick Schlagzeilen, und eine Tochter von Globanic besaß in Minas Gerais in Brasilien Bergwerke, in denen Palladium und Platin gefördert wurden. Dort drohten Arbeitskämpfe die Produktion lahmzulegen.
Dawson wartete vor dem Büro des Chefbuchhalters in einer eleganten, runden Vorhalle, von der zwei weitere Büros ranghoher Globanic-Manager abgingen, darunter das des Vorsitzenden des Konzerns.
Der Reporter saß noch immer in einer unauffälligen Ecke, als eine der Bürotüren aufging und zwei Männer in die Halle traten.
Der eine war Theo Elliott, den Dawson von Fotos her kannte. Auch das Gesicht des anderen Mannes kam ihm bekannt vor, doch er konnte es im Augenblick nicht einordnen. Die beiden setzten die Unterhaltung fort, die sie im Büro begonnen hatten.
»...über CBA gehört. Die Drohungen dieser peruanischen Rebellen bringen Sie in eine schwierige Lage.«
Der Vorsitzende von Globanic nickte. »In gewisser Hinsicht ja... kommen Sie, ich bringe Sie zum Aufzug... Wir haben bereits eine Entscheidung getroffen, sie wurde nur noch nicht bekanntgegeben. Wir haben nicht die Absicht, uns von einem Haufen verrückter Kommunisten an die Wand drängen zu lassen.«
»Dann wird CBA die Abendnachrichten also nicht absetzen?«
»Auf gar keinen Fall. Und wir denken überhaupt nicht daran, das Material von diesem Leuchtenden Pfad zu senden... «
Die Stimmen verschwanden.
Mit der Zeitschrift, die er eben durchgeblättert hatte, verdeckte Glen Dawson den Block, auf dem er sich den Wortlaut der Unterhaltung notierte. Sein Puls raste. Er wußte, daß er nun exklusive Informationen besaß, nach denen zahllose andere Journalisten seit Samstagnacht vergeblich suchten.
»Mr. Dawson«, rief ihm eine Empfangsdame zu. »Mr. Licata hat jetzt Zeit für Sie.«
Als er an ihrem Schreibtisch vorbeikam, blieb er stehen und lächelte sie an. »Dieser Herr bei Mr. Elliott - ich bin sicher, daß ich ihn schon einmal gesehen habe, aber im Augenblick fällt mir der Name nicht ein.«
Die Empfangsdame zögerte; Dawson spürte ihre Skepsis und lächelte sie noch einmal an. Es half. »Das war Staatssekretär Alden Rhodes vom Wirtschaftsministerium.«
»Natürlich! Wie konnte ich das nur vergessen?«
Dawson hatte den Staatssekretär schon einmal im Fernsehen bei einem Auftritt vor einem Parlamentsausschuß gesehen. Aber im Augenblick war nur wichtig, daß er den Namen kannte.
Das Interview mit dem Chefbuchhalter schien ewig zu dauern, obwohl Dawson versuchte, es so schnell wie möglich zu beenden. Das Thema Palladium hatte ihn sowieso nicht sonderlich interessiert; er war ein ehrgeiziger junger Mann, der über Themen von großem allgemeinen Interesse schreiben wollte, und das, worüber er eben gestolpert war, kam ihm als Fahrkarte in eine aufregendere Zukunft gerade recht. Der Chefbuchhalter jedoch ließ sich Zeit bei seiner Beschreibung von Geschichte und Zukunft des Palladiums. Die Arbeitskämpfe in Brasilien tat er als vorübergehende Erscheinung ab, die kaum Einfluß auf die Produktion hatten, und das war eigentlich alles, was Dawson hatte wissen wollen. Schließlich redete er sich auf den angeblich bevorstehenden Redaktionsschluß heraus und verließ das Büro.
Er sah auf die Uhr und stellte fest, daß er noch Zeit hatte, um in die Manhattaner Redaktion des Baltimore Star zu fahren und beide Artikel für die Nachmittagsausgabe fertigzustellen. Während er im Geist bereits Worte und Sätze aneinanderreihte, raste er über den Saw Mill River Parkway nach Süden und bog dann auf den Interstate 87 ein.
Glen Dawson saß an einem Computer in den bescheidenen Redaktionsräumen an der Rockefeller Plaza und schrieb zuerst die Palladium-Story. Das war schließlich sein ursprünglicher Auftrag gewesen, den er nun auch gewissenhaft erledigte.
Doch dann machte er sich an die aufregendere Geschichte. Sein erster Bericht war an die Wirtschaftsredaktion gegangen, und da er zu dieser Abteilung gehörte, würde auch der zweite zunächst dort eingehen. Er war aber sicher, daß er nicht allzulange bei diesem Ressort bleiben würde.
Seine Finger huschten über die Tasten, während er den Vorspann schrieb.
Dabei dachte Dawson über eine moralische Frage nach, von der er wußte, daß sie gestellt und auch beantwortet werden mußte: Würde die Veröffentlichung der Information, die er jetzt besaß, die Entführungsopfer in Peru noch mehr in Gefahr bringen, als sie es bereits waren?
Oder genauer: Würde den drei Sloanes die Veröffentlichung der Entscheidung von CBA, nicht auf die Bedingungen einzugehen, schaden, eine Entscheidung, die offensichtlich im Augenblick noch nicht für eine Veröffentlichung bestimmt war?
Hatte aber andererseits die Öffentlichkeit nicht auch das Recht, alles zu erfahren, was ein unternehmungslustiger Reporter wie er herausfinden konnte, gleichgültig, wie er sich die Information beschafft hatte?
Diese Fragen existierten zwar, doch Dawson wußte auch, daß er sie nicht zu beantworten hatte. In solchen Angelegenheiten gab es feste Regeln, die alle Beteiligten kannten. Ein Reporter hatte die Aufgabe, über alles Wichtige zu schreiben, das er erfuhr. Er durfte Nachrichten nicht unterdrücken oder verändern, sondern mußte einen vollständigen und genauen Bericht schreiben und den an die Nachrichtenzentrale weiterleiten, die ihn beschäftigte.
Dort ging der Bericht an einen oder mehrere Redakteure. Und ihre Aufgabe war es, sich über moralische Implikationen Gedanken zu machen.
In Baltimore, wo sein Artikel vermutlich eben aus dem Drucker kam, würde in wenigen Augenblicken genau das passieren, dachte Dawson.
Nach dem letzten Satz drückte er auf einen Knopf, um für sich selbst ein Kopie ausdrucken zu lassen. Doch eine andere Hand kam ihm zuvor und schnappte ihm den Ausdruck weg.
Es war der Redaktionsleiter, Sandy Sefton, der eben zur Tür hereingekommen war. Sefton war ein alter Reporterveteran kurz vor der Pensionierung, und er und Dawson waren gute Freunde.
Während er den Ausdruck las, pfiff er leise und sah dann hoch.
»Das ist wirklich eine heiße Sache. Diese Aussage von Elliott, hast du die mitgeschrieben, während er sie machte?«
»Wenige Sekunden später.« Dawson zeigte dem Älteren seine Notizen.
»Sehr gut! Hast du mit dem anderen, diesem Alden Rhodes, auch gesprochen?«
Dawson schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich wird sich Baltimore gleich bei dir melden.« Ein Telefon klingelte. »Wollen wir wetten, daß das schon Baltimore ist?«
Sefton hatte recht gehabt. Er nahm den Anruf entgegen, hörte kurz zu und sagte dann: »Mein Junge steht heute abend bei euch auf der Titelseite, was?« Er grinste, als er Dawson den Hörer gab. »Es ist Frazer.«
J. Allardyce Frazer war der Chefredakteur. Er kam sofort zur Sache, und seine Stimme klang sehr bestimmt. »Sie haben nicht direkt mit Theodore Elliott gesprochen. Habe ich recht?«
»Ja, Sie haben recht, Mr. Frazer.«
»Dann tun Sie's. Sagen Sie ihm, was Sie wissen, und fragen Sie ihn, ob er dazu eine Stellungnahme abgeben möchte. Wenn er die Aussage leugnet, nehmen Sie das Dementi in Ihren Bericht auf und versuchen Sie gleichzeitig, von Alden Rhodes eine Bestätigung zu bekommen. Wissen Sie, wie Sie das anstellen müssen?«
»Ich glaube schon.«
»Ich will noch mal mit Sandy sprechen.«
Der Redaktionsleiter übernahm den Hörer. Er zwinkerte Dawson zu, während er zuhörte, und sagte dann: »Ich habe Glens Notizen gesehen. Er hat sich sofort aufgeschrieben, was Elliott gesagt hat. Das ist eindeutig. Ein Mißverständnis ist ausgeschlossen.«
Sefton legte auf und sagte zu Dawson: »Du hast noch keine Freigabe; die diskutieren gerade über den moralischen Aspekt. Du kümmerst dich um Elliott. Und ich werde versuchen, Rhodes aufzuspüren; der kann noch nicht wieder in Washington sein.« Sefton ging zu einem zweiten Apparat.
Dawson wählte die Nummer von Globanic. Die Telefonzentrale vermittelte ihn weiter, und schließlich meldete sich eine Frauenstimme. Der Reporter stellte sich vor und fragte nach »Mr. Theodore Elliott«.
»Mr. Elliott ist im Augenblick nicht zu sprechen«, sagte die Stimme. »Ich bin Mrs. Kessler. Kann ich etwas für Sie tun?«
»Vielleicht.« Dawson erklärte ihr ausführlich den Grund seines Anrufs.
Die Stimme klang plötzlich kalt. »Warten Sie bitte.«
Einige Minuten vergingen. Dawson wollte schon einhängen und wieder anrufen, als die Frau sich endlich meldete. Diesmal klang sie noch mehr als unterkühlt. »Mr. Elliott läßt Ihnen sagen, daß das, was Sie zu hören geglaubt haben, vertraulich ist und nicht verwendet werden darf.«
»Ich bin Reporter«, sagte Dawson. »Wenn ich etwas höre oder erfahre, das mir nicht ausdrücklich als vertraulich mitgeteilt wurde, habe ich das Recht, es zu benutzen.«
»Mr. Dawson, ich sehe keinen Sinn darin, diese Unterhaltung fortzusetzen.«
»Einen Augenblick noch, bitte. Leugnet Mr. Elliott, die Worte gesagt zu haben, die ich Ihnen vorgelesen habe?«
»Mr. Elliott hat dazu nichts weiter zu sagen.«
Dawson schrieb sich Frage und Antwort auf, wie er es auch schon zuvor getan hatte.
»Mrs. Kessler, hätten Sie etwas dagegen, mir Ihren Vornamen zu nennen?«
»Warum sollte ich... also gut, Diana.«
Dawson lächelte, denn er vermutete, daß Diana Kessler sich überlegte hatte, wenn ihr Name schon in der Zeitung stehen sollte, dann wenigstens vollständig. Er wollte sich noch bedanken, merkte aber, daß die Verbindung bereits unterbrochen war.
Während er auflegte, gab ihm der Redaktionsleiter einen Zettel. »Rhodes ist in einem Wagen des State Department auf dem Weg nach La Guardia Airport. Das ist die Nummer des Autotelefons.«
Dawson wählte die Nummer.
Eine Männerstimme meldete sich. Als Dawson nach »Mr. Alden Rhodes« fragte, kam die Antwort: »Am Apparat.«
»Mr. Rhodes, meine Zeitung möchte gern wissen, ob Sie etwas sagen können zu Mr. Theodore Elliotts Bemerkung, daß CBA nicht auf die Forderungen des Sendero Luminoso eingehen wird und daß, in Mr. Elliotts Worten, >Wir... nicht die Absicht [haben], uns von einem Haufen verrückter Kommunisten an die Wand drängen zu lassen.««
»Hat Theo Elliott Ihnen das wirklich gesagt?«
»Ich habe es ihn persönlich sagen hören, Mr. Rhodes.«
»Ich dachte, er wollte das geheimhalten.« Eine Pause. »Warten Sie mal! Haben Sie nicht in der Halle gesessen, als wir zum Aufzug gingen?«
»Ja.«
»Dawson, Sie haben mich ausgetrickst. Ich verbiete Ihnen, dieses Gespräch zu veröffentlichen.«
»Mr. Rhodes, ich habe mich zu Beginn vorgestellt, aber von einem Veröffentlichungsverbot haben Sie nichts gesagt.«
»Zum Teufel mit Ihnen, Dawson.«
»Das letzte werde ich nicht veröffentlichen, Sir. Denn jetzt weiß ich ja von dem Verbot.«
Der Redaktionsleiter grinste und streckte den Daumen in die Höhe.
Die Moraldiskussion in Baltimore dauerte nicht sehr lange.
Wenngleich Nachrichtenorganisationen eher zur Veröffentlichung neigen, müssen bei bestimmten Artikeln - und um einen solchen ging es im Augenblick - gewisse Fragen gestellt und beantwortet werden. Der Chefredakteur und der Inlandsredakteur, in dessen Ressort der Artikel fiel, stellten sie sich gegenseitig.
Frage: Würde die Veröffentlichung der Entscheidung von CBA die Geiseln in Gefahr bringen? Antwort: Die Geiseln schwebten bereits in Gefahr, und es war kaum anzunehmen, daß die Veröffentlichung einen großen Unterschied machte. Frage: Wie hoch war das Risiko, daß wegen der Veröffentlichung jemand getötet wurde? Antwort: Sehr gering, da eine tote Geisel wertlos wäre. Frage: Da CBA die Entscheidung in ein oder zwei Tagen sowieso bekanntgeben mußte, welchen Unterschied machte es, wenn sie etwas früher veröffentlicht wurde? Antwort: Kaum einen. Frage: Da die Entscheidung durch Theo Elliotts Leichtfertigkeit bereits nach außen gedrungen war und andere mit Sicherheit davon wußten, wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, daß die Öffentlichkeit nichts davon erfuhr? Antwort: Sehr gering.
Am Ende formulierte der Chefredakteur das Ergebnis, zu dem sie beide gekommen waren: »Es gibt kein moralisches Problem. Der Artikel wird gedruckt!«
Die Geschichte wurde zum Aufmacher der Nachmittagsausgabe des Baltimore Star. Eine Balkenüberschrift verkündete reißerisch:
CBA SAGT NEIN ZU SLOANE-ENTFÜHRERN
Der Artikel, der unter Glen Dawsons Namen erschien, begann wie folgt:
CBA wird die Forderung der Sloane-Entführer, die National Evening News eine Woche lange abzusetzen und dafür Propagandamaterial der peruanischen Maoistengruppe Sendero Luminoso zu senden, entschieden zurückweisen.
Sendero Luminoso, der Leuchtende Pfad, hat zugegeben, die Entführungsopfer an einem geheimen Ort in Peru gefangenzuhalten.
Theodore Elliott, der Vorsitzende und Hauptgeschäftsführer von Globanic Industries, des Mutterkonzerns von CBA, erklärte heute: »Wir haben nicht die Absicht, uns von einem Haufen verrückter Kommunisten an die Wand drängen zu lassen.«
Während eines Gesprächs in der Zentrale von Globanic in Pleasantville fügte er hinzu: »Wir denken überhaupt nicht daran, das Material von diesem Leuchtenden Pfad auszustrahlen.«
Ein Reporter des Star war anwesend, als Elliott dies sagte.
Staatssekretär Alden Rhodes vom
Wirtschaftsministerium, der zu diesem Zeitpunkt Mr. Elliotts Gesprächspartner war, wollte auf Anfrage des Star keinen Kommentar abgeben, bemerkte jedoch: »Ich dachte, er wollte das geheimhalten.«
Leider gelang es nicht, von Mr. Elliott selbst zusätzliche Informationen zu erhalten.
»Mr. Elliott ist im Augenblick nicht zu sprechen«, erfuhr unser Reporter von Mrs. Diana Kessler, der Sekretärin des Vorsitzenden von Globanic. Als Antwort auf weitere
Fragen sagte Mrs. Kessler nur: »Mr. Elliott hat dazu weiter nichts zu sagen.«
Es kam noch mehr - vorwiegend Hintergrundinformationen über die Geschichte der Entführung.
Noch vor Auslieferung des Baltimore Star hatten auch die Pressagenturen die Geschichte, die alle den Star als Quelle angaben. Am Abend wurde der Star in allen Nachrichtensendungen zitiert, darunter auch von CBA, wo die vorzeitige Enthüllung bei einigen Leuten helle Verzweiflung auslöste.
Am nächsten Morgen berichteten auch die peruanischen Medien, die der Entführungsgeschichte höchste Aufmerksamkeit schenkten, über die Enthüllung, wobei sie besonders Theo Elliotts Beschreibung des Sendero Luminoso als »Haufen verrückter Kommunisten« - »grupo de Comunistas locos« - herausstellten.
6
»Ich mag Vincente«, sagte Nicky. »Er ist unser Freund.«
»Das glaube ich auch«, rief Angus aus seiner Zelle. Er lag auf der dünnen, fleckigen Matratze seiner Pritsche und vertrieb sich die Zeit mit der Beobachtung von zwei großen Käfern an der Wand.
»Das schlagt euch schleunigst aus dem Kopf«, zischte Jessica. »Hier irgend jemand zu mögen, ist dumm und naiv.«
Sie hielt inne und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. So harte Worte waren wirklich unnötig.
»Tut mir leid. Das ist mir einfach so rausgerutscht.«
Das Problem war, daß sie nach fünfzehn Tagen Gefangenschaft in diesen winzigen Käfigen alle gereizt und mutlos waren. Jessica hatte zwar alles getan, um die Stimmung, wenn schon nicht hoch, dann wenigstens so zu halten, daß sie nicht in Verzweiflung umschlug. Sie hatte auch sehr darauf geachtet, daß keiner die tägliche Gymnastik vernachlässigte. Aber trotz ihres Bemühens zeigten die fehlende Bewegungsfreiheit, die Monotonie und die Einsamkeit Wirkung.
Dazu kam noch, daß das fettige, fast ungenießbare Essen ihre körperliche Konstitution weiterhin erheblich schwächte.
Und obwohl sie versuchten, sich regelmäßig zu waschen, waren sie meistens schmutzig, sie rochen schlecht und schwitzten, und die dreckigen Kleider klebten an ihren Körpern.
Es war ja schön und gut, dachte Jessica nun, sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, daß ihr Antiterrorismus-Lehrer, Brigadier Wade, in seinem Erdloch in Korea schlimmer und länger gelitten hatte. Aber Cedric Wade war ein außergewöhnlicher Mann, der damals in Kriegszeiten seinem Land diente. Doch hier war kein Krieg, an dem sie ihren Mut hätten aufrichten können. Sie waren nur Zivilisten, zufällige Opfer eines unbedeutenden Geplänkels, Gefangene... zu welchem Zweck? Jessica wußte es nicht.
Dennoch erinnerte sie der Gedanke an Brigadier Wade und Nickys und Angus' Bemerkungen über Vincente an etwas, das sie von Wade gelernt hatte. Und jetzt schien ihr der Augenblick günstig, um es zur Sprache zu bringen.
Sie sah sich ängstlich nach dem diensthabenden Wachposten um und fragte leise: »Angus und Nicky, habt ihr schon einmal vom Stockholm-Syndrom gehört?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Angus. »Aber ich bin nicht sicher.«
»Nicky?«
»Nein, Mom. Was ist das?«
Der Wachposten war derjenige, der manchmal in ComicHeften las; er schien auch jetzt in eins vertieft zu sein und nicht auf ihre Unterhaltung zu achten. Jessica wußte außerdem, daß er kein Englisch verstand.
»Ich werde es euch erzählen«, sagte sie.
Sie erinnerte sich daran, was Brigadier Wade der kleinen Gruppe, zu der auch sie gehörte, erklärt hatte: »Eins passiert fast immer in Entführungssituationen, nämlich daß zumindest ein paar der Opfer anfangen, die Terroristen zu mögen. Manchmal geht das sogar so weit, daß die Geiseln die Terroristen als ihre Freunde betrachten und die Polizei oder die Truppen, die sie retten wollen, als Feinde. Das ist das Stockholm-Syndrom.«
Daß das alles zutraf, fand Jessica später durch zusätzliche Lektüre bestätigt. Es hatte sie auch interessiert nachzulesen, wie dieses Phänomen zu seinem Namen gekommen war.
Nun versuchte sie, sich das wieder ins Gedächtnis zu rufen, und erzählte dann die eigenartige Geschichte, während Nicky und Angus interessiert zuhörten.
Es geschah in Stockholm am 23. August 1973.
Am Morgen dieses Tages betrat ein entflohener Sträfling, der zweiunddreißigjährige Jan-Erik Olsson, die Sveriges Kreditbanken am Norrmalmstorg, einem Platz im Stadtzentrum. Olsson zog eine Maschinenpistole unter einer zusammengefalteten Jacke hervor und feuerte damit an die Decke. Beton und Glas regneten herab, unter den Anwesenden entstand eine Panik.
Das Martyrium, das darauf folgte, dauerte sechs Tage.
Natürlich wußte damals keiner der Beteiligten, daß die Ereignisse dieser Tage zur Prägung des Begriffs »Stockholm -Syndrom« führen sollten - ein Begriff, der in medizinischen und wissenschaftlichen Fachkreisen ebenso gebräuchlich wurde wie Kaiserschnitt, Anorexie, Penisneid oder Alzheimersche Krankheit.
Olsson und ein jüngerer Komplize, Clark Olofsson, nahmen drei Frauen und einen Mann, alles Bankangestellte, als Geiseln: Brigitta Lundblad, einunddreißig, eine hübsche Blondine; Kristin Ehnmark, dreiundzwanzig, sehr aufgeweckt und dunkelhaarig; Elisabeth Oldgren, einundzwanzig, klein, hübsch und sanft; sowie Sven Säfström, fünfundzwanzig, ein großer, schlanker Junggeselle. Einen Großteil der sechs Tage verbrachten die sechs im engen Tresorraum der Bank, von wo aus die Geiselgangster telefonisch ihre Bedingungen stellten -drei Millionen Kronen in bar, zwei Pistolen und ein Fluchtauto.
Für die Geiseln waren diese Tage eine Qual. Man zwang sie, mit Stricken um den Hals aufrecht zu stehen, so daß sie sich beim Umfallen selbst stranguliert hätten. Sie hatten permanent den Tod vor Augen, da ihnen die Geiselnehmer immer wieder die Maschinenpistolen in die Rippen stießen. Fünfzig Stunden lang waren sie ohne Nahrung. Abfallkörbe aus Plastik dienten als Toiletten. Klaustrophobie und Angst beherrschten die Stimmung im Tresorraum.
Doch mit der Zeit entstand zwischen Geiseln und Geiselnehmern eine eigenartige, enge Vertrautheit. Es gab eine Situation, in der Brigitta hätte fliehen können, es aber nicht tat. Kristin gelang es, der Polizei Informationen zuzuspielen, gestand aber später ein: »Ich kam mir vor wie ein Verräter.« Sven, der männliche Gefangene, beschrieb seine Wächter als »freundlich«. Elisabeth stimmte ihm zu.
Die Stockholmer Polizei, die einen Zermürbungskrieg führte, um die Geiseln irgendwann befreien zu können, traf bei den Geiseln selbst auf Feindseligkeit. Kristin sagte am Telefon, daß sie den Bankräubern vertraue, und fügte hinzu: »Ich will, das Sie uns mit ihnen flüchten lassen... Sie haben uns sehr gut behandelt.« Über Olsson sagte sie: »Er schützt uns vor der Polizei.« Als man ihr sagte: »Die Polizei wird Ihnen nichts tun«, erwiderte sie: »Das glaube ich nicht.«
Später wurde bekannt, daß Kristin mit dem jüngeren Verbrecher, Olofsson, Händchen gehalten hatte. Einem Ermittlungsbeamten erzählte sie: »Clark war zärtlich zu mir.«
Als die Geiseln nach ihrer Befreiung auf Tragen zu einem Krankenwagen gebracht wurden, rief Kristin Olofsson zu: »Clark, wir sehen uns wieder.«
Bei der Untersuchung des Tresorraums wurden Samenspuren gefunden. Nach einer Woche intensiver Befragung gab eine der Frauen zu, eines Nachts, während die anderen schliefen, Olsson beim Masturbieren geholfen zu haben, leugnete aber, mit ihm Verkehr gehabt zu haben. Die Polizei zweifelte zwar an der Aussage, ging der Angelegenheit aber nicht weiter nach.
Auf Fragen von Ärzten bezeichneten die befreiten Geiseln die Polizei als »den Feind«. Sie glaubten, ihr Leben einzig und allein den Geiselnehmern zu verdanken. Elisabeth beschuldigte einen Arzt, er versuche ihr »mit einer Gehirnwäsche« ihre Hochachtung vor Olsson und Olofsson zu nehmen.
1974, knapp ein halbes Jahr nach dem Geiseldrama, besuchte Brigitta Olofsson im Gefängnis und unterhielt sich eine halbe Stunde lang mit ihm.
Die mit dem Fall betrauten Ärzte bezeichneten schließlich die Reaktion der Geiseln als typisch für jemand in einer »Überlebenssituation«. Sie zitierten Anna Freud, die eine solche Reaktion »Identifikation mit dem Angreifer« nennt. Aber erst dieses schwedische Drama gab dem Phänomen einen dauerhaften, einprägsamen Namen: Das Stockholm-Syndrom.
»He, das ist ja eine tolle Geschichte, Mom«, rief Nicky.
»Ich hab' das alles überhaupt nicht gewußt, Jessie«, fügte Angus hinzu.
»Weißt du noch mehr solche Sachen?« fragte Nicky.
Jessica freute sich über die Reaktion. »Ein paar schon.«
Sie dachte wieder an Brigadier Wade. »Ich möchte Ihnen zwei Ratschläge geben«, hatte er eines Tages vor seiner Klasse gesagt. »Erstens, wenn Sie Gefangene oder Geiseln sind: Hüten Sie sich vor dem Stockholm-Syndrom! Zweitens, wenn Sie es mit Terroristen zu tun haben, vergessen Sie nie, daß >Liebe deine Feinde< absoluter Unsinn ist. Aber andererseits dürfen Sie weder Zeit noch Kraft daran verschwenden, die Terroristen zu hassen, denn Haß ist eine unnütze, kraftraubende Empfindung. Sie dürfen ihnen nur keinen Augenblick vertrauen, geschweige denn Sympathie für sie empfinden, sondern Sie müssen sie immer als Feind betrachten.«
Jessica gab diese Ratschläge nun an Angus und Nicky weiter. Dann erzählte sie von Flugzeugentführungen, bei denen die Geiseln Sympathien für ihre Angreifer entwickelt hatten. Das war zum Beispiel bei dem berüchtigten TWA Flug 847 im Jahr 1985 der Fall, als einige Passagiere von ihren schiitischen Entführern so angetan waren, daß sie deren politische Parolen übernahmen.
In jüngster Zeit, fuhr Jessica fort, habe eine befreite Geisel aus dem Mittleren Osten - eine armselige Gestalt, die ganz offensichtlich dem Stockholm-Syndrom zum Opfer gefallen war - sogar Botschaften der Geiselnehmer an den Papst und den amerikanischen Präsidenten überbracht. Die Sache habe zwar großes Aufsehen erregt, der Inhalt der Botschaften sei jedoch nie veröffentlicht worden. Inoffiziell sei von banalen und bedeutungslosen Aussagen die Rede gewesen.
Was aber die Spezialisten im Zusammenhang mit dem Stockholm-Syndrom noch mehr beschäftigte, war der Fall des Entführungsopfers Partricia Hearst. Bei ihrer Verhaftung im Jahr 1975 legte man ihr Verbrechen zur Last, die sie offenbar nur deshalb hatte begehen können, weil sie zuvor von ihren Entführern manipuliert worden war. Leider wußte man zu dieser Zeit noch zu wenig über das Stockholm-Syndrom, um für Patricia Hearst Sympathie zu wecken oder ihr wenigstens einen fairen Prozeß zu ermöglichen. Bei einem Vortrag vor Wades Antiterrorismusklasse bemerkte ein amerikanischer Anwalt zu diesem Thema: »In juristischer und intellektueller Hinsicht muß man den Hearst-Prozeß mit den Hexenprozessen in Salem aus dem Jahr 1692 gleichsetzen. Ausgehend von dem Wissen, das wir jetzt haben, und auch davon, daß Präsident Carter das getane Unrecht erkannte und das Strafmaß abmilderte, wäre es eine Schande für unser Land, wenn wir zulassen, daß Patricia Hearst ohne Begnadigung stirbt.«
»Du meinst also damit, Jessie«, sagte Angus, »daß wir uns nicht von Vincentes scheinbarer Freundlichkeit einwickeln lassen dürfen. Er ist trotz allem ein Feind.«
»Wenn er es nicht wäre«, entgegnete Jessica, »dann könnten wir einfach von hier verschwinden, wenn er uns bewacht.«
»Und wir wissen genau, daß wir das nicht können.« Angus richtete seine Stimme auf die mittlere Zelle. »Hast du das gehört, Nicky? Deine Mom hat recht, und wir beide hatten unrecht.«
Der Junge nickte nur betrübt und sagte nichts. Es war einer der vielen traurigen Aspekte dieser Gefangenschaft, dachte Jessica, daß Nicky früher, als es unter normalen Umständen passiert wäre, mit den harten Realitäten und Gemeinheiten der menschlichen Natur konfrontiert wurde.
Wie immer in Peru war es das Radio, das die Nachrichten über die neuen Entwicklungen in der Sloane-Entführung auch in die entferntesten Winkel des Landes brachte.
Über die Verwicklung von Peru und des Sendero Luminoso in die Entführungsaffäre wurde zum ersten Mal am Samstag berichtet, also am Tag nach der CBA-Sondersendung zu diesem Thema. Schenkte man dieser Geschichte in Peru anfangs nur wenig Beachtung, so wurde sie jetzt, da man wußte, daß das eigene Land betroffen war, zum Hauptthema der Medien.
So erfuhr man am Dienstag, dem Tag nach der Enthüllung des Baltimore Star, in dem Andenstädtchen Ayacucho und dem Dschungeldorf Nueva Esperanza ebenfalls aus dem Radio von Theodore Elliotts Zurückweisung der Entführerforderungen und von seiner schlechten Meinung über den Sendero Luminoso.
In Ayacucho hörten die Anführer des Sendero Luminoso den Bericht, und in Nueva Esperanza der Terrorist Ulises Rodriguez alias Miguel.
Kurz darauf kam es zu einem Telefongespräch zwischen Miguel und einem dieser Anführer. Keiner der beiden nannte seinen Namen, denn sie wußten, daß die Telefonverbindung nicht gerade modernsten Ansprüchen entsprach und die Leitung über andere Orte führte, wo jeder, darunter auch Armee oder Polizei, mithören konnte. Deshalb benutzten sie nur allgemeine Floskeln und versteckte Andeutungen, was in Peru viele Leute beherrschten. Die beiden verstanden sich jedoch.
Ihr Gespräch beinhaltete im Klartext: Es mußte sofort etwas geschehen, um diesem amerikanischen Sender zu beweisen, daß er es nicht mit Dummköpfen oder Narren zu tun hatte. Man konnte zum Beispiel eine der Geiseln töten und sie in Lima so deponieren, daß sie schnell gefunden wurde.
Miguel stimmte zwar zu, daß das Wirkung zeigen würde, meinte aber, man solle für den Augenblick alle drei Geiseln am Leben halten, da sie wertvolle Druckmittel darstellten. Er plädierte statt dessen für ein anderes Vorgehen, das seiner Meinung nach in New York verheerende psychologische Auswirkungen haben würde. Er dachte dabei an etwas, das er während der Wartezeit in Hackensack erfahren hatte.
Man einigte sich auf diesen Vorschlag, und da dazu eine Transportmöglichkeit nötig war, wurde in Ayacucho sofort ein Fahrzeug nach Nueva Esperanza losgeschickt.
In Nueva Esperanza begann Miguel ebenfalls mit seinen Vorbereitungen. Er rief Socorro zu sich.
Jessica, Nicky und Angus sahen auf, als plötzlich eine kleine Gruppe die Hütte betrat. Sie bestand aus Miguel, Socorro, Gustavo, Ramon und einem der anderen Wachposten. Man sah ihnen deutlich an, daß sie etwas vorhatten, und Jessica und die anderen warteten ängstlich auf das, was nun passieren würde.
Einer Sache war sich Jessica ganz sicher: Sie würde alles tun, was man von ihr verlangte. Sechs Tage waren seit der Videoaufnahme vergangen, bei der Nicky wegen ihrer Sturheit hatte leiden müssen. Socorro hatte seitdem die Brandwunden täglich untersucht, und sie waren inzwischen soweit verheilt, daß Nicky keine Schmerzen mehr hatte. Jessica, die noch immer ein schlechtes Gewissen hatte, war entschlossen, ihn nicht noch mehr leiden zu lassen.
Als nun die Terroristen, ohne auf sie oder Angus zu achten, Nickys Zelle öffneten und hineingingen, schrie Jessica voller Angst: »Was haben Sie vor? Bitte tun Sie ihm nicht mehr weh. Er hat genug gelitten. Nehmen Sie mich an seiner Stelle!«
Socorro war es, die sich umdrehte und Jessica durch das Maschengitter anschrie: »Ruhe! Sie können nicht verhindern, was jetzt passiert.«
»Was passiert denn?« schluchzte Jessica verzweifelt. Sie sah, daß Miguel einen kleinen Holztisch in Nickys Zelle gestellt hatte. Gustavo und der vierte Mann hatten Nicky gepackt und hielten ihn so fest, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. »Das ist nicht fair!« schrie Jessica. »Lassen Sie ihn doch um Himmels willen in Frieden!«
Ohne auf Jessica zu achten, sagte Socorro zu Nicky: »Man wird dir zwei Finger abschneiden.«
Bei dem Wort »Finger« packte Nicky das blanke Entsetzen, er schrie und wehrte sich, aber es half nichts.
Socorro fuhr fort: »Diese Männer werden es tun, und es gibt nichts, was du dagegen machen kannst. Und wenn du dich wehrst, tut es um so mehr weh. Also halt dich ruhig!«
Doch Nicky hörte nicht auf sie; er stammelte nur unzusammenhängende Worte, verdrehte die Augen und warf den Kopf hin und her, während er versuchte, sich zu befreien oder wenigstens die Hände zurückzuziehen. Aber er konnte gegen die Männer nichts ausrichten.
Jessica drang ein markerschütternder Schrei aus der Kehle: »Nein! Nicht seine Finger! Verstehen Sie denn nicht? Er spielt Klavier. Das ist sein Leben...«
»Ich weiß.« Nun hatte sich auch Miguel zu ihr umgedreht, ein dünnes Lächeln zuckte um seine Lippen. »Ich habe gehört, wie dein Mann das im Fernsehen gesagt hat. Wenn er die Finger bekommt, wird er sich wünschen, daß er es nicht getan hätte.«
Auf der anderen Seite von Nickys Zelle trommelte Angus gegen das Maschengitter und schrie ebenfalls. Er hielt die Hände in die Höhe. »Nehmt meine! Es macht doch keinen Unterschied. Warum dem Jungen sein Leben zerstören?«
Aus Miguels Augen blitzte die Wut. Er schrie Angus an: »Was sind denn schon zwei Finger eines bourgeoisen Bengels, wenn in Peru jedes Jahr sechzigtausend Kinder unter fünf Jahren sterben?«
»Wir sind Amerikaner!« schleuderte Angus ihm entgegen. »Daran sind doch wir nicht schuld!«
»Aber natürlich. Oder ist das verkommene und zerstörerische kapitalistische System, das die Menschen ausbeutet, etwa nicht euer System?«
Miguels Statistiken über die Kindersterblichkeit stammten von Abimael Guzman, dem Gründer des Sendero Luminoso. Miguel wußte zwar, daß Guzmans Zahlen wahrscheinlich übertrieben waren, aber dennoch starben in Peru so viele Kinder an Unterernährung wie in kaum einem anderen Land.
Während die beiden sich noch stritten, passierte alles sehr schnell.
Gustavo packte Nicky und zerrte ihm zum Tisch. Ramon zog sein Messer aus der Scheide, prüfte grinsend die Schärfe und beugte sich dann blitzschnell über den Jungen. Jessica hörte nur ein zweimaliges dumpfes Knirschen und dann Nickys entsetzliche Schmerzensschreie. Blut spritzte, und als Ramon sich wieder aufrichtete, lagen der Zeigefinger und der kleine Finger von Nickys rechter Hand auf dem Tisch. Socorro steckte sie in eine Plastiktüte und gab sie Miguel. Sie war blaß und sah mit verkniffenen Lippen zu Jessica hinüber, die ihr Gesicht mit den Händen bedeckt hatte und hemmungslos weinte.
Nicky war kaum noch bei Bewußtsein. Er lag aschfahl auf seiner Pritsche, aus seinen Schmerzensschreien war ein schwaches Wimmern geworden. Während Miguel, Ramon und der vierte Mann den blutigen Tisch aus der Zelle trugen, sagte Socorro zu Gustavo, dem sie mit einer Geste zu verstehen gegeben hatte, er solle warten: »Agarra el chico. Sientalo.«
Gustavo gehorchte und setzte Nicky auf, während Socorro nach draußen ging und mit einer Schüssel warmen Seifenwassers zurückkehrte, die sie zuvor bereitgestellt hatte. Sie nahm Nickys rechte Hand, hielt sie aufrecht und wusch sorgfältig die blutigen Fingerstümpfe aus. Dann legte sie Kompressen auf die Wunden und bandagierte die Hand.
Nicky zitterte am ganzen Körper, er ließ willenlos alles mit sich geschehen. Jessica lief zur Tür ihrer Zelle und wandte sich flehend an Miguel, der noch immer in der Hütte stand. »Bitte, lassen Sie mich zu meinem Sohn. Bitte, bitte, bitte!«
Miguel schüttelte den Kopf und erwiderte verächtlich: »Keine Mutter für einen Feigling! Soll der mocoso doch versuchen, ein Mann zu werden!«
»Er ist jetzt schon mehr Mann, als du es je sein wirst!« schrie Angus voller Haß und Wut. Auch er stand an seiner Tür und sah Miguel an. Er suchte nach dem spanischen Schimpfwort, das Nicky ihm beigebracht hatte. »Du... Maldito hijo deputa!«
Angus wußte genau, was das hieß: »Du verfluchter Hurensohn!« Nicky hatte Angus erzählt, was er von seinen kubanischen Freunden in der Schule erfahren hatte: In spanischsprachigen Ländern war es für einen Mann die schlimmste Beleidigung, wenn man seine Mutter eine Hure nannte.
Langsam und bedächtig drehte Miguel den Kopf. Sein Gesicht war zur Maske erstarrt. Mit einem eiskalten und unversöhnlichen Blick sah er Angus direkt in die Augen. Dann wandte er sich schweigend ab.
Gustavo hatte die Beleidigung und Miguels Reaktion mitbekommen. Er schüttelte den Kopf und sagte in gebrochenem Englisch zu Angus. »Alter Mann, du machen schlimmen Fehler. Er nicht vergessen.«
In den folgenden Stunden wuchs Jessicas Besorgnis um Nickys seelische Verfassung. Sie hatte versucht, mit ihm zu reden und ihn wenigstens mit Worten zu trösten, aber ohne Erfolg; er reagierte überhaupt nicht darauf. Manchmal lag Nicky bewegungslos auf dem Bett, nur hin und wieder war ein Stöhnen zu hören. Dann plötzlich liefen Zuckungen durch seinen Körper, er schrie auf und zitterte heftig. Jessica war ziemlich sicher, daß die durchtrennten Nerven für die ruckartigen Bewegungen und die plötzlichen Schmerzen verantwortlich waren. Soweit sie sehen konnte, hatte er die Augen geöffnet, aber sein Gesicht war ausdruckslos und leer.
Jessica bettelte um eine Reaktion. »Nur ein Wort, Nicky-Darling! Nur ein Wort! Bitte sag was - irgendwas!« Aber er antwortete nicht. Jessica glaubte beinahe, den Verstand zu verlieren. Diese Unfähigkeit, die Hände nach ihrem Sohn auszustrecken und ihn zu berühren, ihn durch körperliche Nähe zu trösten, war grausam; man verweigerte ihr, wonach sie sich so sehr sehnte.
Eine Zeitlang versuchte Jessica, um nicht hysterisch zu werden, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie lag nur still da und weinte leise in sich hinein.
Doch dann tadelte sie sich wegen ihrer Schwäche - Reiß dich zusammen! Du darfst nicht nachgeben!... und versuchte erneut, mit Nicky zu reden.
Angus half ihr dabei, aber sie konnten auch zusammen nichts ausrichten.
Irgendwann wurde ihnen Essen in die Zellen gebracht. Daß Nicky nicht darauf reagierte, wunderte Jessica nicht. Sie selbst versuchte zu essen, weil sie wußte, daß sie bei Kräften bleiben mußte, aber sie hatte keinen Appetit und schob den Teller weg. Sie hatte keine Ahnung, wie es Angus ging.
Bei Einbruch der Dunkelheit wechselten die Wachen.
Vincente hatte jetzt Dienst. Als dann die Geräusche von draußen schwächer wurden und schließlich nur noch die Insekten zu hören waren, kam Socorro. Sie hatte die Wasserschüssel, die sie zuvor schon benutzt hatte, frische Kompressen und Binden sowie eine Kerosinlampe dabei und ging damit in Nickys Zelle. Behutsam richtete sie Nicky auf und begann, den Verband zu wechseln.
Nicky schien es etwas besser zu gehen, die Schmerzen hatten offensichtlich nachgelassen, und sein Körper zuckte nicht mehr so häufig.
Nach einer Weile flüsterte Jessica: »Socorro, bitte...«
Socorro drehte sich sofort um und legte den Zeigefinger an den Mund. Verwirrt und verängstigt, wie Jessica war, gehorchte sie und schwieg.
Sobald Socorro den neuen Verband angelegt hatte, verließ sie Nickys Zelle, verschloß sie aber nicht. Statt dessen kam sie zu Jessicas Zelle und öffnete das Vorhängeschloß. Wieder legte sie den Finger an den Mund. Dann winkte sie Jessica heraus und deutete auf Nickys offene Zellentür.
Jessicas Herz machte einen Satz.
»Aber vor Tagesanbruch müssen Sie zurück sein«, flüsterte Socorro. Sie deutete mit dem Kopf auf Vincente. »Er wird Ihnen sagen, wann.«
Jessica wollte schon auf Nicky zugehen, blieb aber dann plötzlich stehen und drehte sich um. Aus einem unerklärlichen Gefühl heraus ging sie zu Socorro und küßte sie auf die Wange.
Sekunden später hielt sie Nicky bereits im Arm, vorsichtig und behutsam, um seine bandagierte Hand nicht zu berühren.
»O Mom!« flüsterte er.
Sie drückten sich aneinander, so gut es eben ging. Augenblicke später war Nicky eingeschlafen.
7
Bei CBA hatte man beschlossen, die Überprüfung der Immobilienanzeigen in den Lokalzeitungen einzustellen.
Als man die Aktion vor knapp zwei Wochen begonnen hatte, schien es noch wichtig, den Unterschlupf der Entführer in den Vereinigten Staaten aufzuspüren. Damals hoffte man, zumindest Spuren zu finden, die darauf hindeuteten, wohin die Entführer mit ihren Geiseln verschwunden waren.
Inzwischen aber wußte man, daß die Sloanes vom Sendero Luminoso an einem noch nicht bekannten Ort in Peru gefangengehalten wurden.
So war die Suche nach der Operationsbasis lediglich aus journalistischer Sicht nach wie vor interessant und nicht, weil man hoffte, noch wesentliche Erkenntnisse zu gewinnen.
Trotzdem konnte man die Aktion nicht als Fehlschlag bezeichnen. Schließlich hatte Jonathan Mony dabei die spanische Wochenzeitung Semana entdeckt, die direkt zu dem Leichenbestatter Alberto Godoy geführt hatte. Von Godoy hatte man von dem Verkauf der Särge erfahren, er hatte außerdem den Terroristen Ulises Rodriguez eindeutig identifiziert. Godoys Geldscheine lieferten dann auch den Hinweis auf die American-Amazonas Bank und die Morde an Jose Antonio Salaverry und Helga Efferen sowie deren Verbindungen nach Peru.
So war man allgemein der Ansicht, daß allein diese Erfolge die Aktion rechtfertigten.
Aber würde eine Fortsetzung der Suche noch neue Ergebnisse liefern?
Don Kettering, der jetzt die Spezialeinheit leitete, glaubte es nicht. Der Chefproduzent der Truppe, Norman Jaeger, ebenfalls nicht. Und sogar Teddy Cooper, der die Aktion initiiert und überwacht hatte, bekam Schwierigkeiten, Gründe für eine Fortsetzung zu finden.
Bei der Sitzung der Spezialeinheit am Dienstagmorgen kam das Thema zur Sprache.
Vier Tage waren seit dem ausführlichen Bericht über die Ermittlungserfolge und der Sondersendung mit den Forderungen der Entführer und Jessicas Erklärung vergangen.
In der Zwischenzeit war es zu der Enthüllung von Theodore Elliotts Indiskretion gekommen, die zur Folge hatte, daß die Welt bereits von jener Entscheidung wußte, die CBA frühestens am folgenden Donnerstag hatte veröffentlichen wollen. Es war bemerkenswert, daß niemand bei CBA den Baltimore Star kritisierte. Schließlich wußten alle, daß Reporter und Redakteure des Star nur getan hatten, was jedes Nachrichtenunternehmen, und sicherlich auch CBA, unter diesen Umständen getan hätte.
Theodore Elliott hatte das Vorgefallene weder erklärt noch sich dafür entschuldigt.
In Peru waren Rita Abrams und der Cutter Bob Watson am Samstag zu Harry Partridge, Minh Van Canh und Ken O'Hara gestoßen. Am Montag übermittelten sie via Satellit ihren ersten Bericht aus Lima, der zum Aufmacher der National Evening News von diesem Abend wurde.
Partridge hatte sich die in ökonomischer und rechtsstaatlicher Hinsicht immer katastrophaler werdende Lage in Peru zum Thema genommen. Tonzitate des peruanischen Radioreporters Sergio Hurtado und des Escena-Besitzers Manuel Leon Seminario und Bilder von einem wütendem Mob aus den barridas bei der Plünderung eines Lebensmittelgeschäfts bekräftigten seine Aussagen.
Wie Hurtado es formulierte: »Früher lebten wir in einem demokratischen Land mit vielversprechender Zukunft, aber jetzt befinden wir uns auf dem gleichen traurigen Weg der Selbstzerstörung wie Nicaragua, El Salvador, Venezuela, Kolumbien und Argentinien.«
Und Seminario stellte eine nicht zu beantwortende Frage: »Was macht uns Lateinamerikaner so chronisch unfähig, stabile Regierungen zu bilden?« Er fuhr fort: »Wir sind ein solch trauriger Kontrast zu unseren prudente Nachbarn im Norden. Während Kanada und die Vereinigten Staaten Freihandelsabkommen schließen und ihre Nationen kräftig und stabil machen für die kommenden Generationen, hören wir im Süden nicht auf, zu polarisieren und uns gegenseitig abzuschlachten.«
Aus Gründen der Ausgewogenheit versuchte Rita, auf Partridges Vorschlag, ein Interview mit Präsident Castaneda zu arrangieren. Es wurde verweigert, und statt dessen hörte man von einem unbedeutenden Minister, Eduardo Loayza, einige beschönigende Sätze. Perus Probleme seien nur vorübergehend, ließ er durch einen Dolmetscher mitteilen. In der bankrotten Wirtschaft des Landes werde es bald einen Umschwung geben. Die Macht des Sendero Luminoso wachse nicht, sondern nehme ab. Und die amerikanischen Gefangenen in der Gewalt des Sendero würden von Perus Militär oder der Polizei in kürzester Zeit gefunden und befreit.
Loayzas Bemerkungen wurden zwar in den Bericht aufgenommen, aber der Mann und seine Botschaft waren, so Rita, »wie Fliegendreck im Wind«.
Die CBA-Truppe in Lima stand in ständigem Kontakt mit der Zentrale in New York, und so erfuhren Partridge und Rita von der Videocassette mit Jessica, den Forderungen vom Sendero und von Elliotts Indiskretion. Die letzte Nachricht konnte Partridge kaum glauben, er war wütend darüber, daß sein Versuch des heimlichen Vorgehens auf so grobe Weise durchkreuzt wurde. Aber trotzdem war er entschlossen, so weiterzumachen, wie er begonnen hatte.
Daß die Initiative nun in Lima und nicht mehr bei den Leuten in New York lag, war vermutlich auch der Grund, warum man bei der Dienstagssitzung der Spezialeinheit dem vergleichsweise geringen Problem der Anzeigenaktion so großen Platz einräumte.
»Ich habe es zur Sprache gebracht«, sagte Norman Jaeger zu Chippingham, der erst später zu dem Treffen gestoßen war, »weil du beunruhigt warst wegen der Kosten, die immer noch sehr hoch sind. Wir können die Aktion jetzt jederzeit abbrechen.«
»Touche!« gab Chippingham zu. »Aber immerhin habt ihr recht behalten, und deshalb sollten wir uns bei der Entscheidung von den positiven Ergebnissen leiten lassen.« Was er verschwieg, war die Tatsache, daß die Einschaltquoten der National Evening News inzwischen so hoch waren, daß er sich über Budgetüberschreitungen keine Sorgen mehr machte. Falls Margot Lloyd-Mason sich deswegen aufregte, würde er sie einfach darauf hinweisen, daß es bei CBA News unter keinem anderen Präsidenten so hohe Quoten gegeben hatte.
Chippingham fragte nun Teddy Cooper: »Was meinst du, Teddy, sollen wir die Aktion abblasen?«
Der junge englische Rechercheur am anderen Ende des Tisches grinste. »War doch 'ne super Idee, oder?«
»Ja. Darum frage ich ja dich.«
»Möglich wär's schon, daß noch etwas dabei herauskommt. Das ist wie beim Poker, wenn man seine Karten umdreht und auf ein As hofft, und dann ist wirklich eins dabei. Aber sehr wahrscheinlich ist es nicht. Wenn wir die Sache fallenlassen, muß ich euch 'ne neue brillante Idee auftischen.«
»Was mich bei ihm nicht wundern würde«, bemerkte Jaeger -eine Meinung, die seiner ursprünglichen Einschätzung eines aufdringlichen Teddy Cooper diametral entgegenstand.
Schließlich beschloß man, die Recherchen am folgenden Tag zu beenden.
Doch drei Stunden später, so als hätte das launische Schicksal beschlossen einzugreifen, kam es zu einem weiteren Erfolg. Was man von Anfang an erhofft hatte, war nun doch eingetreten.
Um 14 Uhr nahm Teddy Cooper im Konferenzraum einen Anruf von Jonathan Mony entgegen.
Mony war inzwischen zum Koordinator der Aktion geworden und hatte während der letzten Tage die Rechercheure überwacht. Man ging inzwischen davon aus, daß Mony nach Beendigung dieses Auftrags einen festen Platz in der Nachrichtenabteilung bekommen würde. Jetzt am Telefon klang er atemlos und aufgeregt.
»Ich glaube, wir haben es gefunden. Kannst du herkommen, und vielleicht auch Mr. Kettering?«
»Was gefunden, und wo bist du?«
»Den Unterschlupf der Entführer, da bin ich fast sicher. Ich bin in Hackensack in New Jersey. Da war diese Anzeige im Record - das ist das Lokalblatt hier -, und der sind wir nachgegangen.«
»Moment mal!« sagte Cooper. Eben hatten Don Kettering und Norman Jaeger das Zimmer betreten. Cooper nahm den Hörer vom Ohr und winkte ihnen damit zu. »Es ist Jonathan. Er glaubt, daß er Kidnapper City gefunden hat.«
Auf einem Tisch in der Nähe stand ein Lautsprecher. Jaeger schaltete ihn ein, damit alle mithören konnten.
»Okay, Jonathan«, sagte Kettering. »Erzähl, was du gefunden hast.«
Monys Stimme kam verstärkt aus dem Lautsprecher: »Da war eine Anzeige im Record. Schien genau auf das zu passen, was wir suchten. Soll ich sie vorlesen?«
»Schieß los!«
Das Trio im Konferenzraum hörte das Rascheln von Papier, während Mony seinen Bericht fortsetzte.
Die Anzeige, so erfuhren sie, war am 10. August erschienen -einen Monat und vier Tage vor der Entführung - und paßte deshalb genau in den geschätzten Zeitrahmen.
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Eine der weiblichen Rechercheure hatte die Anzeige aus vielen anderen herausgepickt - der Record hatte einen der größten Anzeigenteile der Region - und dann unverzüglich Jonathan Mony alarmiert, der sich gerade in der Gegend aufhielt und inzwischen einen CBA-Piepser trug. Mony war sofort zur Redaktion der Zeitung gefahren und hatte von dort das Maklerbüro Prandus &Paige angerufen.
Zuerst machte er sich keine großen Hoffnungen. Während der vergangenen zwei Wochen hatte es zu viele ähnliche Situationen gegeben. Immer hatte sich die anfängliche Euphorie sehr schnell gelegt, nachdem konkretere Nachforschungen und Ortsbesichtigungen gezeigt hatten, daß man auf der falschen Fährte war. Daß es jetzt anders sein sollte, war eher unwahrscheinlich.
In diesem Fall, wie auch in den meisten anderen, waren die Makler sehr kooperativ gewesen und hatten sofort die Adresse genannt, als sie hörten, daß CBA hinter der Anfrage stand. Doch diesmal gab es noch einige zusätzliche Informationen. Erstens war fast sofort nach Erscheinen der Anzeige ein einjähriger Mietvertrag für das Anwesen abgeschlossen worden, wobei der Interessent den Gesamtbetrag im voraus zahlte. Zweitens hatte eine kürzliche Überprüfung ergeben, daß Haus und Nebengebäude verlassen waren, die Mieter hatten sich offensichtlich aus dem Staub gemacht.
Ein Angestellter der Firma erzählte Mony: »Die Mieter waren nur etwas über einen Monat dort, und da wir von ihnen nichts mehr gehört haben, wissen wir auch nicht, ob sie zurückkommen. Wir sind im Augenblick nicht sicher, was wir tun sollen, und falls Sie Kontakt zu den Leuten bekommen sollten, wären wir froh, wenn Sie uns informieren würden.«
Mony, dessen Interesse nun geweckt war, versprach, die Maklerfirma auf dem laufenden zu halten. Dann besuchte er zusammen mit der jungen Frau das Anwesen.
»Ich weiß, daß wir das eigentlich nicht hätten tun dürfen«, sagte er Cooper und den anderen. »Aber das war so vereinbart, bevor wir wußten, daß die Entführer in Peru sind. Auf jeden Fall haben wir einiges gefunden, das wir für wichtig halten, und deshalb habe ich angerufen.«
Er telefoniere von einem Cafe aus, berichtete er, etwa eine Meile von dem leeren Haus entfernt.
»Sag uns erst einmal, wo das liegt«, forderte ihn Kettering auf. »Dann geh zum Haus zurück und warte dort. Wir kommen so schnell wir können.«
Eine Stunde später bog ein Wagen von CBA mit Don Kettering, Norman Jaeger, Teddy Cooper und einem zweiköpfigen Kamerateam in den Hof des Anwesens in Hackensack ein. Beim Aussteigen sah Kettering sich die alten, verfallenen Gebäude an und bemerkte: »Jetzt verstehe ich, warum es in der Anzeige >renovierungsbedürftig< hieß.«
Cooper faltete die Karte zusammen, die er eben studiert hatte. »Wir sind hier fünfundzwanzig Meilen von Larchmont entfernt. Ungefähr die Entfernung, die wir angenommen haben.«
»Die du angenommen hast«, verbesserte ihn Jaeger.
Mony stellte die junge Frau vor, Cokie Vale, eine zierliche Rothaarige. Cooper erkannte sie sofort wieder. Es war diejenige, die bei der einführenden Versammlung nach den Kameras gefragt hatte.
»Ich erinnere mich noch an Ihre Frage«, sagte er und deutete auf das Team, das eben seine Ausrüstung zusammenbaute. »Wie Sie sehen, heißt die Antwort >ja<.«
Sie lächelte ihn strahlend an.
»Das erste, was ihr euch ansehen müßt«, sagte Mony, »ist im ersten Stock des Haupthauses.«
Die anderen folgten ihm zu dem baufälligen Haus und über eine breite, geschwungene Treppe in das Obergeschoß. Mony öffnete eine Tür und trat zurück, um die anderen eintreten zu lassen.
Das Zimmer stand in totalem Kontrast zum Rest des Hauses. Es war sauber und hygienisch weiß gestrichen, mit einem neuen, hellgrünen Linoleumboden. Mony schaltete die, offensichtlich ebenfalls neuen, Leuchtstofflampen an der Decke an, das Licht fiel auf zwei Krankenhausbetten mit Gittern und Gurten. Daneben stand eine schmale, alte Metallpritsche, an der ebenfalls Gurte befestigt waren.
Kettering wies auf die Pritsche und meinte: »Die ist anscheinend erst nachträglich aufgestellt worden. Das ganze Zimmer sieht aus wie eine Sanitätsstation.«
Jaeger nickte. »Oder wie ein Zimmer, in dem man sich um drei Betäubte kümmern kann, wobei einer davon unerwartet dazukam.«
Mony öffnete einen Schrank. »Die Leute, die hier waren, haben sich offenbar nicht die Mühe gemacht, das ganze Zeug verschwinden zu lassen.«
In dem Schrank lag medizinisches Material - Spritzen, Binden, Watte, Kompressen und zwei noch ungeöffnete Arzneifläschchen.
Jaeger nahm eins der Fläschchen in die Hand und las die Aufschrift vor: »>Diprivan... Propofol< - das ist die Gattungsbezeichnung.« Dann betrachtete er das Kleingedruckte auf dem Etikett. »Hier steht >für intravenöse Anästhesien«« Er sah Kettering an und meinte: »Es paßt alles zusammen. Große Zweifel gibt's hier nicht mehr.«
»Soll ich euch den Rest zeigen?«
»Also los«, erwiderte Kettering. »Du bist derjenige, der sich hier schon umgesehen hat.«
Sie betraten ein kleines Nebengebäude, und Mony zeigte auf einen Eisenofen, der bis zum Rand mit Asche gefüllt war. »Da hat jemand 'ne Menge verbrannt. Leider nicht gründlich genug.« Er nahm eine angekohlte Zeitschrift in die Hand, der Titel Caretas war noch zu entziffern.
»Ein peruanisches Magazin«, sagte Jaeger. »Ich kenne es gut.«
Sie gingen zu einem größeren Gebäude, das offensichtlich als Lackierwerkstatt gedient hatte. Man hatte gar nicht erst versucht, es auszuräumen. Überall lagen Lackdosen herum, einige gebraucht, die anderen noch ungeöffnet. Auf den meisten stand Autolack.
Teddy Cooper sah sich die Farben an. »Erinnert ihr euch noch an die Gespräche mit den Leuten, die die Sloane-Beschattung beobachtet hatten? Ein paar erzählten von einem grünen Auto, obwohl keins der erwähnten Modelle in dieser Farbe geliefert wird. Na, und da ist grüner Lack - und da gelber.«
»Das ist der Unterschlupf«, sagte Jaeger. »Spricht alles dafür.«
Kettering nickte. »Glaube ich auch. Also, machen wir uns an die Arbeit. Wir bringen das heute abend in der Sendung.«
»Da ist noch was«, sagte Mony. »Cokie hat es draußen entdeckt.«
Nun war die attraktive Rothaarige an der Reihe. Sie führte die anderen zu einer Baumgruppe, die etwas abseits von den Gebäuden stand, und erklärte: »Erst vor kurzem hat hier jemand gegraben. Danach hat er versucht, die Stelle wieder einzuebnen, was ihm aber nicht ganz gelungen ist. Und Gras ist auch noch nicht drübergewachsen.«
»Sieht aus, als hätte jemand Erde ausgehoben und irgend etwas vergraben. Deshalb hat sich der Boden auch nicht wieder vollständig gesenkt.«
In der Gruppe wurden Blicke gewechselt. Cooper schien unsicher geworden zu sein, Jaeger sah weg. Wenn hier etwas vergraben war - was? Eine Leiche, oder mehrere? Jeder wußte, daß das möglich war.
»Wir müssen das FBI informieren«, meinte Jaeger zweifelnd. »Vielleicht sollten wir warten und es ihnen...«
Grund für diese Bemerkung war die Tatsache, daß der Direktor des FBI in Washington nach der Freitagssendung der National Evening News bei Margot Lloyd-Mason angerufen und gegen das Zurückhalten von Informationen protestiert hatte. Einige bei CBA hatte es sehr überrascht, daß sie diesen Protest nicht sonderlich ernst nahm. Aber sie ging wahrscheinlich davon aus, daß der Sender sich gegen Druck von Regierungsbehörden zur Wehr setzen konnte und wohl kaum vor Gericht zitiert würde. So unternahm sie nichts und informierte nur Les Chippingham über den Anruf. Und der wies die Spezialeinheit an, die Behörden auf dem laufenden zu halten, es sei denn, zwingende Gründe sprächen dagegen.
Da es sich hier um materielle Indizien handelte, mußte das FBI auf jeden Fall informiert werden - und zwar noch vor der Abendausgabe.
»Klar sagen wir es dem FBI«, entgegnete Kettering. »Aber zuerst möchte ich wissen, was da drin ist.«
»Im Heizkeller sind ein paar Schaufeln«, sagte Mony.
»Hol' sie«, forderte Kettering ihn auf. »Wir sind alle gesund und kräftig. Und dann fangen wir an zu graben.«
Schon kurze Zeit später wurde deutlich, daß sie hier kein Grab öffneten. Es war ein Versteck für verschiedene Gegenstände, die von den Mietern zurückgelassen worden waren. Einige waren unwichtig - Nahrungsmittel, Kleider, Toilettenartikel, Zeitungen. Aber andere lieferten Hinweise - zusätzliches medizinisches Material, Karten, spanische Taschenbücher und Elektrowerkzeuge.«
»Wir wissen, daß sie eine ganze Flotte von Fahrzeugen hatten«, sagte Jaeger. »Vielleicht findet das FBI heraus, was mit denen passiert ist - falls das jetzt überhaupt noch wichtig ist.«
»Das Zeug, das wir hier ausgraben, ist jetzt bestimmt nicht mehr wichtig«, erwiderte Kettering. »Hören wir auf damit.«
Während des Grabens hatte sich das Kamerateam an die Arbeit gemacht und zuerst Cokie Vales Bericht über ihre Nachforschungen in den Immobilienanzeigen und die Entdeckung dieses Hauses in Hackensack aufgenommen. Vor der Kamera wirkte sie sehr sympathisch, sie drückte sich knapp und präzise aus. Später sagte sie, daß das ihr erster Auftritt im Fernsehen gewesen sei. Diejenigen, die zusahen, hatten jedoch das Gefühl, daß es nicht der letzte sein würde.
Alle waren der Meinung, daß auch Jonathan Mony einen Auftritt vor der Kamera verdient hatte, und er wiederholte deshalb seinen Rundgang durch das Zimmer, in dem die Geiseln mit ziemlicher Sicherheit gefangengehalten worden waren. Auch sein Auftritt war sehr überzeugend.
»Eins hat uns diese Aktion auf jeden Fall gebracht«, meinte Jaeger zu Don Kettering, »nämlich neue Talente.«
Mony stand inzwischen wieder in dem Erdloch und grub weiter, bis Kettering ihn aufforderte, aufzuhören. Beim Heraussteigen spürte Mony etwas Hartes unter seinem Schuh und grub mit der Schaufel nach. Einen Augenblick später zog er einen Gegenstand heraus und rief den anderen zu: »He, seht euch das einmal an!«
Es war ein Funktelefon in einem Leinensack.
Während er Cooper das Telefon gab, sagte er: »Ich glaube, da ist noch eins drunter.«
Am Ende war es dann nicht nur eins, sondern fünf. Man legte alle sechs Apparate nebeneinander auf den Boden.
»Die Leute, die hier gehaust haben, litten aber nicht gerade an Geldmangel«, bemerkte Cokie.
»Kann man wohl sagen, und aller Wahrscheinlichkeit nach war es Drogengeld«, entgegnete Don Kettering. Er blickte nachdenklich auf die Apparate. »Vielleicht - vielleicht bringt uns das doch noch weiter.«
»Werden Anrufe von Funktelefonen eigentlich registriert?« fragte Jaeger.
»Aber natürlich«, antwortete Kettering bestimmt, da er erst vor kurzem über das blühende Geschäft mit Funktelefonen berichtet hatte. »Außerdem werden der Name des Benutzers und die Rechnungsadresse registriert. Und dafür brauchte die Bande einen Komplizen vor Ort.« Er wandte sich an Cooper. »Teddy, auf jedem Apparat muß eine Vorwahl und die Anschlußnummer stehen, wie bei einem gewöhnlichen Haus- oder Geschäftstelefon.«
»Schon verstanden«, erwiderte Cooper. »Soll ich eine Liste aufstellen?«
»Bitte!«
Während Cooper arbeitete, filmte das Team das Haupthaus und die Nebengebäude. Den Schluß bildete eine Absage Ketterings:
»Sicher werden manche einwenden, daß die Entdeckung der amerikanischen Operationsbasis der Entführer etwas zu spät kommt. Ob sie recht haben, wird sich erweisen. Unterdessen werden das FBI und andere das hier gefundene Material sorgfältig untersuchen, während die Welt in ängstlicher Hoffnung zusieht.
Don Kettering, CBA News, Hackensack, New Jersey.«
Vor der Abfahrt riefen sie im örtlichen Polizeirevier an und baten den diensthabenden Beamten, das FBI zu informieren.
Noch vor der ersten Sendung der National Evening News hatte Kettering mit einem Freund telefoniert, einem ranghohen Manager der NYNEX Corporation, der Telefongesellschaft für den Bereich New York und New Jersey. Er hatte die von Teddy Cooper zusammengestellte Liste in der Hand und erklärte seinem Freund, was er brauchte - Namen und Adresse der Person oder Personen, auf die die sechs Apparate zugelassen waren, sowie eine Aufstellung aller in den vergangenen zwei Monaten geführten Gespräche«
»Du bist dir natürlich im klaren«, sagte Ketterings Freund, ein Vizepräsident, »daß das nicht nur eine Verletzung der Privatsphäre ist, wenn ich dir diese Informationen gebe, sondern daß ich mich auch strafbar mache und meinen Job riskiere. Wenn du allerdings eine staatliche Ermittlungsbehörde bist mit einer richterlichen Erlaubnis... «
»Bin ich nicht und kann ich auch nicht sein«, erwiderte Kettering. »Aber du kannst dich darauf verlassen, daß morgen das FBI von dir dieselbe Information verlangt, und die haben bestimmt eine Erlaubnis. Ich will doch nur die Information als erster haben.«
»Mein Gott. Wie bin ich nur an einen Typen wie dich geraten?«
»Gut, daß du fragst. Ich erinnere dich daran, daß du CBA ein oder zwei Mal um einen Gefallen gebeten hast, und daß ich immer prompt darauf reagiert habe. Also komm! Wir haben uns seit der Business School immer vertraut und es noch nie bereut.«
Vom anderen Ende der Leitung kam ein Seufzen. »Also gib mir schon diese verdammten Nummern.«
Nachdem Kettering die Liste vorgelesen hatte, fuhr sein Freund fort: »Du hast gesagt, das FBI kommt morgen. Das heißt ja wohl, daß du die Information noch heute nacht brauchst.«
»Ja, noch irgendwann vor Mitternacht. Du kannst mich zu Hause anrufen. Die Nummer hast du noch?«
»Ich fürchte, ja.«
Um 22 Uhr 45 kam der Anruf. Don Kettering hatte die Wohnung eben erst betreten, er war bei CBA aufgehalten worden.
»Ich habe heute abend eure Nachrichten gesehen«, sagte sein Freund von der NYNEX, »und ich nehme an, die Nummern, die du mir gegeben hast, gehören zu den Funktelefonen der Entführer.«
»Sieht ganz so aus«, erwiderte Kettering.
»In dem Fall hätte ich gern mehr für dich. Viel ist es nämlich nicht. Also, die Telefone sind alle auf eine Helga Efferen zugelassen. Die Adresse kann ich dir geben.«
»Die dürfte kaum noch stimmen. Die Dame ist nämlich tot.
Ermordet. Hoffentlich schuldet sie euch kein Geld.«
»O Mann! Ihr Reporter seid vielleicht kaltblütig.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Mit dem Geld verhält es sich übrigens genau umgekehrt. Gleich nach Ausgabe der Nummern für diese sechs Apparate überwies jemand insgesamt dreitausend Dollar, fünfhundert pro Anschluß. Wir haben das zwar nicht verlangt, aber nachdem das Geld einmal da war, haben wir es den Benutzerkonten gutgeschrieben.«
»Ich kann mir vorstellen, daß die Leute, die diese Apparate benutzten, nicht wollten, daß man ihnen Rechnungen zuschickt oder unangenehme Fragen stellt«, meinte Kettering.
»Na, aus welchem Grund auch immer, der größte Teil des Geldes ist auf jeden Fall noch da. Verbraucht wurde weniger als ein Drittel, weil, mit einer Ausnahme, nur zwischen den sechs Apparaten telefoniert wurde, nie nach draußen. Solche Ortsgespräche zwischen Funktelefonen sind zwar auch nicht umsonst, aber relativ billig.«
»Das spricht alles für den hohen Organisationsgrad und die Disziplin der Entführer«, erwiderte Kettering. »Aber du hast eine Ausnahme erwähnt.«
»Ja - am 13. September, ein direkt gewähltes Auslandsgespräch nach Peru.«
»Das ist der Tag vor der Entführung. Hast du die Nummer?«
»Natürlich. Es war 011, der Zugriffscode auf das internationale Netz, 51, die Vorwahl von Peru, und dann 14-289427. Von meinen Leuten weiß ich, daß >14< Lima ist. Aber welcher Anschluß das nun genau ist, müßt ihr selber herausfinden.«
»Das werden wir sicher. Und vielen Dank!«
»Hoffentlich hilft euch das weiter. Viel Glück!«
Sofort nach dem Auflegen blätterte Kettering in seinem Notizbuch und wählte dann eine Nummer für ein weiteres
Gespräch: 011-51-14-1212.
Als sich eine Stimme mit »Buenas tardes, Cesar's Hotel« meldete, erwiderte Kettering: »Mr. Harry Partridge, por favor.«
8
Für Harry Partridge war es ein entmutigender Tag gewesen. Er war müde und hatte sich deshalb schon kurz vor zehn ins Bett gelegt. Aber seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Er grübelte über Peru nach.
Das ganze Land, so dachte er, war ein Paradox - eine konfliktgeladene Mischung aus militärischem Despotismus und freier Demokratie. In den abgelegeneren Gegenden der Republik herrschten das Militär und die sogenannte Antiterror-Polizei mit eiserner Faust und meist unter Mißachtung der Gesetze. Sie töteten willkürlich und nannten danach ihre Opfer »Rebellen«, auch wenn sie es nicht waren, wie unabhängige Ermittlungen oft zeigten.
Americas Watch, eine Menschenrechtsorganisation in den Vereinigten Staaten, hatte sich, in Partridges Augen, sehr verdient gemacht, als sie in einem Bericht »eine wahre Sturzflut von außergerichtlichen Exekutionen, willkürlichen Verhaftungen, Verschleppungen und Folterungen« aufzeigte und sie als »zentrales Element« der Antiterrorismuskampagne der Regierung anprangerte.
Doch Americas Watch verschonte auch die Rebellen nicht. In einem erst kürzlich veröffentlichten Untersuchungsbericht, der nun neben Partridges Bett lag, hieß es, der Sendero Luminoso »ermorde systematisch wehrlose Menschen, plaziere Sprengsätze, die das Leben unschuldiger Passanten bedrohen, und greife militärische Ziele an, ohne zu versuchen, das Risiko für die Zivilbevölkerung gering zu halten«. Dies alles seien »fundamentale Verletzungen der internationalen Menschenrechte«.
Über das Land im allgemeinen hieß es: »Peru hat inzwischen das traurige Privileg, zu den brutalsten und gefährlichsten Ländern Südamerikas zu gehören.«
Auch andere Quellen kamen zu dem unvermeidlichen Schluß, daß es, was wahlloses Morden und andere Grausamkeiten betraf, kaum einen Unterschied gab zwischen den Rebellen und den Regierungstruppen.
Doch gleichzeitig existierten in Peru starke demokratische Elemente, die mehr waren als nur Fassade, wie manche Kritiker behaupteten. Dazu gehörte auch die Freiheit der Presse, die in Peru eine lange Tradition hatte. Ebendiese Freiheit gestattete es Partridge und anderen ausländischen Reportern zu reisen, Fragen zu stellen, nachzuforschen und zu berichten, worüber sie wollten, ohne ihre Ausweisung oder Repressalien befürchten zu müssen. Natürlich hatte es auch Ausnahmen gegeben, aber bis jetzt nur sehr selten und in einzelnen Fällen. Partridge hatte dieses Thema vor wenigen Stunden bei einem Interview mit General Raul Ortiz, dem Chef der Antiterror-Polizei angeschnitten.
»Beunruhigt es Sie denn nicht«, hatte er den in Zivil gekleideten, steifen und ernst dreinblickenden Mann gefragt, »daß verläßliche Berichte vielen Ihrer Männer Grausamkeiten und illegale Exekutionen vorwerfen?«
»Es würde mich mehr beunruhigen«, erwiderte Ortiz mit beinahe verächtlichem Ton, »wenn meine Männer die Opfer von Exekutionen würden, was sicherlich der Fall wäre, wenn sie sich nicht verteidigen würden gegen diese Terroristen, die Ihnen und anderen so sehr am Herzen zu liegen scheinen. Und was diese unwahren Berichte betrifft, wenn unsere Regierung versuchen würde, sie zu unterdrücken, würden Leute wie Sie doch keine Ruhe geben und sie ständig in der Öffentlichkeit wiederholen. Deshalb ziehen wir eine einmalige Veröffentlichung dieser Lappalien, die vierundzwanzig Stunden später wieder vergessen sind, normalerweise vor.«
Partridge hatte um das Interview gebeten, da er glaubte, auch diesen Aspekt berücksichtigen zu müssen, obwohl er kaum Hoffnung hatte, daß dabei viel herauskommen würde. Das Innenministerium hatte dieses Treffen zwar ohne Zögern arrangiert, doch die Bitte, ein Kamerateam mitbringen zu dürfen, wurde abgelehnt. Und als er bei der Leibesvisitation im Vorzimmer des Generals um Erlaubnis bat, den mitgebrachten Minicassettenrecorder benutzen zu dürfen, nahm man ihm das Gerät ab. Niemand sagte ihm jedoch, daß er das Gespräch vertraulich behandeln müsse, und der General hatte keine Einwände, als sein Besucher sich Notizen machte.
General Ortiz' unscheinbares, holzgetäfeltes Büro war eins aus einer ganzen Flucht ähnlicher Büros in einem alten Betonklotz im Zentrum von Lima. Hohe Mauern umgaben das Gebäude, dessen eine Hälfte früher ein Gefängnis gewesen war. Am Eingang hatte er Kontrollen durch eine ganze Reihe argwöhnischer Wachen über sich ergehen lassen müssen, und der Weg über den Hof führte ihn an gepanzerten Mannschaftswagen und Wasserwerfern vorbei. Während des Gesprächs mit dem General war Partridge sich bewußt, daß es im Keller des Gebäudes Zellenblocks gab, in denen Gefangene oft zwei Wochen lang ohne jeden Kontakt zur Außenwelt festgehalten wurden und in denen gefoltert und mit brutalen Methoden verhört wurde.
Zu Beginn des Gesprächs mit Ortiz stellte Partridge die Frage, die ihn am meisten beschäftigte: Ob die Antiterror-Polizei wisse, wo die drei Geiseln gefangengehalten würden.
»Und ich hatte gedacht, Sie würden mir das sagen, nach all den Kontakten, die Sie seit Ihrer Ankunft schon geknüpft haben«, erwiderte der General. Es war das Eingeständnis, daß Partridge beobachtet wurde, und gleichzeitig eine unüberhörbare Warnung. Partridge nahm deshalb auch an, daß seine Satellitenübertragungen nach New York wie die anderer amerikanischer Sender trotz aller Pressefreiheit von der peruanischen Regierung überwacht und aufgezeichnet wurden.
Als Partridge entgegnete, daß er trotz seiner Bemühungen noch nichts über den Aufenthaltsort der amerikanischen Geiseln wisse, bemerkte Ortiz: »Dann wissen Sie jetzt, wie raffiniert und verschlagen der Sendero Luminoso, unser Staatsfeind Nummer eins, sein kann. Und auch, daß dieses Land hier sehr verschieden ist von dem Ihren, daß es hier weite Landstriche gibt, in denen man ganze Armeen verstecken kann. Doch zu Ihrer Frage: Ja, wir haben eine Vorstellung, wo Ihre Freunde sein könnten, und unsere Streitkräfte suchen diese Gegenden ab.«
»Werden Sie mir sagen, welche Gegenden?« fragte Partridge.
»Ich glaube nicht, daß das besonders klug wäre. Und es ist sowieso unmöglich, daß Sie selber dort hinfahren. Oder haben Sie etwas in dieser Richtung vor?«
Partridge verneinte, obgleich das nicht der Wahrheit entsprach.
Der Rest des Interviews verlief ähnlich, keiner traute dem anderen, man spielte Katz und Maus und versuchte, sich gegenseitig Informationen zu entlocken, ohne selbst etwas preiszugeben. Erfolg hatte am Ende keiner, doch Partridge benutzte in einer Zusammenfassung für die National Evening News zwei Zitate von General Ortiz - das eine über die »weiten Landstriche, in denen man ganze Armeen verstecken kann« und die zynische Bemerkung, daß angebliche Menschenrechtsverletzungen »Lappalien, die vierundzwanzig Stunden später wieder vergessen sind«, seien.
Da es keine Aufnahmen gab, brachte New York beide Aussagen in Textzeilen unter einem Foto des Generals.
Doch Partridge betrachtete dieses Interview nicht als ergiebig.
Befriedigender verlief etwas später das Interview mit Cesar Acevedo, auch der ein alter Freund von Partridge und ein einflußreicher Laie in der katholischen Kirche. Sie trafen sich in einem privaten Büro im hinteren Teil des Erzbischöflichen Palais' an der Plaza de Armas, dem offiziellen Stadtzentrum.
Acevedo, ein kleiner, eindringlich und sehr schnell sprechender Mann Mitte Fünfzig, besaß einen tiefen Glauben und ein profundes religiöses Wissen. Er war hauptberuflich in der Kirchenverwaltung tätig und hatte beträchtlichen Einfluß, doch den letzten Schritt, nämlich die Priesterweihe, hatte er nie gewagt. Wenn er es getan hätte, so seine Freunde, wäre er inzwischen zumindest Bischof mit guten Aussichten auf den Kardinalshut.
Cesar Acevedo hatte nie geheiratet, war jedoch in Lima gesellschaftlich sehr angesehen.
Partridge mochte Acevedo, er war bescheiden und vollkommen ehrlich und gab nie vor, etwas zu sein, was er nicht war. Auf Partridges Frage, warum er sich nie zum Priester habe weihen lassen, hatte Acevedo bei einer früheren Gelegenheit geantwortet: »So sehr ich Gott und Jesus Christus liebe, war ich doch nie bereit, mein intellektuelles Recht auf Skeptizismus aufzugeben, falls ich davon, was ich nicht hoffe, einmal Gebrauch machen müßte. Als Priester müßte ich auf dieses Recht verzichten. Schon als junger Mann konnte ich mich nicht dazu überwinden, und heute kann ich es ebensowenig.«
Acevedo war Generalsekretär des Katholischen Sozialen Aktionskomitees, das sich um die medizinische Versorgung entlegener Landesteile, in denen es kaum Ärzte oder Schwestern gab, kümmerte.
»Ich glaube«, sagte Partridge zu Beginn ihres Gesprächs, »daß du dich ab und zu auch mit dem Sendero Luminoso herumschlagen mußt.«
Acevedo lächelte. »>Herumschlagen< ist korrekt. Die Kirche billigt den Sendero natürlich nicht - weder die Ziele noch die Methoden. Aber in der praktischen Arbeit existiert eine Beziehung, wenn auch eine sehr eigenartige.«
Aus bestimmten Gründen, erklärte der Kirchenführer später, vermied es der Sendero Luminoso, sich die Kirche zum Feind zu machen, und griff sie als Institution nur höchst selten an. Doch die Rebellenorganisation traute den einzelnen Kirchenvertretern nicht, und wenn Aktionen gegen die Regierung oder Aufstände geplant wurden, vertrieben die Rebellen Priester und andere Kirchenvertreter aus dem entsprechenden Gebiet, um keine Zeugen zu haben.
»Sie sagen dann einfach zu unseren Priestern und Sozialarbeitern: >Verschwindet von hier! Wir können euch nicht brauchen. Ihr werdet schon erfahren, wann ihr zurückkehren könnt.<«
»Und die Priester gehorchen?«
Acevedo seufzte. »Klingt nicht gerade bewundernswert, was? Aber normalerweise ja, weil sie keine andere Wahl haben. Wird der Befehl nicht befolgt, würde der Sendero nicht zögern zu töten. Ein lebender Priester kann irgendwann zurückkehren. Ein toter nicht.«
Plötzlich fiel Partridge etwas ein. »Gibt es im Augenblick Orte, von denen eure Leute vertrieben wurden, weil Sendero Luminoso dort keine Zeugen wollte?«
»Es gibt so eine Gegend, und die bereitet uns beträchtliche Probleme. Komm! Ich zeig' sie dir auf der Karte.« Sie gingen zu einer Wand, an der, unter einer Plastikhülle mit Kreidemarkierungen, eine große Karte von Peru hing.
»Es ist dieses ganze Gebiet hier.« Acevedo zeigte auf einen Abschnitt der Provinz San Martin, der rot umrandet war. »Bis vor etwa drei Wochen haben wir dort, wie jedes Jahr, unser großangelegtes Hilfsprogramm durchgeführt. Es geht dabei vorwiegend um Schutzimpfungen für Kinder. Die sind sehr wichtig, weil in diesem Teil der Selva Dschungelkrankheiten sehr häufig sind, die auch tödlich verlaufen können. Auf jeden Fall hat der Sendero Luminoso, der die Gegend kontrolliert, darauf bestanden, daß unsere Leute sie verlassen. Wir haben protestiert, aber es war nichts zu machen. Und jetzt wollen wir unsere Ärzte wieder dorthin zurückschicken. Aber der Sendero sagt nein.«
Partridge betrachtete den eingekreisten Kartenausschnitt. Er hatte gehofft, daß es sich um ein kleines Gebiet handeln würde. Aber er wurde enttäuscht, es war riesig. Er las Ortsnamen, alle weit voneinander entfernt: Tocache, Uchiza, Sion, Nueva Esperanza, Pachiza. Ohne sich viel davon zu versprechen, notierte er sie. Falls die Geiseln wirklich an einem der Orte gefangengehalten wurden, hätte es wenig Sinn, in die Gegend einzudringen, ohne zu wissen, an welchem Ort genau. Eine Rettung wäre überall schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Eine winzige Chance bestand nur, wenn die Entführer überrascht werden konnten.
»Ich glaube, ich weiß, was du denkst«, sagte Acevedo. »Du überlegst dir, ob deine entführten Freunde irgendwo in diesem Gebiet sind.«
Partridge nickte schweigend.
»Ich glaube nicht, denn davon hätte ich bestimmt gehört. Aber unsere Kirche hat ein ganzes Netz von Kontakten. Ich werde mich umhören und dir berichten, falls ich etwas erfahre.«
Mehr konnte Partridge nicht erwarten. Aber er wußte, daß ihm die Zeit davonlief und daß er über den Aufenthaltsort der Sloanes seit seiner Ankunft noch nichts Neues in Erfahrung gebracht hatte.
Schon im erzbischöflichen Palais hatte ihn der Gedanke niedergeschlagen gestimmt. Als er sich nun in seinem Hotelzimmer an die Ereignisse des Tages erinnerte, war er frustriert wegen seiner mangelnden Fortschritte und fühlte sich wie ein Versager.
Plötzlich klingelte das Telefon.
»Harry, bist du das?« Partridge erkannte Don Ketterings Stimme.
Gleich nach der Begrüßung kam Kettering zur Sache. »Hier ist einiges passiert, von dem ich mir dachte, daß du es wissen solltest.«
Rita, die ebenfalls im Cesar's Hotel wohnte, hob nach dem zweiten Klingeln ab.
»Ich habe eben einen Anruf aus New York bekommen«, sagte Partridge. Er wiederholte, was Don Kettering ihm über die Entdeckung des Hauses in Hackensack und die Funktelefone erzählt hatte, und fügte hinzu: »Don hat mir eine Nummer in Lima gegeben, die von einem der Funktelefone angerufen wurde. Ich will wissen, wem die gehört.«
»Gib sie mir«, sagte Rita.
Partridge las vor: »28-9427.«
»Ich versuche, diesen Victor Velasco von Entel zu erreichen. Er soll sich darum kümmern. Ich rufe zurück, sobald es etwas Neues gibt.«
Fünfzehn Minuten später meldete sie sich wieder. »Ich habe Velasco zu Hause erreicht. Er sagt, daß sich seine Abteilung um so etwas normalerweise nicht kümmert und daß es schwierig sei, an die Information zu kommen. Aber er hofft, daß er sie bis morgen früh hat.«
»Danke«, sagte Partridge. Wenige Augenblicke später war er eingeschlafen.
9
Erst am Mittwoch gegen Nachmittag konnte die Telefonnummer, die Partridge von Kettering bekommen hatte, identifiziert werden. Velasco entschuldigte sich wegen der Verspätung. »Das sind natürlich vertrauliche Daten«, erklärte er Partridge und Rita in der Schneidekabine von CBA bei Entel, wo sie zusammen mit dem Cutter an einem neuen Bericht für New York arbeiteten.
»Es war schwierig, meine Kollegen zu überreden, die Information herauszugeben«, fuhr Velasco fort. »Aber ich habe es geschafft.«
»Mit Geld?« fragte Rita, und als er nickte, meinte sie: »Sie bekommen es zurück.«
Die Information war hastig auf einen Notizzettel gekritzelt: Calderön G. - 547 Huancavelica Street, 10F.
»Wir brauchen Fernandez«, sagte Partridge.
»Ist schon unterwegs«, erwiderte Rita, und wenige Minuten später stand der dunkelhäutige Kontaktmann vor ihnen. Seit Partridges und Minh Van Canhs Ankunft hatte er für die beiden gearbeitet und half nun auch Rita, wo er konnte.
Als er die Adresse sah und erfuhr, warum sie wichtig sein konnte, nickte Fernandez Pabur eifrig. »Ich kenne das Haus. Es ist ein alter Wohnblock in der Nähe der Kreuzung an der Avenida Tacna. Nicht gerade ein« - er suchte nach dem englischen Wort - »Palast.«
»Egal was es ist«, erwiderte Partridge. »Ich muß sofort dorthin.« Er wandte sich an Rita: »Ich will, daß ihr mitkommt, du, Minh und Ken, aber ich gehe zuerst allein hinein und sehe, was ich herausfinden kann.«
»Nicht allein«, protestierte Fernandez. »Man könnte Sie angreifen und ausrauben, oder vielleicht noch Schlimmeres. Tomas und ich werden Sie begleiten.«
Tomas, das wußten sie inzwischen, war der Name des kräftigen, schweigsamen Leibwächters.
Der Kombi, den Fernandez gemietet hatte und den sie nun regelmäßig benutzten, stand vor dem Entel-Gebäude. Mit sieben Leuten wurde es ziemlich eng, aber die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. »Dort ist es«, sagte Fernandez und zeigte aus dem Fenster.
Die Avenida Tacna war eine breite, viel befahrene Durchgangsstraße, Huancavelica Street eine Querstraße dazu. Die Gegend war zwar noch nicht so schlimm wie die barriadas, hatte aber offensichtlich schon bessere Tage gesehen. Die Nummer 547 war ein großes, düsteres Gebäude mit abblätternder Farbe und zerbröckelndem Mauerwerk. Einige Männer standen untätig herum, andere saßen auf dem Sims neben dem Eingang und sahen zu, wie Partridge, Fernandez und Tomas ausstiegen, während Rita, Minh Van Canh und Ken O'Hara, der Tontechniker, mit dem Fahrer im Auto sitzenblieben.
Partridge sah die feindseligen, prüfenden Blicke der Männer und war froh, daß er das Gebäude nicht allein betreten mußte.
Im Inneren überfiel sie der Gestank von Urin und allgemeinem Verfall. Der Boden war voller Unrat. Natürlich funktionierte auch der Aufzug nicht, und die Männer mußten zu Fuß über die schmuddelige Treppe in den zehnten Stock steigen.
Apartment F lag am Ende eines düsteren Korridors. Partridge klopfte an der einfachen Holztür. Drinnen hörte er Bewegungen, doch es kam niemand, um die Tür zu öffnen. Er klopfte noch einmal. Nun wurde die Tür einen Spalt geöffnet, gerade so weit, wie es die Sicherungskette erlaubte. Gleichzeitig kam von einer schrillen Frauenstimme eine Schimpftirade in Spanisch - so schnell, daß Partridge nicht folgen konnte. Er verstand nur einige Worte: »Animales!... Asesinos!... Diablos!«
Partridge spürte eine Hand auf seinem Arm, Fernandez' kräftige Gestalt schob sich zur Tür. Er hielt den Mund an den Spalt und sprach ähnlich schnell, aber mit sachlicher, beruhigender Stimme. Nach einer Weile verstummte die Stimme in der Wohnung, die Kette wurde gelöst und die Tür geöffnet.
Die Frau, die vor ihnen stand, war um die Sechzig. Früher war sie vielleicht einmal schön gewesen, aber die Zeit und das schwere Leben hatten sie aufgedunsen und grobschlächtig gemacht. Ihre Haut war fleckig, die Haare grau, strähnig und ungekämmt. Die Augen unter den gezupften, nachgezogenen Brauen waren rot und geschwollen vom Weinen, das dicke Make-up war zerlaufen. Fernandez ging an ihr vorbei in die Wohnung, die anderen folgten. Nach einem Augenblick des Zögerns schloß sie die Tür.
Partridge sah sich schnell um. Das Zimmer, das sie betreten hatten, war klein und einfach möbliert mit einigen Holzstühlen, einem Sofa mit fadenscheiniger Polsterung, einem simplen, überhäuften Holztisch und einem aus Ziegelsteinen und Brettern notdürftig zusammengebauten Bücherregal, das erstaunlich voll war und vorwiegend dicke, schwere Bände enthielt.
Fernandez wandte sich an Partridge. »Anscheinend wurde vor wenigen Stunden der Mann, mit dem sie zusammenlebte, getötet - ermordet. Sie war ausgegangen, und als sie zurückkam, fand sie ihn tot; die Polizei hat eben die Leiche fortgeschafft. Sie hat geglaubt, wir sind die Leute, die ihn ermordet haben und kommen jetzt zurück, um auch sie zu erledigen. Ich habe ihr versichert, daß sie von uns nichts zu befürchten hat.« Dann sagte er etwas zu der Frau, und sie sah Partridge an.
»Es tut uns wirklich leid, vom Tod Ihres Freundes zu hören«, versicherte ihr Partridge. »Wissen Sie, wer ihn getötet hat?«
Die Frau schüttelte den Kopf und murmelte etwas. »Sie spricht nur sehr wenig Englisch«, sagte Fernandez und übersetzte für sie. »Lo sentimos mucho la muerte de su amigo. Sabe Ud quien lo mato?«
Die Frau nickte heftig und ließ einen Wortschwall los, der mit »Der Sendero Luminoso« endete.
Es bestätigte, was Partridge befürchtet hatte. Die Person, die sie anzutreffen gehofft hatten - wer immer es war - hatte Verbindungen zum Sendero Luminoso. Aber was nützte ihnen ein Toter. So blieb nur die Frage, ob die Frau etwas von den Entführungsopfern wußte? Es schien eher unwahrscheinlich.
Nun sprach sie wieder in Spanisch, aber langsamer, so daß Partridge verstand. »Ja«, sagte er zu Fernandez, »wir würden uns gern setzen, und sagen Sie ihr, daß ich dankbar wäre, wenn sie uns ein paar Fragen beantworten würde.«
Fernandez wiederholte den Wunsch, die Frau antwortete, und er übersetzte: »Sie sagt ja, soweit sie kann. Ich habe ihr gesagt, wer Sie sind, und sie heißt übrigens Dolores. Sie läßt fragen, ob Sie etwas trinken wollen.«
»No, gracias«, sagte Partridge, worauf Dolores nickte und zum Regal ging, offenbar um sich selbst einen Drink einzugießen. Doch als sie die Gin-Flasche hob, merkte sie, daß sie leer war. Sie schien gleich wieder in Tränen auszubrechen, murmelte aber nur vor sich hin und setzte sich.
Fernandez berichtete: »Sie sagt, sie weiß nicht, wie lange sie noch lebt. Sie hat kein Geld.«
Partridge wandte sich direkt an Dolores: »Le dare dinero si Ud tiene la informacion que estoy buscando.«
Die Erwähnung des Geldes hatte einen weiteren schnellen Wortwechsel zwischen Dolores und Fernandez zur Folge. Danach sagte er: »Sie sagt, Sie sollen Ihre Fragen stellen.«
Partridge beschloß, sich lieber nicht auf sein eigenes beschränktes Spanisch zu verlassen, und ließ Fernandez weiter
übersetzen.
»Ihr Freund, der getötet wurde, was hat er gearbeitet?«
»Er war Arzt. Ein besonderer Arzt.«
»Ein Spezialist?«
»Er hat Leute einschlafen lassen.«
»Ein Anästhesist?«
Dolores schüttelte den Kopf, sie verstand das Wort nicht. Dann ging sie zu einem Schrank, wühlte darin herum und brachte einen kleinen, abgenutzten Koffer zum Vorschein. Sie öffnete ihn, zog eine Mappe mit verschiedenen Papieren heraus und blätterte sie durch. Sie nahm zwei der Dokumente und gab sie Partridge. Er sah, daß es Arztdiplome waren.
Das erste erklärte, daß Hartley Harold Gossage, ein Absolvent der Boston University Medical School, befugt war, als Arzt zu praktizieren. Das zweite ernannte diesen Hartley Harold Gossage zum »Facharzt für Anästhesie«.
Mit einer Handbewegung fragte Partridge, ob er auch die anderen Unterlagen sehen dürfe. Dolores nickte.
Einige Papiere schienen medizinische Routineangelegenheiten zu betreffen und waren ohne Bedeutung. Das dritte, das Partridge in die Hände fiel, war ein Brief auf dem Papier der Ärztekammer von Massachusetts. Er war adressiert an »H. H. Gossage« und begann wie folgt: »Hiermit wird Ihnen auf Lebenszeit die ärztliche Approbation entzogen...«
Partridge legte den Brief weg. Allmählich wurde das Bild klarer. Bei dem Mann, der hier gewohnt hatte und angeblich ermordet worden war, handelte es sich vermutlich um Gossage, einen auf Lebenszeit aus der Ärzteschaft ausgeschlossenen amerikanischen Anästhesisten, der Verbindung zum Sendero Luminoso hatte, eine Verbindung, die nahelegte, so folgerte Partridge, daß die Entführungsopfer, bevor sie aus Amerika verschleppt wurden, betäubt worden waren. Die Entdeckungen in dem Haus in Hackensack, von denen Kettering berichtet hatte, bestätigten das nur. Es war deshalb wahrscheinlich, daß dieser Ex-Arzt Gossage ihnen die Narkose gegeben hatte. Partridge verzog das Gesicht. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er den Mann lebend vor sich gehabt hätte.
Die anderen beobachteten ihn. Mit Fernandez' Hilfe nahm er die Befragung von Dolores wieder auf.
»Sie sagten uns, der Sendero Luminoso habe Ihren Freund ermordet. Warum glauben Sie das?«
»Weil er für diese bastardos gearbeitet hat.« Sie hielt inne, und plötzlich fiel ihr etwas ein. »Der Sendero hatte auch einen Namen für ihn - Baudelio.«
»Woher wissen Sie das?«
»Hat er mir erzählt.«
»Hat er Ihnen auch erzählt, was er für den Sendero gemacht hat?«
»Hin und wieder schon.« Das schwache Lächeln verschwand sofort wieder. »Wenn wir uns gemeinsam betrunken haben.«
»Haben Sie von der Entführung gewußt? Es stand alles in der Zeitung.«
Dolores schüttelte den Kopf. »Ich lese keine Zeitung. Die drucken nur Lügen.«
»War Baudelio in letzter Zeit nicht in Lima?«
Heftiges Nicken. »Er war lange weg. Er hat mir gefehlt.« Und nach einer Pause: »Er hat mich aus Amerika angerufen.«
»Ja, das wissen wir.« Alles paßt zusammen, dachte Partridge. Baudelio mußte an der Entführung beteiligt gewesen sein. Er ließ Fernandez fragen: »Wann ist er zurückgekehrt?«
Dolores überlegte, bevor sie antwortete. »Vor einer Woche. Er war froh, daß er wieder hier war. Und er hatte Angst, daß man ihn umbringen würde.«
»Hat er gesagt, warum?«
Dolores dachte nach. »Ich glaube, er hat etwas gehört. Jemand hat gesagt, daß er zu viel weiß.« Sie begann zu weinen. »Wir waren so lange zusammen. Was soll ich jetzt tun?«
Eine wichtige Frage war noch offen. Partridge hatte sie bewußt zurückgestellt, und auch jetzt bereitete sie ihm Schwierigkeiten. »Nach seiner Rückkehr aus Amerika und bevor er wieder hierherkam, war Baudelio da noch woanders in Peru?«
Dolores nickte.
»Hat er Ihnen gesagt, wo?«
»Ja. In Nueva Esperanza.«
Partridge konnte kaum glauben, was er da so plötzlich und unerwartet erfahren hatte. Seine Hände zitterten, als er in seinem Notizbuch zurückblätterte - zu den Aufzeichnungen des Interviews mit Cesar Acevedo und der Liste der Orte, aus denen der Sendero Luminoso die katholischen Ärzteteams vertrieben hatte. Ein Name sprang ihm sofort ins Auge: Nueva Esperanza.
Er hatte es geschafft! Endlich wußte er, wo Jessica, Nicky und Angus Sloane gefangengehalten wurden.
Partridge mußte sich ins Gedächtnis rufen, daß er vor allem und zuerst Fernsehkorrespondent war, als er mit Rita, Minh und O'Hara die Aufnahmen besprach, die sie brauchten - von Dolores, der Wohnung und dem Gebäude. Nachdem er Tomas zum Auto, geschickt hatte, um die anderen zu holen, standen sie jetzt alle in der Wohnung im zehnten Stock.
Partridge wollte auch Nahaufnahmen der Arztdiplome und des Briefes aus Massachusetts, der Gossage alias Baudelio zum Aussätzigen seines Standes machte. Auch wenn der amerikanische Arzt bereits begraben war, wollte Partridge alles tun, um das, was er den Sloanes angetan hatte, für immer festzuhalten.
Doch obwohl die Rolle, die Baudelio bei der Entführung gespielt hatte, für die Story sehr wichtig war, wußte Partridge auch, daß eine sofortige Veröffentlichung ein Fehler wäre, weil man damit Informationen aus der Hand geben würde, die seine CBA-Truppe im Augenblick exklusiv besaß. Nur wollte er die Sequenz über Baudelio sofort fertigstellen, um sie schnell bei der Hand zu haben, wenn es Zeit für eine Veröffentlichung war.
Dolores wurde in Großaufnahme gefilmt und ihre Stimme im spanischen Original aufgenommen. Sie sollte später ausgeblendet und eine Übersetzung darübergelegt werden. Gegen Ende der Aufnahme sagte Fernandez zu Partridge: »Sie erinnert Sie daran, daß Sie ihr Geld versprochen haben.«
Partridge besprach sich kurz mit Rita, die dann tausend Dollar in Fünfzigerscheinen abzählte. Das war eine für die Umstände sehr großzügige Bezahlung, aber Dolores hatte ihnen zu einem wichtigen Erfolg verholfen; außerdem hatten Partridge und Rita Mitleid mit ihr und glaubten ihrer Behauptung, daß sie, trotz ihres Verhältnisses mit Baudelio, nichts von der Entführung gewußt habe.
Abschließend sagte Rita zu Fernandez: »Bitte erklären Sie ihr, daß CBA im allgemeinen nicht für Interviews zahlt und daß sie das Geld für die Bereitstellung ihrer Wohnung und die Informationen bekommt, die sie uns geliefert hat.« Es war eine rein theoretische Unterscheidung, die in der Branche häufig benutzt wurde, um zu verschleiern, daß sie genau das taten, was sie vorgaben, nicht zu tun, und New York sah es gern, wenn Produzenten sich an dieses Ritual hielten.
Dolores' Dankbarkeit nach zu urteilen, hatte sie weder zugehört noch verstanden, worum es ging. Partridge war überzeugt, daß sie die leere Gin-Flasche durch eine volle ersetzen würde, sobald die Reporter verschwunden waren.
Doch jetzt konnte Partridge sich wieder mit dem Wesentlichen beschäftigen - so schnell wie möglich eine Befreiungsexpedition nach Nueva Esperanza auf die Beine zu stellen. Bei dem Gedanken wuchs die Erregung in ihm, rührte sich wieder die alte Sucht nach Gefahr, Waffen und Kampf.
10
Am liebsten hätte Crawford Sloane jeden Tag Harry Partridge in Peru angerufen und ihn gefragt: »Gibt's was Neues?« Aber er beherrschte sich, denn er wußte, daß er von jeder neuen Entwicklung ohnehin sofort erfahren würde und daß es wichtig war, Partridge ungestört und auf seine Art arbeiten zu lassen. Sloane traute ihm noch immer mehr zu als jedem anderen, den man mit diesem Auftrag nach Peru hätte schicken können. Ein weiterer Grund für seine Zurückhaltung war die Tatsache, daß Harry Partridge ihn von sich aus mehrfach entweder spätabends oder früh am Morgen angerufen hatte, um ihn über Forschritte und Hintergründe zu informieren.
Doch seit dem letzten Anruf aus Peru waren bereits einige Tage vergangen, so daß Crawford, obgleich er enttäuscht war, annahm, daß es einfach nichts Neues zu berichten gab.
Er irrte sich.
Wovon Sloane nichts wußte und auch nichts wissen konnte, war Partridges Entscheidung, die gesamte Kommunikation zwischen Lima und New York, ob nun über Telefon, Satellit oder Geschriebenem, wegen des damit verbundenen Sicherheitsrisikos vorübergehend auszusetzen. Nach dem Interview mit General Ortiz, in dem dieser Partridge zu verstehen gegeben hatte, daß er überwacht wurde, schien es möglich, daß Telefone angezapft und sogar die Post geöffnet wurde. Satellitenübertragungen waren mit der entsprechenden Ausrüstung leicht mitzuschneiden, und auch die Benutzung anderer als der üblichen Telefonanschlüsse garantierte keine Vertraulichkeit.
Grund zur Vorsicht gab aber auch, daß es in Lima inzwischen von Journalisten und Fernsehteams wimmelte, die alle in ihrer Berichterstattung über die Sloane-Entführung konkurrierten und nach neuen Spuren suchten. Bis jetzt hatte sich Partridge die Reportermeute vom Hals halten können, doch wußte er auch, daß man wegen der bisher so erfolgreichen CBA-Berichterstattung sehr genau darauf achtete, wohin er ging und welche Leute er traf.
Partridge hatte deshalb beschlossen, nichts über seinen Besuch in der Wohnung an der Huancavelica Street und dessen Ergebnis preiszugeben, vor allem nicht über Telefon. Seine Kollegen von CBA bat er, sich ebenfalls daran zu halten, und schärfte ihnen für die Vorbereitungen der Expedition nach Nueva Esperanza absolute Verschwiegenheit ein. Nicht einmal CBA in New York durfte vorerst davon erfahren.
So betrat Crawford Sloane am Donnerstagvormittag um 10 Uhr 55, also etwas später als sonst, die CBA News-Zentrale, ohne etwas von den Entwicklungen in Lima vom Vortag zu wissen.
Begleitet wurde er von einem jungen FBI-Agenten namens Ivan Ungar, der in Crawfords Haus übernachtet hatte. Das FBI schützte Sloane auch weiterhin vor einer möglichen Entführung, und es gab Gerüchte, daß auch andere Mitarbeiter von CBA Personenschutz erhielten. Doch war seit der Kontaktaufnahme der Entführer die vierundzwanzigstündige Telefonüberwachung aufgegeben worden.
FBI-Sonderagent Otis Havelock beschäftigte sich auch weiterhin mit dem Fall, er hatte nach der Entdeckung des Unterschlupfs die Leitung der Ermittlungen in Hackensack übernommen. Wie Sloane erfahren hatte, wurde auch der Flughafen von Teterboro wegen seiner Nähe zu Hackensack vom FBI kontrolliert. So überprüfte man sämtliche Flüge, die vom Zeitpunkt der Entführung bis zu dem Tag, da bekannt wurde, daß sich Entführer und Opfer in Peru aufhielten, von dort gestartet waren. Doch wegen der Menge der Starts in diesen dreizehn Tagen kamen die Ermittlungen nur langsam voran.
Als Sloane das CBA News-Gebäude betrat, legte ein uniformierter Sicherheitsposten grüßend die Hand an die Mütze, doch von Beamten der New Yorker Stadtpolizei, die nach der Entführung über eine Woche lang den Komplex bewacht hatten, war nichts zu sehen. Der Publikumsverkehr war so stark wie früher, und obwohl die Hereinkommenden sich am Empfang ausweisen mußten, fragte sich Sloane, ob die Sicherheitsbestimmungen inzwischen wieder so nachlässig gehandhabt wurden wie vor der Entführung.
Zusammen mit Ungar betrat er einen Aufzug, fuhr in den dritten Stock und ging zu seinem Büro neben dem Hufeisen, wo einige Leute von ihrer Arbeit aufsahen und ihn begrüßten. Sloane ließ die Tür seines Büros offen. Ungar setzte sich draußen auf einen Stuhl.
Als Sloane seinen Regenmantel auf einen Haken hängte, bemerkte er auf seinem Tisch ein weißes Styroporpaket, wie es von Straßenverkaufsrestaurants benutzt wird. In der Gegend gab es einige dieser Läden, die häufig auf telefonische Bestellung Snacks oder komplette Menüs in die Büros von CBA News lieferten. Da aber Sloane nichts bestellt hatte und normalerweise in der Cafeteria zu Mittag aß, nahm er an, daß es sich um ein Versehen handelte.
Doch dann stellte er überrascht fest, daß auf dem ordentlich mit weißer Schnur verschnürten Päckchen »C. Sloane« als Empfänger angegeben war. Ohne großes Interesse nahm er eine Schere aus der Schublade, zerschnitt die Schnur und öffnete das Päckchen. Obenauf lagen einige Blatt zusammengefaltetes weißes Papier und erst darunter der eigentliche Inhalt.
Einige Sekunden lang starrte Crawford Sloane mit stummem, ungläubigem Entsetzen in die Schachtel. Dann schrie er - ein gequälter, markerschütternder Schrei. Am Hufeisen fuhren die Köpfe in die Höhe. FBI-Agent Ungar sprang auf und zog seine Pistole. Aber Sloane war allein, er schrie und schrie und starrte mit weit aufgerissenen, schreckensstarren Augen und aschfahlem Gesicht das Päckchen an.
Andere sprangen auf und liefen zu Sloanes Büro. Eine Frau kam vom Hufeisen gelaufen und beugte sich über Sloanes Schreibtisch. »O mein Gott!« schrie sie, hielt sich die Hand vor den Mund und stürzte hinaus.
FBI-Agent Ungar warf einen kurzen Blick in die Schachtel, sah zwei menschliche, blutverklebte Finger, schluckte seinen Ekel hinunter und war sofort wieder Herr der Lage. Der Menge, die sich im Büro und vor der Tür angesammelt hatte, rief er zu: »Bitte gehen Sie!« Gleichzeitig griff er zum Telefon, drückte den Knopf für die Vermittlung und befahl: »Sicherheitsabteilung - aber schnell!« Als sich dort jemand meldete, rief er in den Hörer: »Hier FBI-Sonderagent Ungar. Geben Sie Befehl an alle Wachen, daß ab sofort niemand mehr das Gebäude verlassen darf, und zwar ausnahmslos. Wenn jemand Widerstand leistet, wenden Sie Gewalt an. Sofort nach Ausgabe dieses Befehls alarmieren Sie die Stadtpolizei. Ich gehe jetzt in die Eingangshalle. Jemand von Ihrer Abteilung soll dort auf mich warten.«
Während Ungar telefonierte, sank Sloane in seinen Sessel. Wie einer der Anwesenden später bemerkte: »Er sah aus wie der Tod.«
Chuck Insen bahnte sich einen Weg durch die Menge vor dem Büro und fragte: »Was ist denn hier los?«
Als Ungar sah, wer es war, wies er nur kurz auf die weiße Schachtel und sagte: »Bitte nichts anrühren. Ich würde vorschlagen, daß Sie Mr. Sloane wegbringen und die Tür verschließen, bis ich zurückkomme.«
Insen nickte nur, er hatte inzwischen den Inhalt der Schachtel gesehen und bemerkt, wie andere auch, daß die Finger klein und zart waren und nur die eines Kindes sein konnten. Er sah Sloane an und stellte mit den Augen die unvermeidliche Frage. Sloane nickte schwach und flüsterte: »Ja.«
»O Gott!« murmelte Insen.
Sloane schien kurz vor dem Zusammenbruch zu sein. Insen legte den Arm um ihn und führte ihn aus dem Zimmer. Die Menge vor der Tür machte den Weg frei.
Insen brachte Sloane in sein Büro und gab auf dem Weg dorthin hastige Anweisungen. Zu einer Sekretärin sagte er: »Schließen Sie Mr. Sloanes Büro ab, und lassen Sie niemand hinein außer den FBI-Mann. Dann besorgen Sie uns einen Arzt. Sagen Sie, Mr. Sloane hat einen Schock erlitten und braucht ein Beruhigungsmittel.« Zu einem Produzenten: »Sagen Sie Don Kettering, was passiert ist, und holen Sie ihn her. Wir brauchen etwas für die Nachrichten heute abend.« Und zu den anderen: »Der Rest geht wieder an seine Arbeit.«
Das große Glasfenster zum Hufeisen in Insens Büro hatte eine Jalousie, die er herunterlassen konnte, wenn er ungestört sein wollte. Nachdem er Sloane zu einem Sessel geführt hatte, ließ er sie herab. Langsam bekam Sloane sich wieder in die Gewalt, doch er saß vorgebeugt und vergrub den Kopf in den Händen. Halb zu sich selbst, halb zu Insen gewandt, murmelte er verzweifelt: »Diese Leute wußten von Nicky und seinem Klavierspiel. Und woher? Ich habe das ausgeplaudert! Ich selber! Bei dieser Pressekonferenz nach der Entführung.«
Leise entgegnete Insen: »Ich weiß, Crawf. Aber du hast doch nur eine Frage beantwortet, du hast es nicht selbst zur Sprache gebracht. Wer hätte denn so etwas voraussehen...« Er brach ab, weil er wußte, daß vernünftige Argumente in diesem Augenblick wenig Sinn hatten.
Später sollte Insen vor anderen erklären: »Eins muß ich Crawf wirklich zugestehen. Er hat Mut. Nach dieser Erfahrung hätten die meisten Leute uns angefleht, die Bedingungen der Entführer zu erfüllen. Aber Crawf wußte von Anfang an, daß wir das nicht dürfen und können, und er hat keinen Augenblick geschwankt.«
Jetzt hörte man ein leises Klopfen, und die Sekretärin betrat das Büro. »Der Arzt ist unterwegs«, sagte sie.
Das Ausgangsverbot wurde wieder aufgehoben, nachdem alle Leute, die sich im Gebäude aufhielten oder es eben verlassen wollten, überprüft und die Gründe für ihre Anwesenheit geklärt waren. Wahrscheinlich war das Paket mit den Fingern viel früher abgegeben worden, und da Restaurantboten häufig im Gebäude ein und aus gingen, hatte niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt.
Das FBI kontrollierte alle Straßenverkaufsrestaurants in der Nähe, doch ohne Ergebnis. Und obwohl der CBA-Sicherheitsdienst den Auftrag hatte, alle Boten und Lieferanten zu überprüfen, zeigte sich nun, daß dies nur stichprobenartig und oberflächlich geschah.
Zweifel, ob es sich wirklich um Nickys Finger handelte, waren nach einer Untersuchung von Nickys Schlafzimmer durch das FBI schnell ausgeräumt. Die Fingerabdrücke, die dort gefunden wurden, paßten zu denen der beiden abgetrennten Finger auf Crawford Sloanes Schreibtisch.
Mitten in die düstere Stimmung bei CBA News platzte die Nachricht von einer weiteren Lieferung, die diesmal an Stonehenge gegangen war. Am frühen Donnerstagvormittag fand ein kleines Päckchen den Weg in Margot Lloyd-Masons Bürosuite. Es enthielt eine Videocassette vom Sendero Luminoso.
Da das Band erwartet wurde, leitete Margot es sofort per Boten an Les Chippingham weiter. Sobald Les von dessen Eintreffen erfuhr, rief er Don Kettering und Norman Jaeger in sein Büro, wo sie sich das Band gemeinsam ansahen.
Alle drei bemerkten die hohe Qualität der Aufnahmen, sowohl technisch wie in der Präsentation. Der Vorspann, der mit der Zeile: »Weltrevolution: der Sendero Luminoso zeigt den Weg.« begann, war über peruanische Landschaftsbilder von atemberaubender Schönheit kopiert - die düstere Majestät von Bergen und Gletschern der Anden, der Machu Picchu in seiner beängstigenden Pracht, die Endlosigkeit des grünen Dschungels, die trockene Küstenregion und der wogende Pazifik. Jaeger war es, der die feierliche Begleitmusik der Einleitung erkannte: Beethovens Dritte Symphonie, die Eroica.
»Die hatten absolute Profis für die Produktion«, murmelte Kettering. »Ich hatte etwas Primitiveres erwartet.«
»Ist aber eigentlich nicht überraschend«, bemerkte Chippingham. »Peru ist auch nicht hinter dem Mond, die haben junge Talente und die beste Ausrüstung.«
»Und der Sendero hat das Geld, um sich beides zu kaufen«, fügte Jaeger hinzu. »Außerdem haben sie das ganze Land unterwandert.«
Selbst die extremistischen Phrasen, die nun folgten, waren unterlegt mit bewegenden, eindrucksvollen Bildern - von Straßenschlachten in Lima, Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten, die entsetzlichen Folgen eines Angriffs von Regierungstruppen auf ein Andendorf. »Wir sind die Welt«, erklärte ein unsichtbarer Sprecher. »Und die Welt ist bereit für eine revolutionäre Explosion.«
Großen Raum nahm ein Interview ein, das angeblich mit dem Gründer und Führer von Sendero Luminoso, Abimael Guzman, geführt wurde. Ob das wirklich stimmte, war nicht zu erkennen, da die Kamera auf den Rücken einer sitzenden Person gerichtet war. Der Sprecher erläuterte: »Unser Führer hat viele Feinde, die ihn töten wollen. Sein Gesicht zu zeigen, würde heißen, ihnen in die Hände zu spielen.«
Guzmans Stimme begann in Spanisch: »Companeros revolucionarios, nuestro trabajo y objetivo es unir los creyentes en lafilosofia de Marx, Lenin, y Mao...« Dann verstummten die Worte, und eine neue Stimme fuhr fort: »Genossen, wir müssen weltweit eine soziale Ordnung zerstören, die es nicht wert ist, erhalten zu werden... «
»Spricht Guzman eigentlich kein Englisch?« fragte Kettering.
»Es ist eigenartig«, antwortete Jaeger, »aber er ist einer der wenigen gebildeten Peruaner, die es nicht sprechen.«
Was nun folgte, war voraussehbar, denn Guzman hatte es schon oft gesagt. »Die Revolution hat ihre Berechtigung in der Ausbeutung der Armen auf der ganzen Welt... Falsche Berichte werfen dem Sendero Luminoso Unmenschlichkeit vor. Doch der Sendero ist menschlicher als die Supermächte, die bereit sind, die Menschheit mit ihren Atomwaffen zu vernichten. Unsere proletarische Revolution wird diese Waffen von unserer Erde verbannen... Die Arbeiterbewegung der Vereinigten Staaten, eine bourgeoise Elite, hat die amerikanischen Arbeiter verraten und verkauft... Die Kommunisten in der Sowjetunion sind auch nichts anderes als Imperialisten. Die Sowjets haben die Revolution Lenins verraten... Cubas Castro ist ein Clown, ein imperialistischer Lakai.«
Guzmans Erklärungen waren immer sehr allgemein. Nach konkreten Aussagen suchte man in seinen Reden und Schriften vergeblich.
»Wenn wir das an Stelle unserer Abendnachrichten bringen würden«, bemerkte Chippingham, »hätten wir schon jetzt das Publikum verloren, und unsere Quoten wären im Keller.«
Die halbstündige Aufnahme endete wieder mit Beethoven, hinreißenden Landschaften und einem enthusiastischen Ausruf des Sprechers: »Lang lebe unsere Lehre, der MarxismusLeninismus-Maoismus!«
»Also gut«, sagte Chippingham am Ende, »ich werde die Cassette, wie vereinbart, in den Safe legen. Nur wir drei kennen den Inhalt. Ich würde vorschlagen, daß wir mit keinem darüber sprechen.«
»Willst du dich noch immer an Carl Owens Vorschlag halten?« fragte Jaeger, »und behaupten, die Cassette sei beschädigt worden?«
»Aber natürlich! Haben wir denn eine Alternative? Auf jeden Fall werden wir das Band am Montagabend nicht senden.«
»Wahrscheinlich haben wir wirklich keine Alternative«, gab Jaeger zu.
»Wir müssen uns nur über eins im klaren sein«, sagte Kettering, »die Chancen, daß man uns jetzt noch glaubt, stehen nach Theo Elliotts Bock mit dem Baltimore Star nicht mehr sonderlich gut.«
»Verdammt, das weiß ich auch.« Chippinghams Stimme waren der Streß und die Belastung der vergangenen Tage anzumerken. Er sah auf die Uhr: 15 Uhr 53. »Don, um vier unterbrichst du das Programm mit einer Sondermeldung. Sag, daß wir das Band erhalten haben, daß es aber beschädigt ist und wir es nicht reparieren konnten. Dann ist es Sache vom Sendero Luminoso, uns eine Kopie zu schicken.«
»Okay!«
»In der Zwischenzeit«, fuhr Chippingham fort, »lasse ich von der PR-Abteilung eine Mitteilung an die Presseagenturen herausgeben, mit der Bitte, sie nach Peru weiterzuleiten. Und jetzt an die Arbeit.«
Die von CBA News ausgegebene Falschinformation fand schnelle und weite Verbreitung. Da es in Peru eine Stunde früher war als in New York - das Land kannte im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten keine Sommerzeit -, erreichte die CBA-Verlautbarung Lima rechtzeitig für die Abendnachrichten in Radio und Fernsehen und für die Zeitungsausgaben des folgenden Tages.
Schon zuvor hatten Nachrichtensendungen über die Entdeckung von Nicholas Sloanes abgetrennten Fingern durch seinen entsetzten Vater berichtet.
Die Führer vom Sendero Luminoso in Ayacucho hörten beide Berichte. Dem zweiten über das angeblich beschädigte Band schenkten sie keinen Glauben. Was jetzt sofort notwendig war, so überlegten sie, war eine drastische Aktion, die wirkungsvoller war als zwei abgetrennte Finger eines kleinen Jungen.
11
Später sollte sich Jessica daran erinnern, daß sie an diesem Tag schon beim Aufwachen in der Dämmerung eine düstere Vorahnung gehabt hatte. Sie hatte fast die ganze Nacht nicht geschlafen, so sehr wurde sie von Ängsten gequält, und sie verlor allmählich jede Hoffnung auf Rettung. Während der letzten drei Tage hatte sie ihre frühere Zuversicht, irgendwann befreit zu werden, verloren, obwohl sie das vor Angus und Nicky zu verbergen suchte. Konnte man überhaupt darauf hoffen, so überlegte sie, in dieser versteckten Region eines fremden, weit entfernten Landes von Freunden gefunden und nach Hause gebracht zu werden? Je mehr Tage vergingen, um so zweifelhafter schien es.
Was Jessicas Zuversicht den größten Stoß versetzt hatte, war die brutale Verstümmelung von Nickys rechter Hand. Auch wenn sie je von hier wieder wegkamen, würde das Leben für Nicky nicht mehr dasselbe sein. Der kostbarste Traum seiner Jugend, der Traum von einer Pianistenkarriere, hatte ein so plötzliches, so unumstößliches... und ein so unnötiges... Ende gefunden. Welche anderen Gefahren lagen nun noch vor ihnen? - Vielleicht der Tod?
Am Dienstag hatte Nicky die Finger verloren. Nun war Freitag. Am Tag zuvor hatten Nickys Schmerzen etwas nachgelassen, dank Socorro, die täglich die Verbände gewechselt hatte. Aber er war noch immer still und brütete dumpf vor sich hin; auf Jessicas Versuche, ihn aus seiner Verzweiflung zu reißen, reagierte er nicht. Und immer noch gab es diese Trennung zwischen ihnen - diese eng beieinanderstehenden Bambusstangen und das Maschengitter. Seit der Nacht, als Socorro ihr erlaubt hatte, Nicky in seiner Zelle zu besuchen, war Jessica das, trotz ihres ständigen Flehens, nicht mehr gestattet worden.
Die unmittelbare Zukunft sah deshalb düster aus, sie hatten kaum etwas zu erhoffen und alles zu fürchten. Beim Aufwachen fiel Jessica ein Gedicht von Thomas Hood ein, das sie noch aus ihrer Kindheit kannte, aber erst jetzt richtig verstand. Das Gedicht endete:
Ach hätte doch die Nacht das Leben mir genommen!
Aber Jessica wußte, daß dieser Wunsch, wenn sie ihn auf sich selbst übertrug, nur egoistisch und defätistisch war. Sie durfte trotz allem nicht verzweifeln, sie mußte der kräftige Stab bleiben, auf den Nicky und Angus sich stützen konnten.
Kurz nach Sonnenaufgang kamen von draußen Geräusche; Jessica hörte, wie sich Schritte der Hütte näherten. Gustavo, der Anführer der Wachen, öffnete die Tür, ging sofort zu Angus' Zelle und schloß sie auf.
Miguel folgte dicht hinter ihm. Mit verkniffenem Gesicht ging er auf Angus zu, in der Hand etwas, womit ihn Jessica noch nie gesehen hatte - ein automatisches Gewehr.
Was das zu bedeuten hatte, war nur zu unmißverständlich. Beim Anblick der wirkungsvollen, häßlichen Waffe schlug Jessicas Herz schneller, ihr Atem kam stoßweise. O nein! Nicht Angus!
Gustavo packte den alten Mann, zerrte ihn grob auf die Füße und fesselte ihm die Arme hinter dem Rücken.
»So hören Sie doch!« rief Jessica. »Was machen Sie denn da? Warum denn?«
Angus wandte ihr den Kopf zu. »Jessie, meine Liebe, sei nicht verzweifelt. Du kannst nichts tun. Diese Leute sind Barbaren, die haben keinen Anstand und keine Ehre... «
Jessica sah, daß Miguel seine Waffe so fest packte, daß seine Knöchel weiß wurden. Ungeduldig befahl er: »Dese prisa! No pierdas tiempo!«
Nicky war aufgesprungen. Auch er verstand, was das automatische Gewehr zu bedeuten hatte, und fragte: »Mom, was machen sie mit Gramps?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jessica, doch sie glaubte ihren eigenen Worten nicht.
Angus richtete sich trotz der gefesselten Hände auf, streckte die Schultern und sah zu den beiden hinüber. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ihr beide - bleibt stark und verliert die Hoffnung nicht! Und denkt daran, irgendwo da draußen tut Crawford alles, was in seiner Macht steht. Hilfe ist unterwegs!«
Jessica liefen die Tränen über das Gesicht. Mit erstickter Stimme rief sie ihm zu: »Angus, mein liebster Angus! Wir lieben dich sehr!«
»Ich liebe euch auch, Jessie... Nicky!« Gustavo stieß Angus aus der Zelle. Sie alle wußten, daß er in den Tod ging.
Stolpernd drehte sich Angus ein letztes Mal um und rief: »Nicky, wie wär's mit einem Lied? Laß uns eines versuchen.« Er hob die Stimme:
»I'll be seeing you In all the old familiar places...«
Jessica sah, daß Nicky den Mund öffnete, doch seine Stimme war so tränenerstickt wie die ihre, und sie konnten beide nicht mit einstimmen.
Angus war nun bereits vor der Hütte, so daß sie ihn nicht mehr sahen. Nur seine Stimme hörten sie noch, doch dann wurde auch sie schwächer.
»That this heart of mine embraces all day thru In that small cafe...«
Dann war die Stimme verklungen. Ängstlich lauschten Jessica und Nicky in die Stille.
Sekunden vergingen, die sich auszudehnen schienen. Plötzlich zerriß Gewehrfeuer die Stille - vier Schüsse knapp hintereinander. Wieder Stille und dann ein zweiter Feuerstoß, die Schüsse zu schnell, um sie zählen zu können.
Draußen am Dschungelrand stand Miguel über der Leiche von Angus Sloane.
Die ersten vier Schüsse hatten den alten Mann sofort getötet. Doch dann war Miguel die Beleidigung vom vergangenen Donnerstag eingefallen - Maldito hijo de puta! - und die verächtliche Bemerkung über die »Barbaren« von eben, und er hatte eine weitere Garbe aus seiner sowjetischen AK-47 in den toten Körper gejagt.
Sein Auftrag, den er in der Nacht zuvor aus Ayacucho erhalten hatte, war damit ausgeführt. Nur Gustavo hatte nun noch, mit der Hilfe von anderen, eine unangenehme Arbeit zu erledigen.
Unterdessen war bereits ein leichtes Flugzeug im Dienst des Sendero Luminoso auf dem Weg zu einer Landepiste im Dschungel, die von Nueva Esperanza auf dem Wasserweg erreicht werden konnte. Ein Boot wartete schon auf das Ergebnis von Gustavos Arbeit, und von der Piste aus würde es weiter mit dem Flugzeug nach Lima gehen.
Später am selben Vormittag kam vor der amerikanischen Botschaft an der Avenida Garcilaso de la Vega in Lima ein Auto mit quietschenden Reifen zum Stehen. Ein Mann mit einer großen Pappschachtel unter dem Arm sprang heraus. Er stellte die Schachtel vor das Tor der Botschaft und lief zum Auto zurück, das sofort davonraste.
Ein Wachposten in Zivil, der die Szene beobachtet hatte, schlug sofort Alarm, und alle Eingänge der Botschaft, die wie eine Festung gebaut war, wurden vorübergehend geschlossen. Gleichzeitig wurde eine Sprengstoff Sondereinheit der peruanischen Armee um Hilfe gebeten.
Sobald sicher war, daß die Schachtel keinen Sprengstoff enthielt, wurde sie vorsichtig geöffnet. Der blutverklebte, abgetrennte Kopf eines älteren, gut siebzigjährigen Mannes kam zum Vorschein. Neben dem Kopf lag eine Brieftasche mit einer amerikanischen Versicherungskarte, einem in Florida ausgestellten Führerschein mit Foto und anderen Dokumenten, die belegten, daß es sich um den Kopf von Angus McMullen Sloane handelte.
Zur Zeit des Vorfalls hielt sich ein Reporter der Chicago Tribune in der Botschaft auf. Er hängte sich sofort an die Geschichte und war so der erste, der einen vollständigen Bericht mit dem Namen des Opfers präsentieren konnte. Der Artikel der Tribune wurde von Presseagenturen, Fernseh- und Radiosendern und anderen Zeitungen aufgegriffen und fand so sehr schnell, zuerst in Amerika und dann in der ganzen Welt, Verbreitung.
12
Die Vorbereitungen für die Rettungsexpedition nach Nueva Esperanza waren abgeschlossen.
Am Freitagnachmittag wurden die letzten Einzelheiten besprochen und die Ausrüstung vervollständigt. Am Samstag bei Sonnenaufgang wollten Partridge und seine Mannschaft von Lima aus in den Dschungel der Provinz San Martin fliegen, zu einer Piste in der Nähe des Huallaga.
Seitdem Partridge am Mittwoch den Namen des Ortes, an dem die Geiseln gefangengehalten wurden, erfahren hatte, hielt er es vor Ungeduld fast nicht mehr aus. Am liebsten wäre er sofort aufgebrochen, doch Fernandez Paburs Argumente wie auch seine eigene Erfahrung hatten ihn schließlich davon überzeugt, daß es besser war, sich Zeit zu lassen.
»Der Dschungel kann ein Freund sein; er kann aber auch ein Feind sein«, gab Fernandez zu bedenken. »Man kann nicht einfach in ihn hineinspazieren, so wie man einen anderen Stadtteil besucht. Wir werden mindestens einmal im Dschungel übernachten müssen, vielleicht sogar zweimal, und um das zu überleben, brauchen wir eine gewisse Ausrüstung. Außerdem muß ich mir den Piloten sehr sorgfältig aussuchen - wir brauchen jemand, auf den wir uns absolut verlassen können. Der Hinflug und der Abholtermin für unseren Rücktransport müssen sorgfältig geplant und zeitlich genau abgestimmt werden. Wir brauchen mindestens zwei Tage zur Vorbereitung, und auch das ist äußerst knapp.«
Das »Wir« und das »Uns« machten von Anfang an deutlich, daß der einfallsreiche Kontaktmann die Absicht hatte, an der Expedition teilzunehmen. »Sie werden mich brauchen«, sagte er einfach. »Ich war schon öfters in der Selva und kenne mich da aus.«
Als Partridge sich verpflichtet fühlte, ihn darauf hinzuweisen, daß es gefährlich werden könnte, zuckte Pabur nur die Achseln. »Das ganze Leben ist ein Risiko. In meinem Land muß man heutzutage schon auf der Hut sein, wenn man morgens aufsteht.«
Der Lufttransport war das Hauptproblem. Am Donnerstagvormittag verschwand Pabur für einige Stunden, holte dann Rita und Partridge ab und brachte sie zu einem einstöckigen Ziegelbau in der Nähe des Flughafens von Lima. In dem Gebäude waren verschiedene kleine Büros untergebracht. Sie gingen auf eine Tür zu mit der Aufschrift ALSA -Aerolibertad S. A. Fernandez trat als erster ein und stellte seine Begleiter dem Besitzer und Chefpiloten des Charterflugdienstes, Oswaldo Zileri, vor.
Zileri, etwa Mitte bis Ende Dreißig, war ein gutaussehender Mann mit markanten Zügen und einem kräftigen, athletischen Körper. Er war vorsichtig, aber geschäftsmäßig und kam sofort zum Wesentlichen. »Ich wurde informiert, daß Sie Nueva Esperanza einen Überraschungsbesuch abstatten wollen, mehr brauche ich nicht zu wissen, und mehr will ich nicht wissen.«
»Ausgezeichnet«, erwiderte Partridge. »Allerdings hoffen wir, beim Rückflug drei Passagiere mehr an Bord zu haben als beim Hinflug.«
»Die Maschine, die Sie chartern, ist eine Cheyenne II. Außer für die zwei Piloten ist an Bord Platz für sieben Passagiere. Wie Sie diese sieben Sitze nutzen, ist Ihre Sache. Können wir jetzt übers Geld reden?«
»Reden Sie mit mir darüber«, sagte Rita. »Was ist Ihr Preis?« »Sie zahlen in US-Dollar?« fragte Zileri.
Rita nickte.
»Das macht pro Hin- und Rückflug eintausendvierhundert Dollar. Falls wir am Ziel Zeit verlieren, weil wir kreisen müssen, kostet das extra. Und für die Landung in der Nähe von Nueva Esperanza verlangen wir eine Gefahrenzulage von fünftausend Dollar, denn das ist Drogengebiet, das vom Sendero Luminoso kontrolliert wird. Vor dem Abflug am Samstag hätte ich gern eine Kaution von sechstausend Dollar in bar.«
»Bekommen Sie«, erwiderte Rita. »Aber ich hätte gern eine schriftliche Aufstellung darüber.«
»Wird vor dem Abflug erledigt. Wollen Sie einige Details über meinen Flugservice wissen?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Partridge höflich.
Mit einem Anflug von Stolz begann Zileri mit einer Erläuterung, die er sich offensichtlich für solche Situationen zurechtgelegt hatte. »Die Cheyenne II - wir haben drei davon -ist eine zweimotorige Propellermaschine. Sie ist ein außergewöhnlich zuverlässiges Flugzeug, das auch auf sehr kurzen Bahnen landen kann - und das ist im Dschungel sehr wichtig. Alle unsere Piloten, ich eingeschlossen, wurden in Amerika ausgebildet. Wir sind mit fast allen Gegenden Perus vertraut, und die Leute von der zivilen und militärischen Luftraumkontrolle kennen uns bestens. Ich werde Sie übrigens persönlich fliegen.«
»Sehr gut«, bemerkte Partridge. »Aber wir brauchen auch Ihren Rat.«
»Fernandez hat es bereits erwähnt.« Zileri ging zu einem Kartentisch, auf dem eine Karte vom Südteil der Provinz San Martin ausgebreitet lag. Die anderen folgten ihm.
»Ich nehme an, Sie wollen etwas weiter von Nueva Esperanza entfernt landen, damit Ihre Ankunft nicht bemerkt wird.«
Partridge nickte. »Korrekt.«
»Dann würde ich vorschlagen, hier zu landen.« Mit einem Bleistift markierte Zileri einen Punkt auf der Karte.
»Aber ist denn das nicht eine Straße?«
»Ja, das ist die wichtigste Straße durch den Dschungel, aber trotzdem sehr wenig befahren. An einigen Stellen, wie zum Beispiel dieser hier, haben die Drogenhändler die Fahrbahn verbreitert und neu geteert, damit ihre Maschinen landen können. Ich habe das auch schon öfters getan.«
Partridge fragte sich, zu welchem Zweck. Um Drogen zu transportieren, oder Leute, die damit handelten? Soweit er wußte, gab es in Peru kaum einen Piloten, der nicht wenigstens am Rande mit dem Drogenhandel zu tun hatte.
»Vor dem Landeanflug«, fuhr Zileri fort, »werden wir uns vergewissern, ob die Straße leer ist und sich niemand am Boden aufhält. Von unserem Landepunkt aus führt ein schmaler Pfad bis in die Nähe von Nueva Esperanza.«
»Ich habe eine gute Karte, auf der dieser Pfad eingezeichnet ist«, warf Fernandez dazwischen.
»Und jetzt zum Rückflug mit den zusätzlichen Passagieren«, sagte Zileri. »Fernandez und ich haben bereits darüber gesprochen und einen Plan ausgearbeitet.«
»Schießen Sie los«, forderte Partridge ihn auf.
Man diskutierte, wägte ab und traf Entscheidungen.
Für den Rückflug gab es drei mögliche Treffpunkte. Zunächst die Straße, auf der man beim Hinflug landen wollte. Zum zweiten die Piste in Sion, die von Nueva Esperanza aus mit dem Boot und einem anschließenden Dreimeilenmarsch durch den Dschungel erreicht werden konnte. Und schließlich eine sehr kleine Piste auf halbem Weg zwischen den beiden, die von Drogenhändlern benutzt wurde und nur sehr wenigen Leuten bekannt war; auch die war nur über den Fluß zu erreichen.
Fernandez erklärte, warum diese Alternativen nötig waren: »Wir wissen nicht, was in Nueva Esperanza passieren wird und welcher Fluchtweg für uns offen ist.«
Das Flugzeug, das die Gruppe aufnehmen sollte, konnte problemlos alle drei Treffpunkte überfliegen und auf Signale vom Boden reagieren. Zu Partridges Ausrüstung gehörte eine Signalpistole mit grünen und roten Patronen. Eine grüne würde bedeuten: Alles in Ordnung, normal landen; eine rote: Schnellstmöglich landen, wir sind in Gefahr!
Falls der Pilot von der Luft aus Gewehr- oder Maschinenpistolenfeuer bemerkte, sollte er nicht landen, sondern nach Lima zurückkehren.
Da man den Termin für den Rückflug nicht im voraus festlegen konnte, sollte das Flugzeug an zwei Tagen das Gebiet überfliegen, zuerst am Sonntagmorgen um 8 Uhr, und falls es da zu keiner Kontaktaufnahme kam, am Montag um dieselbe Zeit noch einmal. Danach sollte Rita entscheiden, was zu tun sei, denn sie sollte während der Expedition von Lima aus die Verbindung nach New York aufrechterhalten, was Partridge für sehr wichtig hielt.
Nach der Operationsplanung unterzeichneten Rita als Vertreterin von CBA News und Oswaldo Zileri einen Vertrag, und schließlich gaben sich das CBA-Team und Zileri formell die Hände. Der Pilot sah Partridge in die Augen und sagte: »Wir werden unseren Teil der Vereinbarung einhalten und unser Bestes für Sie tun.«
Partridge hatte das Gefühl, daß es Zileri ernst war. Nach der Rückkehr ins Cesar's Hotel traf sich Partridge in seiner Suite mit allen Mitgliedern des CBA-Teams, um zu entscheiden, wer ihn auf dieser Expedition nach Nueva Esperanza begleiten sollte. Drei Teilnehmer standen bereits fest: er selbst, Minh Van Canh, da Bildmaterial sehr wichtig war, und Fernandez Pabur. Wenn man die drei zusätzlichen Passagiere beim Rückflug einrechnete, blieb also noch ein Platz offen.
Zur Wahl standen Bob Watson, der Cutter, Ken O'Hara, der Tontechniker und Tomas, der schweigsame Leibwächter.
Fernandez Pabur favorisierte Tomas und meinte: »Er ist stark und kann kämpfen.« Bob Watson, auf seiner stinkenden Zigarre kauend, sagte: »Nimm mich, Harry! Wenn's zum Kampf kommt, kann ich gut auf mich selber aufpassen. Hab' das bei den Straßenschlachten in Miami gemerkt.« O'Hara erklärte nur lapidar: »Ich möchte auch gerne mitkommen.«
Am Ende entschloß sich Partridge für O'Hara, weil er ihn am besten kannte. Er hatte schon oft bewiesen, daß er in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf behalten konnte, und außerdem war er sehr erfinderisch. Da Minh eine Betacam mit eingebautem Mikrofon benutzen wollte, gab es zwar keine separate Tonausrüstung, doch Ken O'Hara hatte eine geschickte Hand für alles Technische, was unter Umständen nützlich sein konnte.
Partridge überließ es Fernandez, die Ausrüstung zu besorgen, und unter dessen Anleitung wurden im Hotel die einzelnen Posten zusammengestellt: leichte Hängematten, Moskitonetze und Insektenschutzmittel, getrockneter Proviant für zwei Tage, volle Wasserflaschen, Tabletten zur Wassersterilisierung, Macheten, kleine Kompasse, Ferngläser und Plastikplanen. Da jeder seinen eigenen Bedarf im Rucksack tragen mußte, versuchte man einen Ausgleich zu finden zwischen Notwendigkeit und Gewicht.
Fernandez drängte weiterhin darauf, daß jeder eine Waffe trug. Es kam häufig vor, daß Korrespondenten und Fernsehteams bei Einsätzen im Ausland bewaffnet waren, auch wenn sie ihre Waffen nicht unbedingt öffentlich zur Schau trugen. Die Sender mischten sie dabei nicht ein, sie überließen es dem Urteil der Leute vor Ort. In diesem Fall lag die Notwendigkeit einer Bewaffnung auf der Hand, und außerdem hatten alle vier Erfahrung im Umgang mit Waffen.
Partridge blieb bei seiner Browning neun Millimeter mit Schalldämpfer. Daneben besaß er noch ein Fairburn Armeemesser, das ihm ein Major der britischen SAS geschenkt hatte.
Da Minh außer der Waffe auch noch seine Kameraausrüstung tragen mußte, wollte er etwas Wirkungsvolles aber Leichtes; Fernandez versprach, ihm eine israelische UZI-Maschinenpistole zu besorgen. O'Hara meinte, er nehme alles, was er bekommen könne; am Ende war es dann ein amerikanisches Sturmgewehr vom Typ M-16. Anscheinend war in Lima jede Waffe erhältlich; und dem, der Geld hatte, stellte man keine Fragen.
Eine Frage ging Partridge seit Mittwoch nicht mehr aus dem Kopf: Sollte er die peruanischen Behörden informieren, vor allem die Antiterror-Polizei? Am Donnerstag hatte er Sergio Hurtado um Rat gefragt, den Radioreporter, der ihn davor gewarnt hatte, die Hilfe von Polizei oder Militär in Anspruch zu nehmen. Bei ihrem Treffen an Partridges erstem Tag in Peru hatte Sergio gesagt: »Vermeide am besten jeden Kontakt mit ihnen, weil man sich nicht mehr auf sie verlassen kann, falls man das je konnte. Was Mord und Verwüstungen angeht, sind die nicht besser als der Sendero und mit Sicherheit genauso skrupellos.«
Da sich beide gegenseitige Vertraulichkeit zugesichert hatten, informierte Partridge Sergio über die neuesten Entwicklungen und fragte ihn dann, ob er ihm immer noch den gleichen Rat geben würde.
»Ja, und eher noch eindringlicher«, antwortete Sergio. »Die Regierungseinheiten sind berüchtigt dafür, daß sie genau in solchen Situationen mit maximaler Feuerkraft operieren. Die gehen kein Risiko ein. Die legen zuerst jeden um, egal ob schuldig oder unschuldig, und stellen erst danach Fragen. Und wenn man ihnen dann vorwirft, sie hätten die falschen Leute getötet, sagen sie nur: >Woher sollten wir das denn wissen? Es hieß töten oder getötet werden.««
Partridge fiel ein, daß General Raul Ortiz etwas sehr
Ähnliches gesagt hatte.
Sergio fügte hinzu: »Aber du mußt auch wissen, daß du bei der Aktion, die du geplant hast, ganz auf dich selbst gestellt bist.«
»Ich weiß«, erwiderte Partridge. »Aber ich sehe keinen anderen Weg.«
Es war früher Nachmittag. Schon seit ein paar Minuten spielte Sergio mit einem Blatt Papier auf seinem Schreibtisch. Jetzt fragte er: »Bevor du zu mir gekommen bist, Harry, hast du da eine schlechte Nachricht erhalten? Ich meine heute.«
Partridge schüttelte den Kopf.
»Dann tut es mir leid, daß ich derjenige bin, der sie dir überbringen muß.« Sergio gab ihm das Blatt Papier. »Das kam kurz vor deiner Ankunft herein.«
»Das« war eine Reuter-Meldung über das Eintreffen von Nicky Sloanes abgetrennten Fingern bei CBA in New York und Crawfords entsetzter Reaktion.
»O Gott!« Kummer und Selbstvorwürfe überwältigten Partridge. Warum hatte er nur nicht schon früher etwas Konkretes unternommen?
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Sergio. »Aber du hättest das auf keinen Fall verhindern können. Nicht in der kurzen Zeit und mit den wenigen Informationen, die du hattest.«
Was natürlich stimmte, wie Partridge zugeben mußte. Aber er wußte auch, daß ihn noch lange zweifelnde Fragen plagen würden, was das Tempo seines eigenen Vorgehens anging.
»Weil du gerade da bist, Harry«, sagte Sergio jetzt, »hier ist noch etwas. Ist dein Sender, CBA, nicht eine Tochter von Globanic Industries?«
»Ja, das ist er.«
Der Radioreporter öffnete eine Schublade und holte einen Stapel zusammengehefteter Blätter heraus. »Ich bekomme meine Informationen aus vielen Quellen, unter anderem auch, und das mag dich überraschen, vom Sendero Luminoso. Sie hassen mich zwar, aber sie benutzen mich. Der Sendero hat überall Sympathisanten und Informanten, und einer von denen hat mir vor kurzem diese Papiere hier zugespielt, in der Hoffnung, daß ich darüber berichte.«
Partridge nahm die Blätter und begann zu lesen.
»Wie du siehst«, sagte Sergio, »handelt es sich hier anscheinend um einen Vertrag zwischen der peruanischen Regierung und Globanic Financial Services, einer weiteren Tochter von Globanic Industries. In Finanzkreisen nennt man so etwas einen Debt-to-Equity-Swap.«
Partridge schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, davon verstehe ich wenig.«
»Die Sache ist eigentlich gar nicht so kompliziert. Aufgrund dieses Vertrags erhält Globanic riesige Ländereien zu einem Schleuderpreis, darunter zwei Gebiete, die zu Touristenzentren ausgebaut werden sollen. Als Gegenleistung wird ein Teil von Perus Auslandsschulden, die Globanic in verkehrsfähige Papiere umgewandelt hat, getilgt.«
»Ist denn das alles legal?«
»Sagen wir mal, es ist hart an der Grenze der Legalität. Aber wichtiger ist, daß es für Globanic ein sehr gutes Geschäft ist, für das peruanische Volk dagegen ein sehr schlechtes.«
»Wenn das deine Meinung ist«, entgegnete Partridge, »warum gehst du dann damit nicht an die Öffentlichkeit?«
»Bis jetzt aus zwei Gründen. Ich nehme nichts, was vom Sendero kommt, für bare Münze, und wollte deshalb erst überprüfen, ob die Information zutrifft. Nun, das habe ich getan, die Information ist richtig. Und dann ist da noch etwas: Für Globanic ist das Ganze ein so riesiges Geschäft, daß der Konzern jemand aus der Regierung mit einer beträchtlichen Summe geschmiert haben muß oder es noch tun wird. Ich arbeite im Augenblick noch daran und habe vor, es nächste Woche zu senden.«
Partridge tippte auf die Unterlagen in seiner Hand. »Kann ich vielleicht eine Kopie davon bekommen?«
»Behalt die da. Ich hab' noch eine andere.«
Tags darauf, am Freitag, ging Partridge einer Frage nach, die unbedingt noch vor dem Abflug am Samstag geklärt werden mußte. Er wollte wissen, ob sonst noch jemand die Telefonnummern kannte, die das CBA-Team zu der Wohnung in der Huancavelica Street geführt und so auf die Spur von Baudelio gebracht hatte. Wenn ja, konnte das bedeuten, daß noch andere von Nueva Esperanza wußten.
Von Kettering hatte er erfahren, daß CBA News unmittelbar nach der Entdeckung des Unterschlupfs in Hackensack das FBI informiert hatte. Es war deshalb wahrscheinlich, daß das FBI die Anrufe, die über diese Funktelefone gelaufen waren, überprüft und so von der Nummer in Lima erfahren hatte. Möglich war auch, daß das FBI diese Information an die CIA weitergegeben hatte, trotz der hinlänglich bekannten Rivalität zwischen beiden Behörden. Andererseits hätte das FBI auch die peruanische Regierung bitten können, die Nummer zu überprüfen.
Auf Partridges Bitte besuchte Fernandez am Freitagnachmittag Dolores ein zweites Mal. Er fand sie betrunken, aber noch so weit bei Verstand, daß sie ihm versichern konnte, niemand sei bei ihr in der Wohnung gewesen und habe sie ausgefragt. Also war nur CBA dieser Spur nachgegangen.
Schließlich erfuhren sie an diesem Nachmittag aus dem peruanischen Radio noch die traurige Nachricht von Angus Sloanes Tod und der Entdeckung seines abgetrennten Kopfes vor der amerikanischen Botschaft in Lima.
Sofort nach Bekanntwerden der Nachricht waren Partridge und Minh Van Canh an der Botschaft und filmten einen Bericht, der anschließend via Satellit für die Abendsendung nach New York ging. Zu diesem Zeitpunkt waren natürlich auch schon andere Fernsehteams und Pressereporter vor Ort, doch Partridge schaffte es, jedes Gespräch mit ihnen zu vermeiden.
Der schreckliche Tod von Crawfs Vater lastete schwer auf Partridges Gewissen, wie zuvor schon Nickys abgetrennte Finger. Was er nach Peru gekommen, um alle drei Geiseln zu retten, so hatte er eigentlich schon versagt - dieser Gedanke quälte ihn.
Spät am Abend kehrte Partridge in sein Hotelzimmer zurück und warf sich aufs Bett. Doch Einsamkeit und Verzweiflung hielten ihn lange wach.
Am nächsten Morgen stand er über eine Stunde vor Sonnenaufgang auf, denn er hatte sich noch zwei Dinge vorgenommen. So setzte er zuerst ein einfaches, handgeschriebenes Testament auf und schrieb dann den Text für ein Telegramm. Auf dem Weg zum Flughafen ließ er Rita das Testament mit ihrer Unterschrift bezeugen und gab es ihr. Er bat sie auch, das Telegramm an eine Adresse in Oakland in Kalifornien zu schicken.
Dann unterhielten sie sich über das Umschuldungsabkommen zwischen Globanic und der peruanischen Regierung, von dem Sergio Hurtado ihm erzählt hatte. Partridge gab Rita die Unterlagen und sagte: »Wenn du das gelesen hast, sollten wir meiner Meinung nach Les Chippingham unterrichten. Aber es hat eigentlich nichts zu tun mit unserer Aufgabe hier in Peru, und ich habe auch nicht die Absicht, die Information zu verwenden. Allerdings wird Sergio nächste Woche damit an die Öffentlichkeit gehen.« Er lächelte. »Ich glaube, das ist das mindeste, was wir für Globanic tun sollten, schließlich sorgen die ja für die Butter auf unserem Brot.«
Sanft stieg die Cheyenne II in die stille, klare Luft kurz vor Sonnenaufgang. Siebzig Minuten später erreichte die Maschine die Stelle der Dschungelstraße, an der sie Partridge, Minh, O'Hara und Fernandez absetzen sollte.
Inzwischen war es hell genug, um das Gelände deutlich erkennen zu können. Die Straße war verlassen: keine Autos, keine Lastwagen, kein Anzeichen irgendeiner menschlichen Aktivität. Zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich der Dschungel wie eine riesige, grüne Decke. Oswaldo Zileri, der Pilot, wandte sich kurz von semen Instrumenten ab und rief seinen Passagieren zu: »Wir landen jetzt. Haltet euch bereit, um schnell auszusteigen. Ich will keine Sekunde länger als nötig am Boden bleiben.«
In einer engen Kurve zog er die Maschine nach unten, flog eine kurze Strecke über der Straße und setzte dann an der breitesten Stelle auf. Kurze Zeit später standen sie bereits. So schnell es ging, sprangen die vier Passagiere mit ihren Rucksäcken und der restlichen Ausrüstung heraus. Die Cheyenne II rollte sofort wieder in Position und startete.
»Schnell in Deckung!« befahl Partridge den anderen, und die vier liefen auf den Dschungelpfad zu.
13
Ohne daß Harry Partridge an diesem hektischen Freitag etwas davon erfuhr, kam es in New York seinetwegen zu einer Krise.
Während des Frühstücks am Freitagmorgen erhielt Margot Lloyd-Mason die Nachricht, daß Theo Elliott sie »sofort« in der Globanic-Zentrale in Pleasantville zu sehen wünsche. »Sofort« hieß um zehn Uhr, wie Margot auf eine Nachfrage erfuhr. Es sei der erste Termin des Globanic-Vorsitzenden an diesem Morgen, bemerkte die Sekretärin in Pleasantville.
Margot rief sofort eine ihrer beiden Sekretärinnen zu Hause an und gab ihr den Auftrag, alle Termine für diesen Vormittag abzusagen oder zu verlegen.
Sie hatte keine Ahnung, was Theo Elliott wollte.
In der Zentrale mußte Margot schließlich mehrere Minuten in der eleganten Vorhalle warten. Zufällig saß sie dabei auf demselben Stuhl, den vier Tage zuvor der Reporter Glen Dawson vom Baltimore Star benutzt hatte.
Als Margot das Büro des Vorsitzenden betrat, vergeudete Elliott keine Zeit mit Begrüßungen, sondern fuhr sie barsch an: »Warum zum Teufel können Sie auf Ihre verdammten Reporter in Peru nicht besser aufpassen?«
Margot war überrascht und fragte zurück: »Wieso aufpassen? Wir bekommen doch dauernd Komplimente für unsere Berichterstattung von dort. Und die Einschaltquoten sind... «
»Ich rede von düsteren, deprimierenden und pessimistischen Berichten.« Elliott schlug mit der Faust auf den Tisch. »Gestern abend hat mich Präsident Castaneda persönlich aus Lima angerufen. Er behauptet, alles, was CBA bis jetzt über Peru gebracht hat, sei negativ und schädlich für sein Land gewesen.
Er hat eine Mordswut auf Ihren Sender, und ich auch!«
Margot versuchte, vernünftig zu argumentieren. »Die anderen Sender und die New York Times schlagen aber die gleichen Töne an wie wir, Theo.«
»Erzählen Sie mir nichts von den anderen! Ich rede von uns! Außerdem hat Präsident Castaneda anscheinend den Eindruck, daß CBA den Meinungsführer spielt und die anderen nur folgen. Das hat er mir zumindest gesagt.«
Sie standen beide. Elliott, der ein finsteres Gesicht machte, hatte Margot keinen Stuhl angeboten. »Geht es um irgend etwas Besonderes?« fragte nun Margot.
»Allerdings!« Der Globanic-Vorsitzende wies auf einen Stapel Videocassetten auf seinem Schreibtisch. »Nach dem Anruf des Präsidenten gestern abend habe ich mir Aufzeichnungen Ihrer Abendnachrichten der letzten Woche bringen lassen. Jetzt, wo ich sie gesehen habe, weiß ich, was Castaneda meint; alles nur Trübsinn und Pessimismus und wie schlecht es um Peru steht. Nichts Positives! Nirgends wird gesagt, daß Peru eine großartige Zukunft bevorsteht, daß es ein herrliches Reiseland ist und daß diese verdammten Rebellen vom Leuchtenden Pfad bald vernichtet sein werden!«
»Man geht aber allgemein eher vom Gegenteil aus, Theo.«
Elliott stürmte weiter, als hätte er sie nicht gehört. »Ich kann verstehen, warum Castaneda wütend ist - und Globanic kann es sich nicht leisten, ihm die Laune zu verderben, das wissen Sie ganz genau. Ich habe Sie deswegen gewarnt, aber Sie wollten ja offensichtlich nicht hören. Noch etwas - auch Fossie Xenos ist wütend. Er glaubt sogar, daß Sie seinen großen Debt-to-Equity-Swap absichtlich sabotieren.«
»Das ist Unsinn, das wissen Sie doch ganz genau. Aber vielleicht können wir etwas tun, um die Lage zu verbessern.« Margot überlegte schnell, denn sie merkte, daß die Situation ernster war, als sie ursprünglich angenommen hatte.
»Ich sage Ihnen genau, was Sie tun werden.« Seine Stimme hatte einen eisigen Klang bekommen. »Ich will, daß Sie diesen vorlauten Reporter - Partridge heißt er - mit dem nächsten Flugzeug aus Peru herausschaffen und ihn entlassen.«
»Zurückholen können wir ihn natürlich. Aber mit der Entlassung bin ich mir nicht so sicher.«
»Entlassen, sagte ich! Hören Sie heute morgen schlecht, Margot? Ich will, daß dieser Kerl aus dem Sender verschwindet, damit ich gleich am Montagmorgen den peruanischen Präsidenten anrufen und ihm sagen kann: >Sehen Sie, wir haben den Unruhestifter rausgeworfen. Tut uns wirklich leid, daß wir ihn ausgerechnet in Ihr Land geschickt haben. Es war ein schlimmer Fehler, aber es wird nicht mehr vorkommen.««
Da Margot Schwierigkeiten im Sender befürchtete, erwiderte sie: »Theo, ich muß Sie darauf hinweisen, daß Partridge schon sehr lange bei CBA ist. Es müssen schon beinahe fünfundzwanzig Jahre sein, und er hat immer hervorragende Arbeit geleistet.«
Elliott gestattete sich ein schlaues Grinsen. »Dann schenken Sie dem Kerl von mir aus eine goldene Uhr. Aber Sie müssen ihn loswerden, damit ich am Montag bei Castaneda anrufen kann. Und Margot, ich möchte Sie noch vor etwas anderem warnen.«
»Wovor, Theo?«
Elliott ging hinter seinen Schreibtisch, setzte sich und winkte auch Margot zu einem Sessel. »Daß es gefährlich ist, Schreiberlinge oder Reporter für etwas Besonderes zu halten. Das sind sie nämlich nicht, obwohl sie es manchmal selber glauben und sich übertriebene Vorstellungen über ihre eigene Wichtigkeit machen. Schreiberlinge gibt es wie Sand am Meer. Wenn Sie einen feuern, sind sofort zwei andere da.«
Elliott fand langsam Gefallen an dem Thema und erzählte weiter: »Es sind Leute wie Sie und ich, Margot, die wirklich zählen in dieser Welt. Wir sind die Macher, wir sind diejenigen, die jeden Tag etwas bewegen. Deshalb können wir uns Schreiberlinge kaufen, wann immer wir wollen, und vergessen Sie dabei eins nicht - von denen kriegt man zwei für einen Penny, wie die Engländer sagen. Und wenn wir genug haben von einem ausgedienten, alten Schmierer wie Partridge, dann holen wir uns einen neuen, am besten einen grünen Jungen frisch vom College. Nichts leichter als das.«
Margot lächelte; die schlimmste Wut ihres Vorgesetzten war offensichtlich verraucht. »Ein interessanter Standpunkt.«
»Dann machen Sie ihn sich zu eigen. Ach, und noch etwas.«
»Ich höre.«
»Glauben Sie nur nicht, daß die Leute bei Globanic, mich eingeschlossen, nicht merken, wie Sie, Leon Ironwood und Fossie Xenos um Positionen kämpfen, weil jeder von euch hofft, eines Tages auf meinem Stuhl zu sitzen. Nun, ich sage Ihnen eins, Margot, was Sie und Fossie angeht, da ist Fossie Ihnen heute vormittag einige Nasenlängen voraus.«
Der Vorsitzende winkte abschließend mit der Hand. »Das ist alles. Rufen Sie mich später an, wenn die Angelegenheit mit Peru erledigt ist.«
Es war schon später Vormittag, als Margot in ihr Büro in Stonehenge zurückkehrte und sofort Leslie Chippingham zu sich rufen ließ. Der Nachrichtenchef habe sich »unverzüglich« bei ihr zu melden.
Es hatte ihr gar nicht gefallen, daß man an diesem Morgen nach ihr geschickt hatte, sie zog es vor, andere zu sich zu zitieren. Sie freute sich deshalb über diese Umkehrung der Lage.
Ebensowenig gefallen hatte ihr Elliotts Hinweis, daß Fossie Xenos ihr »einige Nasenlängen voraus« sei. Falls das wirklich stimmte, hatte sie vor, es so schnell wie möglich zu ändern.
Margot hatte nicht die Absicht, sich ihre Karrierepläne von etwas durchkreuzen zu lassen, das sie eigentlich nur als schnell und einfach zu lösende Kleinigkeit betrachtete.
Deshalb kam sie, als Chippingham kurz nach Mittag ihr Büro betrat, ebenso unverblümt zur Sache, wie Elliott es bei ihr getan hatte.
»Was ich Ihnen jetzt sage, ist ein Befehl«, begann Margot. »Und ich will keine Diskussion darüber.«
Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Das Beschäftigungsverhältnis mit Harry Partridge ist sofort zu lösen. Ich will, daß er bis morgen CBA verlassen hat. Ich weiß, daß er einen Vertrag hat, und Sie werden tun, was der für den Fall einer Auflösung vorschreibt. Außerdem muß Partridge Peru verlassen, am besten schon morgen, aber spätestens am Sonntag. Und wenn Sie dazu eine Maschine chartern müssen, dann tun Sie es.«
Mit offenem Mund starrte Chippingham sie an, er traute seinen Ohren nicht. Schließlich brachte er unter Schwierigkeiten heraus: »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Das ist mein Ernst, und ich sagte, keine Diskussion«, erwiderte Margot bestimmt.
»Zum Teufel noch mal!« Chippingham hatte erregt die Stimme erhoben. »Ich werde doch nicht untätig zusehen, wie einer unserer besten Korrespondenten, der schon über zwanzig Jahre bei uns ist, ohne jeden Grund gefeuert wird.«
»Der Grund geht Sie nichts an.«
»Ich bin schließlich Chef der Nachrichtenabteilung, oder? Margot, ich flehe Sie an! Was hat Harry denn um Himmels willen getan? Ist es etwas Schlimmes? Wenn ja, dann will ich es wissen.«
»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, es geht um die Art seiner Berichterstattung.«
»Eine bessere gibt es nicht! Sie ist ehrlich, fundiert und vorurteilslos. Da können Sie jeden fragen!«
»Das habe ich nicht nötig. Auf jeden Fall sind nicht alle Ihrer Meinung.«
Chippingham sah sie argwöhnisch an. »Da steckt doch Globanic dahinter, oder?« Dann fiel ihm etwas an. »Das kommt von Ihrem Freund, diesem kaltblütigen Tyrannen Theodore Elliott!«
»Vorsicht!« warnte sie ihn und beschloß dann, diese Art von Gespräch nicht länger fortzusetzen.
»Ich habe nicht vor, mich auf weitere Erklärungen einzulassen«, sagte sie kalt. »Ich will Ihnen nur noch eins sagen: Wenn mein Befehl nicht bis Geschäftsschluß heute abend ausgeführt wird, dann sind Sie selbst entlassen, und ich werde jemand an Ihre Stelle setzen, der tut, was ich sage.«
»Das würden Sie wirklich tun, nicht?« Er sah sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Haß an.
»Damit keine Zweifel aufkommen - ja. Und wenn Sie vorhaben, Ihren Job zu behalten, dann melden Sie mir heute abend Vollzug. Und jetzt verschwinden Sie!«
Nachdem Chippingham gegangen war, stellte Margot mit Befriedigung fest, daß sie ebenso hart sein konnte wie Theo Elliott.
Les Chippingham saß in seinem Büro in der Zentrale von CBA News, und obwohl er wußte, daß er damit das Unausweichliche nur verzögerte, erledigte er verschiedene Routineangelegenheiten, bis er schließlich um 15 Uhr seiner Sekretärin sagte, er wolle bis auf weiteres nicht gestört werden. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.
Er verschloß die Tür von innen und setzte sich nicht an seinen Schreibtisch, sondern an den Konferenztisch, von wo er eins seiner Lieblingsbilder im Blick hatte - eine einsame Landschaft von Andrew Wyeth. Doch Chippingham registrierte das Gemälde kaum, er war zu sehr mit der anstehenden Entscheidung beschäftigt.
Er wußte, daß sein Leben in einer Krise steckte.
Wenn er Margots Befehl befolgte und Harry Partridge ohne ersichtlichen Grund feuerte, gab er seine Selbstachtung auf. Denn das würde heißen, daß er einem anständigen, äußerst fähigen und geachteten Menschen, einem Freund und Kollegen, auf eine schändliche Weise Unrecht tat, nur um die Laune eines anderen zu befriedigen. Wer dieser andere war und aus welcher Laune heraus er handelte, wußte Chippingham nicht, aber er war überzeugt, daß er und andere es irgendwann herausfinden würden. Im Augenblick wußte er nur, daß Theodore Elliott irgendwie damit zu tun hatte - Margots Reaktion auf seine wütende Bemerkung ließ daran keinen Zweifel.
Konnte Chippingham dieses Unrecht begehen und danach weiterleben? Wenn er die Maßstäbe anlegte, an denen er sein Leben auszurichten versuchte, sollte es ihm eigentlich unmöglich sein.
Andererseits - und das lag ebenso auf der Hand - wenn er, Les Chippingham, es nicht tat, dann würde es ein anderer tun. Margot hatte keinen Zweifel daran gelassen. Sie würde problemlos einen anderen finden. Es gab einfach zu viele ehrgeizige Leute, auch innerhalb von CBA News, die dazu bereit wären.
Harry Partridge hatte also so oder so keine Chance mehr -zumindest bei CBA.
Und das war der entscheidende Punkt: bei CBA.
Sobald bekannt wurde - und das würde sehr schnell passieren -, daß Harry Partridge CBA verließ und verfügbar war, blieb er vermutlich keine fünfzehn Minuten arbeitslos. Die anderen Sender würden sich nur so um ihn reißen. Harry war eine bekannte Persönlichkeit, ein Star, und galt außerdem überall als sympathischer Kerl, was auch nicht eben schadete.
Nichts, absolut nichts, würde Harry Partridge in die Knie zwingen können. Im Gegenteil, ein neuer Vertrag bei einem anderen Sender würde ihm wahrscheinlich nur Vorteile bringen.
Was aber war mit einem entlassenen Nachrichtenchef? Das war eine ganze andere Geschichte, und Chippingham wußte sehr genau, was ihm bevorstand, wenn Margot ihre Drohung wahr machte, woran er nicht zweifelte.
Als Präsident von CBA News hatte auch Chippingham einen Vertrag, der ihm bei einseitiger Auflösung eine Abfindung von ungefähr einer Million Dollar sicherte, was nach viel klang, es aber in Wirklichkeit gar nicht war. Eine beträchtliche Summe ging sofort an das Finanzamt. Da er außerdem tief in Schulden steckte, würden seine Gläubiger einen Großteil des Rests für sich beanspruchen. Und was dann noch übrigblieb, würden Stasias Anwälte einer eingehenden Prüfung unterziehen. Wenn er am Ende noch genug für ein Abendessen für zwei im Four Seasons hatte, würde ihn das überraschen.
Dann war da noch die Frage eines neuen Jobs. Um ihn würden sich die anderen Sender nicht reißen wie um Partridge. Zum einen gab es bei jedem Sender nur einen Nachrichtenchef, und er hatte in letzter Zeit nichts von einer Vakanz gehört. Zum anderen waren nur erfolgreiche Leute gefragt, und keine, die unter zweifelhaften Umständen entlassen worden waren; es gab genug Ehemalige, die das bestätigen konnten.
All das bedeutete, daß er sich mit einer untergeordneten Stellung würde begnügen müssen, und mit sehr viel weniger Geld, von dem dann Stasia auch noch ihren Teil beanspruchen würde.
Die Aussicht war erschreckend. Außer er tat, was Margot verlangte.
Etwas dramatisch ausgedrückt, dachte Chippingham, saß er nun da und schälte Schicht für Schicht von seiner Seele ab, und wenn er hineinblickte, gefiel ihm gar nicht, was er da sah.
Doch die Entscheidung war unausweichlich, denn es gab Situationen im Leben, in denen die Selbsterhaltung Vorrang hatte.
Ich hasse es, dir das antun zu müssen, Harry, dachte er, aber ich habe keine andere Wahl.
Fünfzehn Minuten später las Chippingham sich den Brief durch, den er eigenhändig getippt hatte - auf einer alten, mechanischen Underwood, die er als Erinnerung an vergangene Zeiten in seinem Büro aufbewahrte. Der Brief begann so:
Lieber Harry,
mit dem größten Bedauern muß ich dir mitteilen, daß dein Beschäftigungsverhältnis bei CBA News mit sofortiger Wirkung aufgehoben ist. Entsprechend der Bedingungen deines Vertrags mit CBA...
Chippingham wußte, daß Partridge einen Vertrag mit einer Fortzahlungsklausel hatte, was bedeutete, daß der Sender das Beschäftigungsverhältnis zwar vorzeitig beenden konnte, das Gehalt aber bis Ablauf des Vertrags weiterzahlen mußte. In Partridges Fall lief der Vertrag noch ein Jahr.
Doch eine weitere Klausel besagte, daß Partridge, wenn er diese Fortzahlung in Anspruch nahm, ein halbes Jahr lang für keinen anderen Sender arbeiten durfte.
In seinem Brief erklärte Chippingham diese zweite Klausel für ungültig. Partridge würde also die Fortzahlung erhalten und trotzdem sofort wieder arbeiten können. Das war in Chippinghams Augen das mindeste, was er unter den gegebenen Umständen für Harry tun mußte.
Er hatte vor, den Brief als Telefax nach Lima zu schicken. Im Vorzimmer stand ein Gerät, das er selbst bedienen konnte. Schon vorher war ihm klar geworden, daß er sich zu einem Telefonat nicht überwinden konnte.
Chippingham wollte den Brief eben unterzeichnen, als er ein Klopfen hörte und sah, wie die Tür aufging. Instinktiv drehte er den Brief um.
Es war Crawford Sloane. Er hatte den Ausdruck einer Agenturmeldung in der Hand. Als er sprach, klang seine Stimme erstickt, Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Les«, sagte er, »ich mußte dich einfach sehen. Das ist eben hereingekommen.«
Er gab den Ausdruck Chippingham, der sofort zu lesen begann. Es war die Meldung der Chicago Tribune über die Entdeckung von Angus Sloanes abgetrenntem Kopf.
»O Gott! Crawf, ich...« Doch Chippingham konnte den Satz nicht beenden, er schüttelte nur den Kopf, ging zu Crawford und nahm ihn in den Arm.
Als die beiden sich wieder trennten, flüsterte Sloane: »Sag nichts. Ich weiß nicht, ob ich das durchstehen werde. Ich kann die Nachrichten heute abend nicht machen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen Theresa Toy... «
»Vergiß das alles, Crawf!« entgegnete Chippingham. »Wir werden uns schon darum kümmern.«
»Nein!« Sloane schüttelte den Kopf. »Da ist noch etwas, etwas, das ich unbedingt tun muß. Ich will einen Learjet nach Lima. Solange es noch Hoffnung gibt... für Jessica und Nicky... Ich muß dort sein.« Sloane unterbrach sich, er kämpfte mühsam um Selbstbeherrschung und fügte dann hinzu: »Ich fahre zuerst nach Larchmont und dann nach Teterboro.«
»Bist du sicher, Crawf? Hältst du das für vernünftig?« fragte Chippingham zweifelnd.
»Ich werde fliegen, Les«, antwortete Sloane. »Versuch nicht, mich aufzuhalten. Wenn CBA das Flugzeug nicht bezahlt, dann zahle ich es selber.«
»Das ist nicht notwendig«, sagte Chippingham.
Kurz darauf bestellte er den Learjet. Die Maschine würde Teterboro noch in der Nacht verlassen und am Morgen in Peru landen.
Wegen der unerwarteten, tragischen Nachricht über Angus Sloane konnte Chippingham den Brief erst am späten Nachmittag unterzeichnen und nach Lima faxen. Nachdem seine Sekretärin gegangen war, schickte er den Brief an eine Telefaxnummer von Entel Peru, von wo er zur CBA-Kabine im selben Gebäude weitergeleitet würde. Er fügte eine Notiz hinzu mit der Bitte, die Nachricht in einen Umschlag mit dem Vermerk »An Mr. Harry Partridge. Persönlich.« zu stecken.
Chippingham hatte sich überlegt, ob er Crawford Sloane über den Brief informieren sollte, beschloß dann aber, es nicht zu tun, da Crawf in dieser Woche schon genug Schreckliches erlebt hatte. Er wußte, daß Crawf über den Brief empört sein würde, ebenso wie Partridge, und er erwartete entrüstete Telefonanrufe mit der Forderung nach einer Erklärung. Doch die würden frühestens am nächsten Morgen kommen, und dann mußte er sich damit auseinandersetzen, so gut es eben ging.
Schließlich rief er Margot Lloyd-Mason an, die um 18 Uhr 15 noch immer in ihrem Büro war. Zuerst sagte er ihr: »Ich habe getan, was Sie verlangt haben«, und berichtete dann von der Schreckensnachricht über Crawford Sloanes Vater.
»Ich weiß es bereits«, erwiderte sie, »und es tut mir leid. Was das andere betrifft, das haben Sie gut hingebogen. Ich hatte schon gedacht, Sie würden gar nicht mehr anrufen. Trotzdem danke.«
14
Nachdem Partridge und die drei anderen die Straße, auf der die Cheyenne II gelandet war, verlassen hatten und in den Dschungel eingedrungen waren, kamen sie nur sehr langsam vorwärts.
Der Pfad, falls man ihn überhaupt so nennen konnte, war häufig überwuchert und verschwand manchmal ganz. Oft mußten sie sich mit ihren Macheten einen Weg durch die dichte Vegetation schlagen. Hohe Bäume bildeten ein Blätterdach über ihren Köpfen, nur ab und zu war ein Fetzchen des bewölkten Himmels zu erkennen, der auf Regen hindeutete. Viele Bäume hatten grotesk verdrehte Stämme, dicke Rinden und lederige Blätter. Irgendwo hatte Partridge gelesen, daß es in Peru achttausend bekannte Baumarten gab. In Bodennähe wuchsen Bambus, Farne, Lianen und Schmarotzerpflanzen wild durcheinander und schufen jene »grüne Hölle«, von der im selben Buch die Rede war.
»Hölle« war besonders heute zutreffend wegen der drückenden, feuchten Hitze, unter der alle vier Männer zu leiden hatten. Ihre Körper waren schweißgebadet, und die Insektenschwärme waren eine zusätzliche Belastung. Zu Beginn des Fußmarsches hatten sie sich gründlich mit dem Schutzmittel eingerieben und unterwegs immer wieder neues aufgetragen, doch, wie Ken O'Hara sagte: »Die kleinen Teufel scheinen das Zeug zu mögen.«
Es gab aber auch Stellen, an denen der Pfad etwas breiter wurde und die Bodenvegetation wegen des Schattens der dicht beieinanderstehenden Bäume weniger stark wucherte. Die Männer waren sich bewußt, daß sie ohne diesen Pfad überhaupt nicht vorwärtskommen würden.
»Der Weg wird selten benutzt«, bemerkte Fernandez, »Und das ist unser Vorteil.«
Ihr Ziel war es, in die Nähe von Nueva Esperanza zu kommen, um dort von einer höhergelegenen Stelle im Dschungel und aus sicherer Entfernung den Ort während des Tages zu beobachten. Erst wenn sie genug gesehen und erfahren hatten, wollten sie einen Angriffsplan ausarbeiten.
Das ganze, über hundert Quadratmeilen große Gebiet um Nueva Esperanza war eine sanft gewellte, von dichtem Dschungel überzogene Ebene, die nur vom Huallaga unterbrochen wurde. Doch Fernandez' topographische Karte zeigte in der Nähe des Dorfes mehrere Hügel, von denen einer als Beobachtungsposten dienen konnte. Bis Nueva Esperanza waren es noch etwa neun Meilen von ihrem augenblicklichen Standort - unter diesen Bedingungen eine gewaltige Entfernung.
Partridge dachte an den versiegelten Brief, den Rita ihm von Crawford Sloane mitgebracht hatte. Crawf berichtete darin von den Signalen, die Jessica bei der Videoaufnahme hatte übermitteln können. Vor allem das zweite war ihm im Gedächtnis geblieben. Jessica hatte sich am linken Ohr gekratzt, und das bedeutete: Die Bewachung hier ist eher nachlässig. Ein Angriff von außen könnte Erfolg haben. Ob das stimmte, würde sich sehr bald erweisen.
Doch vorerst kämpften sie sich weiter durch den Dschungel.
Es war schon später Nachmittag, und alle vier waren der Erschöpfung nahe, als Fernandez sie darauf aufmerksam machte, daß sie sich Nueva Esperanza näherten. »Ich glaube, wir haben jetzt ungefähr sieben Meilen zurückgelegt«, sagte er und warnte sie dann: »Man darf uns nicht sehen. Sobald wir hören, daß sich jemand nähert, müssen wir uns im Dschungel verstecken.«
Minh Van Canh warf einen skeptischen Blick auf das dichte Dornengestrüpp zu beiden Seiten und meinte: »Klingt zwar einleuchtend, aber ich hoffe, daß es nicht nötig wird.«
Bald nach Fernandez' Warnung wurde der Weg breiter, andere Pfade kreuzten ihn. Fernandez erklärte, daß es hier überall Kokafelder gebe, auf denen zu anderen Jahreszeiten hektische Aktivität herrsche. Doch während der vier- bis sechsmonatigen Wachstumsperiode brauchten die Pflanzen sehr wenig Pflege, weshalb die meisten Bauern in der Zeit anderswo lebten und nur während der Erntezeit in ihre Hütten auf den Hügeln zurückkehrten.
Mit Hilfe von Karte und Kompaß führte Fernandez die anderen weiter. An der zusätzlichen Kraft, die jeder Schritt kostete, merkten sie, daß es allmählich aufwärtsging. Nach etwa einer Stunde erreichten sie eine Lichtung, an deren Ende eine Hütte zu sehen war.
Partridge hatte inzwischen gemerkt, daß Fernandez sich in der Gegend besser auskannte, als er ursprünglich zugegeben hatte. Als Partridge ihn danach fragte, räumte der Kontaktmann ein: »Ja, ich war schon mehrmals hier.«
Innerlich seufzte Partridge. War auch Pabur nur einer der unzähligen pseudo-aufrechten Leute, die heimlich vom allgegenwärtigen Kokainhandel profitierten? Lateinamerika und vor allem die Karibik waren voll von solchen Heuchlern, und viele von ihnen bekleideten hohe Ämter.
Als könne er Gedanken lesen, erklärte nun Fernandez: »Ich war einmal wegen einer >Hunde-und-Pony-Show< hier, die unsere Regierung für eine Delegation Ihres Außenministeriums veranstaltet hat. Es war hoher Besuch - ich glaube, der Generalstaatsanwalt -, und deshalb war auch ein ganzer Troß von Presseleuten dabei. Ich war einer von ihnen.«
Trotz seiner früheren Reaktion mußte Partridge über den Begriff »Hunde-und-Pony-Show« lächeln. Journalisten bezeichneten damit verächtlich Veranstaltungen fremder Regierungen - vor allem kommunistischer und anderer
Diktaturen -, mit denen sie amerikanische Delegationen beeindrucken wollten. Partridge konnte sich gut vorstellen, wie das hier abgelaufen war: Eine »Invasion« von Helikoptereinheiten, die ein paar Morgen Kokafelder verbrannten und einige Laborhütten in die Luft sprengten. Die Besucher lobten dann die effektive Drogenbekämpfung des Gastgeberlandes, weil sie entweder nicht wußten oder einfach ignorierten, daß riesige Pflanzungen und unzählige Labors gleich in der Nähe unberührt blieben. Tags darauf erschienen die Fotos der Besucher in den amerikanischen Zeitungen, begleitet von ihren lobenden Worten, und natürlich nahm auch das Fernsehen die Geschichte auf. Journalisten, die wußten, daß sie Teil einer Farce waren, sie aber nicht ignorieren konnten, weil auch andere darüber berichteten, schluckten hart und schämten sich insgeheim.
Und so etwas in Peru, dachte Partridge, das weder eine kommunistische noch sonst eine Diktatur war, aber bald das eine oder das andere werden konnte.
Fernandez inspizierte die Lichtung und die Hütte, konnte aber niemand entdecken. Dann führte er die Truppe in östlicher Richtung wieder in den Dschungel hinein. Doch schon nach einer kurzen Strecke hob er die Hand und forderte die anderen auf, stehenzubleiben. Er drückte ein Farnbüschel beiseite und ließ sie hindurchsehen. In etwa einer halben Meile Entfernung und gut fünfzig Meter tiefer war eine Ansammlung baufälliger Gebäude zu sehen. Am Flußufer standen ein gutes Dutzend Hütten. Ein schlammiger Pfad führte zu einem Landungssteg, an dem einige Boote festgemacht waren.
»Gut gemacht, Leute«, sagte Partridge leise und fügte erleichtert hinzu: »Ich glaube, wir haben Nueva Esperanza gefunden.«
Hatte Partridge während des Marsches Fernandez die Führung
überlassen, so übernahm er jetzt wieder das Kommando.
»Es wird bald dunkel«, sagte er. Der Marsch hatte viel länger gedauert, als sie erwartet hatten, und die Sonne näherte sich bereits dem Horizont. »Ich will vor Einbruch der Nacht noch so viel wie möglich beobachten. Minh, nimm dein Fernglas und komm mit mir nach vorne. Fernandez und Ken, ihr paßt auf, ob von hinten jemand kommt. Wenn ihr etwas bemerkt, sagt mir sofort Bescheid.«
Partridge und Minh gingen auf den Dschungelstreifen zu, der sie vor den Blicken von unten schützte, ließen sich auf den Bauch fallen und robbten vorwärts, bis sie gut sehen konnten, aber noch immer vom Buschwerk verdeckt waren.
Langsam suchte Partridge mit seinem Fernglas die Szene ab.
Im Ort war kaum Aktivität zu bemerken. Am Landungssteg arbeiteten zwei Männer am Außenbordmotor eines Bootes. Aus einer Hütte kam eine Frau, feerte einen Kübel mit Spülwasser und ging wieder hinein. Ein Mann trat aus dem Dschungel, ging auf ein anderes Gebäude zu und verschwand darin. In einem der vielen Abfallhaufen, die überall zwischen den Hütten verstreut lagen, wühlten zwei dürre Hunde. Nueva Esperanza sah aus wie ein Slum im Dschungel.
Partridge wandte sich nun den einzelnen Gebäuden zu und beobachtete jedes mehrere Minuten lang durch sein Fernglas. Vermutlich wurden die Geiseln in einer der Hütten gefangengehalten, aber es war nicht zu erkennen, in welcher. Schon jetzt wußte Partridge, daß sie den Ort mindestens einen ganzen Tag beobachten mußten und daß an eine Rettung noch in dieser Nacht und einen Rückflug am nächsten Morgen nicht zu denken war. So richtete er sich auf eine längere Wartezeit ein und beobachtete weiter, während das Licht langsam verschwand.
Wie immer in den Tropen, wurde es nach Sonnenuntergang sehr schnell dunkel. Mattes Licht kam aus den Fenstern der Häuser, der letzte Rest des Tages war verschwunden. Partridge ließ das Fernglas sinken und rieb sich die Augen, die nach mehr als einer Stunde angestrengten Beobachtens schmerzten. Er glaubte nicht, daß sie an diesem Tag noch viel Neues erfahren würden.
In diesem Augenblick faßte Minh ihn am Arm und deutete auf die Hütten. Partridge nahm sein Fernglas und spähte in die angegebene Richtung. In dem schwachen Restlicht war eine Bewegung zu erkennen - ein Mann, der den Weg zwischen zwei Häuserzeilen entlangging. Im Gegensatz zu den anderen Bewegungen, die sie beobachtet hatten, schien dieser Mann auf ein bestimmtes Ziel zuzugehen. Und noch etwas war anders; Partridge strengte seine Augen an, um es zu erkennen... und dann sah er es. Der Mann trug ein Gewehr über der Schulter. Partridge und Minh folgten dem Mann mit ihren Ferngläsern.
Etwas abseits von den restlichen Gebäuden stand eine einzelne Hütte. Partridge hatte sie zuvor schon gesehen, doch war ihm nichts Besonderes daran aufgefallen. Der Mann hatte die Hütte erreicht und verschwand darin. Aus einer Öffnung an der Vorderseite drang schwaches Licht.
Die beiden beobachteten weiter, doch einige Minuten lang passierte nichts. Dann trat eine Gestalt aus der Hütte und ging weg. Trotz der Dunkelheit waren noch zwei Dinge zu erkennen: Es war ein anderer Mann, und auch er trug eine Waffe.
War es möglich, fragte sich Partridge aufgeregt, daß sie eben einen Wachwechsel beobachtet hatten? Die Vermutung mußte natürlich erst bestätigt werden, und das hieß weiterbeobachten. Aber es konnte durchaus sein, daß Jessica und Nicky Sloane in dieser alleinstehenden Hütte gefangengehalten wurden.
Partridge versuchte, nicht daran zu denken, daß bis vor ein oder zwei Tagen wahrscheinlich auch Angus Sloane in dieser Hütte eingesperrt gewesen war.
Die Stunden vergingen.
»Wir müssen unbedingt wissen, wieviel nachts in Nueva Esperanza los ist und wie lange, wann es still wird und die Lichter ausgehen«, erklärte Partridge den anderen. »Wir sollten uns das alles genau notieren.«
Auf Partridges Bitte blieb Minh Van Canh noch eine halbe Stunde auf Beobachtungsposten und wurde dann von Ken O'Hara abgelöst.
»Jeder von uns sollte so viel schlafen wie möglich«, sagte Partridge. »Aber wir sollten den Beobachtungsposten und den Wachposten an der Lichtung immer besetzt halten, das heißt, daß immer nur zwei auf einmal schlafen können.« Man einigte sich schließlich darauf, sich im Zweistundenrhythmus abzuwechseln.
Bereits zuvor hatte Fernandez in der Hütte, die sie bei ihrer Ankunft entdeckt hatten, die Hängematten aufgespannt und Moskitonetze darübergehängt. Die Hängematten waren nicht gerade bequem, aber die Männer, die sie benutzten, waren von den Anstrengungen des Tages so erschöpft, daß sie sofort einschliefen. Da es in der Nacht regnete und das Dach der Hütte undicht war, fanden auch die mitgebrachten Plastikplanen ihre Verwendung. Fernandez spannte sie geschickt über die Hängematten, so daß die Schlafenden geschützt waren. Die beiden Wachen hüllten sich ebenfalls in ihre Planen, bis der Regen eine halbe Stunde später aufhörte.
Gemeinsame Mahlzeiten gab es nicht. Jeder a und trank, wenn er Hunger und Durst hatte, doch wußten sie alle, daß sie mit den getrockneten Nahrungsmitteln sparsam umgehen mußten. Der Wasservorrat, den sie aus Lima mitgebracht hatten, war bereits verbraucht, und Fernandez hatte schon vor einigen Stunden die Flaschen an einem Bach gefüllt und Sterilisierungstabletten darin aufgelöst. Er hatte die anderen gewarnt, daß fast das gesamte Wasser im Dschungel mit Chemikalien, die zur Drogenherstellung benutzt wurden, verseucht sei. Das Wasser, das jetzt in den Flaschen war, schmeckte entsetzlich, und jeder versuchte, so wenig wie möglich zu trinken.
Bei Tagesanbruch hatte Partridge die Antworten auf seine Fragen über die Nachtaktivitäten in Nueva Esperanza: Es war sehr wenig los - nur gelegentlich war eine Gitarre zu hören oder eine schrille Stimme und betrunkenes Gelächter aus einer der Hütten. Dreieinhalb Stunden nach Einbruch der Nacht war alles vorbei. Um 1 Uhr 30 wurde es im Dorf still und dunkel.
Wenn Partridge mit seiner Vermutung über die Wachen und die Gefangenenhütte recht hatte, mußten sie nur noch herausfinden, wann und wie oft die Wachen gewechselt wurden. Bis zum Morgen hatte sich noch kein klares Bild ergeben. Falls es während der Nacht einen zweiten Wachwechsel gegeben hatte, hatten sie ihn übersehen.
Während des Tages behielten sie ihre Zeiteinteilung bei.
Zwei hielten immer Wache, während die anderen sich ausruhten, denn sie wußten, daß sie Kräfte sammeln mußten für später.
Als Partridge am Nachmittag in der Hängematte lag, dachte er darüber nach, was er und die anderen eigentlich taten, und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Situation, in der sie sich befanden, etwas Unwirkliches hatte. Er fragte sich: Passiert das hier alles tatsächlich? Sollte er mit seiner kleinen, inoffiziellen Truppe wirklich einen Rettungsversuch wagen? In wenigen Stunden würden sie töten müssen oder selber getötet werden. War das alles nicht Wahnsinn? Wie es in Macbeth heißt: »...des Lebens Fieberschauer...«
Eigentlich war er doch Journalist und Fernsehkorrespondent, sagte sich Harry, ein Beobachter von Kriegen und Konflikten, doch kein Teilnehmer daran. Doch hier war er plötzlich aus eigener Entscheidung zum Abenteurer, zum Söldner und Möchtegernsoldaten geworden. Machte dieser Frontenwechsel einen Sinn?
Doch wie die Antwort auch ausfiel, eine Frage blieb offen: Wenn er, Harry Partridge, nicht schaffte, was hier und jetzt zu tun war, wer dann?
Und noch etwas: Für einen Kriegsberichterstatter, vor allem für einen Fernsehkorrespondenten, waren Gewalt und Aufruhr, häßliche Verwundungen oder ein plötzlicher Tod ständige Bedrohung. Man lebte mit solchen Gefahren, ertrug sie und teilte sie mit anderen, und brachte sie Abend für Abend in die sauberen und ordentlichen Wohnzimmer des urbanen Amerika, in eine Umgebung, in der sie nur Bilder auf einem Fernsehschirm waren und daher ungefährlich für diejenigen, die zusahen.
Und doch wurden diese Bilder immer gefährlicher, sie rückten näher, sowohl zeitlich wie räumlich, und bald würden sie nicht mehr nur Bilder auf dem Schirm, sondern grausame Wirklichkeit auf den Straßen Amerikas sein, wo jetzt bereits das Verbrechen lauerte. Die Gewalt und der Terrorismus der unterprivilegierten, zerrissenen und von Kriegen verwüsteten anderen Hälfte der Welt rückten immer näher an amerikanischen Boden heran. Es war eine unausweichliche Entwicklung, die internationale Wissenschaftler schon vor Jahren vorausgesehen hatten.
Die Monroe-Doktrin, die früher als Schutz für Amerika gedacht war, funktionierte nicht mehr; inzwischen sprach man kaum mehr von ihr. Die Entführung der Sloanes durch ausländische Terroristen auf amerikanischem Boden zeigte deutlich, daß der internationale Untergrund bereits im Land Fuß gefaßt hatte. Und Schlimmeres stand noch bevor: Bombenattentate, Geiselnahmen, Straßenkämpfe. Es war tragisch, aber es gab keine Möglichkeit, es zu verhindern. Und ebenso tragisch war, daß viele bislang Unbeteiligte bald Beteiligte sein würden - ob sie es wollten oder nicht.
Partridges Beteiligung und die der anderen war also in diesem Augenb lick ganz und gar nicht unwirklich. Er nahm an, daß vor allem Minh Van Canh ähnlich dachte. Für Minh, der einen entsetzlichen Krieg in seinem zerrissenen Heimatland er- und überlebt hatte, war es vermutlich leichter als für andere, die Situation zu akzeptieren, in der sie sich im Augenblick befanden.
Für Partridge stand noch etwas anderes, ganz Persönliches hinter diesen Überlegungen: Jessica. Jessica, die wahrscheinlich sehr nahe war, irgendwo in dieser Hütte. Jessica-Gemma, deren Persönlichkeiten sich in seinen Gedanken und Erinnerungen vermischten.
Dann überkam ihn die Müdigkeit und er schlief ein.
Als er fünfzehn Minuten vor Beginn seiner Wache aufwachte, sprang er sofort aus der Hängematte und ging nach draußen, um sich ein Bild von der Lage zu machen.
Beim Wachposten an der Lichtung war nichts Ungewöhnliches passiert, doch hatte die Beobachtung des Ortes konkrete neue Informationen und Schlußfolgerungen ergeben.
- So gab es in der etwas abseits gelegenen Hütte tatsächlich einen regelmäßigen Wechsel von bewaffneten Wachen, was darauf hindeutete, daß die Geiseln wirklich dort gefangengehalten wurden. Obgleich sich der Wachwechsel nicht immer pünktlich vollzog, mußte man von einem Vierstundenrhythmus ausgehen. Manchmal kam die Ablösung bis zu zwanzig Minuten später, und diese Unpünktlichkeit war für Partridge eine Bestätigung von Jessicas Botschaft: Die Bewachung hier ist eher nachlässig.
- Seit dem Morgen hatten zweimal Frauen mit Behältern, die vermutlich Nahrungsmittel enthielten, die Hütte betreten. Dieselbe Frau, die das Essen brachte, trug danach die Kübel aus der Hütte und schüttete den Inhalt in die Büsche.
- Offensichtlich war diese etwas abseits stehende Hütte die einzige im ganzen Dorf, die bewacht wurde.
- Die Männer der Wachtruppe waren zwar mit automatischen Gewehren bewaffnet, schienen aber weder Soldaten noch Angehörige einer trainierten Einheit zu sein.
- Der gesamte Verkehr von und nach Nueva Esperanza lief über den Fluß. Straßenfahrzeuge waren nirgends zu entdecken. Für die Bootsmotoren waren offenbar keine Zündschlüssel nötig; das machte es einfacher, eins zu stehlen, falls man auf diesem Weg fliehen mußte. Andererseits gab es genügend Boote, mit denen man sie verfolgen konnte. Ken O'Hara, der sich mit Booten auskannte, zeigte Partridge die besten.
- Alle Beobachter waren übereinstimmend der Meinung, daß die Leute im Dorf alle sehr entspannt wirkten, so als würden sie keinen Angriff von außen erwarten. »Denn sonst«, bemerkte Fernandez, »würden sie Patrouillen ausschicken, um die ganze Gegend nach Leuten wie uns abzusuchen.«
Bei Sonnenuntergang rief Partridge die anderen zusammen. »Wir haben lange genug zugesehen«, sagte er. »Heute nacht gehen wir runter.«
Er deutete mit dem Kopf auf Pabur. »Fernandez wird uns führen. Ich will um 2 Uhr bei der Hütte sein. Jeder muß sich absolut still verhalten. Wenn es etwas zu besprechen gibt, wird nur geflüstert!«
»Gibt es eine Schlachtordnung, Harry?« fragte Minh.
»Ja«, antwortete Partridge. »Ich werde mich anschleichen und versuchen, in die Hütte hineinzuspähen, und dann als erster eindringen. Minh, du kommst direkt hinter mir, als Rückendeckung. Fernandez wird zurückbleiben und die anderen Häuser beobachten, aber sofort zu uns stoßen, wenn wir Hilfe brauchen.«
Dann wandte sich Partridge an O'Hara: »Ken, du gehst direkt zum Landungssteg. Ich habe beschlossen, mit einem Boot zu fliehen. Wir wissen nicht, in welchem Zustand Jessica und Nicky sind, vielleicht schaffen sie den Rückweg zu Fuß nicht.«
»Verstanden«, erwiderte O'Hara. »Ich schnappe mir ein Boot.«
»Ja, und wenn's geht, machst du ein paar andere unbrauchbar, aber vergiß nicht - kein Lärm!«
»Es gibt aber Lärm, wenn wir den Motor anlassen.«
»Nein«, sagte Partridge. »Wir rudern in die Mitte des Flusses und lassen uns dann stromabwärts treiben. Gott sei Dank ist das unsere Richtung. Den Motor lassen wir erst an, wenn wir außer Hörweite sind.«
Noch während er sprach, merkte Partridge, daß er wie selbstverständlich davon ausging, alles würde gutgehen. Wenn nicht, mußten sie improvisieren, so gut es eben ging, und dazu gehörte auch der Waffeneinsatz.
Fernandez fiel das für den nächsten Morgen um 8 Uhr geplante Zusammentreffen mit der Cheyenne II von Aerolibertad ein, und er fragte: »Welche Landepiste ist unser Ziel - Sion oder die andere?«
»Das werde ich erst entscheiden, wenn wir im Boot sind. Es hängt davon ab, wie alles läuft und wieviel Zeit uns bleibt.«
In der Zwischenzeit sei noch einiges zu tun, schloß Partridge. Die Waffen mußten überprüft und nicht mehr benötigte Ausrüstung aussortiert werden, damit sie sich so frei und so unbehindert wie möglich bewegen konnten.
Und plötzlich packte eine Mischung aus Erregung und Angst die vier Männer.
15
Nach der Rückkehr vom Flughafen am Samstagmorgen warteten auf Rita Abrams zwei Überraschungen.
Die eine war - und damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet -, daß Crawford Sloane nach Lima kommen würde. In der CBA-Kabine bei Entel Peru fand sie die Mitteilung, daß Sloane am frühen Morgen eintreffen sollte. Vielleicht war er sogar schon da. Sie rief deshalb im Cesar's Hotel an, wo, so die Mitteilung, für ihn ein Zimmer reserviert war. Da Crawf offenbar noch nicht angekommen war, hinterließ Rita ihm eine Nachricht mit der Bitte, sie anzurufen.
Die zweite und noch größere Überraschung war das Telefax, das Les Chippingham am Abend zuvor an Harry Partridge abgeschickt hatte. Die Anweisung, daß der Brief in einen mit der Aufschrift »Persönlich« versehenen Umschlag zu stecken sei, war offensichtlich übersehen worden, denn er landete offen und zusammen mit der anderen Post in der CBA-Kabine, wo ihn jeder lesen konnte. Rita tat es und konnte nicht glauben, was sie da las.
Harry war gefeuert, CBA hatte ihn entlassen! »Mit sofortiger Wirkung«, stand in dem Brief, und er müsse Peru »am besten« schon am Samstag - also heute! -, »spätestens« aber am Sonntag verlassen. Falls kein Linienflug in die Vereinigten Staaten verfügbar sei, habe er die Erlaubnis, ein Privatflugzeug zu chartern. Wie großzügig!
Je mehr Rita darüber nachdachte, desto unglaublicher und ungeheuerlicher erschien es ihr, vor allem in der augenblicklichen Situation. Konnte Crawfs Ankunft in Lima etwas damit zu tun haben? Rita war sich dessen ziemlich sicher, und sie wartete ungeduldig darauf, endlich von Crawf zu hören, während ihre Wut über die unverschämte Art, wie man mit Harry umsprang, immer größer wurde.
Im Augenblick war es Rita unmöglich, Harry über den Inhalt des Briefs zu informieren, denn der war bereits im Dschungel, auf dem Weg nach Nueva Esperanza.
Sloane rief nicht an, sondern fuhr gleich nach seiner Ankunft im Hotel mit dem Taxi zur Entel Peru. Er hatte früher schon einmal in Lima gearbeitet und kannte sich aus.
»Wo ist Harry?« war seine erste Frage an Rita.
»Im Dschungel«, antwortete sie spitz. »Er riskiert sein Leben für deine Frau und deinen Jungen.« Dann hielt sie ihm den Brief entgegen. »Was zum Teufel soll das?«
»Was denn?« Crawford Sloane nahm den Brief und las ihn, während Rita ihn beobachtete. Er las ihn ein zweites Mal und schüttelte dann den Kopf. »Das ist ein Mißverständnis. Das kann gar nicht sein.«
Ritas Stimme klang noch immer scharf, als sie ihn fragte: »Willst du damit sagen, daß du nichts davon weißt?«
»Natürlich nicht.« Sloane schüttelte ungeduldig den Kopf. »Harry ist doch mein Freund. Und im Augenblick brauche ich ihn mehr als irgendeinen anderen auf der Welt. Bitte erzähl mir, was er im Dschungel macht - hast du nicht gesagt, er ist im Dschungel?« Sloane hatte den Brief offensichtlich bereits als absurd abgetan, als etwas, worauf er keine Zeit verschwenden wollte.
Rita schluckte schwer. Tränen liefen ihr über die Wangen, sie war wütend, weil sie Crawf falsch eingeschätzt und ungerecht behandelt hatte. »O Gott, Crawf! Es tut mir leid.« Nun sah sie erst die tiefen Falten des Kummers in seinem Gesicht und die Sorge in seinem Blick. Er sah roch schlimmer aus als vor acht Tagen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. »Ich habe geglaubt, daß du... Ach, vergiß es!«
Rita nahm sich zusammen. »Laß dir erzählen, was los ist, was Harry und die anderen machen.« Sie berichtete von der Expedition nach Nueva Esperanza und von Harrys Vorhaben. Dann klärte sie ihn über einige Hintergründe auf, wie etwa über Harrys Zweifel an der Sicherheit der Telefonverbindung - der Grund, warum er seinen Plan nicht nach New York gemeldet hatte.
Schließlich sagte Sloane: »Ich möchte mit diesem Piloten sprechen. Ich will wissen, wie es Harry und den anderen ging, als er sie absetzte. Wie heißt er?«
»Zileri.« Rita sah auf die Uhr. »Er ist wahrscheinlich noch nicht zurück, aber ich werde später anrufen, und dann können wir gleich fahren. Hast du schon gefrühstückt?«
Sloane schüttelte den Kopf.
»Hier im Haus ist eine Cafeteria. Laß uns runtergehen.«
Über Cafe und Croissants sagte Rita sanft: »Crawf, wir sind alle entsetzt über das, was mit deinem Vater passiert ist - vor allem Harry. Ich weiß, daß er sich Vorwürfe macht, weil er nicht schneller gehandelt hat, aber er hatte nicht genügend Informationen...«
Sloane unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Ich werde Harry nie etwas vorwerfen - gleichgültig was passiert. Kein Mensch hätte mehr tun können als er.«
»Stimmt«, entgegnete Rita. »Und deswegen ist das hier ja so unglaublich.« Sie legte den Brief mit Les Chippinghams Unterschrift auf den Tisch. »Das ist kein Mißverständnis, Crawf. Das war beabsichtigt. Solche Mißverständnisse gibt es nicht.«
Er las ihn noch einmal. »Nach unserem Frühstück rufe ich Les in New York an.«
»Aber bevor du das tust, überleg dir eins: Da muß etwas dahinterstecken, etwas, das wir beide nicht kennen. Gestern in New York - ist da irgend etwas Ungewöhnliches passiert?«
»Du meinst bei CBA?«
»Ja.«
Sloane überlegte. »Ich glaube nicht... doch, ich habe gehört, daß Margot Lloyd-Mason Les zu sich zitierte - so wie's aussah, sehr überstürzt. Er war drüben in Stonehenge. Aber ich habe keine Ahnung, worum es ging.«
Rita kam plötzlich ein Gedanke. »Könnte es vielleicht etwas mit Globanic zu tun haben? Damit vielleicht?« Sie öffnete ihre Tasche und holte die zusammengehefteten Papiere heraus, die Harry Partridge ihr an diesem Morgen gegeben hatte.
Sloane nahm die Papiere und las. »Interessant. Eine riesige Schuldenumwandlung. Das ganz große Geld. Wo hast du das her?«
»Von Harry.« Sie berichtete, was Partridge ihr auf dem Weg zum Flughafen erzählt hatte - daß er die Dokumente von Sergio Hurtado, dem Radioreporter, habe, der damit in der folgenden Woche an die Öffentlichkeit gehen wolle. Dann fügte sie hinzu: »Harry hat mir gesagt, daß er nicht vorhabe, die Story zu benutzen. Er meinte, das sei das mindeste, was wir für Globanic tun sollten, weil die doch für die Butter auf unserem Brot sorgen.«
»Vielleicht besteht wirklich eine Beziehung zwischen der Geschichte und Harrys Entlassung«, sagte Sloane nachdenklich. »Aber ich sehe da eine Möglichkeit. Laß uns nach oben gehen und sofort anrufen.«
»Aber vorher muß ich noch etwas erledigen«, sagte Rita.
Dieses Etwas war ein Anruf bei Victor Velasco.
Als der Chef der Auslandsabteilung von Entel wenige Minuten später die CBA-Kabine betrat, bat Rita ihn: »Ich hätte gern eine wirklich sichere Telefonverbindung nach New York, eine, die niemand abhört.«
Velasco machte ein verlegenes Gesicht. »Haben Sie Grund zu der Annahme...«
»Ja.«
»Bitte kommen Sie in mein Büro. Sie können meinen Anschluß benutzen.«
Rita und Crawford folgten Velasco in ein freundliches, mit Teppichboden ausgelegtes Büro im selben Stock. »Bitte benutzen Sie meinen Schreibtisch.« Er wies auf eine rotes Telefon. »Diese Leitung ist sicher. Das garantiere ich Ihnen. Sie können direkt wählen.«
»Vielen Dank.« Rita hatte nicht die Absicht, die peruanischen Behörden über Harry Partridges augenblicklichen Aufenthaltsort, der in dem Gespräch vielleicht erwähnt wurde, in Kenntnis zu setzen.
Mit einer höflichen Verbeugung verließ Velasco das Büro und schloß die Tür hinter sich.
Sloane setzte sich an den Tisch und wählte zunächst Les Chippinghams Nummer bei CBA. Doch niemand meldete sich -was an einem Samstagmorgen nicht ungewöhnlich war. Ungewöhnlich dagegen war, daß der Nachrichtenchef auch bei der Vermittlung nicht hinterlassen hatte, unter welcher Nummer er zu erreichen sei. Nach einem Blick in sein Notizbuch versuchte Sloane eine dritte Nummer - Chippinghams Privatanschluß in seiner Manhattaner Wohnung. Wieder keine Antwort. Es gab noch eine Nummer in Scarsdale, wo Chippingham manchmal die Wochenenden verbrachte. Aber auch dort meldete sich niemand.
»Sieht so aus«, sagte Sloane, »als wolle er ganz bewußt heute vormittag nicht erreichbar sein.« Er lehnte sich nachdenklich im Stuhl zurück.
»Woran denkst du?« fragte Rita.
»Ob ich Margot Lloyd-Mason anrufen soll.« Er griff zu dem roten Telefon. »Ich mach's.«
Sloane wählte die Vorwahl von Amerika und dann die Nummer von Stonehenge. Von der Vermittlung erfuhr er: »Mrs. Lloyd-Mason ist heute nicht in ihrem Büro.«
»Hier spricht Crawford Sloane. Können Sie mir bitte ihre Privatnummer geben. «
»Das ist eine Geheimnummer. Die darf ich niemandem geben.«
»Aber Sie haben sie?«
Die Dame an der Vermittlung zögerte. »Ja, Sir.«
»Wie heißen Sie?«
»Noreen.«
»Ein wunderbarer Name. Der hat mir schon immer gefallen. Also, nun hören Sie mir bitte zu, Noreen. Übrigens, erkennen Sie meine Stimme?«
»Aber natürlich, Sir. Ich sehe mir jeden Abend die Nachrichten an. Und in letzter Zeit habe ich mir solche Sorgen... «
»Vielen Dank, Noreen. Ich auch. Also, ich rufe aus Lima in Peru an, und ich muß dringend mit Mrs. Lloyd-Mason sprechen. Wenn Sie mir die Nummer geben, verspreche ich Ihnen, daß ich kein Wort sage, von wem ich sie habe, und wenn ich das nächste Mal in Stonehenge bin, werde ich mich persönlich bei Ihnen bedanken.«
»Oh! Das würden Sie wirklich tun, Mr. Sloane?«
»Ich halte immer meine Versprechen. Und wie lautet jetzt die Nummer, Noreen?«
Er notierte sie sich auf einen Zettel.
Seinen Anruf nahm eine Männerstimme entgegen, die wie die eines Butlers klang. Sloane stellte sich vor und bat, Mrs. Lloyd-Mason sprechen zu dürfen. Nach einigen Minuten meldete sich Margots unverwechselbare Stimme: »Ja?«
»Hier ist Crawford Sloane. Ich rufe aus Lima an.«
»Man sagte mir, daß Sie dort seien, Mr. Sloane. Ich möchte nur wissen, warum Sie anrufen, Mr. Sloane, vor allem bei mir zu Hause. Doch zunächst mein Beileid zum Tod Ihres Vaters.«
»Vielen Dank.«
Die CBA-Präsidentin redete Sloane noch immer mit dem Nachnamen an, was bei jemand in seiner Position ungewöhnlich war, aber sie hatte offensichtlich nicht die Absicht, das zu ändern. An ihrem Ton und ihrer Distanziertheit merkte Sloane auch, daß er mit direkten Fragen nichts erreichen würde. Er beschloß deshalb, einen altbewährten Journalistentrick anzuwenden, der schon oft und auch bei den gerissensten Gesprächspartnern funktioniert hatte.
»Mrs. Lloyd-Mason, als Sie gestern beschlossen, Harry Partridge zu entlassen, war Ihnen da eigentlich bewußt, wieviel er bei dem Versuch, mein Familie zu finden und zu befreien, bereits erreicht hat?«
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Wer hat Ihnen gesagt, daß das meine Entscheidung war?«
Am liebsten hätte er geantwortet: Sie selbst, gerade eben! Aber er hielt sich zurück und sagte: »Bei einem Sender wie dem unseren ist es fast unmöglich, etwas geheimzuhalten. Und deshalb habe ich Sie angerufen.«
»Ich will im Augenblick nicht darüber sprechen«, erwiderte Margot kurz angebunden.
»Das ist aber bedauerlich«, sagte er schnell, bevor sie auflegen konnte, »weil ich geglaubt habe, wir könnten uns vielleicht über die Beziehung zwischen Harrys Entlassung und dem großen Debt-to-Equity-Swap unterhalten, den Globanic im Augenblick mit Peru aushandelt. Hat Harrys ehrliche Berichterstattung möglicherweise jemanden beleidigt, der Interesse an diesem Geschäft hat?«
Vom anderen Ende der Leitung kam ein langes Schweigen, nur Margots Atem war zu hören. Schließlich sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Woher wissen Sie das alles?«
Also gab es doch eine Verbindung!
»Nun«, sagte Sloane, »Tatsache ist, daß Harry Partridge von diesem Geschäft erfahren hat. Er st ein erstklassiger Reporter, wie Sie wissen, einer der besten, die es gibt, und er riskiert jetzt gerade sein Leben für CBA. Aber Harry hat beschlossen, diese Information nicht zu benutzen. Soweit ich weiß, waren seine Worte: >Das ist das mindeste, was wir für Globanic tun sollten, schließlich sorgen die ja, für die Butter auf unserem Brot.<«
Wieder Schweigen. Schließlich sagte Margot: »Dann wird es also nicht veröffentlicht?«
»Nun ja, das ist eine andere Geschichte.« Unter anderen Umständen hätte Sloane die Situation vielleicht genossen, aber so fühlte er sich elend und deprimiert. »Da gibt es hier in Lima einen Radioreporter, der die Sache aufgespürt hat. Er besitzt eine Kopie des Vertrags und will nächste Woche damit an die Öffentlichkeit gehen. Ich denke, daß man die Geschichte auch außerhalb Perus aufgreifen wird. Oder was glauben Sie?«
Margot antwortete nicht. Um festzustellen, ob sie nicht schon aufgelegt hatte, fragte Sloane: »Sind Sie noch dran?«
»Ja.«
»Kann es vielleicht sein, daß Sie bedauern, Harry das angetan zu haben?«
»Nein.« Die Antwort klang irgendwie geisterhaft, als sei Margot in Gedanken weit weg. »Nein«, wiederholte sie, »ich habe an etwas anderes gedacht.«
»Mrs. Lloyd-Mason« - Crawford Sloane sagte es mit der schneidenden Stimme, mit der er gelegentlich unangenehme Meldungen in den Nachrichten verlas - »hat man Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie ein eiskaltes Miststück sind?« Dann legte er auf.
Auch Margot legte auf, als die Verbindung unterbrochen war. Eines Tages, und zwar sehr bald, wie sie hoffte, würde sie Mittel und Wege finden, es diesem überheblichen Mr. Crawford Sloane zu zeigen. Jetzt war nicht die Zeit dafür. Im Augenblick waren andere Dinge wichtiger.
Die Nachricht, daß das Abkommen zwischen Globanic und Peru nicht länger geheim war, hatte ihr einen Schock versetzt. Doch sie war schon oft erschrocken gewesen und es nie lange geblieben. In ihrer Karriere hatte es zahlreiche Rückschläge gegeben, doch war es ihr immer gelungen, sie am Ende zu ihrem Vorteil zu nutzen. Und das wollte sie auch jetzt tun. Sie setzte sich und dachte nach, welchen Weg sie einschlagen sollte.
Ohne Frage mußte sie zuerst Theo Elliott anrufen. Ihn konnte man wegen wichtiger Geschäftsangelegenheiten jederzeit stören, auch am Wochenende.
Sie wollte ihm sagen, sie habe erfahren, daß in Peru Informationen über das Globanic-Geschäft durchgesickert seien und daß ein peruanischer Reporter im Besitz von Kopien des Vertragstextes sei und sie auch veröffentlichen wolle. Es habe nichts zu tun mit CBA oder einem anderen amerikanischen Sender; es sei ein rein peruanisches Leck, allerdings ein schlimmes.
Die ganze Sache sei sehr bedauerlich, wollte sie Theo sagen, und sie habe nicht die Absicht, jemandem Vorwürfe zu machen, aber sie müsse sich doch fragen: War Fossie Xenos, was seine Gesprächspartner betraf, vielleicht zu unvorsichtig gewesen, vor allem in Peru? Nach ihren Information zu urteilen scheine es möglich, daß der Enthusiasmus, für den Fossie berühmt war, ihn zu Indiskretionen verleitet habe.
Sie wollte Theo weiterhin sagen, daß auch CBA News über die peruanische Presse von der Sache Wind bekommen habe.
Doch sie, Margot, habe ausdrücklichen Befehl gegeben, damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen.
Mit etwas Glück, dachte sie, würde sich schon Anfang nächster Woche der Wind drehen, und sie wäre Fossie wieder einen Schritt voraus. Ausgezeichnet!
Während dieser Überlegungen dachte Margot auch kurz an Harry Partridge. Sollte man ihn wieder einstellen? Nein, entschied sie. Es würde die ganze Sache noch komplizierter machen, und da Partridge ohnehin nicht wichtig war, sollte man es besser dabei belassen. Außerdem würde Theo trotz allem noch am Montag Präsident Castaneda anrufen und ihm sagen wollen, daß der Unruhestifter - um seinen Ausdruck zu benutzen - entlassen und aus Peru verbannt sei.
Lächelnd und zuversichtlich, daß ihre Strategie funktionieren würde, griff sie zum Hörer und wählte Theo Elliotts Geheimnummer.
Oswaldo Zileri, der Pilot und Besitzer von Aerolibertad, hatte schon von Crawford Sloane gehört und verhielt sich deshalb entsprechend höflich.
»Als Ihre Freunde sich wegen eines Charterflugzeugs an mich wandten, Mr. Sloane, sagte ich ihnen, ich wolle von ihren Absichten nichts wissen. Aber da ich Sie jetzt hier sehe, kann ich mir vorstellen, worum es geht, und Ihnen und den Männern nur Glück wünschen.«
»Vielen Dank«, erwiderte Sloane. Er saß mit Rita in Zileris bescheidenem Büro in der Nähe des Flughafens von Lima. »Wie war die Lage, als Sie Mr. Partridge und die anderen heute morgen absetzten?«
Zileri zuckte die Achseln. »Der Dschungel ist immer gleich -grün, undurchdringlich, endlos. Aber außer Ihren Freunden war keine Menschenseele zu sehen.«
»Als wir über die zusätzlichen Passagiere für den Rückflug sprachen«, sagte Rita zu Zileri, »hofften wir, daß es drei sein würden. Aber jetzt sind es nur noch zwei.«
»Ich habe die traurige Nachricht über Ihren Vater gehört.« Der Pilot schüttelte den Kopf. »Wir leben in grausamen Zeiten.«
Sloane begann: »Ich habe mich gefragt, ob jetzt...«
Und Zileri beendete den Satz für ihn. »...ob beim Rücktransport vielleicht noch Platz ist für Sie und Miss Abrams?«
»Ja.«
»Das geht schon in Ordnung. Da einer der erwarteten Passagiere ihr kleiner Sohn ist und es kein Gepäck gibt, ist das Gewicht kein Problem. Sie müssen morgen vor Sonnenaufgang hier sein - und am Tag darauf ebenfalls, falls das noch nötig sein wird.«
»Wir werden hier sein«, sagte Rita und wandte sich dann an Sloane. »Harry war nicht sehr optimistisch, daß er es gleich am ersten Tag schaffen würde. Der Flug morgen ist eher eine Vorsichtsmaßnahme, falls sie ihn brauchen. Er hielt den zweiten Tag von vorneherein für wahrscheinlicher.«
Es gab noch eine Sache, die Rita am Herzen lag. Ohne Crawf etwas davon zu sagen, faxte sie eine Nachricht an Les Chippingham, die am Montagmorgen auf ihn warten würde. Mit voller Absicht schickte sie die Nachricht an eins der Geräte am Hufeisen und nicht ins Büro des Chefs von CBA News. Auf diese Weise würde Chippingham das Schreiben nicht geheimhalten können, und jeder würde die Mitteilung lesen -wie es bei Chippinghams Entlassungsschreiben an Harry Partridge der Fall gewesen war, als es bei Entel Peru eintraf.
Als Adreßkopf schrieb Rita:
L. W. Chippingham, President, CBA News Kopien an alle Infotafeln.
Sie wußte natürlich, daß ihr Brief auf keiner einzigen Infotafel auftauchen würde. Aber es war ein Signal für die Kollegen am Hufeisen, daß sie seine Weiterverbreitung wünschte. Irgend jemand würde ihn kopieren und weiterreichen, er würde die Runde machen.
Ihre Nachricht lautete:
Du gemeiner, egoistischer, feiger Hundesohn! Harry Partridge auf eine Art zu feuern, wie du es getan hast - ohne Grund, Vorwarnung oder Erklärung -, nur um deiner Busenfreundin, diesem Eisberg Lloyd-Mason, einen Gefallen zu tun, ist ein Verrat an allem, was bei CBA Fairneß und Anstand bedeutet.
Harry wird aus dieser Sache hervorgehen mit einem Duft von Chanel No. 5. Du stinkst jetzt bereits wie die Kanalratte, die du bist.
Wie ich mich je dazu herablassen konnte, mit dir regelmäßig ins Bett zu gehen, ist mir heute unbegreiflich. Aber das war einmal! Und auch wenn du den letzten steifen Schwanz auf der ganzen Welt hättest, würde ich dich nicht an mich ranlassen.
Und falls du glaubst, daß ich weiterhin für dich arbeite - pfui Teufel!
In tiefer Trauer über das, was du einmal warst, im Vergleich zu dem, was aus dir geworden ist,
Deine Ex-Freundin, Ex-Bewunderin, Ex-Geliebte, Ex-Produzentin,
Rita Abrams
Rita war sich natürlich bewußt, daß nach diesem Brief Harry nicht der einzige sein würde, der sich nach einer neuen Beschäftigung umsehen mußte. Aber es war ihr gleichgültig. Sie fühlte sich viel besser, als sie den Brief in die Maschine einlegte und dabei wußte, daß er einen Augenblick später in New York sein würde.
16
Es war 2 Uhr 10 in Nueva Esperanza.
Schon seit einigen Stunden warf sich Jessica unruhig hin und her, immer wieder schlief sie kurz ein und schreckte wieder hoch, manchmal träumte sie auch, und dann wurden die Träume zu Alpträumen, die sich mit der Wirklichkeit vermischten.
Vor wenigen Augenblicken war Jessica aufgewacht und hatte geglaubt, in der vom Inneren der Hütte her schwach erhellten Fensteröffnung an der gegenüberliegenden Wand Harry Partridges Gesicht zu sehen. Dann war es so plötzlich wieder verschwunden, wie es aufgetaucht war. War sie wach oder träumte sie? Oder halluzinierte sie sogar?
Jessica schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen, doch das Gesicht erschien wieder, ganz langsam tauchte es von unten her im Fensterquadrat auf, und diesmal verschwand es nicht wieder. Eine Hand machte ein Zeichen, das sie nicht verstand, und sie konzentrierte sich wieder auf das Gesicht. War es möglich? Ihr Herz machte einen Satz bei dem Gedanken: Ja, es war möglich. Da draußen war Harry Partridge.
Der Mund formte schweigend Worte, die Lippenbewegungen waren übertrieben, so als wollte er ihr stumm etwas mitteilen. Sie konzentrierte sich und glaubte schließlich die Worte >die Wache< zu verstehen. Das war es: Wo ist die Wache?
Vincente hatte zu diesem Zeitpunkt Dienst. Vor einer Stunde hatte er Ramon abgelöst - offensichtlich viel zu spät, denn zwischen den beiden war es zu einem heftigen Streit gekommen. Ramon hatte ihn wütend angeschrien. Vincente hatte betrunken geklungen, als er zurückbrüllte, er hatte gelallt. Jessica kümmerte sich nicht um den Streit, sie war nur froh, als Ramon endlich ging, denn er war gemein und unberechenbar und beharrte noch immer auf absolutem Schweigen zwischen den Gefangenen, das inzwischen keine der anderen Wachen mehr verlangte.
Als Jessica zur Seite blickte, sah sie Vincente. Der Stuhl, auf dem er saß und den alle Wachen benutzten, stand so, daß er vom Fenster aus nicht gesehen werden konnte. Jessica war sich zwar nicht ganz sicher, aber es sah so aus, als hätte er die Augen geschlossen. Seine Waffe lehnte neben ihm an der Wand. Von einem Balken in der Nähe hing eine Kerosinlampe, in deren Schein sie das Gesicht im Fenster gesehen hatte.
Vorsichtig, damit Vincente nichts merkte, falls er plötzlich aufwachte, deutete sie mit dem Kopf in seine Richtung.
Das Gesicht am Fenster - Jessica konnte noch immer nicht so recht glauben, daß es wirklich Harry Partridge war - reagierte sofort mit einer zweiten stummen Frage. Wieder konzentrierte sie sich. Nach dem dritten Mal verstand sie: Ruf ihn!
Jessica nickte leicht, um anzudeuten, daß sie verstanden hatte. Ihr Herz raste beim Anblick Harrys. Denn das konnte nur heißen, daß die Rettung, auf die sie so lange gehofft hatten, nun unmittelbar bevorstand. Aber gleichzeitig wußte sie auch, daß das erst der Anfang war, daß ihnen noch große Schwierigkeiten bevorstanden.
»Vincente!« Sie rief gerade so laut, wie sie es für notwendig hielt, aber es reichte nicht, um ihn zu wecken. Sie versuchte es ein wenig kräftiger. »Vincente!«
Diesmal bewegte er sich. Er öffnete die Augen und sah Jessica an. Sie winkte ihn zu sich.
Vincente stand langsam auf. Es sah aus, als müsse er sich erst orientieren, als versuche er, nüchtern zu werden. Schließlich stand er und machte einen Schritt auf sie zu, drehte sich dann aber schnell um und griff nach seiner Waffe. Er hielt sie so, daß er, falls nötig, sofort schießen konnte.
Jessica mußte sich nun schleunigst eine Ausrede einfallen lassen, und sie beschloß, Vincente mit Gesten zu bitten, sie zu Nicky zu lassen. Er würde die Bitte natürlich ablehnen, doch das war im Augenblick gleichgültig.
Sie hatte keine Ahnung, was Harry vorhatte. Während sie innerlich vor Angst und Nervosität bebte, wußte sie nur, daß der Augenblick gekommen war, vom dem sie geträumt und gleichzeitig befürchtet hatte, er würde nie eintreten.
Partridge kauerte vor dem Fenster und hielt seine Browning mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer fest in der Hand. Bis jetzt war alles gelaufen wie geplant, doch er wußte, daß der schwierigste und wichtigste Teil der Aktion noch vor ihm lag.
Die nächsten Sekunden boten ihm nur wenige Handlungsmöglichkeiten, und er wußte, daß er sich blitzschnell entscheiden mußte. Wie es im Augenblick aussah, konnte er die Wache wahrscheinlich mit der Waffe in Schach halten und sie dann entweder fesseln und knebeln oder sie als Geisel mitnehmen. Er zog die erste Möglichkeit vor. Es gab natürlich noch einen dritten Weg - er konnte die Wache töten, doch das wollte er vermeiden.
Eins arbeitete zu seinen Gunsten: Jessica war erfinderisch und sehr reaktionsschnell - so, wie er sie kannte.
Er hörte sie zweimal rufen, dann leise Geräusche aus einer Ecke, die er nicht einsehen konnte, und schließlich Schritte, als die Wache auf Jessica zuging. Partridge hielt den Atem an, bereit, sich sofort zu ducken, falls der Mann in seine Richtung sah.
Aber er tat es nicht. Er drehte Partridge den Rücken zu und sah Jessica an, was Partridge die Möglichkeit zu einer präziseren Einschätzung der Lage gab.
Das erste, was er sah, war die Waffe, die der Mann trug. Es war eine Kalaschnikow, eine Maschinenpistole, die Partridge nur zu gut kannte, und an der Art, wie der Mann sie hielt, wurde deutlich, daß er auch damit umgehen konnte. Im Vergleich zu der Kalaschnikow war Partridges Browning nur ein Spielzeug.
Partridge blieb also nur eine Möglichkeit: Er mußte den Mann töten. Und das hieß, er mußte ihn überraschen, um als erster zum Schuß zu kommen.
Doch es gab ein Hindernis: Jessica. Sie stand jetzt genau in einer Linie mit Partridge und der Wache. Ein Schuß auf den Mann konnte ebensogut Jessica treffen.
Partridge mußte es versuchen. Es gab keine andere Möglichkeit. Er mußte alles riskieren und auf Jessicas blitzschnelle Reaktion vertrauen.
Er holte tief Atem und rief dann laut und deutlich: »Jessica, laß dich fallen!«
Mit gehobener, entsicherter Waffe wirbelte der Mann herum.
Doch Partridge hatte ihn bereits im Visier. Sekunden zuvor war ihm wieder eingefallen, was sein Schießlehrer ihm gesagt hatte: »Wenn du einen Menschen töten willst, ziel nie auf den Kopf. Egal, wie vorsichtig du den Abzug drückst, es besteht immer die Gefahr, daß die Waffe hochzieht und die Kugel über den Kopf hinweggeht. Also ziel immer auf das Herz oder etwas tiefer. Auch wenn die Kugel über dem Herz eintritt, hat sie meistens noch tödliche Wirkung, und wenn nicht, hast du Zeit für einen zweiten Schuß.«
Partridge drückte ab, die Browning gab nur ein kaum hörbares »Pfft!« von sich. Obwohl er Erfahrung mit Schalldämpfern hatte, war er immer wieder überrascht, wie leise sie waren. Er zielte erneut, aber ein zweiter Schuß war nicht notwendig. Der erste hatte Vincente etwa auf Höhe des Herzens in die Brust getroffen. An der Einschußstelle sickerte Blut durch das Hemd. Einen Augenblick lang blieb der Mann überrascht stehen, dann stürzte er zu Boden und ließ die Waffe fallen. Das Klappern der Kalaschnikow beim Aufschlagen war das einzige Geräusch.
Sekundenbruchteile vor seinem Schuß hatte Partridge gesehen, daß Jessica, blitzschnell auf seinen Befehl reagierend, sich flach auf den Boden warf. Tief im Innersten war er erleichtert und dankbar. Jetzt richtete Jessica sich wieder auf.
Partridge ging zur Hüttentür, doch plötzlich tauchte ein Schatten vor ihm auf. Es war Minh Van Canh, der, wie befohlen, Partridge den Rücken gedeckt hatte, doch nun nach vorne wechselte und vor ihm die Hütte betrat. Mit seiner UZI im Anschlag ging er zu dem Wachposten und gab dann Partridge mit einem Nicken zu verstehen, daß der Mann wirklich tot war. Dann lief er zu Jessicas Zelle, sah das Vorhängeschloß und fragte: »Wo ist der Schlüssel?«
»Irgendwo da drüben bei dem Stuhl«, antwortete Jessica. »Und der für Nickys Zelle auch.«
In der Nachbarzelle wurde Nicky langsam wach. Dann richtete er sich plötzlich auf. »Mom, was ist denn los?«
»Es ist gut Nicky«, beruhigte sie in. »Alles in Ordnung.«
Nicky musterte die Neuankömmlinge - Partridge, der mit Vincentes Kalaschnikow in der Hand auf ihn zukam, und Minh, der die Schlüssel von einem Nagel an der Wand nahm. »Wer sind die Leute, Mom?«
»Freunde, mein Liebling. Sehr gute Freunde.«
Nickys schlaftrunkenes Gesicht hellte sich auf. Doch dann fiel sein Blick auf die leblos in einer dunklen Pfütze liegende Gestalt am Boden. »Aber das ist ja Vincente! Sie haben Vincente erschossen! Warum?«
»Pscht, Nicky«, flüsterte Jessica.
Mit leiser Stimme antwortete Partridge: »Ich habe es nicht gern getan, Nicholas. Aber er wollte mich erschießen. Und wenn er es getan hätte, könnte ich dich und deine Mutter jetzt nicht von hier wegbringen. Deswegen sind wir nämlich hier.«
Plötzlich leuchteten Nickys Augen auf, er fragte: »Sie sind Mr. Partridge, nicht?«
»Ja, der bin ich.« »Mein Gott, Harry!« sagte Jessica gerührt, »lieber Harry!«
Doch Partridge warnte sie leise: »Noch sind wir nicht in Sicherheit. Wir haben einen langen Weg vor uns und müssen uns beeilen.«
Minh war mit den Schlüsseln zurückgekehrt und probierte einen nach dem anderen am Schloß von Jessicas Zelle aus. Plötzlich schnappte das Schloß auf. Augenblicke später war die Tür offen. Minh ging zu Nickys Zelle und probierte dort ebenfalls die Schlüssel aus. Dann war auch Nicky frei und fiel Jessica in die Arme.
»Hilf mir!« sagte Partridge zu Minh. Er hatte Vincentes Leiche in Nickys Zelle gezerrt, und gemeinsam hoben sie ihn nun auf die niedere Holzpritsche. Es würde zwar eine Entdeckung der Flucht nicht verhindern, dachte Partridge, aber vielleicht verzögern. Aus dem gleichen Grund drehte er die Flamme der Kerosinlampe kleiner, bis das Innere der Hütte fast dunkel war.
Nicky löste sich von Jessica und ging zu Partridge. Mit gepreßter, monotoner Stimme sagte er: »Es ist schon in Ordnung, daß Sie Vincente erschossen haben, Mr. Partridge. Er hat uns zwar manchmal geholfen, er war trotzdem einer von denen. Sie haben meinen Opa getötet und mir zwei Finger abgeschnitten, und jetzt kann ich nie mehr Klavier spielen.« Er hielt seine bandagierte Hand in die Höhe.
»Sag einfach Harry zu mir«, erwiderte Partridge. »Ja, ich weiß, was mit deinem Großvater und deinen Fingern passiert ist. Es tut mir furchtbar leid.«
Wieder diese hölzerne, leiernde Stimme. »Weißt du, was das Stockholm-Syndrom ist? Meine Mom weiß es. Wenn du willst, erzählt sie es dir.«
Partridge musterte Nicky schweigend. Er hatte schon früher Menschen gesehen, die mehr erlitten hatten, als ihr Verstand ertragen konnte, und kannte so die Symptome eines Schocks.
Die Art, wie der Junge sprach, zeigte ebendiese Symptome. Er brauchte so schnell wie möglich ärztliche Betreuung. Doch im Augenblick konnte Partridge nichts anderes tun, als den Jungen an sich zu ziehen. Er spürte, wie er reagierte und sich an ihn drückte.
Partridge sah, daß Jessica den Jungen ebenso besorgt musterte wie er selbst. Auch ihr wäre es lieber gewesen, wenn nicht gerade Vincente in dieser Nacht Dienst gehabt hätte. Wenn es Ramon gewesen wäre, hätte es ihr nichts ausgemacht. Aber trotzdem war sie bestürzt über Nickys Worte und sein Verhalten.
Mit einer beruhigenden Geste versuchte Partridge, Jessica aufzumuntern. »Gehen wir«, befahl er dann.
In seiner freien Hand hielt er die Kalaschnikow; es war eine gute Angriffswaffe, die er vielleicht noch brauchen konnte. In seiner Tasche steckten zwei Reservemagazine, die Vincente am Körper getragen hatte.
An der Tür tauchte Minh auf. Er hatte seine Kamera von draußen geholt und filmte den Aufbruch mit den Zellen als Hintergrund. Er benutzte einen speziellen Restlichtverstärker -Infrarotvorsätze waren für Videobänder untauglich -, der auch bei Dunkelheit passable Bilder lieferte.
Seit gestern hatte Minh immer wieder Aufnahmen gemacht, allerdings nur sehr sparsam, da er nur wenige Cassetten hatte mitnehmen können.
In diesem Augenblick stürzte Fernandez, der die anderen Gebäude beobachtet hatte, in die Hütte. »Da kommt jemand«, warnte er Partridge atemlos, »eine Frau. Alleine. Ich glaube, sie ist bewaffnet.« Und schon waren Schritte zu hören, die rasch näher kamen.
Für Befehle oder irgendwelche Vorkehrungen war keine Zeit, Jeder blieb stehen, wo er war. Jessica stand seitlich neben der Tür. Minh stand der Öffnung direkt gegenüber, die anderen waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Partridge hielt die Kalaschnikow im Anschlag. Er wußte zwar, daß ein Feuerstoß das ganze Dorf aufwecken würde, um aber seine Browning mit Schalldämpfer benutzen zu können, hätte er die MP ablegen und die Pistole in die andere Hand nehmen müssen. Und dazu war keine Zeit mehr.
Mit schnellen Schritten betrat Socorro die Hütte. Sie trug einen Morgenrock und hielt einen entsicherten Revolver vom Typ Smith & Wesson in der Hand. Jessica hatte Socorro schon öfters mit einer Waffe gesehen, allerdings immer nur im Halfter, nie in der Hand.
Trotz der schußbereiten Pistole schien Socorro nichts Außergewöhnliches zu erwarten, und in dem trüben Licht hielt sie Minh einen Augenblick lang für die Wache. »Pense que escuche...«, sagte sie, merkte dann aber, daß es gar nicht Vincente war, und sah nach links, wo Jessica stand. »Que haces...?« rief sie und hielt dann plötzlich inne.
Was nun folgte, passierte so schnell, daß sich später keiner der Beteiligten an den genauen Ablauf erinnern konnte.
Socorro hob den Revolver und machte, mit dem Finger am Abzug, einen schnellen Satz auf Jessica zu. Vermutlich wollte sie Jessica als Geisel nehmen.
Jessica sah sie kommen und reagierte ähnlich schnell. Sie erinnerte sich an CQB, die Nahkampftechnik, die sie gelernt hatte, und vor allem an eine Grundregel, die Brigadier Wade ihr eingeschärft hatte: Wenn der Gegner auf einen zukommt, weicht man meist instinktiv zurück. Der Gegner erwartet das auch. Aber das dürfen Sie auf keinen Fall tun! Sie müssen ihn überraschen, indem sie auf ihn zugehen!
Blitzschnell sprang Jessica auf Socorro zu und schlug ihr mit der geballten linken Faust gegen die Innenseite des rechten Arms. Der Arm flog hoch, die Finger öffneten sich, und die Pistole fiel zu Boden. Sie stieß ihr zwei Finger gegen die Kehle und zog ihr mit dem Fuß die Beine weg. Bevor Socorro fallen konnte, hatte Jessica sie im Würgegriff und drückte zu. Im Krieg - und für den war CQB ja gedacht - würde sie dem Gegner nun mit einem Ruck das Genick brechen.
Doch Jessica, die noch nie jemand getötet oder auch nur mit dem Gedanken gespielt hatte, zögerte. Sie spürte, daß Socorro etwas sagen wollte, und lockerte leicht ihren Griff.
Keuchend und stammelnd flehte Socorro: »Laß mich gehen... Ich werde euch helfen... mit euch fliehen... kenne den Weg.«
Partridge war näher gekommen und hatte alles verstanden. »Kannst du ihr trauen?« fragte er Jessica.
Wieder zögerte Jessica. Sie hatte plötzlich Mitleid mit Socorro, die ja nicht durch und durch böse gewesen war. Während der ganzen Zeit hatte Jessica das Gefühl gehabt, daß Socorros Arbeit als Krankenschwester in Amerika eine Spur des Guten in ihr zurückgelassen hatte. Sie hatte sich um Nickys Verbrennungen gekümmert und seine Fingerstümpfe versorgt. Dann war da diese Tafel Schokolade gewesen, die sie ihnen ins Boot warf, als sie Hunger hatten. Socorro hatte ihre Lebensbedingungen verbessert, indem sie Fensterlöcher in die Wände schneiden ließ... hatte Miguels Befehl mißachtet und Jessica zu Nicky gelassen...
Aber dieselbe Socorro war auch von Anfang an Teil dieser Entführung gewesen und hatte Jessica, als Nicky die Finger abgeschnitten wurden, mit barschen Worten zum Schweigen gebracht.
Plötzlich schossen Jessica Nickys Worte durch den Kopf: »Es ist schon in Ordnung, daß du Vincente erschossen hast... Er hat uns zwar manchmal geholfen, aber er war trotzdem einer von denen... Weißt du, was das Stockholm-Syndrom ist?... Meine Mom weiß es...«
Hüte dich vor dem Stockholm-Syndrom!
Jessica kannte die Antwort auf Partridges Frage. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein!«
Ihre Blicke trafen sich. Harry war erstaunt über Jessicas Fähigkeiten im Nahkampf. Er fragte sich, wo sie es gelernt hatte und warum. Doch im Augenblick war das gleichgültig. Wichtig war nur, daß sie eine Entscheidung getroffen hatte und ihn jetzt mit den Augen um Zustimmung bat. Er nickte knapp. Dann wandte er sich ab, weil er nicht sehen wollte, was nun kam.
Jessica mußte ihren ganzen Mut zusammennehmen. Sie drückte fest zu und riß dann Socorros Kopf scharf nach links. Es gab ein leises, knackendes Geräusch, der Körper in ihrem Arm wurde schlaff. Sie ließ ihn zu Boden sinken.
Unter Partridges Führung schlichen sich Jessica, Nicky, Minh und Fernandez leise durch das Dorf. Kein Mensch war zu sehen.
Am Landungssteg sagte Ken O'Hara: »Ich hab' schon geglaubt, ihr würdet gar nicht mehr kommen.«
»Wir hatten Probleme«, erwiderte Partridge. »Jetzt aber schnell. Welches Boot?«
»Das da.« Es war ein offener, hölzerner Kahn, etwa zehn Meter lang, mit zwei Außenbordmotoren. Zwei Leinen hielten ihn am Steg. »Ich hab' mir aus den anderen Booten zusätzlichen Treibstoff besorgt.« O'Hara wies auf einige Plastikkanister im Heck.
»Alles an Bord!« befahl Partridge.
Bis vor kurzem noch hatten Wolken den Dreiviertelmond verhüllt, doch jetzt rissen sie auf, und alles wurde heller, vor allem über dem Wasser.
Fernandez half Jessica und Nicky in das Boot. Jessica zitterte am ganzen Körper, so elend war ihr; die Exekution Socorros zeigte Wirkung. Minh filmte die Szene vom Steg aus und sprang als letzter ins Boot, während O'Hara die Leinen löste und es mit einem Riemen abstieß. Fernandez packte den zweiten Riemen, und zusammen ruderten sie das Boot in die Flußmitte.
Partridge sah sich um und bemerkte, daß O'Hara die Wartezeit genutzt hatte. Einige der anderen Boote lagen am Ufer auf Grund, andere trieben auf dem Fluß davon.
»Ich hab' ein paar Stöpsel gezogen.« O'Hara deutete auf die Boote am Ufer. »Man kann sie zwar wieder aufblasen, aber das wird eine Weile dauern. Von den guten Motoren hab' ich ein paar ins Wasser geworfen.«
»Gute Arbeit, Ken!« sagte Partridge. Seine Entscheidung, O'Hara mitzunehmen, hatte er noch kein einziges Mal bereut.
Es gab keine Sitzgelegenheiten in dem Boot. Wie in dem, das Jessica, Nicky und Angus hierhergebracht hatte, saßen die Passagiere auf Planken, die längs über den Kiel verliefen. Die beiden Ruderer standen an den Flanken und hatten einiges zu tun, um den Kahn in die Flußmitte zu bringen. Doch allmählich entschwand Nueva Esperanza ihren Blicken, und die starke Strömung trieb sie voran.
Partridge hatte auf die Uhr gesehen, als sie vom Landungssteg ablegten: 2 Uhr 35. Da sie mit der Strömung schnell vorankamen, sagte er um 2 Uhr 50 zu O'Hara, er solle die Motoren anlassen.
O'Hara öffnete die Luftzufuhr am Treibstofftank des Backbordmotors, zog den Choke, drückte ein paar Mal auf den Gummiball für die Benzinzufuhr und riß dann kräftig am Starterseil. Die Maschine sprang sofort an und summte im Leerlauf. Der zweite Motor folgte. Dann legte O'Hara bei beiden den Gang ein, und Augenblicke später schoß das Boot vorwärts.
Der Himmel war noch immer klar. Das helle Mondlicht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte, erleichterte die Navigation auf dem gewundenen Flußlauf.
»Zu welcher Landepiste fahren wir jetzt?« fragte Fernandez.
Partridge stellte sich die Landkarte vor, die er inzwischen beinahe auswendig kannte, und überlegte.
Da sie über den Fluß flohen, schied die Durchgangsstraße, auf der sie gelandet waren, auf jeden Fall aus. So blieb noch die kleine Piste der Drogenhändler, die sie in etwa eineinhalb Stunden erreichen würden, und die Piste bei Sion, die noch eine dreistündige Bootsfahrt und einen anstrengenden Dreimeilenmarsch durch den Dschungel entfernt lag.
Wenn sie versuchten, Sion bis zum vereinbarten Zeitpunkt um 8 Uhr zu erreichen, würde die Zeit möglicherweise knapp. Andererseits würden sie bei der ersten Piste um einige Stunden zu früh eintreffen; und falls ihre Verfolger sie einholten, würde es zu einem Feuergefecht kommen, das sie nur verlieren konnten, da sie zahlenmäßig wie in der Bewaffnung unterlegen waren.
Es schien also am vernünftigsten, die größtmögliche Distanz zwischen sich und Nueva Esperanza zu bringen.
»Wir fahren nach Sion«, verkündete Partridge. »Wenn wir an Land sind, wartet auf uns ein Gewaltmarsch durch den Dschungel. Also ruht euch jetzt aus und versucht, zu Kräften zu kommen.«
Mit der Zeit beruhigte sich Jessica wieder, das unkontrollierte Zittern ließ nach, die Übelkeit verschwand. Sie fragte sich allerdings, ob sie je über das, was sie getan hatte, ganz hinwegkommen würde. Socorros verzweifeltes, flehendes Flüstern würde ihr mit Sicherheit noch lange in den Ohren klingen.
Doch Nicky war in Sicherheit - für den Augenblick zumindest -, und das war das Wichtigste.
Ihr war aufgefallen, daß Nicky seit dem Verlassen der Gefängnishütte Partridge nicht mehr von der Seite wich, so als sei Harry ein Magnet, von dem er sich angezogen fühlte. Auch jetzt saß er neben Harry im Boot; es war offensichtlich, daß er Körperkontakt suchte, denn er kuschelte sich eng an ihn. Harry schien es nichts auszumachen. Er hatte ihm sogar, wie auch schon zuvor, den Arm um die Schulter gelegt.
Jessica gefiel das. Es sah so aus, als wäre Harry für Nicky der strahlende Gegenpol zu der gemeinen Bande, die ihnen so viel Entsetzliches zugefügt hatte - Miguel, Baudelio, Gustavo, Ramon... andere, deren Namen sie nicht kannte... ja, auch Vincente und Socorro.
Aber es war noch mehr. Nicky hatte schon immer ein Gespür für Menschen gehabt. Jessica hatte Harry einmal geliebt, und in gewisser Weise tat sie es immer noch, vor allem jetzt, da Dankbarkeit und Liebe sich vermischten. Es war deshalb gar nicht verwunderlich, daß ihr Sohn instinktiv dieses Gefühl teilte.
Nicky schien zu schlafen. Partridge löste sich behutsam von ihm und setzte sich neben Jessica. Fernandez sah es und wechselte ebenfalls den Platz, um das Boot in der Balance zu halten.
Auch Partridge hatte an die Vergangenheit gedacht, daran, was Jessica und er einander früher einmal bedeutet hatten. Und schon nach dieser kurzen Zeit merkte er, daß sich eigentlich nichts geändert hatte. Alles, was er an ihr bewundert hatte -ihren schnellen Verstand, ihren Mut, ihre Wärme, ihre Intelligenz und ihren Einfallsreichtum -, besaß sie noch immer. Er wußte, wenn er länger mit Jessica zusammen wäre, würde seine alte Liebe zurückkehren. Ein provokativer Gedanke - doch das würde nicht passieren.
Sie hatte sich ihm zugewandt, vielleicht las sie seine Gedanken. Er wußte noch von früher, daß sie das manchmal konnte.
»Hast du in dieser Hütte eigentlich je die Hoffnung aufgegeben?«
»Manchmal war ich kurz davor, doch ganz aufgegeben hab' ich sie nie«, antwortete Jessica. Sie lächelte. »Wenn ich gewußt hätte, daß du die Rettungsaktion leitest, wäre das etwas ganz anderes gewesen.«
»Wir sind ein Team«, sagte er. »Crawf gehört auch dazu. Er hat Entsetzliches durchgemacht, aber du ja auch. Wenn wir zurück sind, werdet ihr euch gegenseitig brauchen.«
Er spürte, daß sie wußte, was unausgesprochen hinter seinen Worten stand: Er war zwar vorübergehend in ihr Leben zurückgekehrt, würde aber bald wieder daraus verschwinden.
»Schön, daß du das gesagt hast, Harry. Und was wirst du tun?«
Er zuckte mit den Achseln. »Weiter als Reporter arbeiten. Irgendwo gibt es einen anderen Krieg. Das ist immer so.«
»Und zwischen den Kriegen?«
Auf manche Fragen gab es keine Antworten. Er wechselte das Thema. »Dein Nicky ist in Ordnung - ein Junge, wie ich ihn selber gerne hätte.«
Es hätte sein können, dachte Jessica. Für uns beide, vor vielen Jahren.
Ohne das Partridge es wollte, mußte er plötzlich an Gemma und ihren ungeborenen Sohn denken.
Jessica neben ihm seufzte. »Oh, Harry!«
Dann schwiegen sie und lauschten dem Brummen der Motoren und dem Rauschen des Wassers. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf die seine. »Danke, Harry«, sagte sie. »Danke für alles... Ich werde dich immer lieben.«
17
Miguel feuerte drei Schüsse in die Luft.
Es war die effektivste Art, Alarm zu schlagen.
Vor knapp einer Minute hatte er das Verschwinden der Gefangenen und Socorros und Vincentes Leichen entdeckt.
Es war 3 Uhr 15, und seit Partridge, Jessica, Nicky, Minh, O'Hara und Fernandez Nueva Esperanza verlassen hatten, waren genau vierzig Minuten vergangen. Doch das wußte Miguel nicht.
Er raste vor Wut. In der Gefangenenhütte hatte er den Stuhl gepackt und gegen eine Wand geworfen; der Stuhl war zerbrochen. Und jetzt hätte er am liebsten alle, die für die Flucht der Gefangenen verantwortlich waren, zu Tode geprügelt.
Doch zwei von ihnen waren bereits tot. Und Miguel wußte nur zu gut, daß auch er nicht unschuldig war.
Ohne Frage hatte er viel zu wenig auf Disziplin geachtet. Aber das merkte er erst jetzt, als es schon zu spät war. Seit der Ankunft in Nueva Esperanza hatte er seine Aufsichtspflicht immer wieder vernachlässigt, vor allem in Situationen, in denen er besonders wachsam hätte sein sollen. So hatte er die Bewachung der Gefangenen bei Nacht ganz den anderen überlassen.
Der Grund für diese Schwäche war seine heimliche Zuneigung für Socorro.
Schon in dem Haus in Hackensack hatte er sie begehrt, vor der Entführung und danach. Noch jetzt erinnerte er sich an ihre provozierende Sexualität, als sie am Tag ihrer Abreise mit einem spöttischen Lächeln zu ihm gesagt hatte: »Das sind Röhrchen in den Schwänzen der Männer und in der Möse der Frau. Entiendes?«
Ja, er hatte verstanden. Er hatte auch verstanden, daß sie ihn verspottete, so wie sie alle anderen in Hackensack verspottete -zum Beispiel in der Nacht, als sie es so geräuschvoll mit Carlos trieb, was Rafael, den sie verschmäht hatte, fast wahnsinnig machte vor Eifersucht.
Aber damals hatte Miguel andere Dinge im Kopf, seine Verantwortung hatte ihn voll ausgefüllt, und er konnte sein Verlangen nach Socorro noch im Zaum halten.
In Nueva Esperanza war das anders gewesen.
Er haßte den Dschungel; er erinnerte sich noch gut an seine Gefühle am Tag ihrer Ankunft. Außerdem hatte er hier sehr wenig zu tun. An die Möglichkeit einer Flucht seiner Gefangenen hatte er nie ernsthaft gedacht; Nueva Esperanza lag so tief im Sendero-Territorium, daß er sich vollkommen sicher fühlte. Die Tage vergingen deshalb nur langsam, und auch die Nächte - bis Socorro ihn eines Tages erhörte und ihm die Tür zu einem Paradies öffnete.
Seitdem hatten sie jede Nacht miteinander geschlafen, und manchmal sogar am Tag. Er hatte noch nie eine so erfahrene und geschickte Geliebte gehabt. Doch schließlich war er ihr hörig geworden, und wie ein Drogensüchtiger, der nur an seinen nächsten Schuß dachte, hatte er fast alles andere vernachlässigt.
Jetzt mußte er für diese Sucht bezahlen.
In dieser Nacht hatte er, nach einem besonders ausführlichen Liebesspiel tief geschlafen. Vor etwa zwanzig Minuten war er dann wieder aufgewacht und hatte neben sich gegriffen, weil er noch einmal Lust auf Socorro hatte. Sie war verschwunden. Er wartete eine Weile auf sie, doch als sie nicht kam, stand er auf, um sie zu suchen. Seine Makarow, die er immer bei sich trug, nahm er mit.
Was er entdeckte, brachte ihn mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück.
Ich werde dafür bezahlen müssen, dachte er, wahrscheinlich sogar mit meinem Leben, wenn der Sendero Luminoso davon Wind bekommt und wenn es mir nicht gelingt, die Entflohenen erneut gefangenzunehmen. Deshalb mußte er sie aufspüren und zurückbringen - koste es, was es wolle.
Von Miguels Schüssen alarmiert, kamen jetzt die anderen Wachen aus ihren Hütten und liefen, mit Gustavo an der Spitze, zu ihm.
In ohnmächtiger Wut schrie er sie an: »Maldita escoria, imbeciles inservibles! Por su estupidez... Nunca vigilar! Solo dormir y tomar! Sin cuidar!... los presos de mierda se escaparon.«
Dann nahm er sich Gustavo vor: »Du verdammter, unfähiger Trottel! Ein räudiger Hund wäre ein besserer Anführer als du! Während du geschlafen hast, sind Fremde hier eingedrungen. Die haben dich offenbar überhaupt nicht gestört, du hast ihnen sogar noch geholfen. Also los! Ich will wissen, woher sie gekommen und wohin sie verschwunden sind. Die haben hundertprozentig irgendwelche Spuren hinterlassen.«
Gustavo schoß davon und war wenige Augenblicke später zurück. »Sie sind über den Fluß geflohen«, berichtete er. »Einige Boote sind verschwunden, andere versenkt!«
Wutentbrannt lief Miguel zum Landungssteg. Die Verwüstung, die er vorfand - Halteleinen zerschnitten, Boote und Motoren verschwunden, andere Boote im seichten Wasser auf Grund -, trieb ihn fast zur Raserei. Doch er wußte, daß er nichts erreichte, wenn er sich nicht wieder beruhigte und seinen Zorn beherrschte. Er zwang sich deshalb, rational zu denken.
»Ich will die zwei besten Boote, die noch da sind, jedes mit zwei Motoren«, befahl er Gustavo in Spanisch. »Aber nicht erst in zehn Minuten, sondern sofort! Nimm dir jeden Mann! Ich will niemand rumstehen sehen! Und dann läßt du die Männer mit Waffen und Munition am Landungssteg antreten!«
Er versuchte, die Flucht zu rekonstruieren. Die Befreier waren höchstwahrscheinlich mit dem Flugzeug in die Gegend gekommen; es war die schnellste und praktischste Transportmöglichkeit. Sie würden deshalb den Dschungel auf dem gleichen Weg wieder verlassen, wobei es allerdings unwahrscheinlich war, daß sie das bereits geschafft hatten.
Ramon hatte eben berichtet, daß Vincente ihn kurz nach 1 Uhr abgelöst hatte. Zu der Zeit waren die Gefangenen noch sicher in ihren Zellen. Auch wenn es kurz danach zu der Befreiung gekommen war, hatten die Flüchtenden maximal zwei Stunden Vorsprung. Doch Miguels Instinkt sagte ihm, daß es bedeutend weniger war. Gestützt wurde seine Vermutung durch die Tatsache, daß Socorros und Vincentes Leichen noch warm waren, als er sie fand.
Er überlegte weiter: Vom Fluß aus konnten sie zwei Landepisten erreichen. Die eine, die etwas näher lag, hatte keinen Namen, sie wurde ausschließlich zum Drogentransport benutzt. Die zweite war Sion, wo er und die anderen vor mehr als vierzehn Tagen mit den Gefangenen gelandet waren. Sion war fast doppelt so weit entfernt wie die erste Piste.
Da Miguel sich Gründe für die Benutzung jeder der beiden Pisten vorstellen konnte, beschloß er, ein Boot mit bewaffneten Männern zu der näheren zu schicken und eins nach Sion. Er selbst wollte in dem Boot nach Sion mitfahren.
Während er noch nachdachte, wurde am Landungssteg bereits hektisch gearbeitet. Zwei der versenkten Boote wurden ans Ufer gezogen und ausgeleert. Die Dorfbewohner halfen Miguels Männern, denn sie alle wußten, daß der Sendero Luminoso auch die Einheimischen bedenkenlos abschlachten würde, wenn sie nicht kooperierten. Ähnliches war schon mehrfach passiert.
Trotz der Eile dauerte es länger, als es Miguel recht sein konnte, bis sie aufbrachen. Doch wenige Minuten vor vier stießen die zwei Boote vom Steg ab und jagten mit Vollgas flußabwärts. Miguels Boot war um einiges schneller und ließ das andere bald hinter sich. Gustavo stand am Steuer.
Miguel spielte mit seiner Beretta, die er zusätzlich zur Makarow mitgenommen hatte, und spürte, wie die Wut wieder in ihm hochstieg. Er hatte noch immer keine Ahnung, wer die Gefangenen befreit hatte. Aber wenn er sie fand und zurückbrachte - lebend, wie er vorhatte -, würde er sie mit langsamen und schrecklichen Folterungen dafür büßen lassen.
18
Während die Cheyenne II der Aerolibertad in Lima vom Boden abhob, fiel Crawford Sloane eine Zeile aus einer längst vergangenen Zeit ein: ...auf den Schwingen des Morgens hinaus in die Weite des Meeres...
Tags zuvor, am Sonntag, hatten sie sich schon einmal auf den Schwingen des Morgens in die Luft erhoben, nicht hinaus aufs Meer, sondern ins Landesinnere, doch ohne Ergebnis. Auch jetzt ging es wieder ins Landesinnere - wieder in den Dschungel.
Rita saß neben Sloane in der zweiten Sitzreihe der Maschine. Vor ihnen saßen der Pilot, Oswaldo Zileri, und ein junger Kopilot, Felipe Guerra.
Bei ihrem dreistündigen Flug am Vortag hatten sie alle drei Treffpunkte überflogen. Obwohl Sloane immer rechtzeitig informiert wurde, hatte er Schwierigkeiten, die Pisten zu erkennen, so endlos und undurchdringlich wirkte die Selva aus der Luft. »Es ist wie in bestimmten Gegenden von Vietnam«, sagte er zu Rita, »nur sehr viel dichter.«
Während sie über den einzelnen Treffpunkten kreisten, suchten alle vier den Boden nach Signalen oder Anzeichen für Bewegung ab. Aber es war nirgends etwas zu entdecken.
Sloane hoffte verzweifelt, daß es heute anders sein würde.
Bei Tagesanbruch stieg die Cheyenne II über das Zentralmassiv der Kordilleren. Dahinter sank sie langsam auf die Selva und das obere Flußtal des Huallaga zu.
19
Partridge wußte, daß er sich verschätzt hatte. Sie waren viel zu spät dran.
Bei seiner Entscheidung für Sion hatte er nicht eingerechnet, daß sie Schwierigkeiten mit dem Boot bekommen könnten. Es passierte etwa zwei Stunden nach der Abfahrt von Nueva Esperanza, eine Stunde vor der Ankunft an ihrem geplanten Landeplatz.
Bis dahin waren beide Motoren laut, aber gleichmäßig gelaufen. Dann plötzlich drang aus dem Backbordmotor ein schriller Pfeifton. Ken O'Hara nahm sofort das Gas weg, ging in den Leerlauf und schaltete ab. Das Pfeifen hörte auf, und der Motor wurde still.
Der Steuerbordmotor lief weiter, doch das Boot kam nun deutlich langsamer vorwärts.
Partridge ging zum Heck und fragte O'Hara: »Kannst du das reparieren?«
»Ich fürchte nicht.« O'Hara hatte die Schutzhaube abgenommen und untersuchte die Maschine. »Der Motor ist überhitzt, deshalb der Pfeifton. Die Wasserzufuhr ist in Ordnung, also ist wahrscheinlich die Kühlwasserpumpe kaputt. Auch wenn ich Werkzeug hätte, um den Motor zu zerlegen, bräuchten wir Ersatzteile, und da wir beides nicht haben...« Er beendete den Satz nicht.
»Also nichts zu machen?«
O'Hara schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Harry.«
»Was passiert, wenn wir ihn einfach weiterlaufen lassen?«
»Dann läuft er noch kurze Zeit und erhitzt sich immer mehr. Irgendwann ist dann alles so heiß, daß Kolben und Zylinderblock verschmelzen. Danach ist er bloß noch Schrott.«
»Laß ihn laufen«, sagte Partridge. »Wenn wir sonst nichts tun können, dann holen wir eben das Letzte aus ihm raus.«
»Du bist der Käpt'n«, erwiderte O'Hara, obwohl er nur ungern einen Motor ruinierte, den man unter normalen Umständen hätte reparieren können.
Wie O'Hara vorausgesagt hatte, lief der Motor mit kreischendem Signalton und immer stärker werdendem Brandgeruch noch ein paar Minuten, setzte dann aus und ließ sich nicht mehr starten. Das Boot wurde sofort wieder langsamer, und Partridge sah ängstlich auf die Uhr.
Die Geschwindigkeit hatte sich schätzungsweise um die Hälfte reduziert, und das bedeutete, daß sie für den Rest der Strecke nicht eine, sondern zwei Stunden brauchen würden.
Schließlich dauerte es zweieinviertel Stunden, bis um 6 Uhr 50 ihre Landestelle in Sicht kam. Partridge und Fernandez hatten sie anhand der Karte erkannt und auch an den Anzeichen einer früheren Benutzung - Limonadedosen und anderem Abfall am Ufer. Nun mußten sie die drei Meilen des schwierigen Dschungelpfades nach Sion in einer Stunde zurücklegen. Das war viel weniger Zeit, als er geplant hatte. War das überhaupt noch zu schaffen?
»Wir müssen es schaffen«, sagte Partridge und erklärte Jessica und Nicky ihr Problem. »Es wird sehr anstrengend werden, aber wir haben keine Zeit für Ruhepausen, und wenn nötig, werden wir uns gegenseitig helfen. Fernandez wird uns führen. Ich übernehme die Rückendeckung.«
Minuten später setzte der Kiel auf dem Ufersand auf, und die Gruppe watete durch das seichte Wasser an Land. Direkt vor ihnen lag eine Öffnung in der ansonsten undurchdringlichen Dschungelwand.
Hätten sie mehr Zeit gehabt, hätte Partridge versucht, das Boot zu verstecken oder es in die Flußmitte zu stoßen und treiben zu lassen. So aber mußten sie es am Ufer liegenlassen.
Kurz vor Betreten des Dschungels blieb Fernandez plötzlich stehen und brachte die anderen mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er legte den Kopf schief und lauschte angestrengt in die stille Morgenluft. Er war vertrauter mit dem Dschungel als die anderen und konnte dessen Geräusche besser unterscheiden. »Hört ihr?« fragte er leise.
Partridge lauschte nun ebenfalls und glaubte, aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, ein leises Brummen zu hören. Er war sich nicht ganz sicher und fragte deshalb: »Was ist das?«
»Ein anderes Boot«, antwortete Fernandez. »Es ist noch ziemlich weit entfernt, kommt aber schnell näher.«
Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, drangen sie in den Dschungel ein.
Der Pfad war bei weitem nicht so schwierig wie der, den Partridge und die anderen drei Tage zuvor bewältigt hatten. Offensichtlich wurde er häufiger benutzt, denn er war nur leicht überwuchert und an keiner Stelle unpassierbar.
Trotzdem hatte er seine Tücken. Unebener Boden, vorstehende Wurzeln und weiche Stellen, wo man bis zu den Knöcheln in Schlamm oder Wasser versank, waren ständige Gefahrenquellen.
»Paßt auf, wo ihr hintretet«, sagte Fernandez, der an der Spitze des Zuges marschierte und ein sehr forsches Tempo vorgab.
Partridge nahm die Warnung auf und versuchte einen Witz daraus zu machen, um die anderen bei Laune zu halten. »Wir wollen keinen tragen müssen. Ich schwitze auch so schon genug.«
Auch die anderen litten unter der drückenden, feuchten Hitze, die im Lauf des Tages noch schlimmer werden sollte. Die
Insekten waren nicht weniger lästig.
Eine Frage beschäftigte Partridge vor allem: Wie lange konnten Jessica und Nicky es unter diesen mörderischen Bedingungen aushalten? Nach einer Weile merkte er, daß Jessica es schaffen würde; sie hatte die nötige Entschlossenheit und offensichtlich auch die Kraft. Doch Nicky zeigte bereits die ersten Anzeichen von Schwäche.
Anfangs hatte Nicky sich am Ende des Zuges gehalten, er wollte, wie schon zuvor, bei Partridge sein. Aber Partridge bestand darauf, daß er und Jessica an der Spitze, direkt hinter Fernandez, gingen. »Wir können später noch Zusammensein, Nicky«, sagte er. »Aber jetzt will ich, daß du bei deiner Mutter bleibst.« Nicky hatte nur widerstrebend gehorcht.
Da Partridge annahm, daß das Boot, das sie gehört hatten, ihre Verfolger brachte, machte er sich auf einen Angriff von hinten gefaßt. Falls es dazu kommen würde, wollte er versuchen, ihn abzuwehren, während die anderen weitermarschierten. Die Kalaschnikow über seiner Schulter war schußbereit, und die Reservenmagazine steckten in einer Außentasche, so daß er mit einem Handgriff nachladen konnte.
Wieder sah Partridge auf die Uhr: 7 Uhr 35. Sie waren schon fast vierzig Minuten unterwegs. Partridge dachte an den Termin um 8 Uhr und hoffte, daß sie bereits drei Viertel der Strecke zurückgelegt hatten.
Minuten später waren sie zum Anhalten gezwungen.
Nachträglich gesehen erschien es wie eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet Fernandez, der die anderen zur Vorsicht ermahnt hatte, sich in einem im Schlamm verborgenen Wurzelgeflecht verfing und schwer stürzte. Als Partridge zu ihm kam, wurde er bereits von Minh gestützt, während O'Hara versuchte, seinen Fuß zu befreien. Fernandez verzog vor Schmerzen das Gesicht.
»Sieht so aus, als hätte ich einen Fehler gemacht«, sagte er zu Partridge. »Tut mir leid. Ich habe euch im Stich gelassen.«
Als der Fuß wieder frei war, konnte Fernandez nur unter starken Schmerzen auftreten. Sein Knöchel war entweder gebrochen oder schwer verstaucht.
»Das ist nicht wahr; du hast uns nie im Stich gelassen«, sagte Partridge. »Du warst unser Führer und ein guter Kamerad. Wir werden eine Trage für dich bauen. Dann schaffen wir das schon.«
Fernandez schüttelte den Kopf. »Auch wenn's möglich wäre, dazu ist keine Zeit. Ich hab' zwar bisher nichts gesagt, Harry, aber ich habe hinter uns Geräusche gehört. Sie verfolgen uns und sind schon ziemlich nahe. Ihr müßt weitergehen, ich bleibe hier.«
Jessica kam dazu. »Wir können ihn doch nicht hierlassen«, sagte sie zu Partridge.
»Einer von uns kann ihn auf den Rücken nehmen«, sagte O'Hara. »Ich werde es versuchen.«
»In dieser Hitze?« Fernandez klang ungeduldig. »Keine hundert Meter weit würdest du kommen, und ihr müßtet alle viel langsamer gehen.«
Partridge wollte selber protestieren, merkte aber, daß es sinnlos war. Fernandez hatte recht, es gab keine andere Möglichkeit, als ihn zurückzulassen. So sagte er nur: »Wenn es irgendwie geht, kommen wir zurück und holen dich.«
»Vergeudet keine Zeit mehr. Ich will nur noch schnell ein paar Dinge sagen.« Fernandez saß an einen Baum gelehnt neben dem Pfad. Das Unterholz war zu dicht, um ihn weiter hineinzusetzen. Partridge und Jessica knieten sich neben ihn.
»Ich habe eine Frau und vier Kinder«, sagte Fernandez. »Ich möchte gern in dem Bewußtsein sterben, daß sich jemand um sie kümmert.«
»Du arbeitest für CBA«, erwiderte Partridge, »und CBA wird für sie sorgen. Ich gebe dir mein Wort, das ist ein offizielles Versprechen. Die Ausbildung der Kinder - alles.«
Fernandez nickte und wies dann auf das M-16, das er getragen hatte. »Das Gewehr nehmt besser ihr. Ihr werdet es brauchen. Aber ich habe nicht die Absicht, am Leben zu bleiben. Ich hätte gern eine Pistole.«
Partridge zog seine Browning aus der Tasche, schraubte den Schalldämpfer ab und gab sie ihm.
»Oh, Fernandez!« Jessicas Stimme klang erstickt, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Nicky und ich verdanken dir so viel.« Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Stirn.
»Jetzt geht endlich!« drängte Fernandez. »Verliert keine Zeit mehr, sonst war alles umsonst, was wir bis jetzt erreicht haben!«
Während Jessica aufstand, nahm Partridge Fernandez in den Arm und küßte ihn auf beide Wangen. Hinter ihm warteten Minh und O'Hara, die Fernandez ebenfalls zum Abschied umarmen wollten.
Partridge stand auf und ging weg. Er drehte sich nicht mehr um.
Als Miguel das Boot am Ufer vor dem Dschungelpfad liegen sah und erkannte, daß es eins aus ihrer Flotte war, war er froh, daß er im Boot nach Sion mitgefahren war.
Es freute ihn noch mehr, als Ramon, der sofort nach dem Anlegen zu dem anderen Boot gelaufen war, herüberrief: »Un motor estä caliente, el otro frio - fundido.«
Der noch heiße Motor bedeutete, daß die Flüchtenden noch nicht sehr lange im Dschungel sein konnten. Der kalte ausgebrannte Motor wies darauf hin, daß das Boot nur mit halber Kraft gefahren und deshalb verspätet hier angekommen war.
Neben Miguel gehörten sieben Mann zu der Sendero-Truppe.
In Spanisch rief Miguel nun den Männern zu: »Der bourgeoise Abschaum kann noch nicht weit sein. Wir werden sie fangen und bestrafen. Wir müssen nur ebenso schnell sein wie Guzmans Zorn!«
Unter heiserem Lachen machten sie sich auf den Weg.
»Wir sind ein paar Minuten zu früh dran«, sagte Rita Abrams zu Oswaldo Zileri, dem Piloten der Cheyenne II, als sie die Landepiste bei Sion anflogen - ihr erstes Ziel. Kurz zuvor hatte sie auf die Uhr gesehen: 7 Uhr 55.
»Wir werden kreisen und beobachten«, erwiderte der Pilot. »Aber es ist unwahrscheinlich, daß Ihre Freunde hierher kommen.«
Wie schon am Tag zuvor spähten alle vier - Rita, Crawford Sloane, Zileri und Felipe, der Kopilot - hinunter auf das dichte grüne Blätterdach. Sie suchten nach Anzeichen von Bewegung, vor allem in der Umgebung der kurzen, von Bäumen gesäumten Landepiste, die nur zu erkennen war, wenn die Maschine sich direkt darüber befand. Doch auch an diesem Tag war nichts zu erkennen.
Für Nicky wurde es allmählich immer schwieriger, bei dem mörderischen Tempo mitzuhalten. Jessica und Minh halfen ihm, nahmen ihn bei den Armen und zogen oder hoben ihn über besonders schwierige Stellen. Irgendwann mußte Nicky getragen werden, doch für den Augenblick sparten sich die anderen noch ihre Kräfte auf.
Fernandez hatten sie vor etwa zehn Minuten zurückgelassen. Nun führte Ken O'Hara die Gruppe an. Partridge lief am Ende wie schon zuvor und sah sich immer wieder um. Bis jetzt hatte er noch nichts entdecken können.
Das Blätterdach über ihren Köpfen schien etwas durchlässiger zu werden, Sonnenlicht brach durch die Äste und auch der Weg war breiter geworden. Partridge schloß daraus, daß sie sich der Landepiste näherten. Er glaubte auch, in der Entfernung das Geräusch eines Flugzeugs gehört zu haben, aber er war sich nicht sicher. Wieder sah er auf die Uhr: fast 7 Uhr 55.
In diesem Augenblick kam von irgendwo hinter ihnen ein kurzes krachendes Geräusch - eindeutig ein einzelner Schuß. Es konnte nur Fernandez gewesen sein, dachte Partridge. Mit diesem Schuß aus der Browning, von der Partridge bewußt den Schalldämpfer abgeschraubt hatte, erwies der verläßliche Kontaktmann den anderen einen letzten Dienst - er warnte sie vor den heranrückenden Verfolgern. Wie zur Bestätigung folgten kurz darauf weitere Schüsse.
Vielleicht glaubten die Verfolger, als sie den vermutlich bereits toten Fernandez am Wegrand liegen sahen, auch die anderen seien in der Nähe, und feuerten wild drauflos. Augenblicke später hörte die Schießerei wieder auf.
Partridge war am Rande der Erschöpfung. In den letzten Stunden hatte er kaum geschlafen und sich das Äußerste abverlangt. Jetzt hatte er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.
In einem dieser Augenblicke des gedanklichen Abschweifens merkte er plötzlich, daß er sich nichts sehnlicher wünschte als Entspannung von der permanenten Hektik seines aktionsgeladenen Lebens... Wenn dieses Abenteuer überstanden war, wollte er den abgebrochenen Urlaub fortsetzen, er würde einfach verschwinden und nicht verfügbar sein... Vielleicht sollte er Vivien mitnehmen, die einzige Frau, deren Liebe für ihn erreichbar war. Jessica und Gemma gehörten der Vergangenheit an, Vivien konnte die Zukunft sein. Vielleicht hatte er sie bis jetzt unfair behandelt, vielleicht sollte er doch an eine Heirat denken... Es war noch nicht zu spät... Er wußte, daß Vivien es sehr gern hätte...
Dann zwang er seine Gedanken in die Gegenwart zurück.
Plötzlich endete der Dschungel. Die Landepiste war in Sicht! Über ihren Köpfen kreiste ein Flugzeug - eine Cheyenne. Ken O'Hara - zuverlässig bis zum letzten, dachte Partridge - lud bereits eine grünmarkierte Patrone in die Signalpistole, die er die ganze Zeit bei sich getragen hatte. Grün für Normal landen, alles in Ordnung.
Im selben Augenblick krachten hinter ihnen zwei weitere Schüsse, doch diesmal schon viel näher.
»Schick eine rote Patrone hoch, keine grüne!« schrie Partridge O'Hara zu. »Aber schnell!«
Rot für Schnell landen, wir sind in Gefahr!
Es war bereits einige Minuten nach acht. In der Cheyenne II über der Landepiste drehte sich Zileri zu Rita und Sloane um. »Hier rührt sich nichts«, sagte er. »Wir fliegen jetzt die beiden anderen Treffpunkte an.«
Das Flugzeug drehte ab. Doch plötzlich rief Crawford Sloane: »Moment noch! Ich glaube, ich habe etwas gesehen!«
Zileri nahm wieder Kurs auf die Piste. »Wo?« fragte er.
»Irgendwo da unten«, erwiderte Sloane. »Ich weiß nicht genau, wo. Einen Augenblick lang... habe ich gedacht...« In seiner Stimme war die Unsicherheit deutlich zu hören.
Zileri umkreiste die Piste, und alle vier suchten sorgfältig das Terrain ab. Schließlich sagte der Pilot. »Ich sehe nichts. Ich glaube, wir sollten weiterfliegen.«
In diesem Augenblick schoß eine rote Signalpatrone vom Boden hoch.
O'Hara feuerte eine zweite Patrone ab.
»Das reicht. Sie haben uns gesehen«, sagte Partridge. Die Maschine flog bereits auf die Piste zu. Jetzt mußte er nur noch wissen, aus welcher Richtung das Flugzeug einfliegen würde. Dann könnte er sich die günstigste Position aussuchen, um die Verfolger aufzuhalten, während die anderen an Bord gingen.
Die Absicht des Piloten wurde sofort klar. Die Cheyenne beschrieb eine enge Kurve, verlor dabei rasch an Höhe und würde dicht über ihren Köpfen zur Landung ansetzen. Sie würde schließlich am anderen Ende der Piste zum Stehen kommen, also in entgegengesetzter Richtung zum Dschungelpfad, von dem die Schüsse kamen.
Partridge sah hinter sich, konnte aber trotz der Schüsse die Verfolger noch nicht erkennen. Den Grund für die Schießerei konnte er nur erraten. Vielleicht feuerte einer im Laufen ziellos um sich, in der Hoffnung auf einen Zufallstreffer.
»Lauf mit Jessica und Nicky die Piste entlang und bleib bei ihnen!« rief er O'Hara zu. »Die Maschine wird am anderen Ende umdrehen und zurückrollen. Rennt ihr entgegen und steigt sofort ein. Du auch Minh. Hast du verstanden?«
»Verstanden.« Minh hatte die Kamera am Auge und filmte seelenruhig, wie er es schon mehrmals während der Flucht getan hatte. Partridge beschloß, sich nicht weiter um Minh zu kümmern. Der würde schon selber auf sich aufpassen.
»Und was ist mit dir, Harry?« fragte Jessica besorgt.
»Ich werde euch mit der Kalaschnikow den Rücken freihalten. Sobald ihr an Bord seid, komme ich nach. Aber jetzt los!«
O'Hara legte den Arm um Jessica, die Nicky an seiner gesunden Hand hielt. Zu dritt eilten sie davon.
Im selben Augenblick sah Partridge am Dschungelrand einige Gestalten auftauchen, die mit ihren Waffen im Anschlag auf die Piste zuliefen.
Partridge ließ sich hinter einen kleinen Erdhügel fallen. Er lag auf dem Bauch, stützte die Kalaschnikow ab und nahm die Verfolger ins Visier. Er drückte ab und sah durch das Mündungsfeuer einen der Männer fallen und die anderen hastig in Deckung springen. Gleichzeitig hörte er dicht über seinem Kopf das Dröhnen der Cheyenne II. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß sie landete.
»Dort sind sie!« rief Crawford Sloane, beinahe hysterisch vor Aufregung. »Ich kann sie sehen. Es sind Jessica und Nicky!« Mit hoher Geschwindigkeit holperte die Maschine über die unebene Piste.
Das Ende der Rollbahn kam immer näher, und Zileri bremste scharf ab. Er blieb auf der Bremse, gab bei einem Motor Gas und wendete so die Maschine. Dann beschleunigte er wieder beide Motoren, und die Cheyenne rollte in Gegenrichtung die Piste entlang.
An der Stelle, wo Jessica, Nicky und O'Hara warteten, blieb die Maschine stehen. Felipe war bereits aufgesprungen und nach hinten gegangen. Er löste die Verriegelung der Kabinentür und klappte sie auf.
Hilfsbereite Hände halfen zuerst Nicky, dann Jessica und O'Hara ins Flugzeug. Minh kam gelaufen und kletterte hinter den anderen in die Maschine.
Während Sloane, Jessica und Nicky sich leidenschaftlich umarmten, rief O'Hara atemlos: »Harry ist noch da vorn. Wir müssen ihn holen. Er hält die Terroristen in Schach.«
»Hab' ihn schon gesehen«, sagte Zileri. »Kein Problem.« Er gab Gas, und die Maschine schoß vorwärts.
Am anderen Ende der Rollbahn wendete er das Flugzeug erneut. Es stand nun wieder so, wie es gelandet war, startbereit, aber noch mit geöffneter Kabinentür. Wieder hörte man Gewehrfeuer.
»Euer Freund muß sich beeilen.« Zileris Stimme klang eindringlich. »Ich will schleunigst von hier weg.«
»Keine Sorge«, entgegnete Minh. »Er hat uns gesehen und muß gleich da sein.«
Partridge hatte die Maschine gesehen und gehört. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und wußte, daß sie nicht mehr näher kommen würde. Ungefähr hundert Meter lagen zwischen ihm und dem Flugzeug. Wenn er schnell lief und sich geduckt hielt, konnte er es schaffen. Doch zuerst mußte er den Dschungelpfad noch einmal unter Beschuß nehmen, um die Sendero-Leute am Vordringen zu hindern. In den letzten Minuten waren noch mehr Männer aufgetaucht, Partridge hatte geschossen und einen weiteren zu Boden gehen sehen. Die anderen duckten sich in den Schutz der Bäume. Mit einem letzten Feuerstoß hoffte er, sie lange genug dort zu halten, um das Flugzeug erreichen zu können.
Eben hatte er ein neues Magazin in die Kalaschnikow eingelegt. Er drückte ab, hielt den Finger am Abzug und bestrich beide Seiten des Dschungelpfads mit einem tödlichen Kugelhagel. Schon seit Beginn des Schußwechsels spürte er wieder seinen alten Schlachtinstinkt in sich... diesen sinnlichen Kitzel, der ihm das Adrenalin ins Blut jagte und seinen Kreislauf auf Hochtouren brachte... diese unlogische, verrückte Sucht nach den Bildern und den Geräuschen des Krieges...
Er leerte das Magazin, ließ dann die Waffe fallen, sprang auf und stürzte geduckt los. Das Flugzeug war vor ihm. Er wußte, daß er es schaffen würde!
Partridge hatte etwa ein Drittel der Strecke zurückgelegt, als eine Kugel ihn ins Bein traf. Er fiel sofort zu Boden. Alles ging so schnell, daß er einige Sekunden brauchte, bis er begriff, was passiert war.
Die Kugel war in die rechte Kniekehle eingedrungen und hatte das Gelenk zertrümmert. Er konnte nicht mehr weiter. Ein entsetzlicher Schmerz, schlimmer, als er es je für möglich gehalten hätte, raste in seinem Bein. In diesem Augenblick wußte er, daß er das Flugzeug nicht mehr erreichen würde. Er wußte auch, daß für die anderen keine Zeit mehr blieb. Die Maschine mußte starten. Und er mußte das tun, was Fernandez vor kaum einer halben Stunde getan hatte.
Er nahm noch einmal alle Kraft zusammen, erhob sich und winkte der Cheyenne zu. Er hoffte nur, daß der Pilot sein Signal verstand und sofort startete.
Minh stand in der Tür der Maschine und filmte. Er hatte Partridge mit dem Zoom in Großaufnahme herangeholt und natürlich auch den Treffer und Partridges Sturz eingefangen. Der Kopilot stand neben ihm.
»Es hat ihn erwischt!« rief Felipe ins Innere der Kabine. »Sieht schlimm aus. Er winkt uns zu. Ich glaube, er will, daß wir starten.«
Sloane schob sich zur Tür. »Wir müssen ihn holen!«
»Ja! Oh ja!« rief Jessica.
»Bitte fliegt nicht ohne Harry!« flehte nun auch Nicky.
Es war Minh, der kriegserfahrene Realist, der sagte: »Wir können ihn nicht holen. Dazu ist keine Zeit mehr.«
Durch seine Kamera hatte Minh das Vorrücken der SenderoLeute beobachtet. Einige der Männer hatten den Rand der Piste bereits erreicht und liefen ununterbrochen feuernd vorwärts. Schon trafen einige Kugeln das Flugzeug.
»Ich starte«, sagte Zileri. Die Klappen waren bereits in Startposition, nun drückte er die Gashebel nach vorn. Minh sprang hastig in die Kabine, Felipe zog die Tür hoch und verriegelte sie.
Sobald die Startgeschwindigkeit erreicht war, zog Zileri die Steuersäule zurück. Die Cheyenne verließ die Piste und stieg in die Luft. Jessica und Nicky hielten sich in den Armen und weinten. Sloane hatte die Augen fest geschlossen und schüttelte langsam den Kopf, als könne er nicht glauben, was er eben gesehen hatte.
Minh hatte die Kamera schon wieder am Auge und filmte durch ein Fenster die Szene unter ihnen.
Partridge sah die Cheyenne abfliegen.
Und er sah noch etwas anderes. Im Nebel seiner Schmerzen tauchte an der Tür der startenden Maschine eine lächelnde Gestalt in einer Uniform der Alitalia auf. Sie winkte.
Partridges Tränen, die er so lange zurückgehalten hatte, begannen nun wieder zu fließen. Dann starb er im Kugelhagel der heranstürmenden Verfolger.
20
Miguel sah hinunter auf Harry Partridges Leiche und schwor sich, daß er ein solches Fiasko nie wieder zulassen würde.
Im ersten, dem komplizierten und schwierigen Abschnitt der Entführung, war er außergewöhnlich erfolgreich gewesen. Aber im zweiten, der eigentlich einfach und unkompliziert hätte sein sollen, hatte er vollkommen versagt.
Die Lektion war eindeutig: Einfach und unkompliziert war nie etwas. Das hätte er eigentlich wissen müssen.
Von nun an würde er es nie mehr vergessen.
Aber was kam jetzt?
Als erstes mußte er Peru verlassen. Sein Leben war verspielt, wenn er blieb; der Sendero Luminoso würde dafür sorgen.
Er konnte nicht einmal mehr nach Nueva Esperanza zurückkehren.
Glücklicherweise hatte er auch keinen Grund dafür. Da er ein Scheitern des Unternehmens einkalkuliert hatte, hatte er vor der Abfahrt sein gesamtes Bargeld - darunter auch den Großteil der fünfzigtausend Dollar, die Jose Antonio Salaverry ihm bei dem letzten Treffen in den Vereinten Nationen übergeben hatte - in seinen Geldgürtel gesteckt. Jetzt spürte er ihn - unbequem, aber beruhigend.
Das Geld war mehr als genug, um ihn von Peru nach Kolumbien zu bringen. Zunächst wollte er im Dschungel untertauchen. In etwa fünfundzwanzig Kilometern Entfernung gab es eine Landepiste, die häufig von kolumbianischen Drogenkurieren benutzt wurde. Er wußte, daß er sich dort einen Flug nach Kolumbien kaufen konnte. Und Kolumbien bedeutete für ihn Sicherheit.
Falls ihn einer der Männer aus Nueva Esperanza aufhalten wollte, würde er ihn töten. Aber er glaubte nicht, daß es überhaupt einer versuchen würde. Von den sieben, mit denen er aufgebrochen war, lebten nur noch vier. Ramon und zwei andere waren von dem gringo getötet worden, der jetzt zu Miguels Füßen lag - ein Unbekannter, aber ein guter Schütze.
Zwar würde sogar sein Ruf in Kolumbien unter dem Debakel in Nueva Esperanza leiden, doch nicht für lange. Im Gegensatz zum Sendero Luminoso waren die kolumbianischen Drogenkartelle keine Fanatiker. Skrupellos waren sie, aber auch pragmatisch und geschäftsbewußt. Und Miguels anarchistisch terroristische Talente waren sehr gefragt. Die Kartelle brauchten ihn.
Erst vor kurzem hatte Miguel von dem Plan erfahren, langfristig eine ganze Reihe kleinerer und mittlerer Staaten ähnlich wie Kolumbien unter die Herrschaft der Drogenkartelle zu bringen. Miguels spezielle Fähigkeiten wurden bei diesem Projekt sicher Verwendung finden.
Als Demokratie war Kolumbien inzwischen am Ende. Nur wenige demokratische Aushängeschilder waren noch vorhanden, doch auch davon gab es immer weniger, da die milliardenschweren Kartellbosse ihre Killerkommandos systematisch auf die verschwindend kleine Minderheit ansetzte, die noch an die althergebrachten Tugenden glaubte.
Was nötig war, um auch andere Länder zu Kopien Kolumbiens zu machen, war die Korrumpierung ihrer Regierungskreise, eine Korrumpierung, die den Kartellen Türen aufstieß und Handlungsmöglichkeiten verschaffte. Heimlich und in aller Stille konnten sie dann ihren Einfluß ausdehnen, bis sie schließlich mächtiger waren als die Regierungen selbst. War das erst einmal geschehen, gab es kein Zurück mehr, was ja an Kolumbien deutlich zu sehen war.
Im Augenblick waren vier Länder als mögliche Ziele dieser »Kolumbianisierung« im Gespräch: Bolivien, El Salvador, Guatemala und Jamaica. Später konnte die Liste erweitert werden.
Für ihn mit seiner einzigartigen Erfahrung und der fast schon unheimlichen Fähigkeit zum Überleben bedeutete das sicher für lange Zeit Arbeit, dachte Miguel.
21
Einige Minuten lang brachte keiner in der Cheyenne II auch nur ein Wort heraus. Crawford Sloane drückte Jessica und Nicky eng an sich, und die drei schienen alles um sich herum vergessen zu haben.
Schließlich hob Crawford Sloane den Kopf und fragte Minh Van Canh: »Sag mal... als Harry da lag, hast du da noch Genaueres beobachten können?«
Minh nickte traurig. »Ich hatte ihn voll im Visier. Er wurde noch mehrmals getroffen. Es gibt keinen Zweifel mehr.«
Sloane seufzte: »Er war der Beste...«
Minh unterbrach ihn, und seine Stimme klang ungewöhnlich fest. »Der Allerbeste. Als Korrespondent und als Mensch. Ich kenne eine ganze Menge, aber keinen, der Harry gleichkam.« Es klang fast wie eine Herausforderung. Minh kannte Sloane und Partridge gleich lang.
War es als Herausforderung gemeint, so ging Sloane nicht darauf ein. »Ja, du hast recht.«
Jessica und Nicky hörten nur zu, sie waren beide mit eigenen Gedanken beschäftigt.
Rita war die erste, die wieder an ihre berufliche Verantwortung dachte. »Kann ich die Aufnahmen sehen?« fragte sie Minh. Sie wußte, daß sie, trotz Harrys Tod, in einer knappen Stunde in Lima einen Bericht zusammenstellen mußte.
Sie wußte auch, daß sie eine weltweit exklusive Story besaß.
Minh spulte zurück und gab Rita die Betacam. Durch den Sucher betrachtete sie die Aufnahmen. Wie immer, hatte Minh das Wesentliche jedes Ereignisses gefilmt. Die Bilder waren hervorragend. Einige der letzten - Harrys Verwundung, sein Tod im Kugelhagel - waren eindrucksvoll und bewegend. Als Rita die Kamera zurückgab, waren ihre Augen feucht, doch sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. Im Augenblick hatte sie keine Zeit, Harry zu beweinen oder um ihn zu trauern. Beides würde später kommen, wahrscheinlich in der Nacht, wenn sie allein war.
»Hatte Harry eigentlich jemand - eine Freundin?« fragte jetzt Sloane. »Ich weiß nur, daß er nach Gemma nicht wieder geheiratet hat.«
»Ja, da gibt es jemand«, antwortete Rita. »Vivien heißt sie. Sie ist Krankenschwester und lebt in einem Ort namens Port Credit, außerhalb von Toronto.«
»Wir sollten sie anrufen. Ich rede mit ihr, wenn du willst.«
»Ja, das wäre gut«, sagte Rita. »Und wenn du anrufst, sag ihr, daß Harry ein Testament aufgesetzt hat und daß ich es habe. Er hat alles ihr hinterlassen. Vivien weiß es zwar noch nicht, aber sie ist jetzt reich. Wie's aussieht, hat Harry sein Geld in sämtlichen Steueroasen auf der ganzen Welt angelegt. Dem Testament ist eine Liste beigefügt.«
Während des Gesprächs hatte Minh Jessica und Nicky gefilmt, ohne daß sie es bemerkten. Rita sah, daß er die Kamera auf Nickys bandagierte rechte Hand gerichtet hatte. Das erinnerte sie an etwas, das sie aus Lima mitgebracht hatte. Sie griff in ihre Aktenmappe und zog ein Telegramm heraus, das bei Entel Peru für sie eingetroffen war.
»Bevor Harry losflog«, sagte sie den anderen, »hat er mich gebeten, ein Telegramm an einen Freund zu schicken - an einen Chirurgen aus Oakland in Kalifornien. Harry meinte, er sei einer der führenden Experten für Handverletzungen. In dem Telegramm ging es um Nicholas. Und das ist die Antwort.«
Sie gab das Telegramm Sloane, der es laut vorlas.
HABE DEINE INFO UND ZEITUNGSBERICHT ÜBER HAND DEINES JUNGEN FREUNDES GELESEN. PROTHESEN NICHT EMPFEHLENSWERT, DA KEINE HILFE BEI KLAVIERSPIELEN, SIND HOECHSTENS IM WEG. MOEGLICHE ALTERNATIVE: SOLLTE LERNEN, HAND ZU DREHEN, BIS FINGERSTUEMPFE IN KONTAKT MIT KLAVIERTASTEN KOMMEN. HAT UEBRIGENS GLUECK, DA DIESES VORGEHEN BEI VERLUST ANDERER FINGER NICHT MOEGLICH. FUNKTIONIERT NUR BEI ZEIGEFINGER UND KLEINEM FINGER.
ERLERNUNG DER DREHTECHNIK ERFORDERT GEDULD UND BEHARRLICHKEIT, IST ABER BEI ENTSPRECHENDER MOTIVATION MACHBAR. HABE PATIENTIN, DIE GLEICHE FINGER VERLOR UND JETZT KLAVIER SPIELT. WUERDE MICH FREUEN, DIE BEIDEN ZUSAMMENZUBRINGEN, WENN DU WILLST.
PASS GUT AUF DICH AUF, HARRY. VIELE GRUESSE JACK TUPPER, M. D.
Nach kurzem Schweigen sagte Nicky: »Darf ich das mal sehen, Dad?« Sloane gab ihm das Blatt.
»Verlier es nicht!« ermahnte Jessica Nicky. »Es ist ein Erinnerungsstück an Harry.« Die spontane, enge Kameradschaft zwischen Harry und Nicky war nur sehr kurz gewesen, dachte sie, aber in dieser Zeit sehr schön.
Jetzt fielen ihr wieder Nickys verzweifelte Worte ein, die er in Nueva Esperanza zu Harry gesagt hatte: »Sie haben meinen Opa getötet und mir zwei Finger abgeschnitten, und jetzt kann ich nie mehr Klavier spielen.« Natürlich konnte Nicky jetzt kein Konzertpianist mehr werden, wie er es sich erträumt hatte. Aber er würde weiterhin Klavier spielen und seine Freude an der Musik auf andere Arten ausleben.
Nicky las das Telegramm, er hielt es in der linken Hand, und allmählich erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Er versuchte die Drehbewegung bereits mit der bandagierten Hand.
»Harry hat so viel für uns getan, daß wir ihm ewig dankbar sein werden«, sagte Crawford Sloane.
»Und auch Fernandez«, ergänzte Jessica. Sie hatten bereits über die Opferbereitschaft des Kontaktmannes gesprochen. Jetzt berichtete sie Crawford und Rita von dem Versprechen, das Harry ihm gegeben hatte.
Fernandez hatte von seiner Frau und seinen vier Kindern erzählt und gebeten, daß man sich um sie kümmere, worauf Harry ihm versprach: »Du arbeitest für CBA, und CBA wird dafür sorgen. Ich gebe dir mein Wort, das ist ein offizielles Versprechen. Die Ausbildung der Kinder - alles.«
»Wenn Harry das versprochen hat«, sagte Crawf, »dann hat er es als Vertreter von CBA getan. Gleich nach unserer Rückkehr werde ich dafür sorgen, daß alles in diesem Sinne geregelt wird.«
»Die Sache hat nur einen Haken«, gab Rita zu bedenken. »Harry hat das gesagt, als er schon entlassen war, obwohl er es nicht wußte.«
Minh, der zugehört hatte, sah überrascht auf, und Rita wurde plötzlich wieder klar, daß kaum jemand etwas von Chippinghams Entlassungsschreiben wußte.
»Das ist gleichgültig«, erwiderte Sloane. »Harrys Versprechen wird respektiert.«
»Da ist aber noch etwas«, sagte Rita. »Sollen wir Harrys Entlassung in unserem heutigen Bericht erwähnen?«
»Nein«, antwortete Sloane entschieden. »Das ist interne
Schmutzwäsche. Die werden wir nicht in der Öffentlichkeit waschen.«
Es wird aber trotzdem herauskommen, dachte Rita. Früher oder später.
Crawf wußte noch nichts von dem Hundesohn-Schreiben, das sie über das Hufeisen an Chippingham gefaxt hatte. Innerhalb einer Woche würde es wahrscheinlich in der Times oder der Washington Post auftauchen. Und wenn nicht dort, dann später in der Columbia Journalism Review oder der Washington Journalism Review. Und wenn schon!
Dabei fiel Rita ein, daß sie, aufgrund ihres Briefes, wahrscheinlich ebenfalls bereits entlassen war. Schließlich hatte sie ja unter anderem auch mit »Ex-Produzentin« unterzeichnet. Aber wie sich die ganze Sache auch entwickelte, den augenblicklichen Auftrag wollte sie noch zu Ende bringen.
Jetzt meldete sich Jessica. »Da ist eine Sache, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Diese Piste, von der wir eben gestartet sind.«
»Sion«, ergänzte Rita.
Jessica nickte. »Auf dem Dschungelpfad und dann auf der Piste hatte ich das Gefühl, daß ich da schon einmal war. Ich glaube, die Entführer haben uns zuerst dorthin gebracht, und dort sind wir auch aus der Bewußtlosigkeit aufgewacht. Nur wußte ich damals nicht, daß das eine Landepiste ist. Und dann noch etwas.«
»Erzähl«, sagte Rita. Sie hatte einen Block in der Hand und schrieb mit.
»Da war ein Mann in der Hütte, in der wir gefangengehalten wurden. Ich weiß nicht, wer oder was er war, aber ich bin sicher, daß er Amerikaner war. Ich habe ihn gebeten, uns zu helfen, er hat aber nicht darauf reagiert. Doch ich habe das hier.«
Am Tag zuvor hatte sie ihre Zeichnung unter der Matte in der Zelle hervorgeholt und in ihrem BH versteckt. Nun gab sie Rita die Skizze.
Es war das Porträt des Learjetpiloten Denis Underhill. »Heute abend«, sagte Rita, »werden wir das in den National Evening News bringen. Bei zwanzig Millionen Zuschauern sollte doch jemand dabeisein, der ihn identifizieren kann.«
Die Cheyenne gewann noch immer an Höhe und näherte sich dem Gebirgsmassiv der Kordilleren. Rita sah auf die Uhr. Es war wenige Minuten nach neun, noch vierzig Minuten bis zur Landung in Lima.
Es gab noch viel zu tun. Zuerst mußte sie in Zusammenarbeit mit Crawf einen Plan für den Rest des Tages aufstellen. Sie hatte bereits einige Vorkehrungen getroffen, da sie einen Großteil des Geschehens, wenn auch nicht alles, vorausgesehen hatte.
Im Augenblick besaß CBA die dramatische Geschichte der Rettung exklusiv. Bis zur ersten Nachrichtensendung, in Peru also bis 17 Uhr 30, mußten Jessica und Nicky deshalb vor dem Rest der Medien versteckt werden. Sie war sicher, daß Crawf das einsehen würde.
Das bedeutete, daß man Jessica und Nicky weder ins Cesar's Hotel noch zur Entel Peru bringen konnte, denn an beiden Orten wimmelte es von Reportern und Kamerateams. Ähnliches traf auch auf alle anderen Hotels in der Innenstadt von Lima zu.
Rita hatte deshalb mit Oswaldo Zileri vereinbart, daß die beiden die Wartezeit in seinem Haus in den Außenbezirken von Miraflores verbringen konnten. Nach 17 Uhr 30 war es dann gleichgültig, wann Presse und Fernsehen die befreiten Geiseln zu Gesicht bekamen, denn irgendwann mußten sich die beiden dieser Tortur sowieso stellen.
In der Zwischenzeit mußte Rita zusammen mit dem Cutter Bob Watson einen Bericht für die National Evening News zusammenstellen. Es würde ein langer Bericht werden mit einer Auswahl von Minhs besten Aufnahmen - von der Rettung, Harrys Partridges Tod und dem traurigen Augenblick, als Fernandez im Dschungel zurückgelassen werden mußte.
Es war nicht nötig, daß Rita New York um zusätzliche Sendezeit bat, denn sie wußte, daß sie bei einem Anlaß wie diesem so viel Zeit bekam, wie sie brauchte.
Rita war auch sicher, daß CBA für die Hauptsendezeit einen Sonderbericht ansetzen würde. Auch dafür hatte sie genug Material, etwa die Aufnahmen von Dolores, der Lebensgefährtin des amerikanischen Arztes Hartley Gossage alias Baudelio, der seine medizinischen Kenntnisse beim Transport der Geiseln nach Peru auf eine so schändliche Weise mißbraucht hatte. Harry hatte diesen Bericht zusammengestellt und selbst kommentiert, er war sendebereit.
Die Moderation sowohl der Nachrichtenmeldung wie auch des Sonderberichts würde natürlich Crawf übernehmen. Vielleicht würde es schwierig für ihn, denn schließlich mußte er über den Tod seines Vaters, über den von Harry Partridge und Fernandez Pabur und über die Verstümmelung von Nickys Hand reden. Crawf ließ sich manchmal von seinen Gefühlen übermannen, vielleicht würde ihm die Stimme versagen. Aber das machte nichts, dachte Rita. Die Geschichte gewann dadurch nur an Wirkung, und Crawf würde sich wieder fassen und fortfahren. Schließlich war er ein Profi wie Rita und die anderen auch.
Eine Meldung, das war Rita klar, konnte und durfte man allerdings nicht den ganzen Tag lang zurückhalten: Die Welt mußte erfahren, daß die Rettung geglückt und Nicky und Jessica in Sicherheit waren. Sie mußte eine Sondermeldung zusammenstellen. Sobald diese bei CBA News in New York eintraf, würde man das laufende Programm unterbrechen. Und wieder einmal wäre CBA der Konkurrenz voraus.
Rita sah noch einmal auf die Uhr: 9 Uhr 23, noch etwa zwanzig Minuten Flugzeit. Wenn sie die Fahrzeit vom Flughafen ins Stadtzentrum mit dazurechnete, müßte sie es schaffen, den Bericht um 10 Uhr 30 durchzugeben. Es würden nur wenige Bilder sein, ein »Schnellschuß« wie damals vom Flugzeugunglück in Dallas-Fort Worth, über das sie zusammen mit Harry, Minh und Ken O'Hara vor nicht einmal einem Monat berichtet hatte.
War das wirklich erst knappe vier Wochen her? Es schien viel länger und wie aus einer anderen Welt.
Sie brauchte also für 10 Uhr 30 Satellitenzeit. Rita beugte sich vor und klopfte Zileri auf die Schulter. Als er sich umdrehte, deutete sie auf das Funkgerät. »Können Sie mir damit eine Telefonverbindung herstellen? Ich möchte New York anrufen.«
»Aber natürlich.«
Sie kritzelte die Nummer auf einen Zettel und gab sie ihm. Nach überraschend kurzer Zeit kam eine Stimme aus dem Lautsprecher: »CBA Auslandsredaktion.«
Felipe gab Rita das Mikrofon. »Sie können sprechen«, sagte er.
Sie drückte die Sprechtaste. »Rita Abrams hier. Ich brauche für 10 Uhr 30 Ortszeit Peru eine Satellitenverbindung von Lima nach New York. Sorgt dafür, daß das Hufeisen davon erfährt.«
»Alles klar«, erwiderte die Stimme lakonisch. »Ich kümmere mich darum.«
»Vielen Dank.« Sie gab das Mikrofon zurück.
Für die Sondermeldung und für die späteren Berichte mußten Manuskripte ausgearbeitet werden. Rita schrieb ein paar Sätze, beschloß aber dann, den Rest Crawf zu überlassen. Er sollte die richtigen Worte finden, denn das war seine Spezialität. Wahrscheinlich würde er einen Teil aus dem Stegreif sprechen. Auch das konnte er sehr gut.
Für den Rest der Flugzeit mußte sie sich mit Crawf an die Arbeit machen, auch wenn das bedeutete, ihn aus Jessicas und Nickys Armen zu reißen. Aber er würde es verstehen und die beiden ebenfalls. Wie jeder andere, der in diesem Geschäft zu tun hatte, wußten auch sie, daß die Nachrichten immer an erster Stelle kamen.
»Crawf«, sagte Rita einfühlsam. »Wir beide haben noch viel zu erledigen. Es wird Zeit, daß wir damit anfangen.«