1
Die Sondermeldung von CBA über die Entführung von Sloanes Familie hatte unmittelbare, weitreichende Auswirkungen.
NBC News, die sich mit ihrer anständigen, freundlichen Geste gegenüber CBA selbst um ihren möglichen Vorsprung gebracht hatten, folgten mit einer eigenen Meldung eine knappe Minute später, also noch vor der Mittagsausgabe.
CBS, ABC und CNN, die über die Presseberichte von AP und Reuters von der Entführung erfahren hatten, waren innerhalb weniger Minuten ebenfalls auf Sendung. Fernsehstationen im ganzen Land, die an keinen der großen Sender angeschlossen waren, sondern eigene Nachrichtendienste besaßen, folgten.
Im kanadischen Fernsehen wurde die Sloane-Entführung zum Aufmacher der Mittagsnachrichten.
Rundfunksender, die blitzschnell reagieren konnten, brachten die Geschichte häufig noch vor den Fernsehsendern.
Von Küste zu Küste warfen Zeitungen ihre Nachmittagsausgaben um und setzten riesige Balkenschlagzeilen auf die Titelseite. Größere Zeitungen aus anderen Bundesstaaten setzten ihre New Yorker Korrespondenten auf die Geschichte an.
In Bildagenturen begann eine hektische Suche nach Fotos von Jessica, Nicholas und Angus Sloane. Von Crawford Sloane waren genug vorhanden.
Die Telefonzentrale von CBA wurde von Anrufen für Crawford Sloane förmlich überflutet. Auf die höfliche Information, daß Mr. Sloane leider nicht zu sprechen sei, hinterließen die meisten Anrufer Botschaften des Mitgefühls.
Vertreter der Presse und der anderen Medien vermieden den Umweg über die Telefonzentrale und wählten Direktanschlüsse innerhalb von CBA News an. Einige Telefone waren deshalb ständig blockiert, was eine Kommunikation nach draußen schwierig machte. Journalisten, die durchkamen und Sloane interviewen wollten, erfuhren, daß er nicht in der Verfassung sei, mit irgend jemand zu reden, und daß außer den bereits gesendeten keine weiteren Informationen vorlägen.
Ein Anrufer, den man dennoch mit Sloane verband, war der Präsident der Vereinigten Staaten.
»Crawf, ich habe eben diese schreckliche Nachricht gehört«, sagte der Präsident. »Ich weiß, daß Sie im Augenblick zu besorgt sind, um viel zu reden, aber ich wollte Sie nur wissen lassen, daß Barbara und ich an Sie und Ihre Familie denken und auf baldige gute Nachrichten hoffen. Wir wollen wie Sie, daß diese Qual bald vorübergeht.«
»Vielen Dank, Mr. President«, erwiderte Sloane. »Das bedeutet mir sehr viel.«
»Ich habe das Justizministerium angewiesen«, fuhr der Präsident fort, »der Suche des FBI nach Ihrer Familie absolute Priorität einzuräumen. Auch sonst werden alle erforderlichen staatlichen Mittel eingesetzt.«
Sloane bedankte sich noch einmal.
Die wesentlichen Punkte des Präsidentenanrufs wurden sofort danach von einem Sprecher des Weißen Hauses veröffentlicht, und auch das trug zu dem stetig wachsenden Strom an Informationen bei, die mit Sicherheit die Abendnachrichten aller Sender dominieren würden.
Kamerateams der verschiedenen New Yorker und überregionalen Sender trafen kurz nach den ersten Sondermeldungen in Larchmont ein und interviewten, wie es ein Beobachter formulierte, »jeden, der ihnen unter die Finger kam«, darunter auch einige, die mit dem Fall nur sehr am Rande zu tun hatten. Die ehemalige Lehrerin, Priscilla Rhea, die unter all der Aufmerksamkeit noch einmal aufblühte, erwies sich als beliebteste Interviewpartnerin, der Polizeichef von Larchmont mußte sich mit dem zweiten Platz zufriedengeben.
Zu einer überraschenden neuen Entwicklung kam es, als einige Nachbarn der Sloanes berichteten, allem Anschein nach sei das Haus schon seit einigen Wochen, vielleicht sogar seit einem Monat, observiert worden. Man habe eine Reihe verschiedener Autos und manchmal sogar einen Lastwagen beobachtet. Über längere Zeiträume hinweg hätten die Autos in der Nähe des Hauses gestanden, ohne daß die Insassen je ausgestiegen wären. Einige Automarken wurden genannt, doch insgesamt kamen detaillierte Angaben eher spärlich. Übereinstimmend berichteten die Zeugen, daß die Kennzeichen zum Teil aus New York und zum Teil aus New Jersey gewesen seien. Aber keiner der Augenzeugen hatte sich die Nummern gemerkt.
Eines dieser von den Nachbarn erwähnten Autos entsprach der Beschreibung, die Florence, das Dienstmädchen der Sloanes, geliefert hatte - von eben jenem Auto, das Jessicas Volvo gefolgt war, als sie mit Nicky und Angus zum Einkaufen fuhr.
Die nächste Frage war zwangsläufig: Warum hatte niemand diese offensichtliche Beschattung der Polizei gemeldet?
Die Antwort war bei jedem die gleiche: Man nahm an, daß es sich um eine Schutzmaßnahme für den berühmten Mr. Sloane handelte, und da wollte man sich nicht einmischen.
Aus diesem Grund erfuhr die Polizei erst so spät von diesen Autos.
Auch die ausländischen Medien zeigten großes Interesse an der Entführungsgeschichte. Obwohl das Gesicht und die Stimme Crawford Sloanes im Ausland nicht so sehr bekannt waren wie in Nordamerika, schien allein die Tatsache, daß eine berühmte Persönlichkeit des Fernsehens betroffen war, von großem internationalen Interesse.
Diese überwältigende Reaktion war ein Beweis dafür, daß der Nachrichtensprecher eines großen Senders - der Homo promulgare ancora, wie das Wall Street Journal ihn tags darauf nennen sollte - zu einer ganz besonderen Spezies geworden war, die in der öffentlichen Verehrung neben gekrönten Häuptern, Film- und Rockstars, Päpsten und Präsidenten rangierte.
Crawfords Sloanes Gefühle waren in Aufruhr.
Wie betäubt taumelte er durch die nächsten Stunden, und er hoffte insgeheim, jeden Augenblick zu erfahren, daß die ganze Sache nur ein Mißverständnis sei, ein leicht zu erklärender Fehler. Doch je länger Jessicas Volvo verloren auf dem Parkplatz des Supermarkts stand, desto unwahrscheinlicher wurde diese Möglichkeit.
Was Sloane am meisten beschäftigte, war seine Unterhaltung mit Jessica am Abend zuvor, als er die Möglichkeit einer Entführung ins Gespräch gebracht hatte. Doch nicht dieses zufällige zeitliche Zusammentreffen machte ihm Sorgen. Er wußte aus langer Erfahrung, daß das wirkliche Leben manchmal voller höchst unglaublicher Zufälle steckte. Was ihn quälte, war die Tatsache, daß sein Egoismus und seine Überheblichkeit ihn zu der Annahme verleitet hatten, nur er könne ein potentielles Entführungsopfer werden. Jessica hatte sogar noch gefragt: Was ist mit den Familien? Können die auch zu Zielen werden? Er hatte verneint, weil er nicht glaubte, daß so etwas passieren könnte und daß Jessica und Nicky beschützt werden müßten. Doch nun warf er sich Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit vor, und sein Schuldgefühl überwältigte ihn fast.
Große Sorgen machte er sich natürlich auch um seinen Vater, der offensichtlich nur durch einen Zufall da hineingeraten war. Er war sehr überraschend zu Besuch gekommen und deshalb den Entführern mit ins Netz gegangen.
Zwischendurch packte Sloane immer wieder die Ungeduld, er wollte etwas unternehmen, irgend etwas, obwohl er genau wußte, daß er eigentlich nichts tun konnte. Er überlegte, ob er nach Larchmont fahren sollte, erkannte aber dann, daß er dort nichts ausrichten konnte und außerdem im Sender bleiben mußte, um bei neuen Entwicklungen sofort zur Stelle zu sein. Ein weiterer Grund für sein Bleiben war die Ankunft von drei FBI-Agenten, die um Sloane herum eine hektische Aktivität entwickelten.
Sonderagent Otis Havelock, der Ranghöchste des Trios, machte sofort deutlich, daß er »gern kommandierte«, wie einer der Produzenten am Hufeisen es formulierte. Er bestand darauf, direkt in Crawford Sloanes Büro geführt zu werden, wo er sich Sloane nur kurz vorstellte und beinahe im gleichen Atemzug seinen Begleitern befahl, den Sicherheitschef des Hauses vorzuführen. Dann griff er sich ein Telefon und forderte von der New Yorker Stadtpolizei Verstärkung an.
Havelock, eine kleine, flinke Gestalt mit schütterem Haar, hatte tiefliegende, grüne Augen und einen fast starren Blick, der nur selten von dem jeweiligen Gesprächspartner abwich. Seine permanent argwöhnische Miene schien anzudeuten: Es gibt nichts, das ich nicht schon weiß. Später sollten Sloane und die anderen erfahren, daß diese unausgesprochene Behauptung der Wahrheit entsprach. In seiner zwanzigjährigen Karriere beim FBI hatte Otis Havelock sich mit den schlimmsten Gemeinheiten, zu denen Menschen fähig waren, herumschlagen müssen.
Der Sicherheitschef von CBA, ein grauhaariger Ex-Polizist, war schnell zur Stelle. Havelock befahl ihm: »Ich will, daß die gesamte Etage sofort abgeriegelt wird. Die Leute, die Mr. Sloanes Familie entführt haben, könnten es ebensogut auch auf Mr. Sloane selbst abgesehen haben. Postieren Sie zwei Ihrer Männer an den Aufzügen, die anderen an den Treppen. Sie haben den Befehl, jeden, der die Etage betritt oder verläßt, zu überprüfen, und zwar gründlich. Das gilt auch für jeden, der sich bereits in diesem Stockwerk aufhält. Ist das klar?«
Der Ältere protestierte. »Natürlich ist das klar. Wir sind alle um Mr. Sloane besorgt. Aber ich habe nicht unbeschränkt Leute zur Verfügung, und was Sie verlangen, halte ich für übertrieben. Schließlich habe ich noch andere Aufgaben, die ich nicht vernachlässigen darf.«
»Die haben Sie bereits vernachlässigt«, fauchte ihn Havelock an und zog eine Plastikausweiskarte aus der Tasche. »Sehen Sie sich das an. Mit dem Ding bin ich hier hereingekommen. Der Posten an der Tür warf kaum einen Blick darauf, sondern winkte mich einfach durch.«
Der Sicherheitschef sah sich die Karte an, die einen Mann in Uniform zeigte. »Wer ist das?«
»Fragen Sie Mr. Sloane.« Havelock gab Crawford Sloane die Karte.
Sloane sah sie nur kurz an und mußte trotz seines Kummers lachen. »Es ist Oberst Gaddafi.«
»Ich habe sie mir extra anfertigen lassen«, erklärte der FBIMann. »Und ich benutze sie manchmal, um Institutionen wie der Ihren zu beweisen, wie schlampig ihre Sicherheitsvorkehrungen sind.« Dann wandte er sich dem bestürzten Sicherheitschef zu. »Und jetzt tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Sichern Sie diese Etage, und sagen Sie Ihren Leuten, die sollen sich die Ausweise genau ansehen, vor allem die Fotos.«
Nachdem der andere gegangen war, sagte Havelock zu Sloane: »Der Grund für die Vernachlässigung der Sicherheit bei so vielen großen Konzernen liegt darin, daß man mit Sicherheitseinrichtungen keine Profite erwirtschaften kann; deshalb werden die Ausgaben dafür auf ein Minimum beschränkt. Wenn Ihr Sender seine Verantwortung für Ihre Sicherheit und die Ihrer Familie ernst genommen hätte, hätten Sie wirksam geschützt werden müssen.«
»Ach, hätten Sie das nur schon früher vorgeschlagen«, erwiderte Sloane bitter.
Bei seinem Anruf wenige Minuten zuvor hatte Havelock mit dem New Yorker Polizeichef gesprochen und ihm erklärt, daß es eine Entführung gegeben habe und er Polizeischutz für Crawford Sloane brauche. Jetzt hörte man von draußen das laute Heulen schnell näher kommender Sirenen. Dann war es plötzlich still, und wenige Minuten später erschienen ein Lieutenant und ein Sergeant in Uniform.
Nach einer kurzen Vorstellung wandte Havelock sich an den Lieutenant: »Ich möchte, daß Sie einige Streifenwagen vor dem Haus abstellen; man soll sehen, daß die Polizei präsent ist. Postieren Sie an jedem Eingang einen Beamten und einen in der Halle. Und sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen jeden Verdächtigen anhalten und kontrollieren.«
»Wird erledigt«, antwortete der Lieutenant und fügte dann, zu Crawford Sloane gewandt, fast ehrfürchtig hinzu: »Wir werden gut auf Sie aufpassen, Sir. Sooft ich zu Hause bin, sehen meine Frau und ich uns Ihre Nachrichten an. Sie machen das einfach großartig.«
Sloane nickte. »Danke.«
Die Beamten sahen sich um und schienen noch bleiben zu wollen, doch Havelock hatte andere Vorstellungen. »Schicken Sie jemand aufs Dach, der die Umgebung im Auge behält. Sehen Sie sich das Gebäude von oben an, und überzeugen Sie sich, daß alle Ausgänge bewacht sind.«
Mit der Versicherung, daß alles menschenmögliche getan werde, gingen der Lieutenant und der Sergeant.
»Ich fürchte, Sie werden mich so schnell nicht mehr los, Mr. Sloane«, sagte der Sonderagent, sobald sie wieder allein waren. »Ich habe Befehl, immer in Ihrer Nähe zu bleiben. Ich sagte ja bereits, daß wir auch Sie als potentielles Ziel der Entführer betrachten.«
»Daran habe ich auch schon öfters gedacht«, erwiderte Sloane, und dann brach die ganze angestaute Schuld aus ihm heraus: »Aber ich kam nie auf die Idee, daß meine Familie in Gefahr sein könnte.«
»Weil Sie logisch gedacht haben. Aber Kriminelle sind unberechenbar.«
»Was glauben Sie, was das für Leute sind, mit denen wir es hier zu tun haben?« fragte Sloane nervös.
Die Miene des FBI-Mannes blieb unverändert; er verschwendete auch selten Zeit mit tröstenden Worten. »Wir wissen noch nicht, was das für Leute sind. Aber ich finde es sinnvoll, nie den Feind zu unterschätzen. Wenn es sich dann später herausstellt, daß ich ihn überschätzt habe, ist das nur zu meinem Vorteil.«
Havelock fuhr fort: »Hier und bei Ihnen zu Hause werden in Kürze noch einige Leute von uns mit elektronischer Ausrüstung aufkreuzen. Wir wollen Ihr Telefon abhören, und deshalb sollten Sie, solange Sie hier im Haus sind, alle Anrufe auf Ihrer gewohnten Leitung entgegennehmen.« Er deutete auf Sloanes Schreibtisch. »Wenn die Entführer anrufen, tun Sie das einzig Naheliegende - reden Sie mit ihnen, solange es geht, obwohl natürlich auch die Gangster wissen, wie schnell heutzutage Fangschaltungen arbeiten.«
»Sie wissen, daß unsere Anschlüsse zu Hause Geheimnummern haben?«
»Ja, aber ich gehe davon aus, daß die Entführer sie auch haben. Schließlich gibt es eine Menge Leute, die die Nummern kennen.« Havelock zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Aber nun, Mr. Sloane, habe ich noch einige Fragen an Sie.«
»Schießen Sie los.«
»Haben Sie oder Ihre Familienangehörigen irgendwelche Drohungen erhalten? Bitte denken Sie genau nach.«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Haben Sie in den Nachrichten über irgend etwas berichtet, das bestimmten Personen oder auch Gruppen Grund für besondere Feindschaft geben könnte?«
Sloane streckte die Hände in die Luft. »Mindestens einmal pro Tag.«
»Das dachte ich mir. Deshalb werden sich zwei meiner Kollegen Aufzeichnungen Ihrer Sendungen aus den letzten zwei Jahren ansehen und nachprüfen, ob sich daraus irgendwelche Schlüsse ziehen lassen. Was ist mit Drohbriefen? Sie erhalten doch sicher welche.«
»Aber ich sehe sie nie. Wir in der Nachrichtenabteilung werden vor der Post abgeschirmt. Eine Entscheidung des Managements.«
Havelock hob überrascht die Augenbrauen, während Sloane weitersprach. »Alles, was wir in den Nachrichten bringen, produziert eine gigantische Menge an Post. Es würde uns zu viel Zeit kosten, all diese Briefe zu lesen, geschweige denn, sie zu beantworten. Und außerdem ist das Management der Überzeugung, daß wir uns unsere Objektivität und Fairneß eher bewahren können, wenn wir individuelle Reaktionen auf die Nachrichten nicht zu sehen bekommen.« Sloane zuckte mit den Achseln. »Einige sind da anderer Meinung, aber so ist es eben.«
»Was passiert dann mit der Post?«
»Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit kümmert sich darum. Dort werden die Briefe beantwortet und alle, die man für wichtig hält, an den Präsidenten der Nachrichtenabteilung weitergeleitet.«
»Ich nehme an, daß die eingegangene Post aufbewahrt wird.«
»Ich glaube schon.«
Havelock machte sich Notizen. »Wir werden auch die durchsehen lassen.«
Während einer Pause klopfte Chuck Insen an die Tür und trat ein.
»Darf ich einen Augenblick stören?« Als die beiden nickten, fuhr der Studioleiter fort. »Crawf, du weißt, wir alle wollen nur das Beste - für dich und Jessica und Nicky...«
Sloane nickte. »Ja, das weiß ich.«
»Wir meinen, du solltest die Nachrichten heute abend nicht machen. Zum einen werden sie sich ja vorwiegend um dich drehen. Und zum zweiten, auch wenn du nur den Rest moderierst, würde es so aussehen, als würden wir einfach zur Tagesordnung zurückkehren, als hätten wir vom Sender keinen Funken Mitgefühl, was ja nicht stimmt.«
Sloane überlegte eine Weile und sagte dann nachdenklich: »Ich glaube, du hast recht.«
»Wir haben uns gefragt, ob du dich vielleicht in der Lage fühlst, ein Interview zu geben - live.«
»Glaubst du, daß ich das sollte?«
»Jetzt, da die Geschichte draußen ist«, erwiderte Insen, »ist es meiner Meinung nach am besten, wenn sie so viel Aufmerksamkeit wie möglich erhält. Es besteht immer die Chance, daß Leute zusehen, die neue Informationen liefern könnten.«
»Dann mache ich es.«
Insen nickte. »Du weißt, daß die anderen Sender und die Presse dich ebenfalls interviewen wollen. Was hältst du von einer Pressekonferenz heute nachmittag?«
Sloane machte eine hilflose Geste, stimmte dann aber zu. »Also gut, ja.«
»Wenn du hier fertig bist, Crawf, kannst du dann in mein Büro kommen?« fragte Insen. »Les und ich möchten mit dir einige andere Pläne besprechen.«
Havelock mischte sich ein. »Mir wäre es am liebsten, wenn Mr. Sloane möglichst in seinem Büro und nahe am Telefon bleiben würde.«
»Keine Sorge«, versicherte ihm Sloane.
Leslie Chippingham hatte bereits mit Rita Abrams in Minnesota telefoniert und ihr mitgeteilt, daß aus ihrem Liebeswochenende leider nichts würde. Er könne unmöglich mitten in dieser Geschichte New York verlassen, erklärte er ihr. Rita war zwar enttäuscht, aber sie hatte Verständnis. Die Leute im Nachrichtengewerbe waren daran gewöhnt, daß unerwartete Ereignisse ihr Leben, und eben auch ihre heimlichen Affären, durcheinanderbrachten.
»Braucht ihr mich für diese Geschichte?« hatte sie ihn gefragt.
»Wenn wir dich brauchen, erfährst du es früh genug«, hatte er geantwortet.
Es sah so aus, als wollte Havelock, der Crawford Sloane nicht mehr von der Seite ging, ihm auch zu der Besprechung in Insens Büro folgen. Aber Insen stellte sich ihm in den Weg.
»Wir haben hier einige vertrauliche Angelegenheiten zu besprechen. Sie bekommen Mr. Sloane wieder, sobald wir fertig sind. Aber wenn es irgend etwas Dringendes gibt, dürfen Sie natürlich jederzeit hereinplatzen.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, entgegnete Have lock, »dann platze ich jetzt gleich herein und sehe mir mal das Zimmer an.« Er schob sich entschlossen an Insen vorbei und sah sich um.
Hinter Insens Tisch gab es zwei Türen. Havelock öffnete beide. Hinter der ersten befand sich nur ein Wandschrank. Er sah kurz hinein und schloß ihn wieder. Die zweite führte in eine Toilette. Der FBI-Mann ging hinein, sah sich um und kam dann wieder heraus.
»Wollte nur sichergehen«, sagte er zu Insen, »daß es hier keinen zweiten Ausgang gibt.«
»Das hätte ich Ihnen gleich sagen können«, erwiderte Insen.
Havelock zeigte ein dünnes Lächeln. »Einige Dinge überprüfe ich am liebsten selbst.« Dann verließ er das Büro und setzte sich vor der Tür auf einen Stuhl.
Während Havelocks Inspektion hatte Leslie Chippingham abwartend in Insens Büro gesessen. Als sich nun Sloane und Insen zu ihm gesellten, sagte er: »Chuck, erzähl es Crawf.«
»Die Sache ist die«, begann Insen, »wir trauen den staatlichen Stellen nicht zu, daß sie die Situation in den Griff bekommen. Wir wollen dich nicht deprimieren, Crawf, aber wir alle wissen doch noch, wie lange das FBI brauchte, um Patricia Hearst zu finden - über eineinhalb Jahre. Aber da ist noch etwas anderes.«
Insen wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und zog ein Buch hervor, dessen Verfasser vor ihm saß. Insen schlug eine mit einem Einleger markierte Seite auf.
»Crawf, du schreibst in Die Kamera und die Wahrheit: >Wir, in den Vereinigten Staaten, müssen in nächster Zukunft mit Terrorismus in unserem eigenen Hinterhof rechnen. Doch sind wir weder gedanklich noch in irgendeiner Weise auf diese skrupellose, allgegenwärtige Art der Kriegsführung vorbereitete.« Insen klappte das Buch wieder zu. »Les und ich stimmen dir voll und ganz zu.«
Es folgte ein Schweigen. In dieser Form an seine eigenen Worte erinnert zu werden, überraschte und erschreckte Sloane. Er begann sich insgeheim zu fragen, ob hinter der Entführung von Jessica, Nicky und seinem Vater möglicherweise ein terroristisches Motiv steckte. Oder war der Gedanke zu absurd, um ihn überhaupt in Erwägung zu ziehen? Offensichtlich nicht, denn noch zwei andere erfahrene Journalisten dachten in dieser Richtung.
Schließlich sagte er: »Glaubt ihr wirklich, daß Terroristen...« »Es ist immerhin möglich, oder?« erwiderte Insen.
»Ja.« Sloane nickte bedächtig. »Ich habe mir das auch schon überlegt.«
»Vergiß aber nicht«, warf Chippingham ein, »daß wir im Augenblick auch nicht die leiseste Ahnung haben, wer die Leute sind, die deine Familie entführt haben, oder was sie wollen. Es könnte auch nur eine gewöhnliche Entführung mit anschließender Lösegeldforderung sein, und bei Gott, das wäre schlimm genug. Aber wegen dir und deiner besonderen Stellung denken wir eben auch über andere, entferntere Möglichkeiten nach.«
Insen nahm den Faden von zuvor wieder auf. »Wir haben bereits vom FBI gesprochen. Und wie gesagt, wir wollen dir nicht alle Hoffnung nehmen, aber wenn Jessica und die anderen außer Landes gebracht werden, was ja immerhin möglich ist, dann hat die Regierung, fürchte ich, keine andere Wahl, als auf die CIA zurückzugreifen. Na, und in all den Jahren, die amerikanische Bürger nun schon in Gefangenschaft im Libanon verbringen, hat es die CIA, trotz ihrer Macht und ihrer Möglichkeiten, trotz Spionagesatelliten, Aufklärung und Infiltration, nie geschafft heraus zufinden, wo ein zusammengewürfeltes Pack verwilderter Terroristen sie versteckt hält. Und das in einem Land, das kaum größer ist als Delaware. Da kann man wohl kaum annehmen, daß ebendiese CIA in einem anderen Land mehr Erfolg haben wird.«
Der Präsident der Nachrichtenabteilung war es, der nun eine Lösung aufzeigte.
»Das haben wir gemeint«, begann Chippingham, »als wir sagten, wir hätten kein Vertrauen in die staatlichen Stellen. Aber wir sind der Ansicht, daß wir selbst - eine große Nachrichtenorganisation mit viel Erfahrung in journalistischer Ermittlungsarbeit - durchaus Chancen haben, deine Familie aufzuspüren.«
Zum ersten Mal an diesem Tag faßte Sloane wieder Mut.
Chippingham fuhr fort. »Wir haben also beschlossen, eine CBA-interne Spezialeinheit aufzustellen, die unabhängige Ermittlungen anstellen soll. Sie wird zunächst nur in den Staaten operieren, dann aber, wenn es nötig wird, auch weltweit. Wir werden alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen und Ermittlungstechniken benutzen, die sich in der Vergangenheit bereits bewährt haben. Was die Leute angeht, da nehmen wir die besten, die wir haben. Und zwar von diesem Augenblick an.«
Sloane spürte Dankbarkeit und Erleichterung in sich aufsteigen. Er begann: »Les... Chuck...«
Chippingham brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sag nichts. Es ist überhaupt nicht nötig. Natürlich tun wir das zum Teil auch wegen dir, aber es ist eben auch unser Job.«
Insen beugte sich vor. »Da ist nur noch eins, was wir von dir wissen wollen, Crawf. Für diese Sondereinheit brauchen wir einen erfahrenen Korrespondenten oder Produzenten als Leiter, jemand, der die Sache in die Hand nehmen kann, der ein guter Ermittler ist und dem du vertraust. Möchtest du jemand vorschlagen?«
Crawford Sloane zögerte nur einen kurzen Augenblick, in dem er seine persönlichen Gefühle gegen das, was auf dem Spiel stand, abwägte. Dann sagte er entschlossen: »Ich will Harry Partridge.«
2
Die Medellin-Bande hatte sich, wie Füchse in ihren Bau, in ihren Unterschlupf südlich von Hackensack zurückgezogen.
Das Anwesen bestand aus einer Reihe alter, halbverfallener Gebäude, einem Haupthaus und drei Nebengebäuden. Es hatte mehrere Jahre leergestanden, bevor Miguel, nach gründlicher Prüfung anderer Angebote auf dem Immobilienmarkt, es für ein Jahr angemietet und den ganzen Betrag im voraus bezahlt hatte. Ein Jahr war die kürzeste Mietzeit, die der Makler ihm angeboten hatte. Da Miguel nicht offenbaren konnte, daß das Anwesen nur für etwas mehr als einen Monat genutzt würde, hatte er die Bedingungen widerspruchslos akzeptiert.
Die Art des Anwesens und seine Lage in einer dünnbesiedelten, heruntergekommenen Gegend war in mehrfacher Hinsicht ideal. Das Haupthaus war groß genug, um allen sieben Mitgliedern der Bande Platz zu bieten, und sein baufälliger Zustand war ohne Bedeutung. In den Nebengebäuden konnten sechs Fahrzeuge versteckt werden. Die nähere Umgebung war unbewohnt, das Anwesen selbst lag hinter Bäumen und dichtem Buschwerk versteckt. Eine weiterer Vorteil lag darin, daß, nur eine knappe Meile entfernt, der Flughafen von Teterboro lag. Denn Teterboro Airport, der vorwiegend von Privatmaschinen benutzt wurde, spielte in den Plänen der Entführer eine wichtige Rolle.
Von Anfang an hatte Miguel vorausgesehen, daß es unmittelbar nach der Entführung zu einer Ermittlungsjagd mit polizeilichen Straßensperren und intensiven Nachforschungen kommen würde. Er hielt es deshalb für ungefährlicher, nicht gleich nach der Tat größere Entfernungen zurückzulegen. Doch dazu brauchte er einen einstweiligen Unterschlupf in sicherer Entfernung von Larchmont.
Das Anwesen in Hackensack war ungefähr fünfundzwanzig Meilen vom Ort der Entführung entfernt. Daß sie so problemlos und ohne jede Verfolgung hierher hatten zurückkehren können, zeigte, daß Miguels Plan aufging, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.
Die drei Gefangenen befanden sich inzwischen im Haupthaus. Man hatte die noch immer betäubten Opfer in ein großes Zimmer im ersten Stock gebracht. Im Gegensatz zu den anderen Räumen des heruntergekommenen, stockfleckigen Hauses war dieser gründlich gereinigt und weiß gestrichen worden. Zusätzliche Steckdosen und Neondeckenlampen waren ebenfalls installiert. Der Boden war mit neuem, hellgrünem Linoleum ausgelegt. Baudelio, der ehemalige Arzt, hatte die Renovierungen angeordnet und überwacht, und Rafael, der Handwerker und Mechaniker der Truppe, sie ausgeführt.
In der Mitte des Zimmers standen zwei Krankenhausbetten mit Seitengittern. In dem einen lag Jessica, im anderen Nicholas. Beide waren an Armen und Beinen mit Gurten gefesselt - als Vorsichtsmaßnahme, falls sie aufwachen sollten, doch dazu wollten es die Entführer im Augenblick gar nicht kommen lassen.
Obwohl in der Anästhesie selten präzise Voraussagen gemacht werden konnten, war Baudelio ziemlich sicher, daß seine »Patienten«, denn so nannte er sie in Gedanken, noch mindestens eine halbe Stunde betäubt sein würden.
Neben den beiden Betten stand eine schmale Metallpritsche, die man in aller Eile für Angus aufgestellt hatte, dessen Anwesenheit ja nicht eingeplant gewesen war. Deshalb war er auch nicht mit Gurten, sondern mit Stricken gefesselt. Miguel, der den alten Mann vom anderen Ende des Zimmers aus betrachtete, war sich noch immer unschlüssig, was er mit ihm tun sollte. Ihn töten und nach Einbruch der Dunkelheit im Hof verscharren? Oder ihn in den Plan mit einbauen? Er mußte die Entscheidung bald treffen.
Baudelio lief zwischen den drei bewußtlosen Gestalten hin und her, er baute Infusionsständer auf und hängte Flüssigkeitsbehälter an die Haken. Auf einem mit einem grünen Tuch bedeckten Tisch hatte er seine Instrumente, Medikamente und Schälchen ausgebreitet. Obwohl er in diesem Fall wahrscheinlich nur Katheter und Infusionsnadel brauchte, hatte Baudelio es sich angewöhnt, immer sein gesamtes Handwerkszeug bereitzulegen, um es bei Schwierigkeiten oder einem Notfall zur Hand zu haben. Socorro, die Frau mit den Verbindungen zum Medellin-Kartell wie zum Sendero Luminoso, assistierte ihm, denn sie war ausgebildete Schwesternhelferin.
Sie hatte rabenschwarze Haare, die sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden trug, einen schlanken, geschmeidigen Körper, olivfarbene Haut und ein Gesicht, das man durchaus schön hätte nennen können, hätte sie nicht einen permanent mißmutigen Ausdruck zur Schau getragen. Socorro tat, was man von ihr verlangte, und erwartete keine Rücksichtnahme auf ihr Geschlecht, doch sie schwieg die meiste Zeit und zeigte nie, was in ihrem Kopf vorging. Sexuelle Annäherungsversuche von einigen der Männer hatte sie immer mit unverblümter Offenheit zurückgewiesen.
Miguel nannte sie deshalb insgeheim »die Unerforschliche«. Er wußte zwar von ihren Doppelkontakten und auch, daß der Sendero Luminoso auf ihrer Teilnahme an der Entführung bestanden hatte, doch hatte er keinen Grund, ihr zu mißtrauen. Er fragte sich nur manchmal, ob Socorros langer Aufenthalt in Amerika nicht ihre Loyalität zu den kolumbianischen und peruanischen Gruppen aufgeweicht hatte.
Socorro selbst hätte bei der Beantwortung dieser Frage Schwierigkeiten bekommen. Sie war zwar schon immer eine Revolutionärin gewesen, die zuerst bei der kolumbianischen M-19 und schließlich - und einträglicher - beim Medellin-Kartell und Sendero Luminoso ein Ventil für ihren kämpferischen Eifer gefunden hatte. Sie war der Überzeugung, daß die kolumbianischen und peruanischen Regierungen Banden herrschsüchtiger Verbrecher seien, die getötet werden mußten, und sie war auch gern bereit, bei einem solchen Gemetzel mitzumachen. Darüber hinaus hatte man ihr eingetrichtert, daß die Herrschaftsstrukturen in den Vereinigten Staaten nicht weniger übel und korrupt seien. Doch nach drei Jahren in Amerika, in denen sie Freundlichkeit und Fairneß erfahren hatte, wo sie mit Feindseligkeit und Unterdrückung besser hätte umgehen können, wurde es für sie immer schwieriger, Amerika und das amerikanische Volk als den Feind zu betrachten.
Im Augenblick versuchte sie, diese drei Gefangenen von Grund auf zu hassen - bourgeoiser Abschaum, sagte sie sich -, aber sie schaffte es nicht ganz... und es war ein Fehler, daß sie es nicht schaffte... denn Mitleid war für eine Revolutionärin eine verachtenswerte Empfindung!
Doch wenn sie erst einmal dieses verwirrende Land verlassen hatte, und das würden sie alle ja sehr bald tun, würde sie wieder besser und stärker werden und beständiger in ihrem Haß.
Migue l, der in der entfernten Ecke des Zimmers auf einem zur Wand gekippten Stuhl saß, rief Baudelio zu: »Was tust du gerade?« Sein Ton machte deutlich, daß es als Befehl gemeint war.
»Ich muß mich beeilen, weil die Wirkung des Midazolam, das ich ihnen gespritzt habe, bald nachläßt. Wenn das passiert, injiziere ich ihnen Propofol, und zwar intravenös. Der Wirkstoff hält länger an als der erste und ist für das, was wir vorhaben, besser geeignet.«
Während er hin und her ging und erklärte, schien er sich zu verwandeln; aus der gewohnten ausgemergelten, gespenstischen Erscheinung wurde wieder der Lehrer und Narkosearzt, der er einmal gewesen war. Ähnliches - ein kurzes Aufblitzen längst abgelegter Würde - war auch unmittelbar vor der Entführung passiert. Doch weder damals noch jetzt schien es ihm irgend etwas auszumachen, daß er seine Fähigkeiten zu kriminellen Zwecken mißbrauchte und die Umstände, unter denen er arbeitete, verabscheuungswürdig waren.
Er fuhr fort. »Bei Propofol muß man vorsichtig sein. Die Optimaldosierung ist bei jedem unterschiedlich, eine Überdosis kann tödlich sein. Am Anfang muß man sehr behutsam experimentieren.«
»Bist du sicher, daß du es schaffst?« fragte Miguel.
»Wenn du Zweifel hast«, erwiderte Baudelio sarkastisch, »kannst du dir ja einen anderen suchen.«
Als Miguel nicht darauf reagierte, sprach der Arzt weiter. »Da die Leute bewußtlos sind, wenn wir sie transportieren, müssen wir ganz sichergehen, daß sie nicht erbrechen und das Erbrochene einatmen. Solange wir hier sind, müssen wir ihnen deshalb jede Nahrung entziehen. Um eine Dehydrierung zu vermeiden, werde ich ihnen intravenös Flüssigkeit zuführen. Nach zwei Tagen können wir sie dann da hineinlegen.« Baudelio deutete mit dem Kopf auf die Wand hinter sich.
An der Wand lehnten zwei solide, mit Seide ausgeschlagene Särge, der eine etwas kleiner als der andere. Die verzierten Deckel waren abgenommen und lehnten daneben.
Die Särge erinnerten Baudelio an ein Problem. Auf Angus Sloane deutend, fragte er: »Soll ich ihn auch vorbereiten oder nicht?«
»Bist du medizinisch darauf eingerichtet, wenn wir ihn mitnehmen?«
»Ja. Ich habe von allem etwas in Reserve, falls etwas schiefgeht. Aber wir brauchen noch einen...« Sein Blick kehrte zu den Särgen an der Wand zurück.
»Das weiß ich selber«, entgegnete Miguel gereizt.
Er war sich noch immer unschlüssig. Vom Medellin-Kartell und vom Sendero Luminoso hatten sie lediglich den Befehl, die Frau und den Jungen zu entführen und sie so schnell wie möglich nach Peru zu bringen. Die Särge waren als Transportmittel gedacht, und man hatte auch bereits eine Deckgeschichte vorbereitet, um einer Durchsuchung durch den amerikanischen Zoll zu entgehen. In Peru würden die Geiseln dann als Druckmittel eingesetzt, um die Einlösung bis jetzt noch nicht genannter Forderungen des Sendero Luminoso zu erzwingen. Die Frage war nun, ob Angus Sloane als nützliches zusätzliches Druckmittel oder aber als Belastung und unnötiges Risiko betrachtet würde.
Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Miguel seine Vorgesetzten um Rat gefragt. Aber der einzig sichere Kommunikationskanal war für ihn im Augenblick nicht offen, und ein Anruf über eins der Funktelefone würde eine zurückverfolgbare Spur bieten. Miguel hatte jedem einzelnen der Gruppe eingeschärft, die Telefone nur für Gespräche zwischen den Fahrzeugen und zwischen Hauptquartier und Fahrzeugen zu benutzen. Alle anderen Anrufe waren absolut verboten. Ferngespräche wurden, wenn nötig, von Telefonzellen aus geführt.
Die Entscheidung lag deshalb einzig und allein bei ihm. Er dachte wieder daran, daß man einen weiteren Sarg besorgen mußte, was ein zusätzliches Risiko darstellte. War es das wert?
Miguel beschloß, das Risiko einzugehen. Aus Erfahrung wußte er, daß man nach Bekanntgabe der Sendero-Forderungen eine der Geiseln töten und die Leiche der Weltöffentlichkeit präsentieren würde, um deutlich zu machen, daß die Entführer es ernst meinten. Wenn man Angus Sloane als ersten tötete, hätte man immer noch den Jungen oder die Frau, falls es nötig wurde, den Forderungen mit einer zweiten Leiche Nachdruck zu verleihen. In dieser Hinsicht war der zusätzliche Gefangene ein Bonus.
Miguel sagte deshalb zu Baudelio: »Ja, der alte Mann kommt mit.«
Baudelio nickte. Trotz seiner äußerlichen Gelassenheit war er an diesem Tag in Miguels Gegenwart nervös, weil er am Abend zuvor einen, wie er nun erkannte, schweren Fehler gemacht hatte, der die Sicherheit der ganzen Truppe gefährden konnte. Er war allein gewesen und hatte, in einem Augenblick abgrundtiefer Einsamkeit und Niedergeschlagenheit, eins der Funktelefone benutzt, um nach Peru zu telefonieren. Er hatte mit einer Frau gesprochen, der Gefährtin seines heruntergekommenen Lebens und seine einzige Vertraute, deren häufig betrunkene Gesellschaft er sehr vermißte.
Und wegen dieser inneren Unruhe reagierte Baudelio etwas langsam, als es plötzlich zu einer Krise kam.
Jessica hatte während des Überfalls vor dem Supermarkt in Larchmont nur wenige Minuten Zeit gehabt, um sich klarzumachen, was überhaupt geschah. Auch nachdem man sie mit einem Knebel zum Schweigen gebracht hatte, wehrte sie sich mit Händen und Füßen, denn sie sah, daß auch Nicky von den unbekannten Rohlingen gepackt und Angus brutal niedergeschlagen wurde. Augenblicke später zeigte das starke Beruhigungsmittel, das man ihr gespritzt hatte, bereits Wirkung, es wurde dunkel um sie, und sie verlor das Bewußtsein.
Doch nun wachte sie langsam wieder auf, und obwohl sie nicht wußte, wie lange sie ohnmächtig gewesen war, kehrte die Erinnerung an das Geschehene zurück. Zuerst nur schwach und dann immer deutlicher wurden ihr die Geräusche ihrer Umgebung bewußt. Sie versuchte, sich zu bewegen, etwas zu sagen, schaffte aber beides nicht. Und auch die Augen konnte sie nicht öffnen.
Es war, als liege sie am Grund eines dunklen Schachts, in dem jede Regung, jede Lebensäußerung unmöglich ist.
Ganz allmählich wurden die Stimmen klarer, die Erinnerung an die schrecklichen Momente in Larchmont deutlicher.
Schließlich öffnete sie die Augen.
Baudelio, Socorro und Miguel sahen alle in eine andere Richtung und merkten deshalb nicht, was geschah.
Jessica spürte, wie das Gefühl in ihren Körper zurückkehrte, und verstand deshalb nicht, warum sie Arme und Beine nur wenige Millimeter bewegen konnte. Dann sah sie, daß ihr linker Arm, den sie im Blickfeld hatte, mit einem Gurt gefesselt war, und erkannte, daß sie in einer Art Krankenbett lag, an dem man sie mit Armen und Beinen festgebunden hatte.
Sie drehte den Kopf ein wenig und erstarrte vor Entsetzen über das, was sie entdeckte.
Nicky lag auf einem zweiten Bett, festgebunden wie sie. Angus, neben ihm, war ebenfalls gefesselt. Und dann - o Gott, nein! - entdeckte sie die beiden offenen Särge, der eine etwas kleiner als der andere und beide offensichtlich für Nicky und sie selbst bestimmt.
Urplötzlich begann sie zu schreien und wild an ihren Fesseln zu zerren. In ihrer wahnsinnigen Angst schaffte sie es, den linken Arm loszureißen.
Die drei Verschwörer wirbelten herum, als sie den Schrei hörten. Einen Augenblick lang war Baudelio, der sofort hätte reagieren müssen, zu überrascht, um sich zu bewegen. Inzwischen hatte Jessica alle drei gesehen.
Sie riß noch immer wie rasend an ihren Fesseln und tastete verzweifelt mit der Linken nach etwas, das sie als Waffe benutzen konnte, um sich und Nicky zu beschützen. Der Tisch mit den Instrumenten stand neben ihr. Unter ihren suchenden Fingern spürte sie plötzlich etwas, das sich anfühlte wie ein Schälmesser. Es war ein Skalpell.
Baudelio hatte sich inzwischen wieder gefangen und lief zu ihr hin. Er sah, daß Jessicas Arm frei war, und versuchte, ihn mit Socorros Hilfe wieder festzubinden.
Aber Jessica war schneller. In ihrer Verzweiflung holte sie mit dem Metallgegenstand in ihrer Hand weit aus und traf zuerst Baudelios Gesicht, dann Socorros Hand. Zuerst waren nur dünne rote Linien zu sehen. Sekunden später quoll Blut hervor.
Baudelio ignorierte den Schmerz und versuchte, den wild um sich schlagenden Arm festzuhalten. Miguel stürzte hinzu, schlug Jessica brutal mit der Faust ins Gesicht und half Baudelio. Während Blut aus Baudelios Wunde auf Jessica tropfte, schafften sie es, Jessicas Arm wieder an das Bett zu fesseln.
Miguel riß Jessica das Skalpell aus der Hand. Sie wehrte sich noch immer, doch es nützte nichts. Tränen der Wut und der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen.
Doch noch war die Situation nicht bereinigt. Auch bei Nicky ließ die Wirkung des Betäubungsmittels nach. Die Schreie und die Erkenntnis, daß seine Mutter neben ihm lag, ließen ihn schneller zu Bewußtsein kommen. Er begann ebenfalls zu schreien und an seinen Fesseln zu zerren, doch er konnte sich nicht befreien.
Angus, der seine Spritze später als die beiden anderen bekommen hatte, rührte sich nicht.
Der Lärm und die Verwirrung waren inzwischen fast unerträglich, doch Baudelio und Socorro wußten, daß sie jetzt vor allem anderen ihre eigenen Wunden behandeln mußten. Socorro, die weniger schlimm verletzt war, klebte sich ein Pflaster auf die Hand und wandte sich Baudelio zu. Sie legte ihm einen Verband aus Gazekompressen an, doch der war in kürzester Zeit blutdurchtränkt.
Baudelio hatte inzwischen den ersten Schock überwunden; er nickte ihr dankend zu, deutete dann auf den Tisch mit seinen Instrumenten und murmelte: »Hilf mir.«
Socorro zog den Gurt an Jessicas linkem Oberarm fester. Baudelio hatte bereits eine Propofol-Injektion vorbereitet, die er ihr nun in die Vene spritzte. Jessica konnte nur entsetzt zusehen, sie schrie und kämpfte gegen die Wirkung des Mittels an, bis ihr die Augen zufielen und sie wieder ohnmächtig wurde.
Bei Nicky wiederholten die beiden den Vorgang. Auch er hörte auf zu schreien und fiel in die Kissen zurück.
Weil sie nicht riskieren wollten, daß auch der alte Mann aufwachte und Schwierigkeiten machte, gaben sie Angus ebenfalls eine Injektion.
Miguel hatte die ganze Zeit schäumend vor Wut, aber ohne etwas zu sagen, im Hintergrund gestanden. Nun schrie er Baudelio mit zornig blitzenden Augen an: »Du unfähiger Idiot! Pinche cabrön! Du hättest beinahe alles vermasselt! Weißt du überhaupt, was du tust?«
»Ja, das weiß ich«, antwortete Baudelio. Trotz der Gazekompressen lief ihm Blut über das Gesicht. »Ich habe mich verschätzt. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Ohne etwas zu antworten, stürmte Miguel mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer.
Sobald er verschwunden war, untersuchte Baudelio in einem Handspiegel seine Wunde. Zwei Dinge waren ihm sofort klar. Zum einen würde ihm für den Rest seines Lebens eine von der Schläfe bis zum Kinn reichende Narbe bleiben. Zum zweiten, und das war wichtiger, mußte die tiefe Wunde sofort genäht werden. Doch unter den gegebenen Umständen konnte er weder ins Krankenhaus noch zu einem Arzt gehen. Er hatte keine andere Wahl, als sich selbst zu nähen, gleichgültig, wie schwierig und wie schmerzhaft es würde. Socorro mußte ihm helfen, so gut sie eben konnte.
Zu Beginn seines Studiums hatte Baudelio wie jeder angehende Mediziner gelernt, wie man kleine Wunden näht. Später konnte er als Narkosearzt bei Hunderten solcher Operationen zusehen. Während seiner Arbeit für Medellin hatte er selbst des öfteren genäht und wußte inzwischen sehr gut, was zu tun war.
Mit zitternden Knien setzte er sich vor den Spiegel und sagte Socorro, sie solle ihm seine Arzttasche bringen. Er suchte sich medizinische Nadeln, Seidenfaden und Lidocain, ein örtliches Betäubungsmittel, heraus.
Dann erklärte er Socorro, was zu tun war. Wie gewöhnlich sagte sie außer einem gelegentlichen »Si!« oder »Esta bien!« kaum etwas. Auch Baudelio verlor nicht viele Worte, sondern begann, sich an den Rändern der Wunde Lidocain zu injizieren.
Die ganze Prozedur dauerte fast zwei Stunden, und trotz der örtlichen Betäubung war der Schmerz fast unerträglich. Einige Male hätte Baudelio beinahe das Bewußtsein verloren. Sein Hand zitterte häufig, und das machte die Stiche unregelmäßig. Erschwerend kam noch hinzu, daß er spiegelverkehrt arbeiten mußte. Socorro gab ihm, was er verlangte, und stützte ihn, wenn er kurz vor dem Zusammenbruch stand. Doch schließlich hatte er es geschafft, und obwohl einige ungeschickte Stiche die Narbe noch häßlicher machen würden, als er ursprünglich angenommen hatte, war die Wunde nun geschlossen und würde heilen.
Baudelio wußte sehr gut, daß der schwierigste Teil seines Auftrags noch vor ihm lag und daß er nun Ruhe brauchte; er nahm deshalb zweihundert Milligramm Seconal und legte sich schlafen.
3
Etwa gegen 11 Uhr 50 hatte Harry Partridge in der Wohnung in Port Credit den Fernseher auf einen Sender aus Buffalo, New York, eingeschaltet - einer Tochtergesellschaft von CBA. Da die Signale des Senders ungehindert über die nur sechzig Meilen des Lake Ontario kamen, waren sie in der Gegend um Toronto gut zu empfangen.
Vivien war ausgegangen und würde erst später zurückkehren.
Partridge hoffte, in den Mittagsnachrichten Neues über die Flugzeugkatastrophe vom Tag zuvor zu erfahren. So saß er bereits vor dem Gerät, als das gewohnte Programm um 11 Uhr 55 von der Sondermeldung unterbrochen wurde.
Er war entsetzt und schockiert wie jeder andere auch. Stimmte das wirklich, fragte er sich, oder hatte da nur jemand entsetzlichen Unsinn gemacht? Aber aus Erfahrung wußte er, daß CBA News keine Sondermeldung bringen würde, ohne vorher die Authentizität der Geschichte geprüft zu haben.
Während er Don Ketterings Gesicht auf dem Bildschirm sah und seinem Bericht zuhörte, regte sich in ihm vor allem eine tiefe Sorge um Jessica. Und dazu kam ein Gefühl der kameradschaftlichen Verbundenheit und des Mitgefühls mit Crawford Sloane.
Partridge wußte auch, ohne lange darüber nachdenken zu müssen, daß sein Urlaub, der eben erst begonnen hatte, schon wieder vorbei war. Er war deshalb auch gar nicht überrascht, als er eine Dreiviertelstunde später angerufen und gebeten wurde, in die CBA News- Zentrale nach New York zu kommen. Überraschend war nur, daß Crawford Sloane ihn höchstpersönlich darum bat.
Partridge hörte sofort, daß Sloane seine Stimme kaum unter Kontrolle halten konnte. Gleich nach der Begrüßung sagte er: »Ich brauche dich dringend, Harry. Les und Chuck stellen gerade eine Spezialeinheit zusammen. Sie wird auf zwei Ebenen vorgehen: einmal die tägliche Berichterstattung besorgen und zum anderen intensivste Ermittlungen anstellen. Sie haben mich gefragt, wen ich als Leiter der Truppe wollte. Und ich kann mir eigentlich nur einen einzigen vorstellen - dich, Harry.«
Plötzlich erkannte Partridge, daß sie sich in all den Jahren, die sie sich nun schon kannten, nie nähergestanden hatten als in diesem Augenblick. »Halt die Ohren steif, Crawf«, erwiderte er. »Ich komme mit der nächsten Maschine.«
»Danke, Harry. Hast du besondere Wünsche, was deine Mitarbeiter angeht?«
»Ja. Treibt Rita Abrams auf, ich glaube, sie ist irgendwo in Minnesota. Und Minh Van Canh ebenfalls.«
»Falls sie nicht schon auf dich warten, wenn du ankommst, dann sind sie kurz nach dir da. Sonst noch jemand?«
Partridge überlegte nur kurz und sagte dann: »Teddy Cooper aus London.«
»Cooper?« Sloane sagte der Name zunächst nichts, doch dann erinnerte er sich: »Ist das nicht der Ermittlungsspezialist aus unserer dortigen Redaktion?«
»Genau.«
Teddy Cooper war Engländer, fünfundzwanzig und Produkt einer Red Brick University, wie die Briten diese Erziehungseinrichtungen aus dem neunzehnten Jahrhundert etwas snobistisch nannten. Mit seiner fröhlichen Cockney-Art wirkte er wie eine Figur aus Me and My Girl. Was ihn in Partridges Augen aber fast zum Genie machte, war seine Fähigkeit, aus gewöhnlichen Nachforschungen akribische Detektivarbeit zu machen und sie mit höchst intelligenten Schlußfolgerungen voranzutreiben.
Während eines Einsatzes in Europa hatte Partridge Cooper kennengelernt, der zu dieser Zeit als kleiner Bibliotheksangestellter bei der BBC arbeitete. Partridge war damals sehr beeindruckt von einigen Recherchen, die Cooper für ihn angestellt hatte. Deshalb hatte er auch darauf gedrängt, daß die Londoner CBA-Redaktion ihn einstellte, und er hatte ihm so zu einer besseren Bezahlung und einer beruflichen Perspektive verholfen.
»Du kriegst ihn«, erwiderte Sloane. »Wir setzen ihn in die nächste Concorde, die England verläßt.«
»Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Partridge nun, »möchte ich dir ein paar Fragen stellen, damit ich auf dem Flug etwas zum Nachdenken habe. Meinst du, daß du das schaffst?«
»Natürlich. Schieß los.«
Was folgte, war mehr oder weniger eine Wiederholung der Fragen, die FBI-Agent Havelock ihm bereits gestellt hatte. Hatte es Drohungen gegeben?... Irgendwelche besonderen Feindschaften?... Ungewöhnliche Erlebnisse?... Gab es schon einen Verdacht, irgendeine wenn auch noch so vage Vermutung, wer... ? Gab es Informationen, die in der Sondermeldung nicht erwähnt wurden?
Die Fragen waren notwendig, doch die Antworten fielen immer negativ aus.
»Fällt dir noch irgend etwas ein?« Partridge bohrte beharrlich weiter. »Irgendeine Kleinigkeit, die du bis jetzt noch gar nicht beachtet hast, die aber vielleicht mit der Entführung in Verbindung stehen könnte?«
»Im Augenblick kann ich nur mit nein antworten«, entgegnete Sloane. »Aber ich werde darüber nachdenken.«
Nach dem Ende des Gesprächs nahm Partridge seine Reisevorbereitungen wieder auf. Schon vor Sloanes Anruf hatte er damit begonnen, den Koffer zu packen, den er erst eine Stunde zuvor ausgepackt hatte.
Er rief bei Air Canada an und buchte einen Platz für den Flug um 14 Uhr 45 von Pearson International Airport nach New York, wo er um 16 Uhr auf dem La Guardia Airport eintreffen würde. Anschließend bestellte er ein Taxi, das ihn in zwanzig Minuten abholen sollte.
Nachdem sein Koffer gepackt war, kritzelte er einen Abschiedsgruß für Vivien auf einen Zettel. Er wußte, daß sie über seine plötzliche Abreise enttäuscht sein würde, aber das war er auch. Zu dem Abschiedsgruß gehörte auch ein großzügiger Scheck für die besprochene Renovierung der Wohnung.
Während er sich noch in der Wohnung nach einem günstigen Platz für Zettel und Scheck umsah, klingelte es. Das bestellte Taxi war bereits da.
Das letzte, was er sah, bevor er die Wohnung verließ, waren die Karten für das Mozartkonzert auf der Anrichte. Traurig dachte er darüber nach, daß sie - wie schon so viele Karten und Einladungen in der Vergangenheit - mehr als alles andere ein Symbol waren für das unbeständige Leben eines Fernsehreporters.
Die Maschine der Air Canada war eine Boeing 727 ohne First und Business Class, die nonstop nach New York flog. Da sich nur wenige Passagiere an Bord befanden, hatte Partridge eine ganze Sitzreihe mit drei Plätzen für sich. Er hatte Sloane versprochen, sich schon auf dem Flug Gedanken über die Entführung zu machen, und wollte nun bereits die Stoßrichtung ausarbeiten, die er und das Team einschlagen sollten. Doch er hatte nur sehr spärliche Informationen, und bald wurde ihm klar, daß er damit nicht weiterkam. Also ließ er es sein und hing bei einem Wodka-Tonic seinen Gedanken nach.
Die Beziehung zwischen ihm und Jessica war es, worüber er nachdachte.
In den Jahren, die seit seinem Aufenthalt in Vietnam vergangen waren, hatte er es sich angewöhnt, Jessica als Teil seiner Vergangenheit zu betrachten, als eine Frau, die er einmal geliebt hatte, zu der er aber nun keinen Bezug mehr hatte und die er sowieso nicht mehr erreichen konnte. In gewisser Weise, so erkannte Partridge nun, war dieses Denken ein Akt der Selbstdisziplin gewesen, ein Schutz gegen das Selbstmitleid, ein Gefühl, das er verabscheute.
Aber nun, da Jessica in Gefahr war, mußte er sich eingestehen, daß seine Gefühle für sie noch immer vorhanden, noch nie verschwunden waren. Gib's doch zu, du bist immer noch verliebt in sie. Ja, das bin ich. Und nicht nur in einen Schatten der Erinnerung, sondern in eine lebende, wirklich existierende Person.
Gleichgültig, welche Rolle er in der Suche nach Jessica spielen sollte - und Crawf selbst hatte ihn gebeten, eine führende zu übernehmen -, Harry Partridge wußte, daß diese Liebe zu Jessica ihm Kraft geben und ihn vorwärtstreiben würde, obwohl er sie natürlich geheimhielt und nur in seinem Innersten brennen ließ.
Doch plötzlich, aus einer für ihn charakteristischen Laune heraus, fragte er sich: Bin ich eigentlich untreu?
Untreu wem? Der toten Gemma natürlich!
Ach, liebste Gemma! Noch an diesem Morgen, während er über seine scheinbare Unfähigkeit zu weinen nachdachte, hatte er sich beinahe von der Erinnerung an sie überwältigen lassen. Aber dann hatte er sie beiseite geschoben, es wäre einfach zuviel für ihn gewesen. Nun kam diese Erinnerung an Gemma wieder. Sie wird immer zurückkommen, dachte er.
Einige Jahre nach seinem Einsatz in Vietnam und einigen anderen gefährlichen Aufträgen schickte CBA Partridge als Korrespondenten nach Rom. Er blieb dort fast fünf Jahre.
Ein Einsatz in Rom war für jeden Fernsehkorrespondenten ein Glücksfall. Der Lebensstandard war hoch, die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu anderen Großstädten eher niedrig, und obwohl natürlich ein gewisser Druck von New York herüberkam, war das Leben in Rom eher entspannt und locker.
Neben der Berichterstattung aus der Metropole und dem Umland gehörten auch Reportagen aus dem Vatikan zu Partridges Aufgaben. Deshalb reiste er auch des öfteren in päpstlichen Flugzeugen, im Troß der Journalisten, die Papst Johannes Paul II. auf seinen Pilgerfahrten in die ganze Welt begleiteten.
Auf einer dieser Reisen des Papstes lernte er Gemma kennen.
Partridge hatte es häufig amüsiert, wenn Außenstehende glaubten, auf päpstlichen Flugreisen übe man sich in Zurückhaltung und Anstand. Dem war nicht so. Für den hinteren Teil des Flugzeugs, wo die Presse untergebracht war, traf sogar das Gegenteil zu. Es wurde ständig gefeiert und getrunken - Getränke waren frei -, und auf langen Nachtflügen ging es bisweilen sogar recht frivol zu.
Ein Kollege von Partridge hatte das Flugzeug des Papstes einmal sehr treffend mit einem Ort verglichen, der, gleich Dantes Inferno, alle Ebenen zwischen Himmel und Hölle umfaßt. (Obwohl für die Reisen des Papstes verschiedene Flugzeuge eingesetzt wurden, war die spezielle Aufteilung des Passagierraums immer dieselbe.)
Im vorderen Teil des Flugzeugs befand sich eine geräumige Kabine für den Papst. Sie enthielt ein Bett und zwei oder drei große, bequeme Sessel.
Dahinter lag die Kabine für die unmittelbare Entourage des Papstes - Staatssekretär, Kardinäle, Leibarzt, persönlicher Sekretär und Kammerdiener. Im nächsten Abschnitt waren die Bischöfe und weniger hochgestellte Geistliche untergebracht.
Je nach Flugzeugtyp gab es irgendwo zwischen den vorderen Kabinen einen Lagerraum für die Geschenke, die der Papst während seiner Reise erhielt, und das waren nicht wenige.
Und schließlich die letzte Kabine - für die Presse. Die Sitzaufteilung entsprach hier der Touristenklasse, der Service dagegen war first class. Man wurde von allen Seiten bedient, Speisen und Weine waren exquisit. Auch für die Journalisten gab es großzügige Geschenke von der jeweiligen Fluggesellschaft, meistens Alitalia. Dort war man sich der Werbewirksamkeit solcher Nettigkeiten wohl bewußt.
Die Gruppe der Journalisten setzte sich aus Vertretern aller Medien zusammen, eine internationale Mischung aus Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehreportern, letztere begleitet von ihren Aufnahmeteams. Alle hatten ganz normale Interessen, der berufsbedingte Skeptizismus wurde bisweilen durch eine gewisse Ehrfurchtslosigkeit ergänzt.
Die Fernsehsender, obgleich sie das nie offen zugaben, sahen es durchweg lieber, wenn über kirchliche Ereignisse, wie die Papstreisen, von Korrespondenten berichtet wurde, die in Glaubensdingen nicht übermäßig engagiert waren. Religiöse Eiferer, gleich welcher Couleur, so fürchtete man, würden nur Unerträgliches liefern. Eine gesunde Zurückhaltung wurde bevorzugt.
In dieser Hinsicht entsprach Partridge den Anforderungen.
Im Jahr 1987, etwa sieben Jahre nach seinen eigenen Erfahrungen auf Papstreisen, sah Partridge den hervorragenden Fernsehbericht des ABC-Korrespondenten Judd Rose, der Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Los Angeles begleitete. Mit seinem Kommentar bewegte er sich geschickt auf dem schmalen Grad zwischen Tatsachenbericht und süffisantem Skeptizismus.
Für die Medienmetropole Hollywood dürfte dieses Medienereignis ein Geschenk des Himmels sein. Der Pomp einer königlichen Hochzeit und der Rummel eines Football-Endspiels - all das mit einer gewaltigen Komparserie und dem zur Zeit meistgefragten Star auf dem Markt... Technologie des Raumzeitalters und dramatische Bilder - das ist es, was Johannes Paul und die Kameras lieben.
Der Papst wird sorgfältig in Szene gesetzt und abgeschirmt. Er äußert häufig seine Meinung, und wir hören zu, selten umgekehrt. Für die Fragen der Reporter hat er nur im Flugzeug gelegentlich Zeit... Die Medien haben über die Ereignisse erschöpfend berichtet. Die Reise des Papstes ist zu einem elektronischen Spektakel geworden wie Live Aid oder Liberty Weekend, und manche Katholiken mögen sich fragen, ob es überhaupt noch einen Unterschied gibt.
Theologie und Technologie - wahrlich eine mächtige Allianz, die Johannes Paul wie kein anderer Papst je zuvor benutzt, um seine Botschaft zu verkünden. Die Welt schaut zu, der große Verkünder aber muß sich fragen, ob sie auch zuhört.
Rose hatte absolut recht, dachte Partridge, in bezug auf die seltenen Gelegenheiten, dem Papst auf seinen Flugreisen Fragen zu stellen. Wie gut aber, daß es sie überhaupt gab, denn sonst wäre es damals auch nicht zu jenem kurzen Austausch von Fragen und Antworten gekommen, bei dem Gemma und er sich...
Es war auf einer längeren Reise von Papst Johannes Paul -eine Reise in beinahe ein Dutzend Länder Mittelamerikas und der Karibik - an Bord einer DC-10 der Alitalia. Nach einem Nachtflug, zwei Stunden vor der planmäßigen Ankunft, erschien der Papst am frühen Morgen unangekündigt in der Pressekabine. Er trug eine weiße Soutane, auf dem Kopf einen Zucchetto, und leichte braune Slipper - seine Alltagskleidung, die er nur für päpstliche Messen gegen ein prächtigeres Gewand eintauschte.
Johannes Paul schien nachdenklich, als er in der Nähe von Harry Partridge stehenblieb. Scheinwerfer leuchteten auf, die ersten Reporter schalteten ihre Aufnahmegeräte ein.
Partridge war aufgestanden und erkundigte sich höflich: »Haben Eure Heiligkeit gut geschlafen?« - womit er hoffte, ein brauchbares Interview einleiten zu können.
Der Papst antwortete lächelnd: »Nur wenige.«
Leicht verwirrt fragte Partridge: »Nur wenige, Eure Heiligkeit? Nur wenige Stunden?«
Die Antwort war nur ein leichtes Kopfschütteln. Obgleich Johannes Paul mehrere Sprachen beherrschte, haperte es mit seinem Englisch. Sicher hätte Partridge nun ins Italienische ausweichen können, aber er wollte ein Interview in der Sprache der Fernsehzuschauer von CBA.
Er entschloß sich zu einer gezielteren Frage. Schon seit einigen Wochen hatte es Diskussionen und Kontroversen über eine mögliche Reise des Papstes in die Sowjetunion gegeben. »Eure Heiligkeit«, fragte Partridge, »ist es richtig, daß Sie Rußland besuchen wollen?«
Diesmal gab es ein klares »Ja«. Dann fügte der Papst hinzu: »Die Polen und die Russen sind alle Sklaven. Aber es ist mein Volk.«
Noch bevor jemand darauf reagieren konnte, wandte sich der Papst ab und kehrte in seine Privatkabine zurück.
Sofort setzte unter den Reportern ein Geraune von Fragen und Spekulationen in mehreren Sprachen ein. Das Bordpersonal der Alitalia unterbrach seine Frühstücksvorbereitungen und hörte aufmerksam zu. Einer der Presseleute fragte: »Hast du gehört, was er gesagt hat? - Sklaven!«
Partridge warf seinem Kameramann und seinem Tontechniker einen fragenden Blick zu. Beide nickten. Der Tontechniker sagte: »Alles drauf.«
Dann wurde ein Aufnahmegerät abgespielt. Das Wort «Sklaven« war deutlich zu hören.
Ein britischer Reporter gab zu bedenken: »Er kann eigentlich nur >Slawen< gemeint haben, denn er ist selbst Slawe. Anders macht das Ganze doch keinen Sinn.«
»Ohne die >Sklaven< würde uns aber 'ne verdammt gute Story entgehen«, hörte man eine andere Stimme.
Mit Sicherheit würde es das. Auch Partridge war sich dessen bewußt. Eine wörtliche Wiedergabe des Gesagten würde weltweites Interesse und Diskussionen auslösen und möglicherweise zu einem politischen Eklat führen, mit gegenseitigen Anschuldigungen zwischen dem Kreml, Warschau und dem Vatikan. Der Erfolg der ansonsten so triumphalen Reise des Papstes wäre dadurch ernsthaft in Frage gestellt.
Partridge gehörte zu den älteren und erfahreneren Journalisten innerhalb der Gruppe und wurde von seinen Kollegen respektiert. Einige schienen eine Stellungnahme von ihm zu erwarten.
Er dachte kurz nach. Da war eine lebendige Geschichte, auf den Reisen des Papstes eher eine Seltenheit. Wann würde es das wieder geben? Als Atheist neigte er dazu, sie zu bringen. Doch bei aller Ungläubigkeit hatte er sich ein natürliches Gefühl für Anstand bewahrt und, im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen, eine berufliche Moral.
Nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte, sagte Partridge deutlich und für jeden vernehmbar: »Er hat >Slawen< gemeint. Ganz eindeutig. Den Lapsus werde ich nicht übernehmen.«
Es gab weder eine Diskussion noch ausdrückliche Zustimmung, und doch stellte sich später heraus, daß keiner sich über Partridges Bewertung hinweggesetzt hatte.
Während Reporter und Aufnahmeleute auf ihre Plätze zurückkehrten, nahm das Flugpersonal seine Arbeit wieder auf.
Als man Partridge sein Frühstückstablett reichte, fand er darauf etwas, das die anderen nicht bekommen hatten - ein kleines Glas mit einer Rose.
Er sah auf zu einer lächelnden jungen Stewardess in einem figurbetonenden grün-schwarzen Kostüm. Sie hatte das Tablett gebracht. Partridge hatte sie zuvor schon öfters bemerkt und gehört, daß ihre Kollegen sie Gemma nannten. Jetzt aber machte ihre Nähe ihn atemlos und, für einen Augenblick, sprachlos.
Immer wieder, besonders in Zeiten schrecklicher Einsamkeit, sollte er sich an den Zauber dieser ersten Begegnung mit Gemma erinnern - an die Schönheit ihrer dreiundzwanzig Jahre, den Glanz ihrer langen dunklen Haare, ihre strahlenden braunen Augen und an diese Lebensfreude gleich einer süß duftenden Frühlingsblume auf einer grünen, sonnenüberfluteten Wiese.
Ungewöhnlich verlegen zeigte er auf die Rose. Später sollte er erfahren, daß sie sie aus der Kabine des Papstes entwendet hatte. Nun fragte er: »Warum für mich?«
Sie lächelte zu ihm herunter und sagte mit einem weichen italienischen Akzent: »Ich habe sie Ihnen gebracht, weil Sie ein guter, liebenswerter Mann sind. Ich mag Sie.«
Selbst ihm erschien seine Antwort unpassend und banal. »Ich mag Sie auch.«
Aber banal oder nicht, diese kurzen Augenblicke waren der Anfang seiner großen dauernden Liebe zu Gemma.
Kurz vor der Landung in New York kehrten Partridges Gedanken in die Gegenwart zurück. Er war der erste, der das Flugzeug verließ, und durchquerte schnell die Abfertigungshalle von La Guardia. Da er nur Handgepäck hatte, konnte er den Flughafen ohne weitere Verzögerung verlassen. Mit einem Taxi fuhr er zur Zentrale von CBA News.
Er ging zu Chuck Insens Büro, fand es aber leer. Ein Senior Producer rief ihm vom Hufeisen zu: »Hi, Harry! Chuck ist bei der Pressekonferenz, die für Crawf angesetzt wurde. Die ganze Sache wird aufgenommen. Du kannst dir das Band nachher ansehen.«
Während Partridge auf das Hufeisen zuging, fügte der Producer hinzu: »Übrigens, falls du es noch nicht weißt, Crawf setzt heute abend aus. Du wirst die Nachrichten moderieren.«
4
Im Hauptquartier der Medellin-Bande in Hackensack ließ Miguel den ganzen Abend das Radio laufen. Abwechselnd mit einigen anderen sah er sich auch auf einem tragbaren Fernseher die Nachrichten der verschiedenen Sender an, die alle über die Entführung der Sloanes berichteten.
Trotz des immensen Interesses und der ausufernden Spekulationen wurde deutlich, daß man über Identität oder Motive der Entführer noch nichts wußte. Die Behörden hatten auch keine Ahnung, welchen Fluchtweg die Entführer genommen hatten und in welcher Gegend sie sich mit ihren Opfern versteckt hielten. Einige der Berichte deuteten an, daß sie bereits viele Meilen von New York entfernt sein könnten. In anderen war zu erfahren, daß verdächtige Fahrzeuge bei Straßensperren in so entfernten Gegenden wie Ohio, Virginia und an der kanadischen Grenze aufgehalten worden waren. Einige Verbrecher waren verhaftet worden, doch keiner stand in Verbindung mit der Entführung.
Beschreibungen des Nissan Kleinbusses, den man als Tatfahrzeug vermutete, wurden auch weiterhin verbreitet. Das bedeutete, daß der Bus, den Carlos in White Plains abgestellt hatte, noch nicht gefunden worden war. Carlos war schon vor Stunden wohlbehalten in Hackensack angekommen.
Miguel und die anderen empfanden bei diesen Neuigkeiten eine gewisse Erleichterung, obwohl sie natürlich wußten, daß die Polizei in ganz Nordamerika sie suchte und sie nur vorläufig in Sicherheit waren. Weil noch immer Gefahr in der Luft lag, hatte Miguel einen Wachplan ausgearbeitet. Im Augenblick patrouillierten Luis und Julio mit Beretta Maschinenpistolen vor dem Haus, wobei sie versuchten, sich im Schatten des Haupthauses und der Nebengebäude zu verstecken.
Miguel wußte, wenn ihr Versteck entdeckt wurde und die Polizei mit großer Mannschaft anrückte, dann hätten sie nur geringe Chancen zu entkommen. Es gab eindeutige Anweisungen für diesen Fall: Keines der Entführungsopfer durfte der Polizei lebend in die Hände fallen. Nur traf der Befehl jetzt auf drei statt auf zwei Opfer zu.
Von den unterschiedlichen Nachrichtensendungen interessierte Miguel die National Evening News von CBA am meisten. Er stellte amüsiert fest, daß Crawford Sloane an diesem Abend nicht in seinem Moderatorensessel saß; ein Mann namens Partridge hatte seinen Platz eingenommen. Miguel erinnerte sich verschwommen daran, ihn schon einmal gesehen zu haben. Sloane wurde dafür während der Sendung interviewt und bei der zuvor aufgezeichneten Pressekonferenz gezeigt.
Die Pressekonferenz war gut besucht. Reporter von den Printmedien, von Fernsehen und Rundfunk drängten sich mit ihren Kamera- und Tonteams in dem dafür vorgesehenen Saal in einem anderen Gebäude von CBA, nur wenige Blocks von der Nachrichtenzentrale entfernt. Auf einer Bühne waren hastig Klappstühle aufgestellt worden, die jedoch für die Anwesenden bei weitem nicht ausreichten.
Eine formelle Vorstellung war unnötig, und Crawford Sloane begann sofort mit einer kurzen Erklärung. Er sprach von seinem Entsetzen und seiner Sorge und flehte dann die Medien und die Öffentlichkeit an, mit Informationen zur Lösung dieses Falles beizutragen. Er gab bekannt, daß man bei CBA extra zu diesem Zweck eine Telefonzentrale mit Freileitungen eingerichtet habe.
»Sie werden sich vor Spinneranrufen nicht mehr retten können.«
»Das müssen wir riskieren«, erwiderte Sloane. »Was wir brauchen, sind einige wenige Schlüsselinformationen. Und irgendwo gibt es bestimmt irgend jemand, der sie uns liefern kann.«
Zweimal während seiner Erklärung mußte Sloane innehalten, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Und jedesmal gab es im Saal ein mitfühlendes Schweigen. Ein Reporter der Los Angeles Times beschrieb ihn tags darauf als »würdevoll und beeindruckend trotz der entsetzlichen Umstände«.
Sloane gab bekannt, daß er auch Fragen beantworten wolle.
Zunächst waren die Fragen ebenfalls sehr mitfühlend. Doch mit der Zeit wurden sie unweigerlich härter.
Ein Reporterin von Associated Press wollte wissen: »Halten Sie es für möglich, daß Ihre Familie, wie einige vermuten, von ausländischen Terroristen entführt wurde?«
Sloane schüttelte den Kopf. »Es ist noch zu früh, um überhaupt an so etwas zu denken.«
AP ließ nicht locker. »Sie weichen der Frage aus. Ich fragte, ob Sie es für möglich halten.«
»Ich nehme an, daß es möglich ist«, gestand Sloane ein.
Der Reporter eines lokalen Fernsehsenders stellte die abgedroschene, aber unausweichliche Frage: »Wie fühlen Sie sich dabei?«
Ein anderer stöhnte auf, und Sloane hätte am liebsten geantwortet: Wie zum Teufel würdest du dich denn fühlen? Statt dessen antwortete er: »Ich hoffe natürlich, daß es nicht stimmt.«
Ein grauhaariger ehemaliger CBA-Korrespondent, der nun für CNN arbeitete, hielt ein Exemplar von Sloanes Buch hoch. »Sind Sie auch weiterhin der Meinung, wie Sie hier geschrieben haben, daß >Geiseln im Notfall zu opfern sindc, und sind Sie noch immer dagegen, Lösegeld zu zahlen, >ob nun auf direktem oder indirektem Wege, wie Sie es nennen?«
Sloane hatte diese Frage erwartet und antwortete: »Ich glaube nicht, daß jemand, der so direkt betroffen ist wie ich, sich darüber in diesem Augenblick objektiv äußern kann.«
»Also kommen Sie, Crawf«, fuhr der CNN-Mann beharrlich fort. »Wenn Sie hier an meiner Stelle stehen würden, würden Sie das von niemandem als Antwort akzeptieren. Ich will die Frage umformulieren: Bedauern Sie, diese Worte geschrieben zu haben?«
»In diesem Augenblick«, erwiderte Sloane, »muß ich gestehen, daß es mir lieber wäre, wenn sie nicht gegen mich verwendet würden.«
»Sie werden nicht gegen Sie verwendet, aber Sie weichen immer noch aus.«
Die Reporterin eines Nachrichtenmagazins von ABC hob ihre penetrante Stimme: »Sie sind sich doch sicher bewußt, daß Ihre Forderung, amerikanische Geiseln seien im Notfall zu opfern, bei Familien, deren Angehörige noch immer im Mittleren Osten gefangengehalten werden, große Angst und Bestürzung ausgelöst hat. Haben Sie mit diesen Familien jetzt mehr Mitleid?«
»Ich hatte immer Mitleid«, antwortete Sloane, »aber nun verstehe ich vermutlich die Angst dieser Familien besser.«
»Wollen Sie damit sagen, daß das, was Sie geschrieben haben, falsch war?«
»Nein«, erwiderte er leise. »Das will ich damit nicht sagen.«
»Wenn also Lösegeld verlangt wird, werden Sie sich beharrlich weigern?«
Er hob in einer hilflosen Geste die Hand. »Sie verlangen von mir, über etwas Spekulationen anzustellen, das noch gar nicht eingetroffen ist. Das werde ich nicht tun.«
Sloane gefiel diese Art der Befragung zwar nicht, mußte sich aber eingestehen, daß er selbst schon bei Pressekonferenzen als Fragesteller mit ähnlich harten Bandagen gekämpft hatte.
Von Newsday kam nun eine etwas weniger brisante Frage:
»Von Ihrem Sohn Nicholas wissen wir nicht viel, Mr. Sloane.«
»Weil wir die Privatsphäre unserer Familie schützen wollten. Meine Frau besteht darauf.«
»Diese Privatsphäre existiert aber nun nicht mehr«, fuhr der Reporter fort. »Ich habe gehört, Nicholas sei ein begabter Musiker, der vielleicht eines Tages Konzertpianist wird. Stimmt das?«
Sloane wußte, daß Jessica unter anderen Umständen diese Frage zurückgewiesen hätte. Aber in diesem Augenblick sah er keine Möglichkeit, sie nicht zu beantworten.
»Unser Sohn liebt die Musik, schon von frühester Kindheit an, und seine Lehrer sagen, daß er für sein Alter sehr fortgeschritten sei. Ob er aber Konzertpianist oder irgend etwas anderes wird, muß die Zukunft zeigen.«
Als nach einer Zeit dann die Fragen immer spärlicher kamen, trat Leslie Chippingham vor und erklärte die Konferenz für beendet.
Sloane wurde sofort umringt von Leuten, die ihm die Hand schütteln und ihm alles Gute wünschen wollten. Doch sobald es ging, machte er sich davon.
Nachdem Miguel alles gesehen hatte, was ihn interessierte, schaltete er den Fernseher ab und dachte über das, was er soeben erfahren hatte, nach.
Weder das Medellin-Kartell noch der Sendero Luminoso standen im Verdacht, mit der Entführung zu tun zu haben. Im Augenblick war das sehr nützlich. Ähnlich nützlich war die Tatsache, daß weder von ihm noch von den sechs anderen Entführern Beschreibungen existierten. Denn wenn die Behörden welche erhalten hätten, wären sie mit Sicherheit bereits im Umlauf.
Bei diesem Stand der Dinge, so überlegte sich Miguel, konnte er an das, was er als nächstes vorhatte, etwas ruhiger herangehen.
Er brauchte mehr Geld, und um es zu bekommen, mußte er noch heute abend telefonieren und für den nächsten Morgen ein Treffen in oder in der Nähe der Vereinten Nationen verabreden.
Von Anfang an war es ein Problem gewesen, genügend Geld in die Vereinigten Staaten zu schleusen. In Peru hatte Sendero Luminoso, der die Operation finanzierte, genug Geld. Die Schwierigkeit lag in der Umgehung der peruanischen Devisengesetze und dem Transfer von US-Dollars nach New York, der natürlich heimlich, ohne daß Quelle, Transferweg und Bestimmungsort bekannt wurden, vor sich gehen mußte.
Man hatte es sehr geschickt angestellt und sich dabei der Hilfe eines revolutionären Symphatisanten, eines Verbündeten des Sendero an einflußreicher Stelle im peruanischen Bankensystem, bedient. Dessen Komplize in New York war ein peruanischer Diplomat, ein ranghoher Mitarbeiter des peruanischen Gesandten bei den Vereinten Nationen.
Insgesamt waren 750000 Dollar vom Medellin-Kartell und vom Sendero Luminoso bereitgestellt worden. Das Geld wurde verwendet für den Sold, die Reisekosten und den Lebensunterhalt der am Unternehmen Beteiligten, für die Anmietung eines geheimen Hauptquartiers, den Kauf der sechs Fahrzeuge und der Särge, für Zahlungen an gewisse Leute in Little Columbia in Queens, die für Unterstützung und Waffen gesorgt hatten, für Provisionen, die in Peru und New York beim Geldtransfer anfielen, und für die Bestechung einer amerikanischen Bankmanagerin. Darin eingeschlossen waren auch die Kosten für die Anmietung einer Privatmaschine, in der die Gefangenen aus den Vereinigten Staaten nach Peru gebracht werden sollten.
Fast das gesamte Geld, das bis jetzt in New York ausgegeben worden war, hatte Miguel von seinem Verbindungsmann bei den Vereinten Nationen in bar erhalten.
Der Transfer lief folgendermaßen ab: Der Banker in Lima tauschte aus dem Betrag, den man ihm anvertraut hatte, jeweils 50000 Dollar heimlich um. Das Geld überwies er an eine Bank an der Dag Hammarskjöld Plaza in der Nähe der Vereinten Nationen, wo es auf einem Sonderkonto der peruanischen UNDelegation deponiert wurde. Von der Existenz dieses Sonderkontos wußten nur Jose Antonio Salaverry, eben jener vertrauenswürdige Assistent des Gesandten, der die Befugnis hatte, Schecks auszustellen, und die stellvertretende Direktorin der Bank, Helga Efferen. Die Frau kümmerte sich persönlich um das Konto.
Jose Antonio Salaverry war ebenfalls ein heimlicher Sympathisant von Sendero Luminoso, was ihn jedoch nicht daran hinderte, für den Geldtransfer Provision zu verlangen. Helga schlief regelmäßig mit dem doppelzüngigen Salaverry, und beide kultivierten, um mit dem betuchten Diplomatenvölkchen um die Vereinten Nationen mithalten zu können, einen Lebensstil, der ihre Mittel überstieg. Aus diesem Grund war ihnen das Geld, das sie mit ihren heimlichen Transaktionen verdienten, sehr willkommen.
Sooft Miguel Geld brauchte, rief er Salaverry an und nannte den Betrag. Man verabredete sich für den nächsten oder übernächsten Tag, für gewöhnlich an einem Treffpunkt im Gebäude der Vereinten Nationen, manchmal auch woanders. Salaverry brachte das Geld in einem Aktenkoffer, mit dem Miguel anschließend wegging.
Nur eins machte Miguel Sorgen. Bei einer Gelegenheit hatte Salaverry angedeutet, daß er zwar nicht genau wisse, wofür das Geld verwendet werde, und daß er auch das Versteck der Medellin-Gruppe nicht kenne, aber immerhin gewisse Vorstellungen von ihren Operationen habe. Das mußte bedeuten, daß es in Peru eine undichte Stelle gab. Miguel konnte im Augenblick nichts dagegen tun, doch er war bei seinen Kontakten mit Jose Antonio Salaverry immer auf der Hut.
Miguel warf einen flüchtigen Blick auf das Funktelefon neben sich. Einen Moment lang war er in Versuchung, es zu benutzen, doch er wußte, daß er das nicht durfte, sondern von draußen telefonieren mußte. In einem Cafe in der Nachbarschaft gab es einen Münzfernsprecher, den er schon öfters benutzt hatte. Er sah auf die Uhr: 19 Uhr 30. Wenn Miguel Glück hatte, war Salaverry bereits in seiner Wohnung in Zentrum von Manhattan.
Miguel zog einen Mantel an und verließ schnell das Haus. Er sah sich um, ob er in der Umgebung ungewöhnliche Aktivität entdeckte. Doch da war nichts.
Unterwegs fiel Miguel die Pressekonferenz mit Crawford Sloane wieder ein. Er war aufmerksam geworden, als ein von Sloane verfaßtes Buch erwähnt wurde. Offensichtlich hatte er darin die Forderungen aufgestellt, daß nie Lösegeld gezahlt werden dürfe und daß »Geiseln zur Not zu opfern« seien. Miguel hatte das Buch nicht gekannt, und er war sich sicher, daß man es im Medellin-Kartell oder bei Sendero Luminoso ebensowenig kannte. Aber er bezweifelte, daß das Wissen um die Existenz des Buches die Entscheidung, die Sloanes zu entführen, beeinflußt hätte; schließlich gab es oft einen großen Unterschied zwischen dem, was einer schrieb und veröffentlichte, und dem, was er wirklich dachte und tat. Aber inzwischen war das Buch sowieso nicht mehr relevant.
Ein weiterer interessanter Punkt bei dieser Pressekonferenz war die Beschreibung dieses mocoso, dieses Grünschnabels, der Konzertpianist werden wollte. Miguel wußte zwar noch nicht genau, was er mit dieser Information anfangen sollte, aber er prägte sie sich ein.
Als er das Cafe erreichte, sah er, daß nur wenige Leute im Gastraum saßen. Er betrat es, ging zu dem Telefon im hinteren Teil und wählte die Nummer, die er auswendig wußte. Nach drei Klingelzeichen meldete sich Salaverry. »Allo«, sagt er mit starkem spanischem Akzent.
Miguel klopfte dreimal mit dem Fingernagel auf die Sprechmuschel - sein Erkennungszeichen. Dann sagte er leise: »Morgen früh. Fünfzig Kisten.« Eine »Kiste« waren tausend Dollar.
Vom anderen Ende der Leitung kam ein erschrockenes Aufstöhnen. Und die Stimme, die folgte, klang verängstigt: »Estas loco? Daß Sie heute abend hier anrufen? Wo sind Sie? Kann der Anruf mitgehört werden?«
»Glauben Sie, ich bin ein pendejo?« entgegnete Miguel verächtlich. Doch zugleich merkte er, daß Salaverry ihn mit den Ereignissen dieses Tages in Verbindung brachte; ein Treffen mit ihm würde deshalb gefährlich sein. Aber er hatte keine andere Möglichkeit. Er brauchte Geld, um, unter anderem, einen zusätzlichen Sarg für Angus Sloane zu kaufen. Miguel wußte auch, daß auf dem Konto in New York noch eine Menge Geld lag, und er wollte etwas davon für sich selbst, bevor er das Land verließ. Er war sich ziemlich sicher, daß an Jose Antonio Salaverrys gierigen Fingern mehr als nur die Provision hängengeblieben war.
»Wir können uns morgen nicht treffen«, sagte Salaverry. »Es ist zu früh und außerdem viel zu kurzfristig, um das Geld aufzutreiben. Sie dürfen nicht...«
»Cällate! Verschwenden Sie nicht meine Zeit.« Miguel packte den Telefonhörer fester und versuchte, seine Wut zu beherrschen, damit die anderen im Cafe nichts verstanden. »Das ist ein Befehl. Besorgen Sie sich die fünfzig Kisten. Ich werde auf die übliche Art mit Ihnen Verbindung aufnehmen, kurz vor Mittag. Wenn Sie versagen, dann wissen Sie genau, wie wütend unsere gemeinsamen Freunde werden können und wie weit ihr Arm reicht.«
»Nein, nein! Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« Salaverrys Stimme hatte schnell einen einlenkenden Ton angenommen. Die Androhung eines Racheakts des berüchtigten Medellin-Kartells durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. »Ich werde tun, was ich kann.«
»Sie werden noch mehr tun, als Sie können«, sagte Miguel barsch. »Bis morgen dann.« Er hängte ein und verließ das Cafe.
Im Versteck in Hackensack bewachte Socorro die drei noch immer betäubten Gefangenen sehr aufmerksam. Während der ganzen Nacht injizierte sie ihnen, nach Baudelios Anweisungen, immer wieder Dosen des Propofol. Sie überwachte ihre Lebensfunktionen und machte sich Notizen. Kurz vor Tagesanbruch wachte Baudelio auf. Er warf einen kurzen Blick auf Socorros Notizen, nickte befriedigt und löste sie ab.
Gleich am frühen Morgen schaltete Miguel, der nur unruhig geschlafen hatte, wieder die Nachrichten ein. Die Entführung der Sloanes war zwar noch immer die Schwerpunktmeldung, doch gab es noch keine neuen Erkenntnisse.
Kurz darauf sagte Miguel zu Luis, daß sie beide gegen elf Uhr im Leichenwagen nach Manhattan fahren würden.
Der Leichenwagen war das sechste Fahrzeug der Gruppe, ein Cadillac, den sie in gutem Zustand gebraucht gekauft hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie ihn erst zweimal benutzt; ansonsten hatte er immer versteckt in einem der Nebengebäude gestanden. Die anderen nannten ihn el ängel negro, den schwarzen Engel. Der Boden im Inneren des Wagens war aus hübschem Rosenholz, eingebaute Gummirollen sorgten für ein problemloses Hineingleiten des Sargs. Der Himmel und die Seitenwände waren mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen.
Miguel hatte ursprünglich geplant, den Leichenwagen nur für die letzte Fahrt zum Flughafen vor ihrer Abreise nach Peru zu verwenden, doch inzwischen war er ganz offensichtlich das sicherste Fahrzeug. Die Personenwagen und der GMC Laster waren schon zu oft benutzt worden, vor allem während der Beschattung in Larchmont, und es bestand die Gefahr, daß die Polizei inzwischen Beschreibungen der Fahrzeuge besaß.
Das Wetter war schlechter geworden. Der Himmel war düster und wolkenverhangen, es regnete heftig, und es ging ein böiger Wind. Luis, der am Steuer saß, fuhr viele Umwege, er änderte öfters die Richtung und blieb zweimal stehen, um ganz sicherzugehen, daß sie nicht verfolgt wurden. Wegen der nassen Straßen und der schlechten Sicht fuhr Luis den Leichenwagen besonders vorsichtig. Nachdem sie am New Jersey-Ufer des Hudson in südlicher Richtung bis Weehawken gefahren waren, fuhren sie in den Lincoln Tunnel ein und waren um 11 Uhr 45 in Manhattan.
Miguel und Luis trugen beide dunkle Anzüge und Krawatten, dem Leichenwagen angemessen.
Nach Verlassen des Tunnels fuhren sie auf der Fortieth Street in östlicher Richtung. Wegen des heftigen Regens hatten sich Staus gebildet, und sie kamen nur quälend langsam voran. Miguel sah den Fußgängern zu, die sich auf überfüllten Bürgersteigen vorsichtig und unbeholfen bewegten.
Das Paradox, in einem Leichenwagen durch New York City zu fahren, amüsierte ihn. Einerseits war das Fahrzeug viel zu auffällig für ihre Zwecke, andererseits verlangte es aber auch Respekt. An einer Kreuzung hatte ein uniformierter Verkehrspolizist - ein »Brownie«, wie die New Yorker ihn nannten - den übrigen Verkehr angehalten und sie durchgewunken.
Miguel fiel auch auf, daß viele Leute nur einen flüchtigen Blick auf den Leichenwagen warfen und dann gleich wieder wegsahen. Er hatte dies schon öfters beobachtet und fragte sich nun: War es das Erinnertwerden an den Tod, an das große Vergessen, das sie aufschreckte? Miguel hatte keine Angst vor dem Tod; er hatte aber auch nicht die Absicht, anderen die Möglichkeit zu geben, den seinen zu beschleunigen.
Aber eigentlich war ihm die ganze Sache gleichgültig. Wichtig war nur, daß offenbar niemand in dieser Menschenmenge auf den Gedanken kam, in diesem Leichenwagen könnten zwei der meistgesuchten Männer Amerikas sitzen, zwei Täter eines Verbrechens, das die Sensation des gesamten Landes war. Der Gedanke faszinierte Miguel. Und er fand ihn sogar beruhigend.
An der Third Avenue bogen sie nach Osten ab, und kurz vor der Forty-fourth Street hielt Luis an und ließ Miguel aussteigen. Miguel stellte den Kragen auf und ging die letzten zwei Blocks in östlicher Richtung bis zu den Vereinten Nationen zu Fuß. Trotz seiner früheren Überlegungen hätte seine Ankunft in einem Leichenwagen für unnötige Aufmerksamkeit gesorgt. Luis hatte Anweisung, in der Zwischenzeit herumzufahren und in einer Stunde an der Stelle zu warten, wo er Miguel hatte aussteigen lassen. Wenn Miguel nicht auftauchte, sollte Luis es jede halbe Stunde wieder versuchen.
An der Ecke Forty-fourth Street kaufte Miguel einen Regenschirm, hatte aber wegen des Windes Schwierigkeiten beim Aufspannen. Wenige Minuten später überquerte er die First Avenue und ging auf die weiße Fassade des UN-Gebäudes zu. Wegen des Regens ragten die vielen Fahnenstangen nackt und unbeflaggt in den Himmel. Er ging an einem Gitterzaun und am Delegierteneingang vorbei und stieg schließlich eine breite Plattform zum Besuchereingang hoch. Da er nichts bei sich trug, winkte man ihn an der Kontrolle schnell durch, während andere ihre Taschen und Pakete öffnen mußten.
In der großen Eingangshalle warteten auf Bänken zahlreiche Besucher, deren Kleider und Gesichter so vielfältig waren wie die Vereinten Nationen selbst. Eine bolivianische Frau mit einer Melone auf dem Kopf saß stoisch auf ihrem Platz. Neben ihr spielte ein kleines schwarzes Kind mit einem weißen Stofflamm. In der Nähe saß ein alter, wettergegerbter Mann mit afghanischer Kopfbedeckung. Zwei bärtige Israelis stritten sich über Papiere, die sie zwischen sich ausgebreitet hatten. Und zwischendurch waren immer wieder weißhäutige amerikanische und britische Touristen zu sehen.
Miguel achtete nicht weiter auf die Wartenden, sondern ging auf ein Schild mit der Aufschrift »Führungen« im hinteren Teil der Halle zu. Neben dem Schild stand Jose Antonio Salaverry mit einem Diplomatenkoffer in der Hand.
Wie ein Wiesel, dachte Miguel, als er Salaverrys schmales, zusammengekniffenes Gesicht, den zurückweichenden Haaransatz und den dünnen Schnurrbart betrachtete. An diesem Tag schien der peruanische Diplomat, der sonst Ruhe und Selbstbewußtsein ausstrahlte, nervös zu sein.
Sie nickten sich zur Begrüßung nur knapp zu, dann führte Salaverry Miguel zu einem Informationsschalter, wo er ihn unter falschem Namen anmeldete. Miguel erhielt einen Besucherausweis. Für einen Delegierten wie Salaverry war ein solcher Vorgang kein Problem.
Während die beiden einen Säulengang entlanggingen, wurde durch die großen Glasscheiben ein Garten sichtbar und dahinter der East River. Ein Aufzug brachte sie in den ersten Stock, wo sie die Indonesian Lounge, die nur Diplomaten und ihren Gästen zugänglich war, betraten.
Der große, eindrucksvolle Saal, in dem Staatsoberhäupter empfangen wurden, enthielt einige wertvolle Kunstwerke, darunter auch den Türvorhang der heiligen Kaaba in Mekka, ein schwarzer, mit Gold und Silber eingelegter Teppich, den die Saudis den Vereinten Nationen zum Geschenk gemacht hatten. Auf einem dunkelgrünen Teppich standen weiße Ledersofas und Ledersessel, die alle so plaziert waren, daß gleichzeitig mehrere Unterredungen stattfinden konnten. Miguel und Salaverry nahmen in einer etwas abseits stehenden Sitzgruppe Platz.
Als sie sich ansahen, zuckten Jose Antonio Salaverrys Lippen verärgert. »Ich habe Sie gewarnt, daß es gefährlich ist, hierherzukommen! Das Risiko ist doch auch so schon groß genug.«
»Warum ist es ein Risiko, wenn ich hierherkomme?« fragte Miguel gelassen. Er mußte herausfinden, was dieser Schwächling wußte.
»Sie Narr! Sie wissen genau, warum. Das Fernsehen, die Zeitungen, alles ist voll von dem, was Sie getan haben, von den Leuten, die Sie entführt haben. FBI und Polizei suchen Sie unter Einsatz aller verfügbaren Mittel.« Salaverry schluckte und fragte dann ängstlich: »Wann werden Sie - Sie alle aus dem Land verschwinden?«
»Angenommen, es stimmt, was Sie da sagen, warum wollen Sie denn das wissen? Was geht denn Sie das an?«
»Helga ist fast wahnsinnig vor Angst. Und ich auch.«
Dann hatte das Plappermaul also dieser Bankhure erzählt, was er wußte. Das bedeutete, daß die undichte Stelle sich vergrößert hatte und nun eine unmittelbare Gefahr darstellte, die man aus dem Weg räumen mußte. Obwohl Salaverry es noch nicht wußte, hatte sein törichtes Geständnis sein Schicksal und das seiner Freundin besiegelt.
»Bevor ich antworte«, sagte Miguel, »geben Sie mir das Geld.«
Salaverry stellte die Kombination an seinem Aktenkoffer ein. Er nahm eine dicke, mit einem Band verknotete Mappe heraus und gab sie Miguel.
Miguel öffnete sie, sah hinein und verknotete sie wieder.
»Wollen Sie das Geld nicht zählen?« fragte Salaverry gereizt.
Miguel zuckte mit den Achseln. »Sie würden es nicht wagen, mich zu betrügen.« Nach kurzer Überlegung fügte er mit gespielter Beiläufigkeit hinzu: »Sie wollen also wissen, wann ich und gewisse andere Leute das Land verlassen?«
»Ja.« »Wo werden Sie und die Frau heute abend sein?«
»In meiner Wohnung. Wir sind viel zu aufgeregt, um auszugehen.«
Miguel war bereits in der Wohnung gewesen und hatte sich die Adresse gemerkt. »Bleiben Sie dort«, sagte er Salaverry. »Anrufen kann ich Sie nicht, aus Gründen, die Sie erst später verstehen werden. Deshalb wird Ihnen heute abend ein Bote alles sagen, was Sie wissen wollen. Er wird den Namen Plato benutzen. Wenn Sie diesen Namen hören, können Sie ihn unbesorgt einlassen.«
Salaverry nickte eifrig. Er schien erleichtert.
Dann fügte Miguel hinzu: »Betrachten Sie es als Gegenleistung für die prompte Geldbeschaffung.« Er berührte die Mappe.
»Vielen Dank. Sie müssen verstehen, ich will ja nicht unvernünftig sein... «
»Ich verstehe. Aber bleiben Sie heute abend zu Hause.«
»Das werde ich bestimmt.«
Miguel verließ das UN-Gebäude, überquerte die First Avenue und ging auf das United Nations Plaza Hotel zu. Er betrat das Foyer und blieb am Telefon neben dem Zeitungskiosk stehen.
Er wählte die Nummer seines Kontaktmanns in Queens. Als eine Stimme sich meldete, wußte er sofort, daß er mit einem festungsähnlichen Haus in Little Columbia verbunden war. Miguel faßte sich kurz, er nannte keinen Namen, sondern nur die Nummer des Münzfernsprechers, von dem er telefonierte, und hängte dann ein.
Er wartete geduldig neben dem Apparat; als zwei andere Leute sich näherten, gab er vor zu telefonieren. Nach sieben Minuten klingelte es. Eine Stimme bestätigte, daß auch der Sprecher von einem Münzapparat aus telefoniere. So konnte das Gespräch weder zurückverfolgt noch abgehört werden.
Mit leiser Stimme nannte Miguel, was er brauchte. Man versicherte ihm, daß es erledigt werden könnte. Nach Festlegung der Modalitäten einigte man sich auf einen Preis von sechstausend Dollar. Miguel gab Salaverrys Adresse durch und erklärte, der Name »Plato« verschaffe Zugang zu der Wohnung. Schließlich sagte er mit Nachdruck: »Die Sache muß heute abend passieren und muß aussehen wie Mord und Selbstmord.«
Man versprach ihm, daß seine Anweisungen präzise ausgeführt würden.
Wenige Minuten vor dem vereinbarten Termin stand Miguel bereits wieder am Treffpunkt an der Third Avenue. Kurz danach fuhr Luis im Leichenwagen vor.
Während Miguel sich aus dem Regen ins Trockene des Wagens flüchtete, sagte er zu Luis: »Wir fahren jetzt zu dem Bestattungsinstitut, demselben wie beim letzten Mal. Weißt du noch, wo das ist?«
Luis nickte und fuhr in östlicher Richtung auf die Queensboro Bridge zu.
5
Zu Zeiten einer Nachrichtenflaute wirkte ein großer Nachrichtensender wie ein schlafender Riese.
Er arbeitete dann nur mit verminderter Kapazität, und eine ganze Reihe seiner Talente mußte »Zeit absitzen«, wie man es in der Branche nannte, und das hieß, daß sie nichts zu tun hatten.
Es hieß aber auch, daß man, wenn etwas Wichtiges passierte, immer eine Menge erfahrener Leute da hatte, die man, so der Jargon, »anheizen« konnte.
Am Freitagmorgen, dem Tag nach der Entführung der Sloane-Familie, war dieser Anheizungsprozeß in vollem Gange, denn die Sondereinheit unter der Leitung von Harry Partridge und mit Rita Abrams als Chefproduzentin informierte sich in der Zentrale von CBA News.
Rita, die bereits in der Nacht zuvor aus Minnesota in New York angekommen war, betrat Punkt 8 Uhr die Büroräume, die man der Sondereinheit zugewiesen hatte. Harry Partridge hatte die Nacht in einer vom Sender bereitgestellten Luxussuite im Inter-Continental verbracht und traf kurz nach Rita ein.
Harry kam direkt zur Sache: »Schon was Neues?«
»Null, was die Entführung selbst angeht«, antwortete Rita. »Aber vor Crawfs Haus hat sich 'ne Menschenmenge angesammelt.«
»Was für Leute?«
Die beiden saßen in dem als Konferenzraum geplanten Zimmer, und Rita lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück. Trotz der Kürze ihres Urlaubs schien sie erfrischt, ihre gewohnte Vitalität und Energie waren wiederhergestellt. Und auch den launigen Zynismus, den ihre Mitarbeiter so an ihr schätzten, hatte sie nicht verloren.
»Heutzutage will doch jeder den Saum eines Moderators berühren. Jetzt, da Crawfs Fans seine Adresse kennen, strömen sie zu Hunderten, ja zu Tausenden nach Larchmont. Die Polizei weiß nicht mehr, was sie mit ihnen anfangen soll und hat bereits Straßensperren errichtet.«
»Haben wir ein Kamerateam vor Ort?«
»Klar doch. Sie haben die ganze Nacht draußen kampiert. Ich hab' Ihnen gesagt, sie sollen bleiben, bis Crawf zur Arbeit fährt. Danach laß' ich sie von einem anderen Team ablösen.«
Partridge nickte zustimmend.
»Man kann wohl davon ausgehen, daß die Entführer nicht mehr in der Nähe von Larchmont sind und sich die Dinge jetzt woanders abspielen«, sagte Rita, »aber ich glaube, wir sollten zur Sicherheit noch ein paar Tage dort auf Posten bleiben, falls sich noch irgend etwas ergibt. Außer natürlich, du hast andere Vorstellungen.«
»Bis jetzt noch nicht«, erwiderte Partridge und fügte dann hinzu: »Du weißt, daß wir bei der Auswahl unserer Leute so ziemlich freie Hand haben?«
»Das habe ich bereits letzte Nacht erfahren. Ich habe deshalb gleich drei Produzenten angefordert - Norman Jaeger, Iris Everly und Karl Owens. Die werden bald hiersein.«
»Eine hervorragende Wahl.« Partridge kannte die drei gut. Bei CBA gab es kaum bessere.
»Ach, und ich habe bereits die Büros aufgeteilt. Willst du deins sehen?«
Rita führte ihn durch die fünf nebeneinanderliegenden Büros, die zur Operationsbasis der Sondereinheit werden sollten. Die Nachrichtenabteilungen großer Sender waren ständig im Umbruch, da laufend Projekte angefangen und wieder aufgegeben wurden; Räumlichkeiten waren deshalb fast immer verfügbar, wenn sie gebraucht wurden.
Partridge hatte ein eigenes Büro, Rita ebenfalls. Zwei weitere, bereits mit Tischen vollgestellte Büros waren für die übrigen Reporter, Kamerateams und die Hilfskräfte gedacht. Der Einzug war schon in vollem Gange. Partridge und Rita begrüßten die Neuankömmlinge, bevor sie in das fünfte und größte Zimmer, den Konferenzraum, zurückkehrten und sich wieder an die Planung machten.
Partridge nahm den Faden wieder auf. »Ich möchte mich zuerst mit allen Leuten zusammensetzen, die mit uns arbeiten werden. Wir können die Verantwortlichkeiten abstecken und dann gleich mit der Arbeit am Bericht für die Abendausgabe beginnen.«
Rita sah auf die Uhr: 8 Uhr 45.
»Ich werde die Konferenz für zehn Uhr ansetzen«, sagte sie. »Aber im Augenblick möchte ich erst einmal wissen, was in Larchmont so alles passiert.«
»In all den Jahren, die ich jetzt schon hier lebe«, sagte der Polizeisergeant aus Larchmont, »habe ich so etwas noch nie gesehen.«
Er sprach mit FBI-Sonderagent Havelock, der vor ein paar Minuten das Haus verlassen hatte, um sich die Masse der Schaulustigen anzusehen. Schon seit Tagesanbruch wurde die Menge immer größer, sie drängte sich auf dem Bürgersteig vor dem Haus der Sloanes. Mit wenig Erfolg versuchte die Polizei, die Menge von der Straße fernzuhalten, da sie den Verkehr behinderte. Otis Havelock, der im Haus übernachtet hatte, befürchtete, daß Sloane, der sich im Haus zur Arbeit fertigmachte, von der Menge belästigt würde. Vor dem Tor drängten sich Fernsehteams und andere Reporter. Als Havelock auftauchte, richteten sich die Kameras auf ihn, Fragen wurden ihm zugerufen.
»Haben Sie von den Entführern schon etwas gehört?«
»Wie geht es Sloane?«
»Können wir mit Crawford sprechen?«
»Wer sind Sie?«
Als Antwort schüttelte Havelock nur den Kopf und winkte ab.
Die Menge hinter der Presse schien sich noch diszipliniert zu verhalten, doch Havelocks Erscheinen hatten das Stimmengemurmel beträchtlich anwachsen lassen.
Der FBI-Mann beklagte sich bei dem Sergeant. »Können Sie und Ihre Leute nicht wenigstens diese Straße freihalten?«
»Wir versuchen es. Der Chief hat Straßensperren angeordnet. Wir lassen keine Autos und Fußgänger mehr durch, bis auf die Anwohner natürlich. Und dann versuchen wir, die Leute von hier wegzubekommen. Das wird mindestens eine Stunde dauern. Bei den ganzen Kameras will der Chief nicht, daß wir den Leuten zu nahe treten.«
»Wissen Sie schon, woher die alle kommen?«
»Ich hab' ein paar gefragt«, antwortete der Sergeant. »Die meisten sind von außerhalb Larchmonts. Die haben wahrscheinlich die ganze Aufregung im Fernsehen gesehen, und jetzt wollen sie persönlich einen Blick auf Mr. Sloane werfen. Die Straßen in der Nachbarschaft sind voll mit ihren Autos.«
Es hatte zu regnen begonnen, aber das schien die Schaulustigen nicht zu entmutigen. Sie spannten höchstens Regenschirme auf oder schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch.
Havelock kehrte ins Haus zurück. Drinnen sagte er zu Crawford Sloane, der müde und erschöpft aussah: »Wir nehmen zwei zivile FBI-Autos. Sie sitzen im zweiten und gehen im Fond in Deckung. Dann fahren wir so schnell wie möglich los.«
»Ausgeschlossen«, erwiderte Sloane. »Da draußen warten Leute von den Medien. Ich bin einer von ihnen und kann mich nicht davonschleichen, als wäre ich der Präsident.«
»Es ist aber auch möglich, daß einige der Leute, die Ihre Familie entführt haben, da draußen auf Sie warten.« Havelocks Stimme nahm einen schärferen Ton an. »Was glauben Sie, was da passiert? Wollen Sie sich vielleicht abknallen lassen? Also stellen Sie sich nicht so an, Mr. Sloane.«
Schließlich einigten sie sich darauf, die Kamerateams und Reporter in den Flur zu bitten, wo Sloane eine improvisierte Pressekonferenz abhalten wollte. Beim Eintreten sahen sich viele Journalisten neugierig und manche mit unverhohlenem Neid in dem luxuriösen Haus um. Die Fragen und Antworten, die nun folgten, waren zum Großteil eine Wiederholung derer vom Tag zuvor, denn die einzige neue Information war die, daß es während der Nacht keine Nachricht von den Entführern gegeben hatte.
»Mehr kann ich Ihnen nicht mitteilen«, sagte Sloane schließlich. »Es gibt einfach nicht mehr. Ich wäre auch froh, wenn es mehr gäbe.«
Havelock stand aufmerksam in der Nähe, weigerte sich aber, Fragen zu beantworten, und am Ende verließen die Reporter, von denen einige über den Mangel an Neuigkeiten enttäuscht schienen, das Haus so, wie sie es betreten hatten.
»Und nun, Mr. Sloane«, sagte Havelock, »will ich, daß wir das Haus genauso verlassen, wie ich es vorhin beschrieben habe, also Sie zusammengekauert im Fond des zweiten Wagens, damit Sie niemand sieht.« Sloane stimmte widerwillig zu.
Aber bei der Ausführung des Plans kam es zu einem unvorhergesehenen Unglück.
Crawford Sloane verschwand so schnell in dem FBI-Wagen, daß er nur von wenigen Leuten bemerkt wurde. Aber diese wenigen erzählten es sofort weiter, und die Nachricht breitete sich aus wie ein Lauffeuer: »Sloane ist im zweiten Wagen.« Havelock und ein anderer FBI-Agent saßen ebenfalls auf dem Rücksitz des Wagens, und Sloane kauerte unbequem zwischen ihnen. Ein dritter FBI-Agent saß am Steuer.
Im ersten Wagen saßen zwei weitere FBI-Männer. Die beiden Fahrzeuge setzten sich sofort in Bewegung.
Da die Menge nun von Sloanes Abfahrt wußte, drängten einige im Hintergrund nach vorne, was die Vorderen auf die Straße zwang. Und in diesem Augenblick passierten mehrere Dinge kurz hintereinander.
Das erste Auto verließ die Auffahrt, ein Polizist hatte es herausgewunken. Es fuhr schnell, und das zweite folgte in kurzem Abstand. Plötzlich wurden die vorderen Schaulustigen noch weiter in die Straße geschoben, und dem ersten Auto war überraschend der Weg versperrt. Der Fahrer stieg, entsetzt über die Leute, die plötzlich vor ihm auftauchten, auf die Bremse.
Unter anderen Umständen wäre das erste Auto noch rechtzeitig zum Stehen gekommen. Da aber die Straße naß vom Regen war, brach es seitlich aus. Dem Quietschen der Reifen folgten entsetzliche, dumpfe Aufprallgeräusche und Schreie, während sich das Auto einen Weg durch die vorderen Zuschauerreihen bahnte.
Die Insassen des zweiten Autos - bis auf Sloane, der nichts sehen konnte - rissen entsetzt die Augen auf und machten sich auf eine ähnliche Kollision gefaßt. Doch als die Leute hastig auf die andere Straßenseite liefen, teilte sich die Menge, und Havelock befahl mit entschlossenem Gesicht: »Nicht anhalten! Weiterfahren!« Seine offensichtlich so gefühllose Handlung rechtfertige Havelock später mit der Erklärung: »Es ging alles so schnell, daß ich gar nicht wußte, was los war und sofort an einen Überfall dachte.«
Als Crawford Sloane merkte, daß etwas Unerwartetes vorgefallen war, hob er den Kopf, um hinauszuspähen. In diesem Augenblick fing eine Kamera, die bereits auf das Auto gerichtet war, sein Gesicht in Großaufnahme ein und blieb dran, während das Auto davonraste. Das Publikum, das diese Bilder später im Fernsehen sah, hatte natürlich keine Ahnung, daß Sloane seinen Beschützer anflehte, umzukehren, und daß Havelock ihn mit barschen Worten zurückwies: »Die Polizei ist an Ort und Stelle. Sie wird sich darum kümmern.«
Die Polizei hatte die Situation wirklich unter Kontrolle und alarmierte sofort mehrere Krankenwagen. Am Ende stellte sich heraus, daß acht Personen verletzt worden waren, sechs nur leicht, doch zwei schwer. Von den Schwerverletzten hatte ein Mann einen gebrochenen Arm und Rippenbrüche davongetragen, während bei einer Frau das linke Bein so stark zerquetscht war, daß es amputiert werden mußte.
Der Unfall war zwar tragisch, hätte aber unter anderen Umständen kaum größere Aufmerksamkeit erregt. Da er aber mit der Entführung der Sloanes in Verbindung stand, wurde im ganzen Land darüber berichtet, und es wurden auch Stimmen laut, die, zumindest andeutungsweise, Crawford Sloane die Schuld in die Schuhe schoben.
Der Ermittlungsspezialist aus London, Teddy Cooper, traf, wie versprochen, noch an diesem Vormittag mit einer Concorde ein. Kurz vor 10 Uhr kam er im Büro der Sondereinheit an und meldete sich erst bei Harry Partridge, dann bei Rita. Anschließend gingen die drei in den Konferenzraum, wo sich eben der Rest der Gruppe versammelte.
Auf dem Weg dorthin traf Cooper Crawford Sloane, der, noch immer erschüttert über den Vorfall in Larchmont, ebenfalls vor wenigen Minuten angekommen war.
Cooper, ein dünner, drahtiger junger Mann, strahlte Energie und Selbstvertrauen aus. Seine glatten, dunklen Haare, die er länger trug, als es im Augenblick Mode war, rahmten sein blasses Gesicht ein, das noch immer Spuren pubertärer Akne aufwies. So wirkte er insgesamt noch jünger als die fünfundzwanzig Jahre, die in seinem Paß standen. Cooper war durch und durch Londoner, hatte sich aber schon öfters in Amerika aufgehalten - und kannte sich in New York gut aus.
Zu Crawford Sloane sagte er nun: »Tut mir leid wegen Ihrer Frau und der Familie, aber nur Mut! Jetzt bin ja ich da. Ich werde diese Kerle schon finden. Ich kann das nämlich sehr gut.«
Sloane warf Partridge einen Blick zu und hob fragend die Augenbrauen, als wollte er sagen: Bist du sicher, daß du diesen Spinner willst?
»Bescheidenheit war noch nie Teddys Problem«, bemerkte Partridge trocken. »Aber wir lassen ihn an der langen Leine laufen und sehen einfach, was passiert.« Die Bemerkung schien Cooper nicht im geringsten zu stören.
Cooper wandte sich nun an Partridge. »Zuerst muß ich mir mal sämtliches Material durchlesen, das es über den Fall gibt. Dann will ich mir den Tatort ansehen und mit den Leuten reden, die was gesehen haben. Und zwar mit allen. Wenn man seine Hausaufgaben nicht richtig macht, bringt man die einzelnen Teile des Puzzles nie zusammen. Und wenn es jemand schafft, dann ich.«
»Du hast freie Hand.« Partridge erinnerte sich an frühere Gelegenheiten, bei denen er Cooper bei der Arbeit beobachtet hatte. »Du bist für die Nachforschungen verantwortlich, zusammen mit zwei Assistenten, die dir zur Hand gehen werden.«
Die beiden Assistenten, ein junger Mann und eine Frau, die man sich von einem anderen Projekt ausgeliehen hatte, waren bereits im Konferenzraum. Während sie auf den Beginn der Besprechung warteten, stellte Partridge sie vor.
Cooper gab ihnen die Hand und sagte: »Die Arbeit mit mir wird für euch eine große Bereicherung sein, Kids. Aber ihr braucht nicht nervös zu sein, ich bin sehr umgänglich. Nennt mich einfach >Eure Exzellenz< und legt die Hand an die Mütze,
wenn ihr am Morgen reinkommt.«
Die beiden Assistenten schienen sich über Cooper zu amüsieren, und alle drei begannen sofort, sich über eine Schautafel mit dem Titel »Ereignisablauf« zu unterhalten, die bereits im Konferenzraum aufgestellt war und dort eine ganze Wand einnahm. Eine solche Tafel gehörte zur Standardausrüstung eines Ermittlungsteams. Auf ihr würden alle bekannten und noch in Erfahrung zu bringenden Einzelheiten der Entführung in der korrekten zeitlichen Abfolge notiert werden. An einer anderen Wand hing eine zweite große Tafel mit der Bezeichnung »Vermischtes«. Auf ihr würden alle zufällig auftauchenden Informationen, aber auch Gerüchte und Spekulationen vermerkt, deren Zeitbezug unwesentlich oder die zeitlich nicht einzuordnen waren. Wenn sich aus diesen »vermischten« Informationsbruchstücken etwas entwickelte, würde es auf die andere Tafel übertragen werden - auch das fiel in den Aufgabenbereich des Ermittlungsteams.
Die Tafeln hatte eine doppelte Funktion: Zum einen sollten sie jedem Mitarbeiter der Spezialeinheit sämtliche vorliegenden Informationen und neuen Entwicklungen zugänglich machen, und zum zweiten eine Grundlage für Lagebesprechungen und Brainstormings bilden, aus denen sich oft neue Ideen ergaben.
Pünktlich um zehn Uhr hob Rita Abrams die Stimme und brachte das allgemeine Stimmengewirr zum Schweigen. »Also los, Leute! Fangen wir an.«
Sie saß am Kopfende eines langen Tisches, an ihrer Seite Harry Partridge. Leslie Chippingham kam in den Konferenzsaal und nahm ebenfalls seinen Platz ein. Als sein Blick sich mit dem Rita Abrams traf, tauschten die beiden ein verstohlenes Lächeln aus.
Crawford Sloane setzte sich an das gegenüberliegende Ende des Tisches. Er glaubte nicht, zu diesem Zeitpunkt etwas zur Diskussion beitragen zu können und hatte zuvor bereits Partridge anvertraut: »Ich komme mir absolut hilflos vor, wie ein Trottel.«
Mit am Tisch saßen die drei Reporter, die Rita angefordert hatte. Norman Jaeger, der älteste, war ein CBA-Veteran, der bereits alle Stationen der Nachrichtenarbeit durchlaufen hatte. Der freundliche, phantasiebegabte und sehr gelehrte Mann war Reporter für das renommierte Magazinprogramm des Senders »Hinter den Schlagzeilen«. Seine kurzfristige Freistellung zeigte deutlich, mit welchen weitreichenden Befugnissen man diese Sondereinheit ausgestattet hatte.
Neben Jaeger saß Iris Everly, Mitte Zwanzig und ein leuchtender Stern der Nachrichtenszene. Die kleine, hübsche Absolventin der Columbia Journalism School besaß ein helles Köpfchen, mit dem sie blitzschnell reagieren konnte. Wenn sie an einer schwierigen Reportage arbeitete, konnte sich ihre Zähigkeit und Gerissenheit mit der eines Rasputin messen.
Karl Owens, der dritte Reporter, war ein Arbeitstier, der sich seinen Ruf durch beharrliche, unermüdliche Kleinarbeit erworben hatte; oft waren seine Recherchen, und damit auch die der Korrespondenten, mit denen er arbeitete, noch von Erfolg gekrönt, wenn andere schon längst aufgegeben hatten. Er lag im Alter genau zwischen Jaeger und Iris Everly, und während er bei weitem nicht so viel Fantasie wie die beiden besaß, konnte man sich auf seine Beharrlichkeit und die gründliche Beherrschung seines Handwerks blind verlassen.
Auf den anderen Plätzen am Tisch und direkt dahinter saßen Teddy Cooper und die beiden Assistenten, ein Texter, den man sich von den National Evening News ausgeliehen hatte, Minh Van Canh, der erste Kameramann des Teams, und eine Sekretärin, die zugleich die Organisatorin der Gruppe war.
»Okay, wir wissen alle, warum wir hier sind«, sagte Rita und eröffnete die Konferenz in geschäftsmäßigem Ton. »Wir müssen zunächst darüber reden, wie wir an die Arbeit herangehen. Dazu werde ich etwas über die Organisation erzählen, und danach wird Harry die redaktionelle Stoßrichtung aufzeigen.«
Rita hielt inne und sah Crawford Sloane am anderen Ende des Tisches an. »Crawf, wir werden hier keine Reden halten. Ich glaube nicht, daß das einer von uns könnte, ohne emotional zu werden. Du hast bestimmt schon genug Kummer, dazu brauchst du nicht noch unsere Strategiediskussionen. Aber eins will ich dir trotzdem sagen, und zwar stellvertretend für alle: Für dich, für deine Familie und auch für uns, weil es uns am Herzen liegt, werden wir unser gottverdammt Bestes geben!«
Von den anderen Mitgliedern der Gruppe kam zustimmendes Murmeln.
Sloane nickte zweimal und sagte dann mit halb erstickter Stimme: »Danke.«
»Wir werden auf zwei Ebenen arbeiten«, fuhr Rita nun fort, »auf einer langfristigen Ermittlungs- und Berichterstattungsebene und auf der Ebene der täglichen Nachrichtenmeldungen.« Sie wandte sich an den älteren Reporter. »Norm, du kümmerst dich um die langfristige Sache.«
»In Ordnung.«
»Iris, du kümmerst dich um die Tagesmeldungen und fängst gleich mit dem Spot für die heutige Abendausgabe an. Aber darauf kommen wir gleich zurück.«
»Verstanden«, erwiderte Iris Everly forsch und stürzte sich sofort auf die neue Aufgabe: »Zunächst brauch' ich das Video von diesem Chaos heute morgen vor Crawfs Haus.«
Bei der Erwähnung des Zwischenfalls zuckte Sloane zusammen und sah Iris beinahe flehend an, doch sie bemerkte es nicht.
»Das bekommst du«, sagte Rita. »Es ist bereits auf dem Weg hierher.«
Zu Owens, dem dritten Reporter, sagte sie: »Karl, du wechselst zwischen den beiden Projekten hin und her, je nachdem, wo du gebraucht wirst.« Dann fügte sie hinzu: »Und ich werde mit jedem von euch dreien eng zusammenarbeiten.«
Nun wandte sie sich Cooper zu: »Teddy, soweit ich weiß, willst du nach Larchmont.«
Cooper sah grinsend auf. »Jawohl, Madam. Um rumzuschnüffeln und ein bißchen Sherlock Holmes zu spielen.« Zu den anderen gewandt fügte er hinzu: »Das kann ich nämlich besonders gut.«
»Teddy«, warf Partridge dazwischen, der zum ersten Mal etwas sagte, »jeder in diesem Zimmer ist besonders gut. Deswegen sind wir ja hier.«
Doch Cooper ließ sich nicht einschüchtern und meinte strahlend: »Dann werde ich mich ja richtig zu Hause fühlen.«
»Sobald dieses Treffen beendet ist«, teilte Rita ihm mit, fährt Minh mit zwei neuen Kamerateams nach Larchmont. Du wirst ihn begleiten, Teddy, und dich dort mit Bert Fisher treffen, dem Nachrichtenbeschaffer unserer lokalen Tochterstation. Das ist bereits arrangiert. Fisher war gestern der erste an der Geschichte. Er wird dich herumfahren und dich mit allen Leuten bekannt machen, die du sehen willst.«
»So ein Teufelskerl. Das muß ich mir notieren: Fischen gehn mit Fisher.«
Leise sagte Norm Jaeger zu Karl Owens: »Bevor dieser Auftrag beendet ist, dreh' ich diesem englischen Klugscheißer den Hals um.«
»Minh«, sagte Iris Everly zum Kameramann, »kann ich bitte mit dir noch kurz sprechen, bevor du nach Larchmont fährst?«
Minh Van Canh, dessen kantiges, dunkles Gesicht so undurchdringlich war wie immer, nickte.
»Damit hätten wir das Gröbste«, sagte Rita. »Und jetzt, was viel wichtiger ist, unser redaktionelles Vorgehen. Harry, du bist dran.«
»Meiner Meinung nach sollte es unser erstes Ziel sein«, begann Partridge, »mehr über die Entführer in Erfahrung zu bringen. Wer sind sie? Woher kommen sie? Es ist natürlich durchaus möglich, daß sie uns das bald selber sagen, aber wir sollten nicht darauf warten. Im Augenblick kann ich euch noch nicht sagen, wie wir zu den entsprechenden Antworten kommen; außer daß wir uns eingehend und gründlichst mit all dem beschäftigen, was bis jetzt passiert ist, und jede Information, die neu hereinkommt, mitberücksichtigen. Ich will, daß heute jeder von euch alle bereits verfügbaren Daten studiert und sich einprägt. Die Tafeln werden uns dabei helfen.« Er deutete auf die Wandtafeln mit »Ereignisablauf« und »Vermischtes« und ergänzte: »Die werden noch heute vormittag auf den neuesten Stand gebracht.«
»Sobald jeder auf dem laufenden ist, will ich, daß wir uns, gemeinsam und in kleineren Gruppen, jede einzelne Information immer wieder vornehmen, sie zerpflücken und uns Gedanken darüber machen. Wenn wir das tun, muß einfach etwas dabei herauskommen, das weiß ich aus Erfahrung.«
Die Gruppe am Tisch hörte aufmerksam zu, während Partridge fortfuhr.
»Eins kann ich euch mit Bestimmtheit sagen. Irgendwo haben diese Leute, die Entführer, Spuren hinterlassen. Jeder hinterläßt Spuren, und wenn er sie noch so sorgfältig zu verwischen sucht. Der Trick ist nur, sie zu finden.« Er nickte Jaeger zu. »Das wird vorwiegend deine Aufgabe sein, Norman.«
»Schon verstanden«, erwiderte Jaeger.
»Jetzt zur kurzfristigen Berichterstattung, Iris, wegen der Meldung für die heutige Abendausgabe. Ich weiß, daß du dir schon Gedanken gemacht hast. Was sind für dich die wesentlichen Punkte? Hast du dir schon einen Aufbau
überlegt?«
Sie antwortete, ohne lange zu zögern: »Wenn es keine dramatischen Entwicklungen gibt, wie zum Beispiel eine Nachricht von den Entführern, sollten wir uns nach der Feststellung, daß es nichts Neues gibt, dem Unfall vor Crawfs Haus von heute morgen zuwenden. Und dann, da es der erste ganze Tag nach der Entführung ist, eine Rekapitulation der Ereignisse von gestern. Ich hab' mir die Aufzeichnung von gestern abend angesehen, das war ein ziemliches Durcheinander. Heute abend bringen wir da Ordnung rein. Und ich möchte auch einige Zeugen aus Larchmont noch einmal interviewen« - Iris sah auf ihre Notizen - »vor allem diese alte Dame, Priscilla Rhea, die macht sich vor der Kamera nämlich sehr gut. Vielleicht fällt ihr und auch einigen anderen noch was Neues ein.«
»Was ist mit Reaktionen?« fragte Jaeger. »Aus Washington zum Beispiel.«
Partridge antwortete: »Nur ein kurzer Clip, wahrscheinlich mit dem Präsidenten. Vielleicht noch ein paar Interviews mit Bürgern auf der Straße, falls wir die Zeit haben.«
»Also nichts vom Capitol Hill?«
»Morgen vielleicht«, sagte Partridge. »Vielleicht aber auch nie. Dort will doch jeder nur seinen Senf dazugeben.« Er nickte Iris zu, die sofort wieder übernahm.
»Und zum Schluß«, sagte sie, »wäre eine zusammenfassende Analyse nicht schlecht - ein Interview mit einem Entführungsspezialisten.«
»Hast du an einen bestimmten gedacht?« fragte Partridge.
»Noch nicht.«
Karl Owens meldete sich. »Ich kenne da einen. Ralph Salerno heißt er, ein New Yorker Ex-Polizist, der jetzt in Naples in Florida lebt. Er hält bei der Polizei Vorlesungen über das Verbrechen und hat schon einige Bücher geschrieben. Weiß 'ne Menge über Entführungen. Ich hab' ihn auch im Fernsehen gesehen. Der Mann ist gut.«
»Dann besorgen wir ihn uns«, sagte Iris und sah dabei Partridge an, der zustimmend nickte.
Les Chippingham warf dazwischen: »Karl, wir haben eine Tochtergesellschaft in Naples. Versuch, über die zu arbeiten, wenn's geht. Wenn nicht, setzen wir Salerno in ein Flugzeug nach Miami.«
»Auf jeden Fall«, ergänzte Iris, »mußt du Satellitenzeit buchen, damit Harry ihn interviewen kann.«
»Ich kümmere mich darum«, entgegnete Owens und schrieb es sich auf.
Nach weiteren fünfzehn Minuten Diskussion klopfte Rita auf den Tisch. »Das reicht«, verkündete sie. »Genug geredet. An die Arbeit.«
Am Rande des ernsthaften Geschehens kam es zu einer kleinen atmosphärischen Störung.
Harry Partridge hatte beschlossen, Crawford Sloane noch einmal zu befragen, weil er hoffte, vielleicht doch noch etwas Neues zu erfahren. Partridge war überzeugt, daß Sloane, wie viele Leute, die sich plötzlich in komplexe Ereignisse verwickelt sahen, mehr wußte, als er glaubte, und daß eine geschickte, beharrliche Befragung neue Informationen ans Licht bringen konnte. Sloane hatte bereits zugestimmt.
Als Partridge nach der Besprechung Sloane noch im Konferenzraum an die Vereinbarung erinnerte, platzte plötzlich von hinten eine Stimme dazwischen. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich dazusetze und mithöre? Vielleicht erfahre ich auch etwas Neues.«
Die beiden drehten sich überrascht um. Vor ihnen stand Sonderagent Otis Havelock, der das Zimmer betreten hatte, als die Versammlung sich auflöste.
»Nun«, erwiderte Partridge, »da Sie schon fragen: Mir macht es etwas aus.«
»Sind Sie nicht Mr. FBI?« fragte Rita Havelock.
»Meinen Sie wie >Miss Amerika« antwortete Havelock freundlich. »Meine Kollegen sind da wahrscheinlich anderer Meinung.«
»Was ich eigentlich meine«, sagte Rita, »ist, daß Sie hier überhaupt nicht hineingehören. Hier haben nur die Zutritt, die auch hier arbeiten.«
Havelock schien überrascht. »Es gehört zu meiner Arbeit, Mr. Sloane zu beschützen. Außerdem ermitteln Sie doch in der Entführung, oder?«
»Ja.«
»Dann haben wir das gleiche Ziel, nämlich Mr. Sloanes Familie wiederzufinden. Deshalb muß das FBI alles erfahren, was Ihre Leute herausfinden und was dort notiert wird.« Er wies auf die »Ereignisablauf«-Tafel.
Einige, die noch im Zimmer waren, darunter auch Leslie Chippingham, verstummten plötzlich.
»In diesem Fall«, erwiderte Rita, »sollte die Sache aber auf Gegenseitigkeit beruhen. Kann ich jetzt sofort einen Korrespondenten ins New Yorker FBI-Büro schicken und ihn alle eingegangenen Berichte überprüfen lassen?«
Havelock schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das ist unmöglich. Einige sind vertraulich.«
»Genau!«
»Also Leute, hört zu.« Havelock, der sich der wachsenden Aufmerksamkeit um ihn herum durchaus bewußt war, versuchte ganz offensichtlich, sich zu beherrschen. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich im klaren darüber sind, daß wir es hier mit einem Verbrechen zu tun haben. Jeder, der etwas weiß, hat die Pflicht, es zu melden, in diesem Fall an das FBI. Jeder, der das nicht tut, macht sich strafbar.«
Rita, die selten lange Geduld hatte, hielt ihm entgegen: »O Mann, wir sind doch keine Kinder. Wir stellen die ganze Zeit Nachforschungen an und kennen die Spielregeln.«
»Ich will Ihnen eins sagen, Mr. Havelock«, sagte Partridge, »ich habe schon öfters mit dem FBI gemeinsam an einem Fall gearbeitet, und Ihre Leute sind bekannt dafür, daß sie jede Information, die sie bekommen können, an sich reißen, aber selbst nie etwas liefern.«
»Das FBI ist nicht verpflichtet, irgend etwas zu liefern«, fauchte Havelock. Seine Beherrschung war verschwunden. »Wir sind eine Regierungsbehörde mit der Macht des Präsidenten und des Kongresses im Rücken. Und Sie scheinen sich hier als unsere Konkurrenz aufspielen zu wollen. Da kann ich Ihnen nur sagen, jeder, der offizielle Ermittlungen behindert, indem er Informationen zurückhält, muß mit ernsten Strafen rechnen.«
Chippingham hielt es für an der Zeit, einzugreifen.
»Mr. Havelock«, sagte er, »ich kann Ihnen versichern, wir sind die letzten, die das Gesetz mißachten. Aber wir haben das Recht, eigene Nachforschungen anzustellen, und manchmal sind die erfolgreicher als das, was Sie >offizielle Ermittlungen< nennen.«
»Worum es hier eigentlich geht«, fuhr Chippingham fort, »ist das, was man >journalistische Freiheit< nennt. Ich muß zugeben, daß es da gewisse Graubereiche gibt, wichtig ist aber, daß ein Reporter das Recht hat, zu ermitteln, ohne seine Quellen preisgeben zu müssen, es sei denn, ein Gericht hebt dieses Privileg auf. Sie sehen also, es wäre eine Beschränkung unserer Freiheit, wenn wir Ihnen sofortigen und uneingeschränkten Zugang zu allen hereinkommenden Informationen gewähren würden. Ich muß Ihnen deshalb mitteilen, daß wir zwar froh über Ihre Anwesenheit sind, daß Sie aber nicht überall uneingeschränkt Zugang haben und daß es eine Grenze gibt, die Sie nicht überschreiten dürfen - genau dort.« Er deutete auf die Tür des Konferenzraums.
»Nun, Sir«, erwiderte Havelock. »Ich weiß noch nicht, ob ich damit einverstanden bin, aber Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich die Angelegenheit mit meinen Vorgesetzten abkläre.«
»Ganz im Gegenteil. Ich bin mir sicher, man wird Ihnen dort sagen, daß wir uns im Rahmen des Gesetzes bewegen.«
Was Chippingham ihm natürlich nicht sagte, war die Tatsache, daß CBA, wie jede andere Nachrichtenorganisation auch, selbst entschied, wann man welche Informationen preisgab, auch wenn das bedeutete, sich mit dem FBI anzulegen. Er wußte, daß die meisten bei CBA News ebenso dachten. Und um Konsequenzen hatte sich der Sender erst zu kümmern, wenn und falls sie eintraten.
Nachdem Havelock zum Telefonieren gegangen war, sagte Chippingham zu Rita: »Ruf den Hausmeister an. Laß dir die Schlüssel für dieses Büro geben und schließ ab.«
In der Abgeschiedenheit von Partridges Büro begannen er und Sloane bei laufendem Cassettenrecorder ihre Unterhaltung. Partridge ging die inzwischen vertraute Geschichte noch einmal durch und stellte frühere Fragen präziser und detaillierter, aber es ergab sich nichts Neues. Schließlich fragte er: »Fällt dir noch irgend etwas ein, Crawf, vielleicht ganz tief in deinem Unterbewußtsein, was mit der Entführung zu tun haben könnte? Vielleicht nur eine winzige Kleinigkeit, die dir kurz aufgefallen ist, die du aber gleich wieder verdrängt hast?«
»Du hast mich das gestern schon gefragt«, antwortete Sloane nachdenklich. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hatte sich seine Haltung Partridge gegenüber merklich verändert. Er war nicht nur freundlicher zu Partridge, er war auch weniger auf der Hut vor ihm, ja er verließ sich innerlich auf ihn, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Eigenartigerweise hatte Sloane beinahe Ehrfurcht vor Partridge, so als setze er in ihn seine größte Hoffnung, um Jessica, Nicky und seinen Vater zurückzubekommen.
»Ich weiß, daß ich das bereits gefragt habe«, sagte Partridge. »Und du hast versprochen, darüber nachzudenken.«
»Das habe ich letzte Nacht auch getan, und vielleicht ist da etwas, aber ich bin mir nicht sicher, es ist nur ein sehr vages Gefühl.« Sloane drückte sich etwas unbeholfen aus, mit verschwommenen, unausgegorenen Gedanken tat er sich immer schwer.
»Red weiter«, drängte ihn Partridge.
»Ich glaube, ich hatte schon irgendwann, bevor das alles passierte, das Gefühl, verfolgt zu werden. Aber darauf könnte ich natürlich auch erst gekommen sein, nachdem ich erfahren habe, daß mein Haus beschattet wurde... «
»Vergiß das. Du glaubst also, daß du verfolgt wurdest. Wo und wann?«
»Das ist ja das Problem. Das Ganze ist so vage, daß ich es mir vielleicht nur einbilde, vielleicht aus dem Gefühl heraus, etwas finden zu müssen.«
»Glaubst du, daß du es dir nur einbildest?«
Sloane zögerte. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Erzähl mir mehr.«
»Ich habe den Eindruck, daß ich manchmal auf dem Heimweg verfolgt wurde. Und irgendwie ist da das Gefühl, daß mich auch hier im Haus jemand beobachtet hat - jemand, der hier nicht reingehört.«
»Und wie lange?«
»Einen Monat vielleicht?« Sloane streckte die Hände in die Luft. »Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich es mir nicht doch nur einbilde. Aber so oder so, welche Bedeutung hat denn das jetzt noch?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Partridge, »aber ich werde mit den anderen darüber reden.«
Anschließend tippte Partridge eine Zusammenfassung des Gesprächs mit Sloane und heftete sie an die Tafel »Vermischtes«. Dann kehrte er in sein Büro zurück und machte sich an eine Prozedur, die unter Journalisten »Telefone strapazieren« heißt.
Vor ihm lag geöffnet sein privates »blaues Buch« - eine Aufstellung von Leuten in der ganzen Welt, die ihm schon einmal weitergeholfen hatten und es vielleicht wieder tun konnten, und von solchen, denen er mit Informationen ausgeholfen hatte. Jeder im Nachrichtengewerbe hatte gewisse Bestände an Soll und Haben; und zu Zeiten wie diesen wurden die Habenbestände abgerufen. Hilfreich war auch, daß viele Leute sich geschmeichelt fühlten, wenn sie von Fernsehreportern um Hilfe gebeten wurden.
Schon am Abend zuvor hatte Partridge sich all jene in seinem blauen Buch angemerkt, die er nun anrufen wollte. Dazu gehörten Kontakte im Justizministerium, im Weißen Haus, im Außenministerium, bei der CIA, der Einwanderungsbehörde, beim Kongreß, in einigen ausländischen Botschaften, im New Yorker Polizeipräsidium, bei der Royal Canadian Mounted Police in Ottawa und bei der mexikanischen Polizei sowie ein Autor von Sachbüchern über Kriminalität und ein Anwalt mit Verbindungen zum organisierten Verbrechen.
Die einzelnen Telefongespräche waren meistens sehr höflich, unverbindlich gehalten und begannen etwa so: »Hallo, hier ist Harry Partridge. Wir haben schon eine ganze Weile nichts mehr voneinander gehört. Wollte nur mal wissen, wie es Ihnen geht.« Er erkundigte sich meist noch nach Ehefrauen, Geliebten oder Kindern, denn auch deren Namen hatte er sich notiert, und kam dann zum eigentlichen Grund seines Anrufs. »Ich arbeite gerade an dieser Sloane-Entführung. Und da habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht irgend etwas gehört oder irgendwelche Vermutungen haben.«
Manchmal waren die Fragen auch konkreter. Gibt es in Ihrer Umgebung irgendwelche Spekulationen, wer dafür verantwortlich sein könnte? Halten Sie es für möglich, daß Terroristen in die Sache verwickelt sind? Wenn ja, aus welchem Land? Sind Gerüchte im Umlauf? Würden Sie sich bitte umhören und mich anrufen, wenn Sie etwas erfahren?
Es war eine reine Routineangelegenheit, manchmal langweilig und immer sehr zeitraubend. Manchmal zeigten sich Ergebnisse, wenn auch gelegentlich verspätet, oft kam nichts dabei heraus, wie auch an diesem Tag; am interessantesten, so fand Partridge rückblickend, war vielleicht noch das Gespräch mit dem Anwalt, der Verbindungen zum organisierten Verbrechen hatte.
Vor etwa einem Jahr hatte Partridge diesem Anwalt einen Gefallen getan, oder das glaubte zumindest der Anwalt. Die Tochter des Mannes war auf einer Studienreise nach Venezuela in eine unschöne Drogengeschichte hineingeraten, die auch in den Vereinigten Staaten für Schlagzeilen sorgte. Acht weitere Studenten waren ebenfalls in die Affäre verwickelt, zwei starben. Über eine Agentur in Caracas war CBA-News an Liveaufnahmen von den Verhaftungen herangekommen, die auch die Tochter des Anwalts zeigten. Partridge, der sich zu dieser Zeit in Argentinien aufhielt, flog nach Venezuela, um über die Affäre zu berichten.
In New York hatte der Vater inzwischen von den Aufnahmen Wind bekommen und Partridge telefonisch aufgespürt. Er flehte ihn an, Namen und Bild seiner Tochter nicht zu verwenden, weil sie die jüngste der Gruppe und bisher unbescholten sei, und weil das Bekanntwerden ihrer Beteiligung ihr ganzes Leben ruinieren würde.
Zu diesem Zeitpunkt kannte Partridge die Bilder bereits, er wußte über das Mädchen Bescheid und hatte beschlossen, sie in seinem Bericht nicht zu erwähnen. Er hielt sich aber dennoch alle Möglichkeiten offen und versprach dem Mann nur, er werde sehen, was er tun könne.
Als sich dann später herausstellte, daß in dem Bericht von CBA das Mädchen weder erwähnt noch gezeigt wurde, schickte der Anwalt Partridge einen Scheck über tausend Dollar. Mit einem höflichen Begleitschreiben ließ Partridge ihn wieder zurückgehen, und seitdem hatte er nichts mehr von dem Mann gehört.
Bei Partridges Anruf kam der Anwalt nach den Begrüßungsfloskeln gleich sehr unverblümt zur Sache: »Ich stehe in Ihrer Schuld. Und jetzt wollen Sie etwas von mir. Sagen Sie mir, worum es sich handelt.«
Partridge erklärte es ihm.
»Ich weiß nur, was das Fernsehen darüber bringt«, sagte der Anwalt. »Und ich bin mir absolut sicher, daß keiner meiner Klienten in die Sache verwickelt ist. An so etwas wagen die sich nicht heran. Aber manchmal kommen ihnen Sachen zu Ohren, von den andere nichts erfahren. Ich werde mich in den nächsten Tagen einmal diskret umhören. Wenn ich etwas herausfinde, rufe ich Sie an.«
Partridge war sich ziemlich sicher, daß er es tun würde.
Als er nach einer Stunde die Hälfte der Namen abgehakt hatte, machte Partridge eine Pause und ging in den Konferenzraum, um sich einen Kaffee einzugießen. Wieder in seinem Büro, tat er, was fast jeder von der Nachrichtenredaktion täglich tat - er las die New York Times und die Washington Post. Besucher waren immer überrascht, wenn sie sahen, wie viele Exemplare dieser Zeitungen in den Nachrichtenabteilungen des Fernsehens herumlagen. Aber es war einfach so, daß sich trotz der unbestrittenen Leistungen des Fernsehens die unausgesprochene, aber tief verwurzelte Meinung hielt, wirklich solide Nachrichten seien nur die Meldungen, die in der Times oder der Post gedruckt wurden.
Chuck Insens laute Stimme unterbrach Partridge bei seiner Lektüre.
»Ich bringe dir die Sendefolge für heute abend«, sagte der Sendeleiter. »Wir werden die Moderation heute abend übrigens aufteilen. Du nimmst die eine Hälfte.«
»Die erste oder die zweite?«
Insen lächelte schwach. »Das weiß nur Gott im Himmel. Auf jeden Falls wirst du von heute abend an alles moderieren, was mit der Sloane-Entführung zu tun hat. Und das wird auch wieder unser Aufmacher sein, außer der Präsident wird vorher erschossen. Crawf moderiert den Rest wie gewohnt, weil wir alle verdammt noch mal keine Lust haben, uns von diesem Verbrecherpack, wer immer sie sind, vorschreiben zu lassen, wie das Leben bei CBA ablaufen soll.«
»Ich bin einverstanden«, erwiderte Partridge. »Und ich nehme an, Crawf auch.«
»Offen gesagt, der Vorschlag stammt von ihm selbst. Wie jeder König wird er unsicher, wenn er zu lange von seinem Thron entfernt ist. Außerdem bringt es uns nicht weiter, wenn er unsichtbar bleibt. Ach, und noch was: Gleich nach den Meldungen wird Crawf ein paar spontane Worte des Dankes an alle jene richten, die ihm in Anrufen und Briefen ihr Mitgefühl bekundet haben.«
»Spontan?«
»Natürlich. Im Augenblick feilen drei Texter daran.«
Partridge mußte trotz der Umstände lächeln und fragte: »Und ihr beide habt euch für den Augenblick arrangiert?«
Insen nickte. »Zwischen uns besteht ein unausgesprochener Waffenstillstand, bis diese Sache vorüber ist.«
»Und danach?« »Wir werden sehen.«
6
Fast einen Monat vor der Entführung, bereits kurz nach Miguels Ankunft in den Vereinigten Staaten, hatte er versucht, die Särge zu kaufen, in denen die beiden Entführungsopfer nach Peru transportiert werden sollten. Der Plan war schon vor seiner Ankunft ausgearbeitet worden, und Miguel nahm an, daß die Sache schnell und in aller Stille erledigt werden konnte. Doch dann mußte er feststellen, daß es gar nicht so einfach war.
Er hatte sich an ein Bestattungsinstitut in Brooklyn gewandt, weil er seine Aktivitäten über die Stadt verteilen und nicht nur auf Little Columbia, seine damalige Operationsbasis, konzentrieren wollte. Das Institut, das er sich ausgesucht hatte, lag in der Nähe des Prospect Park, ein elegantes, weißes Gebäude mit der Aufschrift Field's und einem großen Parkplatz.
Durch eine schwere Eichentür trat Miguel in eine Empfangshalle mit goldbeigem Teppichboden, riesigen Topfpflanzen und friedvollen Landschaftsansichten an den Wänden. Ein Mann mittleren Alters in schwarzem Frack mit weißer Nelke im Knopfloch, schwarz-grau gestreifter Hose, weißem Hemd und dunkler Krawatte begrüßte ihn mit angemessenem Ausdruck.
»Guten Morgen, Sir«, sagte der Traum aller Schneider. »Ich bin Mr. Field. Zu Ihren Diensten.«
Miguel hatte sich genau überlegt, was er sagen wollte. »Meine Eltern befinden sich bereits in einem fortgeschrittenen Alter und möchten nun gerne gewisse Vorbereitungen treffen für ihr späteres... äh, Ableben.«
Mit einer leichten Verbeugung brachte Field seine Zustimmung und sein Mitgefühl zum Ausdruck. »Ich verstehe, Sir. Viele ältere Leute hegen an ihrem Lebensabend den Wunsch, sich für das Kommende versorgt zu wissen.«
»Richtig. Meine Eltern hätten nun gerne...«
»Verzeihen Sie, Sir, es wäre passender, wenn wir uns in mein Büro begeben würden.«
»Bitte.«
Field ging voraus. Es war wahrscheinlich durchaus beabsichtigt, daß sie dabei an einigen mit ihren Sofas und Sesseln wie Salons wirkenden Zimmern und einem offensichtlich für einen Gottesdienst vorbereiteten Saal mit Stuhlreihen vorbeigingen. In jedem Zimmer lag eine Leiche, geschminkt, der Kopf auf einem Spitzenkissen ruhend, in einem offenen Sarg. Miguel bemerkte nur wenige Besucher, die meisten Zimmer waren leer.
Das Büro lag versteckt am Ende des Gangs. An den Wänden hingen gerahmte Diplome, fast wie im Sprechzimmer eines Arztes, nur daß die Auszeichnungen hier für die »Verschönerung« von Leichen (sie war mit violetten Bändern verziert) und eine andere fürs Einbalsamieren verliehen worden waren. Auf Fields Einladung setzte sich Miguel auf einen Stuhl.
»Darf ich Ihren Namen erfahren, Sir?«
»Novack«, log Miguel.
»Nun, Mr. Novack, wir sollten zunächst die allgemeinen Vorkehrungen besprechen. Haben sich Ihre Eltern bereits eine Grabstelle ausgesucht?«
»Eigentlich nicht.«
»Dann werden wir uns zunächst diesem Problem zuwenden müssen. Wir sollten das gleich für Sie erledigen, da es immer schwieriger wird, angemessene Grabstellen zu erhalten. Es sei denn, Sie ziehen eine Einäscherung in Betracht.«
Miguel, der seine Ungeduld bekämpfen mußte, schüttelte den Kopf. »Nein. Worüber ich eigentlich mit Ihnen sprechen wollte... «
»Dann ist da die Frage der Konfession Ihrer Eltern. Welcher Gottesdienst wird nötig sein? Es müssen auch noch einige andere Entscheidungen getroffen werden. Wenn Sie sich vielleicht das hier einmal durchlesen würden.«
Field gab Miguel etwas, das aussah wie eine umfangreiche Speisekarte. Es war eine lange Liste verschiedener Dienstleistungen mit den dazugehörigen Preisen wie etwa: »Baden, Desinfizieren, Herrichten und Schminken des Verstorbenen - $ 250«, »Sonderbehandlung für Autopsiefälle -$125« sowie »Geistlicher Beistand verschiedener Konfessionen - $ 100.« Ein »kompletter traditioneller Gottesdienst« zu $ 5900 schloß unter anderem ein Kruzifix im Wert von $ 30 ein, das dem Verstorbenen in die Hand gelegt wurde. Särge kosteten extra, und zwar bis zu $ 20600.
»Ich bin eigentlich hier, um über die Särge zu sprechen«, sagte Miguel.
»Gewiß.« Field stand auf. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Nun führte er Miguel in den Keller, wo sie einen mit rotem Teppich ausgelegten Austeilungsraum betraten. Field führte ihn zunächst zu dem Sarg für $ 20600. »Das ist unser Schmuckstück. Er besteht aus erstklassigem Stahl, hat drei Deckelmodelle zur Auswahl - Glas, Bronze und Reliefbronze, und ist außerordentlich dauerhaft.« Reiche Ornamente verzierten das Äußere des Sargs. Innen war er mit lavendelfarbenem Samt ausgeschlagen.
»Vielleicht lieber etwas Einfacheres«, sagte Miguel.
Sie einigten sich schließlich auf zwei Särge, der eine etwas kleiner als der andere, zu $ 2300 und $ 1900. »Meine Mutter ist eine sehr zierliche Dame«, erklärte Miguel. Ungefähr so groß wie ein elfjähriger Junge, dachte er.
Einige schmucklose, einfache Kisten hatten Miguels Neugier geweckt. Als er Field danach fragte, erklärte der: »Die sind für orthodoxe Juden, deren Glauben Einfachheit vorschreibt. Und weil es in der Bibel >Erde zu Erde< heißt, haben diese Kisten zwei Löcher im Boden. Sie sind aber kein Jude?« Als Miguel den Kopf schüttelte, vertraute Field ihm an: »Offen gesagt, ich möchte meine geliebten Angehörigen nicht so zur letzten Ruhe betten.«
Sie kehrten in das Büro zurück, wo Field sagte: »Nun würde ich vorschlagen, daß wir uns um die anderen Fragen kümmern. Zunächst einmal die Grabstelle.«
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Miguel. »Ich möchte nur die Särge bezahlen und sie gleich mitnehmen.«
Field sah entsetzt aus. »Das ist unmöglich.«
»Warum?«
»Das ist einfach nicht üblich.«
»Ich hätte mich vielleicht deutlicher ausdrücken sollen.« Miguel merkte nun langsam, daß es nicht so einfach war, wie er es sich vorgestellt hatte. »Meine Eltern möchten die Särge gerne bei sich zu Hause haben, an einem Ort, wo sie sie täglich sehen können. Damit sie sich sozusagen an ihre zukünftige Bleibe gewöhnen können.«
Field schien am Boden zerstört. »So etwas können wir unmöglich tun. Was wir hier anbieten sind - wenn ich den Begriff verwenden darf - >Pakete<. Es ist durchaus möglich, daß Ihre Eltern uns besuchen und sich die Särge ansehen, in denen sie einmal ruhen werden. Aber wir müssen darauf bestehen, daß sie im Haus bleiben, bis sie benötigt werden.«
»Können Sie denn nicht...«
»Nein, Sir, auf keinen Fall.«
Miguel spürte, daß der andere das Interesse verlor und sogar schon ein wenig argwöhnisch wurde.
»Nun gut. Ich werde es mir überlegen und vielleicht auf Sie zurückkommen.«
Field begleitete Miguel hinaus. Miguel hatte natürlich nicht im geringsten die Absicht zurückzukommen. Er wußte, daß er bereits jetzt einen zu nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte.
Tags darauf versuchte er es bei zwei anderen Bestattungsinstituten, wo er sich kürzer faßte. Doch die Antwort war überall die gleiche. Keines war bereit, Särge ohne das dazugehörige »Leistungspaket« zu verkaufen.
Miguel sah nun, daß es ein Fehler gewesen war, sich von seiner Operationsbasis zu entfernen, und wandte sich wieder an seine Kontakte in Little Columbia. Nach ein paar Tagen schickte man ihn in ein kleines, tristes Bestattungsinstitut in Astoria, nicht weit von Jackson Heights. Dort traf er Alberto Godoy.
Im Vergleich zu Field's war Godoys Institut ein Ramschladen, speziell ausgerichtet auf eine weniger zahlungskräftige Kundschaft. Doch nicht nur das, der Laden war auch ausgesprochen schäbig, und diese Schäbigkeit erstreckte sich auch auf den Besitzer.
Godoy war fett und glatzköpfig, er hatte nikotinfleckige Finger und das aufgeschwemmte Gesicht eines starken Trinkers. Die Flecken auf seinem schwarzen Frack und den grau gestreiften Hosen waren unübersehbar. Seine Stimme war heiser, ein Raucherhusten zerteilte seine Sätze. Während der Besprechung mit Miguel, die in Godoys winzigem, vollgestopftem Büro begann, rauchte er drei Zigaretten, wobei er die eine an der anderen anzündete.
Miguel begann: »Mein Name ist Novack, und ich wollte mich erkundigen... «
»Ja, ich weiß.«
»Meine Eltern sind bereits im vorgerückten Alter... «
»Ach, sieh mal einer an!«
Miguel ließ sich nicht beirren und wiederholte seine Geschichte, während Godoy mit einer Mischung aus Langeweile und Ungläubigkeit zuhörte. Am Ende fragte er nur: »Wie werden Sie zahlen?«
»Bar.«
Godoy wurde sofort etwas freundlicher. »Hier entlang, bitte.«
Auch bei Godoy befand sich der Ausstellungsraum im Keller, doch hier war der Teppich stumpfbraun und abgenutzt, und es gab auch weniger Auswahl als bei Field's. Ohne langes Zögern suchte sich Miguel zwei Särge aus, den einen von durchschnittlicher Größe, den anderen kleiner.
»Für den normalen dreitausend Dollar«, verkündete Godoy. »Für den Kindersarg zweitausendfünfhundert.«
Obwohl der Hinweis auf das Kind nicht mit seiner Geschichte übereinstimmte und der Wahrheit gefährlich nahekam, ignorierte Miguel ihn. Er zahlte auch widerspruchslos, obwohl er überzeugt war, daß die insgesamt $ 5500 mindestens das Doppelte des normalen Preises darstellten. Er hatte das Geld bei sich und zahlte in Hundertdollarscheinen. Godoy verlangte noch $ 454 Verkaufssteuer, die Miguel ebenfalls zahlte, obwohl er bezweifelte, daß Godoy die je abführte.
Miguel fuhr den kurz zuvor gekauften GMC Laster rückwärts an eine Laderampe, wo die Särge unter Godoys Aufsicht verladen wurden. Anschließend brachte Miguel sie in das Haus, wo er sie bis zu ihrem späteren Transport nach Hackensack aufbewahrte.
Nun kehrte Miguel fast einen Monat später zu Alberto Godoys Institut zurück, weil er noch einen dritten Sarg brauchte.
Wegen des damit verbundenen Risikos machte Miguel diesen zweiten Besuch nicht gern. Er erinnerte sich noch an Godoys beiläufige Bemerkung über den Kindersarg. Und er fragte sich, ob die Gefahr bestand, daß Godoy den Kauf der beiden Särge mit der Entführung des Jungen und der Frau in Verbindung gebracht hatte. Es war nicht sehr wahrscheinlich, doch Miguel hatte unter anderem auch deshalb so lange als Terrorist überlebt, weil er jedes mögliche Risiko in Betracht zog. Doch da er beschlossen hatte, auch den dritten Gefangenen nach Peru zu schaffen, gab es für ihn zu diesem Zeitpunkt keine Alternative zu Godoy. Er mußte es riskieren.
Eine gute Stunde nach dem Verlassen der Vereinten Nationen sagte Miguel zu Luis, er solle den Leichenwagen einen Block vor Godoys Bestattungsinstitut abstellen. Miguel spannte den Schirm auf und lief durch den strömenden Regen.
Im Bestattungsinstitut meldete eine Empfangsdame Miguel über die Sprechanlage bei Godoy an und führte ihn dann in dessen Büro.
Der dicke Mann sah Miguel durch eine Wolke von Zigarettenrauch argwöhnisch an. »Ach, Sie sind's wieder. Ihre Freunde haben mir nicht gesagt, daß Sie kommen.«
»Die wissen es nicht.«
»Was wollen Sie?« Hatte er sich beim ersten Mal noch bereitwillig auf das Geschäft mit Miguel eingelassen, wurde jetzt deutlich, daß er Vorbehalte hatte.
»Ein alter Freund hat mich gebeten, ihm einen Gefallen zu tun. Er hat die Särge gesehen, die ich für meine Eltern gekauft habe, ihm gefällt der Gedanke und er möchte... «
»Ach, lassen Sie das!« Ein altmodischer Spucknapf stand neben Godoys Schreibtisch. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und spuckte hinein. »Hören Sie zu, Mister, verschwenden Sie keine Zeit mit diesem Unsinn, von dem wir beide wissen, daß er nicht stimmt. Ich habe gefragt, was Sie wollen.«
»Einen Sarg. Bar bezahlt wie beim letzten Mal.«
Godoy warf ihm einen verschlagenen Blick zu. »Ich habe hier ein Geschäft. Klar, ab und zu bin ich Ihren Freunden gefällig, das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber von Ihnen will ich jetzt eins wissen: Reite ich mich da in eine Riesensache hinein?«
»Es gibt keine Sache. Nicht wenn Sie kooperieren.« Miguel senkte drohend die Stimme.
»Also gut, Sie bekommen ihn«, sagte Godoy in etwas gemäßigterem Tonfall. »Aber die Preise sind gestiegen seit dem letzten Mal. Das Modell für Erwachsene kostet jetzt viertausend.«
Wortlos öffnete Miguel die Mappe, die er von Jose Antonio Salaverry erhalten hatte, und zählte vierzig Hundertdoll arscheine ab, die er Godoy gab. »Plus zweihundertfünfzig Verkaufssteuer.«
Während Miguel die Bänder der Mappe wieder verknotete, sagte er zu Godoy: »Sie können mich mal mit Ihrer Steuer.« Und dann: »Ich habe draußen einen Wagen stehen. Schaffen Sie den Sarg zur Laderampe.«
An der Rampe war Godoy dann etwas überrascht, als ein Leichenwagen erschien. Die beiden ersten Särge waren in einem Laster weggeschafft worden, das wußte er noch. Da er seinem Besucher noch immer nicht traute, prägte er sich das New Yorker Kennzeichen des Leichenwagens ein. Sobald er wieder in seinem Büro saß, schrieb er sich die Nummer auf, obwohl er eigentlich nicht genau wußte, wieso. Er legte den Zettel in eine Schublade und vergaß ihn sofort wieder.
Obwohl Godoy das unbestimmte Gefühl hatte, in etwas verwickelt zu sein, von dem er besser nichts wußte, lächelte er, als er die viertausend Dollar in seinen Bürosafe legte. Ein Teil des Geldes, das sein Besucher bereits vor einem Monat bezahlt hatte, lag ebenfalls in dem Safe, und Godoy hatte nicht nur nicht die Absicht, die Verkaufssteuer abzuführen, sondern wollte beide Transaktionen generell am Finanzamt vorbeischmuggeln. Die drei Särge aus seinen Inventarbüchern verschwinden zu lassen, war kein Problem. Der Gedanke stimmte ihn so fröhlich, daß er beschloß, etwas zu tun, was er sehr oft tat - in die Bar nebenan zu gehen.
In der Bar warteten bereits einige seiner Saufkumpane auf ihn. Kurze Zeit später, als ihm drei Jack Daniel's die Zunge schon etwas gelöst hatten, erzählte er der Runde, daß ein Spinner bei ihm zwei Särge gekauft und dann angeblich bei sich zu Hause aufgestellt habe, für den Fall, daß seine Alten abkratzen. Und nun sei er zurückgekommen und habe noch einen dritten gekauft, so als wären es Stühle oder Bratpfannen.
Unter dem dröhnenden Gelächter seiner Zuhörer erzählte er weiter, er habe den Kerl übers Ohr gehauen und ihm das Dreifache des normalen Preises abgenommen. Daraufhin mischte sich Beifall unter das Gelächter, und das brachte Godoy dazu, noch eine Runde auszugeben. Die Befürchtungen von zuvor waren längst vergessen.
Bei dieser Clique in der Bar saß auch ein gebürtiger Kolumbianer mit amerikanischem Paß, der für eine obskure in Spanisch erscheinende Wochenzeitung aus Queens eine Kolumne schrieb. Mit einem Bleistiftstummel notierte sich der Mann die wesentlichen Punkte von Godoys Geschichte auf dem Rücken eines Briefumschlags und übersetzte sie dabei gleichzeitig ins Spanische. Die Episode würde ein hervorragendes Thema für seine nächste Kolumne abgeben, dachte er sich.
7
Bei CBA News war es ein hektischer Tag gewesen, vor allem für die Spezialeinheit.
Fast die gesamte Arbeit konzentrierte sich auf die Produktion eines umfassenden Berichts über die Entführung für die National Evening News, obwohl es auch an anderen Orten der Welt zum Teil sehr bedeutende Ereignisse gab.
Für die Entführungsgeschichte waren fünfeinhalb Minuten vorgesehen - eine außergewöhnlich lange Zeit in einem Geschäft, in dem man sich um Sendeanteile von nur fünfzehn Sekunden Länge stritt. Aus diesem Grund war praktisch die ganze Sondereinheit nur mit diesem Bericht beschäftigt, für längerfristige Planung oder intensives Nachdenken blieb fast keine Zeit mehr.
Harry Partridge, der den ersten Teil der Sendung moderierte, begann:
»Auch nach sechsunddreißig Stunden quälenden Wartens gibt es noch immer keine Nachricht von der Familie des Chefsprechers von CBA News, Crawford Sloane, dessen Frau, Sohn und dessen Vater gestern vormittag in Larchmont, New York, entführt wurden. Der Aufenthaltsort von Mrs. Jessica Sloane, dem elfjährigen Nicholas und Mr. Angus Sloane ist bis jetzt noch unbekannt.«
Bei jedem Namen wurde das entsprechende Foto über Partridges Schulter eingeblendet.
»Unbekannt sind darüber hinaus Identität, Motive und Herkunft der Entführer.«
Dann erschien Crawford Sloanes sorgenvolles Gesicht auf dem Bildschirm. Mit verzweifelter Stimme flehte er: »Gleichgültig, wer Sie sind oder wo Sie sind, melden Sie sich in Gottes Namen. Schicken Sie uns eine Nachricht!«
Zu einer Außenansicht der FBI-Zentrale, dem J. Edgar Hoover Building in Washington, hörte man nun wieder Partridges Stimme. »Während das FBI, das die Ermittlungen übernommen hat, offiziell jeden Kommentar verweigert...«
Ein kurzer Szenenwechsel ins Pressebüro des FBI. Ein Sprecher erklärt: »Im Augenblick würden Verlautbarungen die Ermittlungen nur behindern.«
Dann wieder Partridge: »...geben FBI-Beamte unter der Hand zu, daß noch keine Fortschritte gemacht wurden.«
»Seit gestern ergießt sich ein Strom der Entrüstung und der Besorgnis über unser Land. So an höchster Stelle...«
Schnitt zum Pressesaal des Weißen Hauses. Der Präsident sagt: »Eine solche Untat hat in Amerika keinen Platz. Diese Verbrecher werden zur Strecke gebracht und bestraft werden.«
Partridge: »... und an bescheideneren Orten...«
Aus Pittsburgh meldete sich ein hartgesottener schwarzer Stahlkocher, dessen Gesicht im Schein des Schmelzofens glänzte: »Ich schäme mich, daß so etwas in meinem Land passieren kann.«
Und aus einer freundlichen Küche in Topeka eine weiße Hausfrau: »Ich kann nicht verstehen, daß das niemand vorausgesehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen hat.«
In einem Klassenzimmer in Kalifornien sagte ein junges, eurasisches Mädchen mit leiser Stimme: »Es tut mir leid wegen Nicholas Sloane. Es ist nicht richtig, daß sie ihn entführt haben.«
Während des Tages hatten sich Kamerateams von CBA und einigen Tochtergesellschaften auf die Suche nach Stellungnahmen gemacht. Aus fünfzig Interviews hatte man diese drei ausgewählt.
Szenenwechsel zu Sloanes Haus: Bilder vom vergangenen, regnerischen Vormittag wurden gezeigt, zuerst eine Distanzaufnahme von der wartenden Menge auf der Straße, dann ein langsames Heranfahren an die Gesichter. Über den Bildern Partridges Stimme: »Nicht zuletzt wegen des großen öffentlichen Interesses kam es heute zu einer neuen Tragödie.«
Der Sprecherkommentar wechselte sich ab mit Umweltgeräuschen, und dazu immer neue Bilder: Die beiden zivilen FBI-Autos in der Auffahrt... die Masse der Schaulustigen, die dem ersten Wagen plötzlich den Weg versperren... das Ausbrechen des ersten Autos... quietschende Reifen und die Schreie der Verletzten... die verzweifelten Versuche der anderen, sich vor dem zweiten Wagen in Sicherheit zu bringen... eine Nahaufnahme von Sloanes Gesicht... die überstürzte Abfahrt des zweiten Autos.
Während des Schneidens war Kritik an der Verwendung der letzten beiden Szenen laut geworden. Sloane selbst behauptete: »Es vermittelt einen vollkommen falschen Eindruck.«
Aber Iris Everly, die zusammen mit Bob Watson, einem der besten Cutter von CBA, den Bericht zusammenstellte, stimmte für die Verwendung und setzte sich schließlich durch. »Ob es Crawf gefällt oder nicht«, sagte sie, »es sind wichtige Informationen, und wir sollten objektiv bleiben. Außerdem ist sonst seit gestern nichts passiert.« Rita und Partridge hatten ihr zugestimmt.
Nun folgte eine geschickt gemachte Rekapitulation des vergangenen Tages. Sie begann mit Priscilla Rhea, der alten und gebrechlichen pensionierten Lehrerin, die noch einmal den brutalen Überfall auf Jessica, Nicky und Angus Sloane beschrieb.
Minh Van Canh hatte seine Kamera sehr kreativ eingesetzt und brachte Miss Rheas Gesicht in extremer Nahaufnahme. Sie zeigte überdeutlich die tiefen Furchen des Alters in ihrem Gesicht, brachte aber auch ihre Intelligenz und ihr robustes Wesen zur Geltung. Minh hatte sie mit behutsamen Fragen aus der Reserve gelockt. Wenn kein Korrespondent zur Stelle war, kam es ab und zu vor, daß ein erfahrener Kameramann die Leute, die er filmte, selbst befragte. Im Studio wurden dann die Fragen gelöscht, während die Antworten als Stellungnahmen erhalten blieben.
Nach der Beschreibung des Kampfes auf dem Parkplatz und der Abfahrt des Nissan, hob Miss Rhea wütend die Stimme und sagte über die Entführer: »Das waren brutale Männer, Ungeheuer! Richtige Wilde!«
Als nächstes bestätigte der Polizeichef von Larchmont, daß es in dem Fall noch keinen Durchbruch gegeben habe und auch von den Entführern noch keine Nachricht eingetroffen sei. Auf diese Rekapitulation folgte ein Interview mit dem Kriminologen Ralph Salerno.
Das Gespräch via Satellit zwischen Harry Partridge in New York und Ralph Salerno in einem Studio in Miami war bereits am Nachmittag aufgezeichnet worden. Karl Owens' Empfehlung hatte sich als zutreffend erwiesen, denn Salerno war beredt, überzeugend und gut informiert. Rita Abrams war von ihm so beeindruckt, daß sie mit ihm für die Dauer der Krise einen Exklusivertrag aushandelte. Er sollte $ 1000 pro Sendung bekommen, mindestens vier Auftritte waren garantiert.
Viele Sender behaupteten zwar, Interviewpartnern kein Geld zu bezahlen - was bei weitem nicht immer stimmte -, doch in diesem Fall handelte es sich um ein Beraterhonorar und war als solches durchaus akzeptabel.
»Der Fortschritt der Ermittlungen nach einer geschickt durchgeführten Entführung«, erklärte Ralph Salerno, »hängt davon ab, ob die Entführer sich melden. Falls und solange das nicht passiert, ergibt sich meist keine Möglichkeit zum Handeln.«
Als Antwort auf Anfrage Partridges fuhr er fort: »Das FBI kann bei Entführungen eine Erfolgsquote von zweiundneunzig Prozent aufweisen. Aber wenn man sich genau ansieht, welche Verbrecher und wie sie gefangen wurden, wird man erkennen, daß es zu den meisten Aufklärungen dann kam, wenn die Entführer sich meldeten und man ihnen während der Verhandlungen oder bei der Lösegeldübergabe eine Falle stellen konnte.«
Partridge griff das Stichwort auf: »Dann ist es also wahrscheinlich, daß auch in diesem Fall nicht viel passiert, solange die Entführer sich nicht melden.«
»Ganz richtig.«
Die letzte Stellungnahme in diesem Sonderbericht kam von der CBA-Präsidentin, Margot Lloyd-Mason.
Es war Leslie Chippinghams Idee gewesen, Margot mit in die Sendung zu nehmen. Er hatte ihr am Tag zuvor, kurz nach der Programmunterbrechung durch die Sondermeldung, telefonisch Bericht erstattet und an diesem Vormittag wieder. Sie hatte im großen und ganzen sehr mitfühlend reagiert und gleich nach dem Gespräch mit Les Crawford Sloane angerufen und ihm gesagt, sie hoffe, daß man seine Familie bald wiederfinden werde. Bei dem zweiten Gespräch mit Chippingham jedoch machte sie Einschränkungen.
»So etwas passiert unter anderem auch deshalb, weil die Sender ihre Moderatoren zu überlebensgroßen Stars gemacht haben und die Öffentlichkeit sie nun als etwas ganz Besonderes, als halbe Götter ansieht.« Sie ließ sich nicht weiter darüber aus, inwieweit ein Sender, auch wenn er es wollte, die öffentliche Meinung in dieser Hinsicht beeinflussen könnte, und Chippingham hatte wenig Lust, mit ihr über das Offensichtliche zu streiten.
Ihr zweiter Vorbehalt betraf die Spezialeinheit.
»Ich will nicht, daß irgend jemand - und das heißt vorwiegend Sie«, sagte Margot Lloyd-Mason, »nun plötzlich wild mit Geld um sich wirft. Sie sollten fähig sein, das Notwendige innerhalb des bestehenden Budgetrahmens zu tun.«
»Ich bin mir da nicht so sicher«, erwiderte Chippingham zweifelnd.
»Dann betrachten Sie es als verbindliche Richtlinie. Ohne meine vorherige Zustimmung darf nichts unternommen werden, was unser Budget überschreitet. Ist das klar?«
Insgeheim fragte sich Chippingham, ob diese Frau Blut in den Adern hatte oder Eis.
Laut antwortete er: »Ja, Margot, es ist klar, aber ich möchte Sie daran erinnern, daß die Einschaltquoten für die National Evening News gestern abend in die Höhe geschossen sind, und ich gehe davon aus, daß das für die Dauer dieser Krise auch so bleiben wird.«
»Was nur beweist«, erwiderte sie kühl, »daß auch tragische Ereignisse profitbringend sein können.«
Während es durchaus angebracht schien, die Präsidentin in der Sendung auftreten zu lassen, erhoffte sich Chippingham auch, daß diese ihr harte Haltung gegenüber Sonderausgaben etwas abmildern würde, denn die waren seiner Meinung nach nötig.
Vor der Kamera sprach Margot sehr selbstbewußt und überzeugend einen vorbereiteten Text, den sie jedoch an einigen Stellen verändert hatte.
»Ich spreche im Namen aller Angehörigen dieses Senders und auch unserer Muttergesellschaft, Globanic Industries, wenn ich Ihnen versichere, daß wir alle verfügbaren Mittel für die Suche nach den verschwundenen Mitgliedern der Familie Sloane bereitstellen werden. Denn das Schicksal dieser Familie geht uns alle an.
Wir bedauern sehr, was geschehen ist, und wir bitten die Behörden mit Nachdruck, alles zu tun, um die Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Wir alle hoffen, unseren Freund und Kollegen Crawford Sloane möglichst bald wieder mit seiner Frau, seinem Sohn und seinem Vater vereint zu sehen.«
Im ursprünglichen Text wurde Globanic Industries nicht erwähnt. Als Margot bei der Durchsicht des Manuskripts in Chippinghams Büro die Erwähnung vorschlug, riet Chippingham ab. »Ich würde das nicht tun. Für die Öffentlichkeit ist CBA eine unabhängige Größe, ein Stück amerikanische Lebensart. Die Erwähnung von Globanic verwischt dieses Bild, und das bringt keinem einen Vorteil.«
»Sie tun doch nur gern so«, entgegnete Margot, »als wäre CBA eine Art Kronjuwel und außerdem unabhängig. Aber der Sender ist weder das eine noch das andere. Bei Globanic hält man CBA eher für 'nen Pickel am Arsch des Konzerns. Der Hinweis kommt rein. Was Sie rausnehmen können, ist dieses >unser Freund und Kollegec, Entführung hin oder her, am Ende ersticke ich noch dran.«
»Wie wär's mit einem Kompromiß?« fragte Chippingham lakonisch. »Ich verspreche, Globanic zu lieben, wenn Sie die eine Sendung lang Crawfords Freund sind.«
Zum ersten und einzigen Mal mußte Margot laut lachen. »Verdammt, ja.«
Der Mangel an Fortschritten nach dem ersten hektischen Tag für die Spezialeinheit überraschte Harry Partridge nicht. Er war in der Vergangenheit schon an mehreren ähnlichen Projekten beteiligt gewesen und wußte, daß jedes neu zusammengestellte Team mindestens einen Tag brauchte, um sich zu orientieren. Dennoch durfte es bei der Ausarbeitung ihrer Pläne keine weitere Verzögerung geben.
»Wie wär's mit einem Arbeitsessen?« fragte er Rita im Verlauf des Nachmittags.
Ohne lange zu zögern, bestellte Rita einen Tisch in einem chinesischen Restaurant, wo sich die sechs wichtigsten Mitglieder der Spezialeinheit unmittelbar nach den Abendnachrichten treffen konnten. Sie entschied sich für das Shun Lee West an der West Sixty-fifth Street in der Nähe des Lincoln Center, ein beliebter Treffpunkt der Fernsehleute. Bei der Reservierung sagte sie zu dem maitre d' hotel, Andy Yeung: »Kommen Sie uns nicht mit Speisekarten. Sie stellen einfach ein gutes Menü zusammen und geben uns einen Tisch etwas abseits, damit wir reden können.«
Während eines Werbespots nach dem Fünfminutenbericht über die Entführung verließ Partridge den Moderatorensessel, und Crawford Sloane setzte sich an seine Stelle. Während des Wechsels faßte Sloane Partridge am Arm und flüsterte: »Danke, Harry - für alles.«
»Ein paar von uns werden heute abend noch arbeiten«, erwiderte Partridge, »vielleicht kommen uns dabei ein paar gute Einfälle.«
»Ich weiß. Und ich bin euch wirklich dankbar dafür.« Wie gewohnt überflog nun Sloane die Manuskripte, die ihm ein Assistent vorlegte, und Partridge, der ihm dabei zusah, war entsetzt über das Aussehen des Mannes. Nicht einmal Make-up konnte die verheerende Wirkung der vergangenen eineinhalb Tage verbergen. Sloanes Wangen wirkten eingefallen, er hatte Tränensäcke unter den rotgeränderten Augen; vielleicht, dachte Partridge, hatte er heimlich geweint.
»Wie geht's?« flüsterte er. »Bist du sicher, daß du das schaffst?«
Sloane nickte. »Diese Saukerle werden mich nicht außer Gefecht setzen.«
»Fünfzehn Sekunden«, rief der Sendeleiter.
Partridge verließ schnell das Studio. Draußen blieb er vor einem Kontrollmonitor stehen, bis er ganz sicher war, daß Sloane den Rest der Nachrichten bewältigen würde. Dann fuhr er mit einem Taxi zum Shun Lee West.
Der Tisch stand in einem verhältnismäßig ruhigen Winkel im hinteren Teil des Restaurants.
Kurz vor Ende des ersten Gangs - einer dampfenden, fein gewürzten Wintermelonensuppe - wandte Partridge sich an Cooper. Der junge Engländer hatte fast den ganzen Tag in Larchmont verbracht, wo er mit jedem sprach, der etwas über die Entführung wußte, und natürlich auch mit der Polizei. Erst am späten Nachmittag war er ins Hauptquartier der Spezialeinheit zurückgekehrt.
»Teddy, laß uns mal deine ersten Eindrücke hören, und ob dir schon was eingefallen ist, wie wir weitermachen sollen.«
Cooper schob die leere Suppentasse weg und wischte sich die Lippen ab. Er schlug ein ziemlich abgenutztes Schulheft auf und erwiderte: »Okay, zuerst meine Eindrücke.«
Die aufgeschlagenen Seiten waren bis an den Rand vollgekritzelt.
»Erstens: Diese Kerle waren absolute Profis, sie wußten genau, was sie taten, und machten keinen einzigen Fehler. Die Sache war so präzise geplant wie ein Eisenbahnfahrplan. Zweitens: Sie hatten einen Haufen Geld.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Norman Jaeger.
»Auf diese Frage habe ich gehofft.« Cooper sah sich grinsend am Tisch um. »Zum einen deutet alles darauf hin, daß die Entführer erst mal lange beobachteten, bevor sie zuschlugen. Ihr wißt doch, daß die Nachbarn jetzt erzählen, sie hätten Autos und ein- oder zweimal sogar einen Lastwagen vor Sloanes Haus gesehen, aber sich dabei gedacht hätten, die Leute in den Autos würden Mr. Sloane beschützen und nicht ausspionieren. Seit gestern haben das fünf Leute erzählt, mit vieren davon habe ich heute gesprochen. Und alle wollen diese Autos drei Wochen oder sogar einen Monat lang immer wieder mal gesehen haben. Und dazu kommt noch, daß Mr. Sloane jetzt glaubt, er sei verfolgt worden.«
Cooper sah Partridge an. »Harry, ich hab deine Palavernotizen am Infobrett gelesen, und ich glaube, Mr. Sloane hat recht. Er wurde wirklich beschattet. Ich hab' da so 'ne gewisse Theorie.«
Inzwischen wurde der nächste Gang serviert - sautierte Krabben mit Paprikastreifen, gebratene Königsgarnelen, Zuckerschoten und gebratener Reis. Es entstand eine Gesprächspause, in der sich alle das Essen schmecken ließen, doch dann drängte Rita weiter. »Was ist mit dieser Theorie, Teddy?«
»Okay, Mr. Sloane ist ein Fernsehstar, eine Gestalt des öffentlichen Lebens, der bei jedem seiner Schritte beobachtet wird, und im Lauf der Zeit wird ihm das auf unangenehme Art bewußt. Deshalb baut er sich im Unbewußten eine Art Schutzwall dagegen auf, er verdrängt, daß Fremde ihn ansehen, den Kopf nach ihm umdrehen und mit Fingern auf ihn zeigen. Und so hat er eben auch seine Beschattung verdrängt - die es meiner Meinung nach aber gegeben haben muß, weil sie zu der aufwendigen Beobachtung der ganzen Familie paßt.«
»Auch wenn das stimmt«, fragte Karl Owens, »was bringt es uns?«
Partridge entgegnete ihm: »Es hilft uns, eine Vorstellung von den Entführern zu bekommen. Mach weiter, Teddy.«
»Okay. Für diese langfristige und sorgfältige Beschattung müssen die Kerle viel Geld ausgegeben haben. Dasselbe gilt für die Autos, die sie dazu verwendet haben, verschiedene Personenwagen, einen Lastwagen, vielleicht sogar zwei, und dann gestern den Nissan Kleinbus - 'ne richtige Flotte. Und an diesen Autos war was Besonderes.«
Cooper blätterte eine Seite um. »Die Polizei hat mir die Zeugenaussagen gezeigt. Da sind mir ein paar interessante Sachen aufgefallen.
Also, wenn jemand ein Auto sieht, dann bleibt ihm davon vielleicht nicht viel im Gedächtnis, aber an eins erinnern sich die meisten Leute, an die Farbe nämlich. Na, und diese Leute, die die Autos gesehen haben wollen, erwähnen acht verschiedene Farben. Da frage ich mich natürlich sofort: Hatte die Bande acht verschiedene Autos?«
»Möglich wär's«, erwiderte Iris Everly, »wenn sie Leihwagen benutzt haben.«
Cooper schüttelte den Kopf. »Nicht die Profis, mit denen wir es hier zu tun haben; die sind dazu viel zu gerissen. Die wußten genau, daß sie beim Mieten von Autos ihre Identität hätten preisgeben müssen - Führerscheine, Kreditkarten. Und außerdem hätte man anhand der Kennzeichen feststellen können, woher die Leihwagen kamen.«
»Dann hast du also eine andere Theorie«, meinte Iris. »Oder?«
»Genau. Ich glaube, daß die Entführer wahrscheinlich drei Autos hatten und die immer wieder umspritzten, sagen wir einmal pro Woche, weil sie hofften, damit das Risiko einer Entdeckung zu verringern. Und das hat ja auch funktioniert. Nur ist ihnen beim Umspritzen ein dummer Fehler unterlaufen.«
Inzwischen kam der nächste Gang - zwei große Platten mit Pekingente. Während Cooper weitererzählte, griffen die anderen hungrig zu.
»Gehen wir kurz ein Stück zurück. Einer dieser Nachbarn hat sich etwas mehr über diese Autos gemerkt als die anderen. Der ist nämlich im Versicherungsgeschäft und kennt sich mit Marken und Modellen aus.«
Jaeger unterbrach ihn: »Das ist ja alles sehr interessant, mein britischer Freund, aber wenn du noch was von dieser köstlichen Ente willst, mußt du zugreifen, bevor wir Yankees alles wegputzen.«
»Internationale Ente!« Cooper nahm sich genüßlich nun ebenfalls ein Stück Fleisch und fuhr dann fort.
»Na, auf jeden Fall hat dieser Typ sich Marken und Modelle der Autos gemerkt und sagt nun, er hätte insgesamt drei verschiedene gesehen - einen Ford Tempo, einen Chevy Celebrity und einen Plymouth Reliant, alles Modelle von diesem Jahr, und er hat sich zu den Modellen auch ein paar Farben gemerkt.«
»Und wie bist du auf das Umspritzen gekommen?« fragte Partridge.
»Heute nachmittag«, entgegnete Cooper, »hat euer Informant, Bert Fisher, für mich bei einigen Autohändlern angerufen. Und dabei zeigte sich, daß einige der Farben, die die Leute gesehen haben, für diese Modelle gar nicht lieferbar sind. Der Versicherungsmensch hat zum Beispiel erzählt, er hätte einen gelben Ford Tempo gesehen, aber dieses Modell gibt es mit einer solchen Lackierung nicht. Das gleiche gilt für einen blauen Plymouth Reliant. Ein anderer hat ein grünes Auto erwähnt, aber keins der drei Modelle ist mit grüner Lackierung lieferbar.«
»Vielleicht bist du da wirklich auf was gestoßen«, bemerkte Owens nachdenklich. »Es ist natürlich möglich, daß ein Auto in einen Unfall verwickelt war und neu lackiert wurde, aber bei dreien ist das eher unwahrscheinlich.«
»Da ist noch etwas anderes«, warf Jaeger dazwischen, »wenn eine Werkstatt ein Auto neu lackiert, dann verwendet sie meistens die Originallacke des Herstellers. Außer jemand verlangt extra eine ungewöhnliche Farbe.«
»Was unwahrscheinlich ist«, sagte Iris, »wenn man bedenkt, was Teddy eben gesagt hat, nämlich daß die Leute, mit denen wir es hier zu tun haben, sehr gerissen sind. Die wollen doch möglichst unauffällig bleiben, und nicht das Gegenteil.«
»Ich stimme euch in allem zu, Leute«, sagte Cooper. »Und das führt zu dem Schluß, daß die Bande die Autos selbst umgespritzt hat, und zwar ohne besonders auf lieferbare Lacke zu achten. Vielleicht wußten sie davon auch überhaupt nichts.«
»Das sind aber doch alles nur Spekulationen«, gab Partridge zu bedenken.
Doch Rita hielt ihm entgegen: »Sind es wirklich nur Spekulationen? Überleg doch, was Teddy vorher gesagt hat. Daß die Leute, um die es hier geht, praktisch eine ganze Flotte von Fahrzeugen hatten - mindestens drei Personenwagen, einen oder vielleicht zwei Lastwagen, und einen Nissan Kleinbus für die Entführung. Die fünf kennen wir sicher. Na, und da macht es doch durchaus Sinn, daß sie alle fünf an einem Ort unterbringen wollen. Das müßte dann allerdings ein größeres Anwesen sein. Und warum nicht gleich so groß, daß sie dort auch noch eine Lackierwerkstatt unterbringen können?«
»Du meinst also eine Operationsbasis«, sagte Jaeger. Er wandte sich an Teddy; die anfängliche Skepsis des Älteren war einem wachsenden Respekt gewichen. »Das ist es doch, worauf du hinauswillst, oder?«
»Ja.« Cooper strahlte. »Aber klar doch.«
Inzwischen wurde weiter aufgetragen - am Ende sollten es acht Gänge sein. Ein sautierter Hummer mit Ingwer und Schalotten stand nun auf dem Tisch. Nachdenklich griffen die sechs nach ihren Portionen, sie konzentrierten sich auf das, was eben gesagt worden war.
»Eine Operationsbasis.« Rita dachte laut. »Vielleicht nicht nur als Stellplatz für die Autos, sondern auch als Unterkunft für alle Beteiligten. Von der alten Dame wissen wir, daß vier oder fünf Männer an der Entführung direkt beteiligt waren. Vielleicht gab es im Hintergrund noch mehr. Da wäre es doch durchaus sinnvoll, Mensch und Material an einem Ort zu konzentrieren.«
»Wo auch die Geiseln versteckt werden können«, ergänzte Jaeger.
»Wenn wir von all dem ausgehen«, sagte nun Partridge, »und okay, wollen wir es für den Augenblick einmal tun, dann ist die nächste Frage zwangsläufig: Wo?«
»Das wissen wir natürlich nicht«, antwortete Cooper. »Aber wenn man intensiv nachdenkt, kommt man vielleicht auf ein paar Möglichkeiten, wo dieser Ort sein könnte und wie weit er von Larchmont entfernt ist.«
»Und intensiv nachgedacht hast du natürlich bereits«, bemerkte Iris amüsiert.
»Nun«, erwiderte Cooper, »da du schon fragst...«
»Hör mit der Angeberei auf«, zischte Partridge.
Völlig unbeeindruckt fuhr Cooper fort: »Ich habe versucht, mich in die Lage der Kidnapper zu versetzen. Und so habe ich mich gefragt: Nach der Entführung, wenn ich die Leute habe, auf die ich es abgesehen hatte, was wäre mir dann am wichtigsten?«
»Wie wär's denn damit?« fragte Rita. »Sicherheit vor Verfolgern; das heißt, ich mache mich aus dem Staub und verstecke mich so schnell wie möglich.«
Cooper klatschte in die Hände. »Genau! Und ein besseres Versteck als diese Operationsbasis gibt es nicht.«
»Verstehe ich dich richtig?« fragte Owens. »Du willst damit andeuten, daß diese Basis nicht weit vom Tatort entfernt ist?«
»Ich denke mir das folgendermaßen«, sagte Cooper. »Erstens, es muß in einiger Entfernung von Larchmont sein, denn in der Gegend zu bleiben, wäre zu gefährlich. Aber es darf zweitens auch nicht zu weit weg sein. Die Entführer sind bestimmt davon ausgegangen, daß irgend jemand innerhalb kürzester Zeit, vielleicht innerhalb von Minuten, Alarm schlägt, und daß dann die Polizei in der ganzen Gegend nach ihnen sucht. Sie haben sich deshalb genau ausgerechnet, wieviel Zeit ihnen zur Verfügung steht.«
»Und wieviel Zeit würdest du dir als Entführer geben?« fragte Rita.
»Eine halbe Stunde, würde ich sagen. Das ist zwar auch schon gefährlich lange, aber dieses Risiko müssen sie eingehen, um weit genug wegzukommen.«
»Wenn man das in Meilen umrechnet...«, sagte nun Owens langsam, »bei der Gegend... ich würde sagen, etwa fünfundzwanzig.«
»Genau das habe ich mir auch gedacht.« Cooper zog eine zusammengefaltete Karte von New York und Umgebung aus der Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus. Auf der Karte hatte er mit Buntstift einen Kreis um Larchmont gezogen. Nun zeigte er mit dem Finger auf den Kreis. »Ein Fünfundzwanzig-Meilen-Radius. Ich glaube, daß das Hauptquartier der Entführer irgendwo innerhalb des Kreises liegt.«
8
Am Freitagabend um 20 Uhr 40, während die Spezialeinheit von CBA News noch im Shun Lee West beim Essen saß, klingelte es in der Wohnung des peruanischen Diplomaten Jose Antonio Salaverry in Manhattan. Ein Besucher kündigte sich an.
Die Wohnung lag in einem zwanzigstöckigen Hochhaus an der Forty-eighth Street in der Nähe der Park Avenue. Obwohl am Haupteingang ein Pförtner postiert war, konnten sich Besucher über eine Gegensprechanlage direkt bei den Hausbewohnern anmelden, die sie dann mit einem Knopfdruck einließen.
Seit seinem Treffen mit Miguel an diesem Morgen war Salaverry nervös und wartete ungeduldig auf die Nachricht, daß die Medellin-Sendero-Luminoso-Bande das Land unbehelligt verlassen habe. Denn er glaubte, mit der Abreise der Gruppe sei seine Verbindung zu dieser entsetzlichen Sache, die ihm seit gestern keine Ruhe mehr ließ, beendet.
Schon seit mehr als einer Stunde saßen er und Helga Efferen, seine Freundin aus der Bank, vor dem offenen Kamin und tranken Wodka-Tonics, denn keiner der beiden hatte Lust, in die Küche zu gehen und zu kochen oder auch nur telefonisch etwas zu bestellen. Obwohl der Alkohol sie körperlich entspannte, nahm er ihnen nichts von ihrer Angst.
Die beiden bildeten ein eigenartiges Paar: Salaverry war klein und unruhig, während auf Helga die Beschreibung »üppig« wohl am besten zutraf. Ihr kräftiger Knochenbau war von reichlich Fleisch umhüllt, sie hatte riesige Brüste und naturblonde Haare. Doch eigentliche Schönheit hatte die Natur ihr vorenthalten; eine gewisse Härte in ihrem Gesicht und ihre keifende Art stießen einige Männer ab, nicht aber Salaverry. Seit ihrer ersten Begegnung in der Bank fühlte er sich zu Helga hingezogen, vielleicht weil er in ihr ein Spiegelbild seiner selbst sah und weil er in ihr eine versteckte, aber ausgeprägte Sexualität zu spüren glaubte.
Er hatte in beiden Aspekten recht behalten. Sie hatten die gleichen Ansichten, die im wesentlichen von Pragmatismus, Eigennutz und Geiz bestimmt waren. Und was den Sex anging, so kam es häufig vor, daß eine erregte Helga zum Wal wurde, die ihren Jonas Jose Antonio überwältigte und beinahe verschlang. Er liebte es. Helga hatte auch die Neigung, laut zu stöhnen und auf dem Höhepunkt zu schreien, und das gab ihm das Gefühl, männlicher und größer zu sein, als er es, in jeder Hinsicht, war.
Doch dieser Abend war bislang erotisch eine Enttäuschung gewesen. In der Hoffnung, ihre Sorgen zumindest eine Zeitlang vergessen zu können, hatten sie mit Zärtlichkeiten begonnen, aber bald darauf gemerkt, daß sie beide nicht bei der Sache waren, und es wieder aufgegeben.
Ihr geistiges Einverständnis war jedoch noch intakt und zeigte sich in ihrer Einstellung zu der Entführung der Sloanes.
Beide wußten, daß sie wichtige Informationen über ein Verbrechen besaßen, das alle Nachrichtensendungen beherrschte, und nach dessen Opfern und Tätern im ganzen Land gefahndet wurde. Schlimmer noch, sie hatten zur Finanzierung der Bande beigetragen.
Doch Jose Antonio und Helga machten sich keine Sorgen um die Sicherheit der Entführungsopfer, sondern nur um ihre eigene. Salaverry wußte, wenn seine Verwicklung bekannt wurde, konnte ihn nicht einmal mehr seine diplomatische Immunität vor höchst unangenehmen Konsequenzen bewahren, darunter die Verbannung aus den Vereinten Nationen, die Ausweisung aus den Vereinigten Staaten, das Ende seiner Karriere und höchstwahrscheinlich ein Racheakt des Sendero Luminoso in Peru. Helga, die keine diplomatische Immunität besaß, mußte wegen Unterdrückung von Informationen und Bestechlichkeit mit einer Gefängnisstrafe rechnen.
Genau daran dachte sie, als es klingelte und ihr Liebhaber aufsprang und zu der Sprechanlage an der Wand lief, die ihn mit dem Haupteingang verband. Er drückte auf einen Knopf und fragte: »Hallo?«
Metallisch verzerrt kam die Stimme aus der Leitung: »Hier ist Plato.«
Erleichtert rief Jose Antonio Helga zu: »Er ist es.« Dann sagte er in die Sprechmuschel: »Kommen Sie doch bitte herauf.« Mit einem Knopfdruck öffnete er unten die Tür.
Siebzehn Stockwerke tiefer betrat der Mann, der eben mit Salaverry gesprochen hatte, durch eine schwere Spiegelglastür das Haus. Er war von durchschnittlicher Statur und hatte ein dunkles, schmales Gesicht mit tiefen, düster blickenden Augen und glänzende schwarze Haare. Über einem unauffälligen braunen Anzug trug er einen vorne offenen Trenchcoat. Sein Hände steckten in dünnen Handschuhen, die er trotz der Wärme im Haus nicht ablegte.
Der uniformierte Portier, der ihn an der Sprechanlage gesehen hatte, winkte ihn zu einem Aufzug. Drei Personen, die in der Halle gewartet hatten, betraten mit ihm den Lift. Der Mann im Trenchcoat ignorierte sie. Er drückte den Knopf für den achtzehnten Stock und stand dann ausdruckslos, mit starr nach vorne gerichtetem Blick in einer Ecke. Als er sein Stockwerk erreichte, hatten die anderen den Aufzug bereits verlassen.
Er folgte einem Pfeil zu der Wohnung, die er suchte, und dabei registrierte er, daß es auf diesem Stock noch drei weitere Wohnungen und auf der rechten Seite eine Nottreppe gab. Er glaubte zwar nicht, daß er diese Information brauchen würde, aber er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich immer einen Fluchtweg einzuprägen. An der Wohnungstür drückte er auf einen Knopf und hörte von drinnen eine sanftes Läuten. Fast im gleichen Augenblick ging die Tür auf.
»Mr. Salaverry?« fragte der Mann. Er hatte eine weiche Stimme mit einem hispanischen Akzent.
»Ja, ja. Kommen Sie nur herein. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
»Nein, danke. Ich bleibe nicht lange.« Der Besucher sah sich schnell um. Als er Helga entdeckte, fragte er: »Ist sie die Frau von der Bank?«
Obwohl Salaverry über die unhöfliche Art etwas verwundert war, antwortete er: »Ja. Miss Efferen. Und Ihr Name?«
»Plato genügt.« Er deutete mit dem Kopf auf den offenen Kamin. »Können wir dorthin gehen?«
»Natürlich.« Salaverry fiel auf, daß der Mann seine Handschuhe anbehielt. Vielleicht ist es nur ein Tick von ihm, dachte er, oder er ist verkrüppelt.
Sie standen nun vor dem Kamin. Nachdem der Mann Helga kaum merklich zugenickt hatte, fragte er: »Ist sonst noch jemand in der Wohnung?«
Salaverry schüttelte den Kopf. »Wir sind alleine. Sie können offen reden.«
»Ich habe eine Nachricht für Sie«, sagte der Mann und griff in den Mantel. Als er die Hand wieder herauszog, hielt sie eine Browning neun Millimeter mit Schalldämpfer.
Der Alkohol in Salaverrys Blut verlangsamte seine Reaktionen, doch auch unter normalen Umständen hätte er das, was nun geschah, nicht verhindern können. So stand er nur schreckensstarr da, und bevor er sich rühren konnte, hielt der Mann ihm schon die Pistole an die Schläfe und drückte ab. Mit überrascht und ungläubig aufgerissenem Mund starb Salaverry.
Das Einschußloch war nur klein, ein sauberer roter Kreis. Die Austrittsöffnung aber war groß und ausgefranst, Knochensplitter, Gehirnmasse und Blut spritzten heraus. In dem Augenblick, bevor die Leiche zu Boden fiel, sah der Mann im Mantel die Pulverspuren - eine Wirkung, die beabsichtigt war. Dann wandte er sich der Frau zu.
Auch Helga stand wie festgenagelt. Doch nun wurde aus der Überraschung Entsetzen. Sie begann zu schreien und versuchte wegzulaufen.
Doch es war zu spät. Der Mann, ein exzellenter Schütze, jagte ihr eine Kugel durchs Herz. Sie stürzte sterbend zu Boden, und ihr Blut tränkte den Teppich.
Der Killer, den Miguel bei seinem Anruf in Little Columbia angeheuert hatte, stand still da und lauschte. Der Schalldämpfer auf der Browning hatte die beiden Schüsse fast unhörbar gemacht, doch der Mann ging kein Risiko ein und wartete auf eine mögliche Reaktion von draußen. Falls er Geräusche von den Nachbarn oder andere Anzeichen von Neugier bemerkt hätte, wäre er sofort verschwunden. Aber alles blieb still, und so erledigte er schnell und geschickt den Rest seines Auftrags.
Zuerst schraubte er den Schalldämpfer von der Pistole und steckte ihn ein. Die Pistole legte er neben Salaverrys Leiche. Dann zog er aus der anderen Manteltasche eine Spraydose und sprühte in schwarzen Buchstaben das Wort CORNUDO an eine Wand.
Er kehrte zu Salaverry zurück, ließ etwas von dem schwarzen Lack auf die rechte Hand des Toten tropfen, legte dann die schlaffen Finger um die Dose und drückte sie an, damit später Salaverrys Fingerabdrücke auf der Dose gefunden würden. Der Killer stellte die Dose auf einen Tisch in der Nähe, hob dann die Pistole auf und legte sie dem Toten in die Hand, wobei er wieder die Finger an den Griff drückte, um Salaverrys Abdrücke auf der Waffe zu hinterlassen. Schließlich plazierte er Hand und Pistole so, daß es aussah, als hätte Salaverry sich erschossen und wäre dann zu Boden gefallen.
Die Frau rührte der Killer nicht an, sondern ließ sie so liegen, wie sie gefallen war.
Als nächstes zog der Eindringling ein gefaltetes Blatt Briefpapier aus der Tasche. Darauf standen, mit Schreibmaschine getippt, die Zeilen:
Du wolltest mir also nicht glauben, als ich dir sagte, daß sie eine nymphomanische Hure und deiner nicht wert ist. Du glaubst, sie liebt dich, wo sie doch nur Verachtung für dich empfindet. Du hast ihr vertraut und ihr einen Schlüssel für deine Wohnung gegeben. Und was macht sie damit? Sie bringt andere Männer für ihren dreckigen Sex in deine Wohnung. Hier sind Fotos, die das beweisen. Sie hat sich von einem Freund des Mannes, mit dem sie es getrieben hat, dabei fotografieren lassen. Ihre Sexbesessenheit geht so weit, daß sie solche Bilder von sich sogar sammelt. Daß sie deine Wohnung auf eine so abscheuliche Art mißbraucht, muß doch für einen Macho wie dich die größte Beleidigung sein.
Dein früherer (und wahrer) Freund
Vom Wohnzimmer ging der Killer in Salaverrys Schlafzimmer. Er zerknüllte das Blatt Papier zu einem Ball und warf ihn in einen Abfallkorb. Wenn die Polizei die Wohnung durchsuchte, würde sie das Papier mit Sicherheit finden und es wahrscheinlich als halbanonymen Brief betrachten, dessen Absender nur Salaverry kannte.
Als letztes zog nun der Mann einen Briefumschlag mit angesengten Schnipseln von Schwarzweißfotos aus der Tasche. Er ging in das angrenzende Badezimmer und leerte den Inhalt des Umschlags in die Toilettenschüssel. Die Schnipsel trieben auf der Wasseroberfläche.
Die einzelnen Fetzchen war zu klein, um identifiziert werden zu können. Aber sie legten die Vermutung nahe, daß Salaverry, nachdem er den denunzierenden Brief erhalten hatte, die Fotos verbrannte und die Asche in der Toilette hinunterspülte, wobei einige unverbrannte Reste in der Schüssel zurückblieben. Anschließend, so würde die Polizei weiter folgern, hatte er seine Geliebte, in blinder Wut über ihre vermeintliche Untreue, erschossen.
Auch die restlichen Indizien würden analog interpretiert werden: Salaverry selbst hatte das einzelne Wort auf die Wand gesprüht, eine klägliche Botschaft, die beschrieb, wie er sich fühlte. (Falls die Ermittlungsbeamten kein Spanisch sprachen, würden sie bald von anderer Seite erfahren, daß das Wort »Hahnrei« bedeutete.)
Dieser in der Erregung schnell hingesprühte Abschiedsschrei hatte sogar eine gewisse künstlerische Note. Während dies nicht unbedingt etwas war, das ein Amerikaner oder ein Angelsachse tun würde, schien es doch typisch für einen heißblütigen Latin Lover zu sein.
Schließlich die letzte Schlußfolgerung: Aus Verzweiflung und weil er die Konsequenzen seiner Tat nicht auf sich nehmen wollte, hatte Salaverry sich selbst erschossen. Die Pulverspuren an der Stirn waren typisch für eine selbst beigebrachte Wunde.
Da in New York unaufgeklärte Morde an der Tagesordnung und sämtliche Polizeieinheiten stark überlastet waren, würde man in ein Verbrechen, dessen Umstände und Motive so eindeutig waren, nur wenig Zeit und Mühe investieren. Und eben damit hatten die erfahrenen Planer dieses Anschlags gerechnet.
Der Killer sah sich noch ein letztes Mal prüfend im Wohnzimmer um und verließ dann die Wohnung. Als er kurze Zeit später ungehindert wieder auf die Straße trat, hat er sich kaum fünfzehn Minuten in dem Gebäude aufgehalten. Wenige
Blocks entfernt zog er die Handschuhe aus und warf sie in eine Mülltonne.
9
»Glaubst du, daß Teddy Cooper etwas herausfindet?« fragte Norman Jaeger.
»Es würde mich nicht überraschen«, antwortete Partridge. »Es ist ihm schon öfters gelungen.«
Es war 22 Uhr 30, und die beiden gingen auf dem Broadway in der Nähe des Central Park in südlicher Richtung. Eine Viertelstunde zuvor war das Arbeitsessen im Shun Lee West zu Ende gegangen, kurz nachdem Cooper seine Hypothese aufgestellt hatte, das Hauptquartier der Entführer befinde sich innerhalb eines Fünfundzwanzig-Meilen-Radius um Larchmont. Doch bevor sie sich trennten, hatte er seiner ersten Hypothese eine zweite folgen lassen.
Seiner Meinung nach hielten sich Entführer und Opfer noch im Hauptquartier der Bande auf, wo die Gangster solange ausharren würden, bis die Suche nachließ und die Straßensperren verringert oder aufgehoben wurden - was beides in nächster Zeit passieren würde. Danach würden die Entführer ihre Opfer an einen weit entfernten Ort bringen, vielleicht noch in den Vereinigten Staaten, möglicherweise aber auch außerhalb.
Die anderen hatten Coopers Argumente sehr ernst genommen. Rita Abrams meinte dazu: »Das ist das Einleuchtendste, was ich bisher gehört habe.«
Aber Carl Owens gab zu bedenken: »Wir reden da von einem riesigen, dichtbesiedelten Gebiet, das man nicht einmal mit einer Armee effektiv durchsuchen könnte.« Und dann, mit einem Seitenhieb auf Cooper: »Außer du hast noch eine deiner brillanten Ideen in der Hinterhand.«
»Im Augenblick nicht«, erwiderte Cooper. »Ich brauch' erst mal eine Mütze voll Schlaf. Vielleicht fällt mir dann morgen früh etwas >Brillantes< ein, wie du so schön sagst.«
Damit beendeten sie die Diskussion, und obwohl der folgende Tag ein Samstag war, setzte Partridge für 10 Uhr ein weiteres Treffen der Spezialeinheit an. Danach trennten sie sich. Die meisten fuhren mit dem Taxi, und nur Partridge und Jaeger beschlossen, zu Fuß zu ihren Hotels zu gehen, um noch etwas die Nachtluft zu genießen.
»Wo hast du diesen Cooper denn eigentlich aufgegabelt?« fragte Jaeger.
Partridge erzählte, wie er Teddy beim BBC entdeckt hatte, von seiner Arbeit beeindruckt gewesen war und ihm bei CBA einen besser bezahlten Job verschafft hatte.
»Eins der ersten Probleme, die er für uns löste«, fuhr Partridge fort, »war damals, 1984, die Sache mit der Verminung des Roten Meeres. Dabei wurden eine Menge Schiffe in die Luft gejagt und sanken, aber kein Mensch wußte, wer die ganzen Minen gelegt hatte. Erinnerst du dich noch?«
»Natürlich erinnere ich mich«, erwiderte Jaeger. »Der Iran und Libyen waren die Hauptverdächtigen. Offensichtlich erledigte ein Schiff die Drecksarbeit, aber keiner wußte, welches und wem es gehörte.«
Partridge nickte. »Teddy nahm also die Ermittlungen auf und verbrachte einige Tage bei Lloyds, wo er geduldig sämtliche Aufzeichnungen der Versicherung über Schiffsbewegungen durchsah. Er ging von der Hypothese aus, daß das Schiff, das die Minen gelegt hatte, durch den Suezkanal gekommen sein mußte. Also schrieb er sich alle Schiffe heraus, die kurz vor Beginn der Verminung den Suezkanal passiert hatten - und das waren nicht wenige.
Dann verfolgte er die Bewegungen der Schiffe, die er sich herausgeschrieben hatte, von einem Hafen zum anderen und verglich diese Bewegungen mit den Daten über die von Minen verursachten Havarien in den einzelnen Gebieten. Schließlich, und das heißt nach einer sehr, sehr langen Suche, stieß er auf den Namen eines Schiffes, die Ghat. Sie war überall dort gewesen, wo andere Schiffe auf Minen aufgefahren waren, und in jedem Fall nur ein oder zwei Tage zuvor. Damit hatte Teddy den unwiderlegbaren Beweis erbracht, daß nur dieses Schiff die Minen gelegt haben konnte.«
Partridge fuhr fort: »Wie wir heute wissen, war es ein libysches Schiff, und nachdem der Name bekannt war, dauerte es nicht mehr lange, bis man beweisen konnte, daß Gaddafi hinter der ganzen Sache steckte.«
»Ich wußte zwar, daß wir bei der Geschichte die Nase vorn hatten«, sagte Jaeger, »aber wer und was da alles dahintersteckte, wußte ich nicht.«
»Das ist doch immer so«, meinte Partridge grinsend. »Wir Korrespondenten werden für eine Arbeit gelobt, die wir Leuten wie dir und Teddy zu verdanken haben.«
»Ich beklage mich nicht«, entgegnete Jaeger. »Und ich sag' dir eins, Harry: Ich möchte nicht mit dir tauschen, vor allem in meinem Alter nicht mehr.« Er überlegte eine Weile und fuhr dann fort: »Cooper ist ja noch ein Junge. Alle sind sie noch Jungs. Inzwischen aber schmeißen die unseren Laden. Sie haben die Energie und den Grips. Hast du auch manchmal Tage wie ich, wo du merkst, daß du alt wirst?«
Partridge schnitt eine Grimasse. »In letzter Zeit viel zu oft.«
Sie hatten den Columbus Circle erreicht. Links von ihnen erstreckte sich die furchteinflößende Dunkelheit des Central Park, in den sich nachts nur wenige New Yorker hineintrauten. Direkt vor ihnen lag die West Fifty-ninth Street und dahinter die hellen Lichter von Mid-Manhattan. Partridge und Jaeger schlängelten sich vorsichtig durch den dichten Verkehr der am Circle zusammenlaufenden Straßen.
»Du und ich, wir haben beide schon eine Menge Veränderungen in diesem Geschäft miterlebt«, sagte Jaeger. »Und wenn wir Glück haben, sind wir bei den nächsten auch noch mit dabei.«
»Was glaubst du, was noch alles passieren wird?«
Jaeger überlegte, bevor er antwortete. »Ich sage dir zuerst, was nicht passieren wird. Die landesweit ausgestrahlten Nachrichtensendungen von CBA und den anderen werden nicht verschwinden, und sie werden sich auch nicht groß ändern, trotz aller Unkenrufe. Vielleicht wird sich CNN noch mit an die Spitze setzen, aber da ist noch genug Platz. Auf jeden Fall gibt es einen großen Appetit auf Nachrichten, größer als je zuvor, und das weltweit.«
»Das hat das Fernsehen geschafft.«
»Genau! Das Fernsehen ist für das zwanzigste Jahrhundert das, was Gutenberg und Caxton für andere Zeitalter waren. Und mehr noch, das Fernsehen hat, trotz all seiner Fehler, die Leute mit seinen Nachrichtensendungen hungrig nach Wissen gemacht. Nur deshalb stehen die Zeitungen so gut da, und das wird auch in Zukunft so bleiben.«
»Ich glaube nicht, daß die uns dafür dankbar sind«, bemerkte Partridge.
»Sie sind uns vielleicht nicht dankbar, aber sie schenken unserer Arbeit große Beachtung. Don Hewitt von CBS hat darauf hingewiesen, daß bei der New York Times in der Abteilung Fernsehen viermal so viele Leute beschäftigt sind wie die Zeitung Korrespondenten bei den Vereinten Nationen hat. Und vieles, was die schreiben, betrifft uns - die Fernsehnachrichten, die Leute, die sie machen, die Arbeit, die dahintersteckt.«
»Und dreh's doch mal um«, fuhr Jaeger fort. »Wann war an der Times je etwas so interessant, daß es das Fernsehen gebracht hätte. Dasselbe gilt auch für alle anderen Printmedien. Und jetzt überleg dir mal, welches Medium im allgemeinen für das wichtigere gehalten wird.«
Partridge kicherte. »Erst mal bin ich wichtig, und das kannst du dir schön dick und farbig unterstreichen.«
»Farbig!« Jaeger nahm das Stichwort auf. »Auch in der Hinsicht hat das Fernsehen etwas verändert. Inzwischen sehen Zeitungen immer mehr wie Fernsehbilder aus - USA Today hat damit angefangen. Wir beide, Harry, werden noch erleben, daß die New York Times eine vierfarbige Titelseite bringt. Das Publikum wird es fordern, und die alte graue Times wird sich schön brav danach richten.«
»Du steckst heute abend ja voller Weisheiten«, sagte Partridge. »Was siehst du denn sonst noch alles voraus?«
»Die Wochenzeitschriften werden verschwinden. Das sind Dinosaurier. Wenn Time und Newsweek zu den Abonnenten kommen, sind viele Artikel schon eine Woche bis zehn Tage alt, und wen interessieren denn heutzutage noch alte Nachrichten? Soweit ich weiß, hat sich die Werbung übrigens die gleiche Frage gestellt.«
Er fuhr fort: »Trotz ihres großen Talents im Aufwärmen von abgestandenen Nachrichten und der hochklassigen Schreibe werden die Wochenzeitschriften den Weg gehen, den auch Collier's, Look und die Saturday Evening Post gegangen sind. Die meisten von den Jüngeren übrigens, die heute bei den Nachrichten arbeiten, kennen die überhaupt nicht.«
Sie waren beim Parker-Meridien an der West Fifty-seventh angelangt, in dem Jaeger wohnte. Partridge hatte das Inter-Continental an der East Forty-eighth vorgezogen, weil er es für gemütlicher hielt.
»Wir beide sind zwei alte Schlachtrösser, Harry«, sagte Jaeger. »Bis morgen dann.« Zum Abschied gaben sie sich die Hand.
Eine halbe Stunde später lag Partridge, umgeben von Zeitungen, im Bett und begann zu lesen. Aber bald verschwamm ihm die Schrift vor den Augen, und er legte die Zeitungen beiseite. Er nahm sich vor, sie am nächsten Morgen zu lesen, zusammen mit den Neuausgaben, die mit dem Frühstück eintrafen.
Dennoch konnte er nicht schlafen. Zu viel war in den vergangenen sechsunddreißig Stunden passiert. Sein Kopf war voll - ein Kaleidoskop von Ereignissen, Ideen, Verantwortlichkeiten und dazwischen immer wieder der Gedanke an Jessica, die Vergangenheit, die Gegenwart... lebendige Erinnerungen...
Wo war Jessica im Augenblick? Hatte Teddy recht mit seinem Fünfundzwanzig-Meilen-Radius? War es wirklich möglich, daß er, Harry, der schlachtenerprobte Kämpfer, wie ein mittelalterlicher Ritter in glänzender Rüstung einen erfolgreichen Kreuzzug anführen und seine frühere Geliebte finden und befreien konnte?
Laß die Träumereien! Spar dir die Gedanken an Jessica und die anderen für morgen auf. Er wollte endlich Ruhe finden und an nichts mehr denken, oder zumindest an etwas anderes.
Aus diesem anderen wurde, wie so häufig, die Erinnerung an Gemma... die zweite große Liebe in seinem Leben.
Am Tag zuvor, auf dem Flug von Toronto, hatte er sich die denkwürdige Papstreise wieder in Erinnerung gerufen: Die DC-10 der Alitalia... die Pressekabine und die Begegnung mit dem Papst... Partridges Entscheidung, die Bemerkung über die »Sklaven« nicht zu verwenden, und die Rose von Gemma als Belohnung... der Beginn ihrer gegenseitigen Zuneigung und Liebe...
Nun verdrängte er den Gedanken an Gemma nicht mehr, wie er es so lange getan hatte, sondern nahm die Erinnerung an der Stelle wieder auf, wo er tags zuvor abgebrochen hatte.
Die Reise durch Mittelamerika und die Karibik war lang und anstrengend gewesen und das bis dahin ehrgeizigste Unternehmen des Papstes. Sie führte in acht Länder und erforderte lange Flüge, zum Teil bei Nacht.
Bereits nach ihrer ersten Begegnung hatte Harry beschlossen, Gemma näher kennenzulernen, aber seine journalistischen Aufgaben ließen ihm auch während der Aufenthalte wenig Zeit, sie zu sehen. Dennoch nahmen sie einander immer stärker wahr, und wenn es die Arbeit im Flugzeug zuließ, setzte sich Gemma zu ihm. Bald fingen sie an, Händchen zu halten, und als Gemma sich einmal zum Abschied an ihn schmiegte, küßten sie sich.
Als es geschah, spürte er, wie sein Verlangen wuchs.
Sie sprachen miteinander, sooft sie konnten, und Gemma erzählte ihm von ihrem Leben.
Sie stammte aus dem kleinen Ferienort Vallombrosa in den Bergen der Toskana, unweit von Florenz, und war die jüngste von drei Schwestern. »Es ist kein mondäner Ort, wo die Reichen Urlaub machen, Harry caro, aber sehr schön.«
Vallombrosa, sagte sie ihm, war ein Zufluchtsort für die italienische Mittelklasse, die dort ihre Sommer verbrachte. Etwa zwei Kilometer entfernt lag Il Paradisino, wo einst John Milton lebte und wo er angeblich seine Inspiration für Paradise Lost fand.
Gemmas Vater war ein begabter Künstler, der sich als Gemälde- und Freskenrestaurator einen Namen gemacht hatte und der häufig in Florenz arbeitete. Ihre Mutter war Musiklehrerin. Kunst und Musik waren ein fester Bestandteil des Familienlebens und blieben es für Gemma auch in ihrem späteren Leben.
Vor drei Jahren hatte sie bei Alitalia angefangen. »Ich wollte die Welt sehen. Anders hätte ich es mir nicht leisten können.«
Partridge fragte: »Und wieviel hast du gesehen, bei dem Job?«
»Ein bißchen was schon, wenn auch nicht so viel, wie ich wollte. Aber langsam bin ich es leid, immer nur eine cameriera del cielo zu sein.«
Er lachte. »Du bist viel mehr als eine Kellnerin des Himmels. Hast du nicht auch viele Leute kennengelernt?« Und mit gespielter Eifersucht fügte er hinzu: »Viele Männer?«
Gemma zuckte nur mit den Achseln. »Den meisten möchte ich außerhalb des Flugzeugs nicht begegnen.«
»Aber es gab doch sicher auch andere?«
Sie lächelte auf ihre unwiderstehliche, sanfte Art. »Niemand, den ich so gern hatte wie dich.«
So einfach sie das gesagt hatte, fragte Partridge sich dennoch, ob er nicht naiv und dumm war, wenn er ihren Worten glaubte. Warum soll ich ihr nicht glauben, dachte er dann, wenn ich genauso empfinde wie sie, und wenn seit Jessica keine Frau mehr eine solche Wirkung auf mich hatte?
Sie hatten beide das Gefühl, daß die Reise zu schnell vorüberging. So wenig Zeit blieb ihnen noch. Und dann würden sie wahrscheinlich auseinandergehen und sich nie wiedersehen.
Vielleicht war es dieses Gefühl für die verrinnende Zeit, das Gemma in jener denkwürdigen Nacht bewegte, zu ihm zu kommen und sich an ihn zu schmiegen, als die meisten in der schwach erleuchteten Kabine schon schliefen. Unter dem Schutz der Decke liebten sie sich zum ersten Mal. Nicht einmal der unbequeme Dreiersitz einer Touristenklasse machte ihnen etwas aus, und für Partridge blieb diese Nacht eines seiner schönsten Erlebnisse.
»Gemma, willst du meine Frau werden?« flüsterte er, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Es war eine plötzliche Eingebung, ausgelöst durch die Erinnerung an den Verlust Jessicas.
Sie hatte zurückgeflüstert: »Oh, amor mio, natürlich will ich.«
Das nächste Reiseziel war Panama. Mit leiser Stimme stellte Partridge Fragen und machte Pläne, während Gemma im Halbdunkel nur verschmitzt lachte und allem zustimmte.
Bei Tageslicht landeten sie auf dem Flughafen Tocumen in Panama. Die DC-10 der Alitalia rollte aus. Der Papst verließ die Maschine, ganz der gelernte Schauspieler von einst, und küßte geschickt den Boden, während sich zahllose Objektive auf ihn richteten. Danach begannen die hinlänglich bekannten Formalitäten.
Vor der Landung hatte Partridge mit seinem Produzenten und dem Kamerateam gesprochen und sie gebeten, während der ersten Stunden des Papstbesuchs ohne ihn zu arbeiten. Er würde später dazukommen, um seinen Bericht für die National Evening News aufzunehmen und beim Schneiden zu helfen. Da es in Panama keine Sommerzeit gab, betrug der Zeitunterschied zu New York nur eine Stunde, was ihnen aber reichlich Zeit ließ.
Bei aller Neugierde hüteten sich seine Kollegen von CBA, Fragen zu stellen, obgleich ihnen die wachsende Bindung zwischen ihm und Gemma kaum entgangen sein durfte.
Er hatte sich auch an den Reporter der New York Times, seinen alten Bekannten Graham Broderick, gewandt und ihn gefragt, ob er für den einen Tag dessen Notizen für seinen Bericht verwenden dürfe. Broderick zog nur spöttisch seine Augenbrauen hoch und willigte ein. Solche Arrangements waren unter Journalisten durchaus üblich, zumal man ja nie wußte, wann man selbst Hilfe brauchte.
Als die anderen ausstiegen, wartete Partridge noch auf Gemma. Er hatte keine Ahnung, welche Erklärung sie ihrem Vorgesetzten, dem Chefsteward, geben wollte, doch kam sie kurz darauf, und sie verließen gemeinsam die DC-10. Als Gemma sich entschuldigte, weil sie immer noch ihre Uniform anhatte, nahm er ihren Arm und sagte: »Ich liebe dich so, wie du bist.«
Mit ernstem Ausdruck wandte sie sich ihm zu. »Wirklich, Harry?«
Er nickte ihr ruhig zu. »Wirklich.«
Sie schauten sich in die Augen und schienen glücklich über das, was sie sahen.
Im Terminal ließ Partridge Gemma kurz allein. Er ging zur Touristenauskunft, wo er einem pickligen Jüngling mehrere Fragen stellte. Grinsend erklärte ihm dieser, daß er mit der Senora zu den Las Bovedas, einem Teil der Alten Stadtmauer an der Plaza de Francia, gehen müsse. Dort würde er den Juzgado Municipal finden.
Partridge und Gemma nahmen ein Taxi zur Altstadt. Sie stiegen bei einem gewaltigen Obelisk aus, auf dessen Spitze ein Hahn thronte und mit dem man den französischen Kanalbauern, darunter auch dem berühmten Ferdinand de Lesseps, ein Denkmal gesetzt hatte.
Etwa zwanzig Minuten später standen sie innerhalb der Alten Stadtmauern vor einem juez in einem üppig ausgeschmückten Raum, einer ehemaligen Gefängniszelle. Hier wurden Harry Partridge und Gemma Baccelli Mann und Frau. Nach einer fünfminütigen Zeremonie unterzeichnete der mit einer baumwollenen guayabera recht lässig bekleidete Richter eine Acta Matrimonial, die fünfundzwanzig Dollar kostete. An die beiden Stenografen, die als Trauzeugen fungierten, zahlte Partridge jeweils zwanzig Dollar.
Braut und Bräutigam erfuhren nun, daß sie sich auf Wunsch in das Heiratsregister eintragen lassen konnten, was jedoch nur notwendig sei, wenn sie eines Tages zurückkommen wollten, um sich scheiden zu lassen.
»Wir werden uns eintragen lassen«, sagte Partridge, »undwir werden nicht zurückkommen.«
Schließlich wünschte ihnen der Richter »Que vivan los novios!«, doch es klang nicht sehr überzeugend. Sie hatten den Eindruck, als hätte er das schon sehr oft gesagt.
Damals, wie auch später, fragte sich Harry, wie Gemma, die der zivilen Trauung ohne Zögern zugestimmt hatte, das mit ihrer Religion vereinbaren konnte. Sie war katholisch getauft und wurde in den ersten Schuljahren von Nonnen erzogen. Aber jedesmal, wenn er fragte, zuckte sie nur mit den Achseln und sagte: »Der liebe Gott wird das schon verstehen.« Sie hatte offenbar ein recht ungezwungenes Verhältnis zur Religion, was Harry bei vielen Italienern aufgefallen war, die, wie ihm jemand einmal gesagt hatte, immer davon ausgingen, daß Gott selbst Italiener sei.
An Bord des Flugzeugs hatte sich die Nachricht von der Heirat schneller als »die vier Winde der Erde« verbreitet, wie es ein Korrespondent der Londoner Times in Anspielung auf die Offenbarung formulierte. Nach dem Abflug von Panama wurde in der Pressekabine mit reichlich Champagner, Schnaps und Kaviar gefeiert. Das Bordpersonal schloß sich ihnen an, soweit es seine Pflichten erlaubten, während Gemma für den Rest des Tages frei bekam. Sogar der Flugkapitän verließ kurz das Cockpit, um zu gratulieren.
Inmitten des Trubels und der Glückwünsche spürte Harry, daß einige starke Zweifel hatten, was die mögliche Dauer der Ehe betraf. Aber er spürte auch, daß ein paar der Männer ihn beneideten.
Die demonstrative Abwesenheit des Klerus hatte man ohne große Verwunderung zur Kenntnis genommen. Auch im weiteren Verlauf der Reise mußte Harry feststellen, daß von dieser Seite nur Reserviertheit und Ablehnung kamen. Ob der Papst über das Geschehen informiert war oder nicht, konnte keiner der Journalisten in Erfahrung bringen. In der Pressekabine erschien er auf dieser Reise jedenfalls nicht mehr.
In der kurzen Zeit, die sie gemeinsam verbringen konnten, begannen Partridge und Gemma, Pläne für die Zukunft zu machen.
In dem New Yorker Hotelzimmer verblaßte... langsam... leider... die Erinnerung an Gemma. Schließlich schlief Harry Partridge erschöpft ein.
10
Im Unterschlupf der Entführer in Hackensack erhielt Miguel um 7 Uhr 30 am Samstagmorgen einen Anruf. Er nahm ihn in dem kleinen Zimmer im Erdgeschoß des Hauptgebäudes entgegen, das er für sich als Büro und Schlafzimmer eingerichtet hatte.
Eins der sechs Funktelefone der Bande war für besondere Anrufe reserviert, und die Nummer des Anschlusses kannten nur diejenigen, die solche Anrufe auch tätigen durften. Miguel hatte den Apparat immer in seiner Nähe.
Der Anrufer benutzte befehlsgemäß eine öffentliche Telefonzelle, damit das Gespräch nicht zurückverfolgt werden konnte.
Miguel wartete schon eine Stunde ungeduldig auf diesen Anruf. Gleich beim ersten Klingelzeichen hob er ab und fragte:
»St?«
Der Anrufer benutzte nun ein Codewort, »Tiempo?«, worauf Miguel antwortete: »Relämpago.«
Er hätte noch eine zweite Antwortmöglichkeit gehabt. Wenn er auf die Frage »Wetter?« »Donner« anstatt »Blitz« erwidert hätte, so hätte das bedeutet, daß seine Gruppe aus irgendeinem Grund einen Aufschub um vierundzwanzig Stunden benötigte. Aber seine Antwort »Relämpago« hieß: »Wir sind bereit zum Aufbruch. Nennen Sie Zeit und Ort.«
Nun folgte die eigentliche Botschaft: »Sombrero profundo sur zwanzighundert.«
Sombrero hieß Teterboro Airport, der ja nur eine knappe Meile entfernt lag, profundo sur der südlichste Flugsteig. »Zwanzighundert« bedeutete den Zeitpunkt - 20 Uhr 00 -, an dem die Entführungsopfer und ihre Begleiter einen in Kolumbien registrierten Learjet 55LR besteigen sollten, der dort auf sie wartete. Der 55er, das wußte Miguel bereits, war größer und geräumiger als die sonst gebräuchlichen 20er und 30er Learjets. Das LR bedeutete Long Range, langstreckentauglich.
»Lo comprendo«, erwiderte Miguel knapp, und das Gespräch war beendet.
Der Anrufer war wiederum ein Diplomat gewesen, diesmal einer, der beim kolumbianischen Generalkonsulat in New York akkreditiert war. Seit Miguels Ankunft in den Vereinigten Staaten vor einem Monat diente er als Nachrichtenübermittler. Die diplomatischen Corps Perus und Kolumbiens waren mit Verrätern durchsetzt, Sympathisanten des Sendero Luminoso oder bezahlte Söldner des Medellin-Kartells und manchmal auch beides. Das große Geld, das die lateinamerikanischen Drogenkönige zahlten, lockte sie alle an.
Gleich nach dem Anruf ging Miguel durch das Haupthaus und Nebengebäude, um die anderen zu informieren. Die Vorbereitungen zur Abreise waren bereits in vollem Gange, und jeder wußte, was er zu tun hatte. Es war vereinbart, daß nur Miguel, Baudelio, Socorro und Rafael als Begleitung für die Opfer in ihren Särgen im Learjet mitflogen. Julio sollte in den Vereinigten Staaten bleiben, seine frühere Identität wieder annehmen und erneut ein Schläfer des Medellin-Kartells werden. Carlos und Luis sollten innerhalb der nächsten Tage das Land in aller Stille verlassen und getrennt nach Kolumbien fliegen.
Julio, Carlos und Luis hatten nach dem Abflug des Learjet noch etwas Wichtiges zu erledigen: Sie mußten die Fahrzeuge loswerden. Miguel hatte lange darüber nachgedacht, was mit ihrem Unterschlupf in Hackensack passieren sollte. Anfangs wollte er, sozusagen als Schlußstrich, das ganze Anwesen niederbrennen, einschließlich der Fahrzeuge. Die Gebäude waren alt und würden brennen wie Zunder, vor allem wenn man mit Benzin etwas nachhalf.
Aber ein Feuer würde Aufmerksamkeit erregen, und in der Asche ließen sich bei einer Untersuchung Spuren finden. Obwohl das wenig Bedeutung hatte, da alle bereits verschwunden sein würden, wäre es doch unklug, den amerikanischen Behörden die Sache einfacher zu machen als nötig.
Wenn sie das Anwesen einfach räumten und alles so ließen, wie es war, würde es Wochen, Monate oder noch länger dauern, bis man entdeckte, daß es den Entführern als Durchgangsstation gedient hatte. Aber das hieß, daß man die Fahrzeuge loswerden mußte, daß man sie an verschiedene, möglichst weit entfernte Ort fahren und dort abstellen mußte. Es war natürlich ein gewisses Risiko dabei, vor allem für die Leute, die den Laster, den Leichenwagen und die drei Personenautos fuhren, aber Miguel schätzte dieses Risiko sehr gering ein. Und deshalb hatte er sich auch für diesen Weg entschieden.
Bei seinem Rundgang traf er Rafael als ersten und sagte zu ihm: »Heute abend um 19 Uhr 40 geht's los.«
Der stämmige Handwerker, der gerade in der provisorischen Lackierwerkstatt in einem der Nebengebäude arbeitete, nickte nur grunzend und schien mehr interessiert an dem Wagen, den er am Tag zuvor umgespritzt hatte. Der zuvor weiß lackierte Laster mit der Aufschrift Superbread war nun schwarz und trug den Namen eines fiktiven Bestattungsinstituts, Serene Funeral Homes, in dezent goldenen Buchstaben auf beiden Seiten.
Miguel hatte ihm diese Veränderung befohlen. Nun sagte er zufrieden zu Rafael: »Bien hecho! Richtig schade, daß er nur einmal benutzt wird.«
Ganz offensichtlich froh über dieses Lob, drehte sich Rafael zu ihm um, ein dünnes Lächeln in seinem narbigen, groben Gesicht. Eigenartig, dachte Miguel, daß dieser Rafael, der so wild sein konnte und mit dämonischem Vergnügen anderen Leid zufügte und tötete, manchmal wie ein kleines Kind war, das Zustimmung und Aufmunterung brauchte.
Miguel deutete auf die Nummernschilder des Lasters mit Kennzeichen aus New Jersey. »Sind das neue?«
Wieder nickte Rafael. »Aus dem letzten Satz. Sind bis jetzt noch nicht benutzt worden, und die anderen hab' ich auch ausgetauscht.«
Das bedeutete, daß alle fünf Fahrzeuge nun Nummernschilder hatten, die während der Beschattung nicht verwendet worden waren. So konnte man die Autos viel leichter verschwinden lassen.
Miguel ging nach draußen, wo Julio und Luis unter einer Baumgruppe ein tiefes Loch gruben. Die Erde war schwer vom Regen des vergangenen Tages, die Arbeit mühsam. Julio durchtrennte eben mit einem Spaten ein Baumwurzel, und als er Miguel kommen sah, richtete er sich auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fluchte.
»Pinche ärbol! Das ist eine Scheißarbeit, für Ochsen und nicht für Menschen.«
Miguel wollte ihn schon anschreien, beherrschte sich aber. Die häßliche Messerwunde in Julios Gesicht färbte sich rot, ein Zeichen, daß er schlecht gelaunt war und auf einen Kampf nur wartete.
»Mach 'ne Pause«, sagte Miguel knapp. »Wir haben noch Zeit. Um 19 Uhr 40 fahren wir los.«
Ein Streit in diesen letzten paar Stunden wäre absolut unsinnig. Außerdem brauchte er die Männer noch, um das Loch fertig zu graben, in dem sie die Funktelefone und einen Teil von Baudelios medizinischer Ausrüstung verstecken wollten.
Das Vergraben vor allem der Telefone war nicht eben die ideale Lösung, und Miguel hätte es vorgezogen, sie irgendwo in tiefes Wasser zu werfen. Es gab in der Gegend zwar genug
Wasser, doch die Chancen, sich der Apparate auf diese Art zu entledigen, ohne beobachtet zu werden, waren gering -zumindest in der kurzen Zeit, die ihnen noch zur Verfügung stand.
Sobald die überflüssige Ausrüstung versteckt und das Loch wieder zugeschüttet war, würden Julio und Luis Blätter darüberrechen und so die Spuren verwischen.
Carlos, den Miguel als nächsten traf, war in einem anderen Nebengebäude und verbrannte Papiere in einem Eisenofen. Er war ein gebildeter, junger Mann, der die Beschattung der Sloanes organisiert hatte und nun die Berichte und Fotos dieser Beschattung in den Ofen steckte.
Als Miguel ihm den Abreisetermin nannte, schien er erleichtert. Seine dünnen Lippen zuckten, und er sagte: »Que bueno!« Dann nahm sein Blick wieder die gewohnte Härte an.
Miguel wußte sehr wohl, wie belastend die letzten vierundzwanzig Stunden für jeden einzelnen gewesen waren, vor allem für Carlos, vielleicht wegen seiner Jugend. Aber der junge Mann hatte sich vorbildlich unter Kontrolle, und Miguel sah für ihn über kurz oder lang eine führende Rolle im Terrorismus voraus.
Ein kleiner Stapel Kleider, die offensichtlich Carlos gehörten, lag neben dem Ofen. Miguel, Carlos und Baudelio würden während der Abreise schwarze Anzüge tragen, um bei einer möglichen Kontrolle durch Polizei oder Zoll mit einer sorgfältig ausgearbeiteten Tarngeschichte als Trauernde auftreten zu können. Die restliche Kleidung wollten sie zurücklassen.
Miguel deutete auf die Kleidungsstücke. »Verbrenn die nicht - zu viel Rauch. Durchsuch die Taschen, nimm alles raus und reiß die Etiketten ab.« Er deutete in die Richtung der beiden Grabenden. »Sag's den anderen auch.«
»Okay.« Carlos wandte sich wieder dem Feuer zu und sagte nach einer Weile: »Eigentlich bräuchten wir Blumen.«
»Blumen?«
»Für den Sarg im Leichenwagen und vielleicht für die anderen auch. Eine trauernde Familie würde Blumen auf die Särge legen.«
Miguel zögerte. Er wußte, daß Carlos recht hatte und daß er, Miguel, bei der Vorbereitung der Reise diesen Aspekt nicht beachtet hatte. Die Route dieser Reise war sorgfältig geplant: Von Teterboro aus flogen sie im Learjet zuerst zum Opa Locka Airport in Florida und von dort dann ohne weitere Zwischenlandung direkt nach Peru.
Da Miguel am Anfang nur mit zwei bewußtlosen Gefangenen gerechnet hatte, war ursprünglich geplant gewesen, zweimal zum Flughafen zu fahren, da der Leichenwagen jeweils nur einen Sarg transportieren konnte. Aber drei Fahrten mit drei Särgen waren ein zu großes Risiko, Miguel hatte sich deshalb einen neuen Plan ausgedacht.
Ein Sarg - Baudelio hatte zu entscheiden, welcher - sollte im Leichenwagen zum Flugplatz transportiert werden, die beiden anderen in dem umgespritzten Laster.
Der Lear 55LR, das wußte Miguel, besaß eine Ladeklappe, durch die man problemlos zwei Särge hineinschieben konnte. Beim dritten würde es vielleicht Probleme geben, aber er war sich ziemlich sicher, daß sie es schafften.
Er dachte noch immer über Carlos' Vorschlag nach. Die Blumen würden ihre Tarngeschichte wirklich überzeugender machen. In Teterboro mußten sie durch die Flughafenkontrolle. Wegen des Entführungsalarms war vermutlich zusätzliche Polizei anwesend, und mit ziemlicher Sicherheit würden Fragen nach den Särgen und ihrem Inhalt gestellt werden. Einige kritische Augenblicke standen ihnen noch bevor, und Miguel wußte sehr gut, daß Teterboro der Schlüssel zu ihrer sicheren Ausreise war. In Opa Locka, von wo aus sie die Vereinigten Staaten verlassen würden, sah er keine Probleme mehr.
Miguel beschloß, das kleinere Risiko einzugehen, um später ein größeres zu vermeiden. Er nickte. »Okay, Blumen.«
»Ich nehme einen der Personenwagen«, sagte Carlos. »Ich weiß, wo man in Hackensack Blumen kaufen kann. Ich werde vorsichtig sein.«
»Nimm den Plymouth.« Er war inzwischen dunkelblau lackiert und hatte bisher noch nicht benutzte Nummernschilder, wie Miguel von Rafael wußte.
Nachdem Miguel Carlos verlassen hatte, suchte er Baudelio. Er fand ihn, zusammen mit Socorro, in dem großen Zimmer im ersten Stock des Haupthauses, das sie als Krankenstation eingerichtet hatten. Baudelio sah selbst aus wie ein Patient, denn er trug einen Verband über der inzwischen genähten Schnittwunde an der rechten Gesichtshälfte.
Wirkte Baudelio für gewöhnlich schon hager, blaß und älter, als er war, so wurde dieser Eindruck nun noch verstärkt. Sein Gesicht war kränklich weiß, und jede Bewegung kostete ihn ganz offensichtlich Überwindung. Aber er erledigte seine Arbeit, und als Miguel ihn über die Abfahrtszeit informierte, sagte er nur: »Wir werden bereit sein.«
Auf Miguels Nachfrage bestätigte der ehemalige Arzt, daß er nach seinen eineinhalbtägigen Experimenten mit Propofol nun wisse, welche Dosis er den einzelnen Gefangenen jeweils geben müsse, um sie für eine bestimmte Zeit zu betäuben. Dieses Wissen war notwendig für die Zeitspanne, in der die »Patienten« unbeobachtet in den versiegelten Särgen lagen.
Auch die Dauer des Nahrungsentzugs - bei der Abreise wären es sechsundfünfzig Stunden - sei ausreichend. Zur Einatmung von Erbrochenem werde es nicht kommen, sagte Baudelio, und außerdem werde er, als weitere Vorsichtsmaßnahme gegen das Ersticken, bei allen drei Patienten einen Luftröhrenkatheter einführen und sie in den Särgen auf die Seite legen. Die Flüssigkeitsinfusionen hätten in der Zwischenzeit eine Dehydrierung verhindert, bemerkte Baudelio abschließend. An Ständern neben den Betten hingen transparente Beutel mit Glucose, die über Infusionsschläuche in die Armvenen der Betäubten tröpfelte.
Miguel betrachtete die drei Gestalten. Sie wirkten friedlich, ihre Gesichter waren entspannt. Die Frau besaß eine gewisse Schönheit, vielleicht würde er sie später, falls sich die Gelegenheit ergab, einmal sexuell benutzen. Der Mann sah würdevoll aus, wie ein schlafender alter Soldat, und das war er den Berichten zufolge ja auch. Der Junge wirkte zerbrechlich, sein Gesicht war sehr dünn; vielleicht hatte ihn der Nahrungsentzug geschwächt, doch das machte nichts, solange er nur lebend in Peru ankam. Alle drei waren sehr blaß, aber sie atmeten regelmäßig. Befriedigt wandte Miguel sich ab.
Die Särge, in die Angus, Jessica und Nicky erst kurz vor der Abfahrt gelegt würden, lagen geöffnet auf Böcken. Miguel hatte zugesehen, wie Rafael unter Baudelios Anleitung eine Reihe winziger Luftlöcher in die Seiten gebohrt hatte. Sie waren praktisch nicht zu sehen, sorgten aber für frische Luft in den Särgen.
»Was ist das?« Miguel deutete auf eine Schale mit Kristallen neben den Särgen.
»Natronkalkgranulat«, antwortete Baudelio. »Das wird im Sarg verstreut, um das Kohlendioxid der ausgeatmeten Luft zu kompensieren. Von außen regulierbare Sauerstofflaschen kommen ebenfalls hinein.«
Da Miguel nur zu gut wußte, daß in den schwierigen Stunden, die vor ihnen lagen, Baudelios medizinische Fähigkeiten für sie alle von höchster Bedeutung waren, fragte er weiter: »Was gibt es sonst noch zu wissen?«
Der Arzt wies auf Socorro. »Erzähl du es ihm. Du machst es ja mit mir zusammen.«
Mit unerforschlicher Miene, wie immer, hatte Socorro den beiden zugehört und zugesehen. Miguel hatte noch immer leichte Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit, aber in diesem Augenblick war er abgelenkt von ihrem provozierenden Körper, den sinnlichen Bewegungen und der offenkundigen Sexualität. Und als könnte sie seine Gedanken lesen, legte sie einen leicht spöttischen Unterton in ihre Stimme.
»Falls einer von denen pissen muß, kann es sein, daß sie sich trotz der Betäubung bewegen und Lärm schlagen. Bevor wir die da zumachen« - Socorro wies auf die Särge - »werden wir Katheter einführen. Das sind Röhren in den Schwänzen der Männer und in der Möse der Frau. Entiendes?«
»Ich weiß, was Katheter sind«, erwiderte Miguel pikiert. Er hätte ihr beinahe schon gesagt, daß sein Vater Arzt war, hielt sich dann aber zurück. Ein kurzer Augenblick der Schwäche und der Einfluß einer Frau hätten ihn beinahe dazu verleitet, Einzelheiten seiner Herkunft preiszugeben, etwas, das er sonst nie tat.
Statt dessen fragte er Socorro: »Kannst du weinen, falls es nötig sein sollte?«
Denn in ihrer Tarngeschichte war auch ihr die Rolle einer trauernden Hinterbliebenen zugedacht. »Si.«
Mit professionellem Stolz, der noch ab und zu an die Oberfläche kam, fügte Baudelio hinzu: »Ich werde ihr je ein Pfefferkorn unter die unteren Lider klemmen. Und mir auch. Dann fließen die Tränen reichlich.« Er sah Miguel an. »Wenn du willst, kann ich das bei dir auch machen.«
»Wir werden sehen.«
Nun beendete Baudelio die Aufzählung der medizinischen Vorsichtsmaßnahmen. »In jeden Sarg kommt dann noch ein winziger EKG-Monitor, der Atmung und Betäubungstiefe registriert. Ich kann die Werte von außen abrufen. Und auch die Propofol-Injektionen kann ich von außen korrigieren.«
Im Verlauf des Gesprächs hatte Miguel, trotz seiner früheren Zweifel, die Überzeugung gewonnen, daß Baudelio genau wußte, was er tat. Und auch Socorro.
Nun hieß es nur noch den Abend abwarten. Doch die Stunden, die noch vor ihnen lagen, dehnten sich schier endlos.
11
In der Zentrale von CBA News hatte die Konferenz der Spezialeinheit am Samstagmorgen noch kaum begonnen, als sie plötzlich und sehr abrupt unterbrochen wurde.
Harry Partridge, der am Kopfende des Konferenztisches saß, hatte eben die Diskussion eröffnet, als eine Lautsprecherdurchsage aus dem Redaktionssaal dazwischenplatzte. Partridge hielt inne, und alle sieben am Tisch hörten zu.
»Hier Disposition. Richardson. Eben kam diese Meldung von UPI...
»Vor wenigen Minuten explodierte in White Plains, New York, ein Kleinbus. Man nimmt an, daß es sich dabei um das Fahrzeug handelte, das bei der Sloane-Entführung am letzten Donnerstag verwendet wurde. Mindestens drei Personen starben, mehrere sind verletzt. Die Polizei war bereits unterwegs, um den Kleinbus zu überprüfen, als es in einem Parkhaus neben dem Center City Einkaufszentrum zu der Explosion kam. Zur fraglichen Zeit befanden sich eine größere Anzahl von Personen, die ihre Wochenendeinkäufe erledigen wollten, in dem Parkhaus. Feuerwehr, Rettungsmannschaften und Krankenwagen sind pausenlos im Einsatz. Ein Augenzeuge beschrieb die Szene als >einen Alptraum wie aus Beirut<.«
Noch während der Durchsage wurden im Konferenzraum Stühle nach hinten gerückt, die Mitglieder der Spezialeinheit sprangen hastig auf. Als der Lautsprecher verstummte, war Partridge bereits auf dem Gang und rannte hinunter in den Redaktionssaal. Rita folgte ihm dicht auf den Fersen.
Am Samstagmorgen ging es in jeder Nachrichtenredaktion relativ formlos zu. Viele, die von Montag bis Freitag arbeiteten, waren zu Hause. Die wenigen, die Wochenenddienst hatten, standen zwar manchmal etwas unter Druck, doch wirkte sich die Abwesenheit von Vorgesetzten deutlich auf das Arbeitsklima aus. Die Kleidung war deshalb eher lässig, Jeans dominierten, die Männer trugen keine Krawatte.
Im Redaktionssaal war es fast gespenstisch ruhig. Nur etwa ein Drittel der Schreibtische war besetzt, und der diensthabende Disponent, Orv Richardson, fungierte gleichzeitig als Inlandsredakteur. Richardson, jung, aufgeweckt und sehr ehrgeizig, war erst kürzlich aus einer regionalen Redaktion in die Zentrale gekommen. Er war zwar nicht gerade unglücklich über die Verantwortung, die er an diesem Tag trug, aber diese wichtige Meldung aus White Plains machte ihn doch etwas nervös.
Deshalb war er auch erleichtert, als er sah, daß einer der ranghohen Korrespondenten und ein Chefproduzent, nämlich Harry Partridge und Rita Abrams, in den Redaktionssaal stürzten und auf ihn zuliefen.
Während Partridge den Ausdruck der UPI-Meldung überflog und dann einen ausführlicheren Bericht las, der eben über einen Computermonitor hereinkam, sagte Rita zu Richardson: »Wir sollten sofort auf Sendung gehen. Wer kann eine Programmunterbrechung veranlassen?«
»Ich habe eine Nummer.« Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter und mit einem Notizbuch in der Hand wählte der Disponent die Nummer eines Vizepräsidenten, der zu Hause erreichbar war. Nachdem der Mann abgehoben hatte, erklärte ihm Richardson die Situation und bat um die Erlaubnis, mit einer Sondermeldung auf Sendung zu gehen. Die Antwort kam sofort: »Die habt ihr. Legt los!«
Nun folgte eine fast präzise Wiederholung der Programmunterbrechung vom vergangenen Donnerstag kurz nach Bekanntwerden der Entführung. Unterschiede bestanden nur im Inhalt der Meldung und bei den beteiligten Personen. Partridge saß im Moderatorensessel im Sonderstudio, Rita war Produzentin, und im Kontrollraum saß ein anderer Techniker, der nach der Ankündigung der Sondermeldung aus einem anderen Teil des Gebäudes dorthin geeilt war.
Wenige Minuten nach Durchgabe der UPI-Meldung war CBA bereits auf Sendung, Die Monitore im Kontrollraum zeigten, daß die anderen Sender ihr Programm fast gleichzeitig unterbrachen.
Harry Partridge war, wie immer, konzentriert und redegewandt, ein Profi durch und durch. Für ein Manuskript oder eine Teleprompterprogrammierung war keine Zeit gewesen, und so sprach Partridge aus dem Stegreif.
Die Sondermeldung dauerte nicht länger als zwei Minuten. Es gab nur die nackten Tatsachen, wenige Einzelheiten und keine Liveaufnahmen vom Schauplatz, statt dessen einige hastig zusammengesuchte und über Partridges Schulter projizierte Fotos der Familie Sloane, ihres Hauses in Larchmont und des Grand Union Supermarkts, wo die Entführung stattgefunden hatte. Partridge versprach jedoch den Zuschauern einen ausführlichen Bildbericht aus White Plains für die bevorstehende Samstagsausgabe der National Evening News.
Sobald im Sonderstudio das rote Licht ausging, rief Partridge Rita im Regieraum an. »Ich fahre nach White Plains«, sagte er. »Kannst du alles vorbereiten?«
»Schon passiert. Iris, Minh und ich kommen ebenfalls mit. Iris produziert den Bericht für heute abend. Du kannst deine Ansage vor Ort machen und den Bildkommentar dann später aufnehmen. Auto und Fahrer warten bereits.«
White Plains hatte eine lange Geschichte. Im Jahr 1661 hatten dort die Siwanoy-Indianer ein Lager, das sie Quarropas nannten, was weiße Ebene, White Plains eben, oder weißer Balsam bedeutete, nach den Balsamtannen, die dort wuchsen. Im achtzehnten Jahrhundert war die Stadt ein Zentrum des Eisenerzförderung und ein Verkehrsknotenpunkt. Im Jahr 1776 während der Amerikanischen Revolution, zwang eine verlorene Schlacht auf dem nahen Chatterton Hill Washingtons Armee zum Rückzug, aber noch im selben Jahr billigte ein Provinzkongreß in White Plains die Unabhängigkeitserklärung und die Gründung von New York State. Es gab noch einige andere, gute wie schlechte Meilensteine der Geschichte, doch keiner übertraf an Niederträchtigkeit diese Katastrophe, die das Medellin-Kartell und der Sendero Luminoso im Parkhaus des Center City Einkaufszentrums angerichtet hatten.
Wie sich später zeigte, lag in der Abfolge der Ereignisse eine gewisse Zwangsläufigkeit.
In der vergangenen Nacht hatte ein Wachposten sich Autonummern und Fabrikate aller Fahrzeuge aufgeschrieben, die über Nacht im Parkhaus abgestellt waren. Es war eine Routineangelegenheit und als Vorsichtsmaßnahme gegen Fahrer gedacht, die behaupteten, ihren Parkschein verloren und ihr Auto nur einen Tag abgestellt zu haben.
Der Nissan war schon in der Nacht zuvor bemerkt worden, doch auch das war nichts Ungewöhnliches. Aus verschiedensten Gründen wurden Autos manchmal eine Woche und länger abgestellt. Aber in der zweiten Nacht fragte sich ein anderer, wachsamerer Posten, ob der Nissan nicht vielleicht der Wagen sei, der in Verbindung mit der Sloane-Entführung gesucht wurde.
Er erwähnte es deshalb in seinem Bericht, und sein Vorgesetzter, der ihn am nächsten Morgen las, rief sofort die Polizei von White Plains und forderte eine Streife an, die sich die Sache ansehen sollte. Nach Angaben der Polizei erreichte sie der Anruf um 9 Uhr 50.
Doch der Sicherheitschef des Supermarkts wartete die Ankunft der Polizei nicht ab. Mit einem großen Bund von Autoschlüsseln, die sich im Lauf der Jahre bei ihm angesammelt hatten, ging er zu dem Nissan. Er war stolz darauf, daß es kaum ein Auto gab, das er mit diesen Schlüsseln nicht öffnen konnte.
All das geschah genau zu der Zeit, als sich das Parkhaus langsam mit den Wagen der Leute füllte, die ihre Wochenendeinkäufe erledigen wollten.
Ziemlich schnell fand der Sicherheitschef einen Schlüssel, der in den Nissan paßte. Er steckte ihn ins Schloß und öffnete die Fahrertür. Es war das letzte, was er in seinem Leben tat.
Mit einem Krachen »wie fünfzig Donner«, so ein Zeuge später, explodierte der Nissan in einem riesigen, alles verschlingenden Feuerball. Ein großer Teil des Gebäudes wurde zerstört, ebenso die meisten, glücklicherweise leeren Autos in der Nähe, die völlig ausbrannten. Die Explosion riß große Löcher in Boden und Decke der Etage, auf der der Nissan gestanden hatte, brennende Autos stürzten durch diese Löcher in die darunterliegenden Stockwerke.
Doch die Schäden waren nicht auf das Parkhaus beschränkt. Das Einkaufszentrum selbst wurde in Mitleidenschaft gezogen, Glastüren und Fenster in der Nachbarschaft zersprangen. Der in die Luft geschleuderte Schutt und Staub ging in den Straßen der Nachbarschaft über Autos und Fußgänger nieder.
Der Schock war vollkommen. Als das Echo der Detonation verebbte, herrschte, von dem Knistern des Feuers und dem Geräusch fallender Gegenstände abgesehen, einen Augenblick Stille. Dann begannen die Schreie, hysterische Hilferufe und unverständliche Befehle, und kurz darauf kam aus allen Richtungen das Heulen der Sirenen.
Am Ende schien es fast verwunderlich, daß der Verlust an Menschenleben nicht größer war. Außer dem Sicherheitschef, der von der Explosion getötet wurde, starben zwei weitere Opfer kurz darauf an ihren Verletzungen, vier waren schwer verletzt und schwebten zwischen Leben und Tod. Zweiundzwanzig, darunter sechs Kinder, wurden mit leichteren Verletzungen in Krankenhäuser gebracht.
Der Hinweis auf Beirut in der UPI-Meldung schien also durchaus angebracht.
Danach entstand eine Diskussion, die sich vor allem auf eine Frage konzentrierte: Wäre es zu der Explosion gekommen, wenn; der Sicherheitschef das Eintreffen der Polizei abgewartet hätte? Die Polizei sagte nein, da sie sofort das FBI informiert hätte, dessen forensische Experten den Kleinbus untersucht und den Sprengstoff entdeckt und entschärft hätten. Andere waren skeptisch, sie glaubten, die Polizei hätte den Kleinbus auf jeden Fall geöffnet, entweder mit eigenen Mitteln oder mit den Schlüsseln des Sicherheitschefs. Doch nach einer Weile erkannte man die Sinnlosigkeit der Diskussion, und sie versandete.
Eins war allerdings offensichtlich. Der zerstörte Kleinbus war wirklich das Fahrzeug, das zwei Tage zuvor bei der Entführung der Sloanes benutzt worden war. Die Nähe zu Larchmont, das nachweisbare Auftauchen des Kleinbusses am Donnerstag in dem Parkhaus und die Tatsache, daß er mit einer Sprengladung versehen war, all das legte diesen Schluß nahe. Und ebenso die Zulassungsnummer, deren Überprüfung ergab, daß sie von einem 83er Oldsmobile Sedan stammte. Dabei stellte sich schnell heraus, daß Name und Adresse des Besitzers und die Versicherungsdaten falsch waren; die Zulassungsgebühr und der Versicherungsbeitrag waren bar bezahlt worden, Aussagen über die wahre Identität des Einzahlers waren also unmöglich.
Das bedeutete, daß das Oldsmobile verschwunden und wahrscheinlich verschrottet worden war, während man sein Zulassung für ungesetzliche Zwecke aufrechterhalten hatte. Die Nummernschilder an dem Nissan waren also illegal, doch bei der Polizei nicht als solche registriert.
Zunächst gab es noch gewisse Zweifel, weil Zeugen in Larchmont an dem Nissan Schilder aus New Jersey gesehen hatten, während der im Parkhaus von White Plains New Yorker Nummern aufwies. Doch die Ermittlungsbeamten hielten dem entgegen, es sei durchaus normal, daß Verbrecher nach der Tat die Nummernschilder auswechselten.
Der Polizeichef von White Plains kam am Ort der Explosion noch zu einem weiteren Schluß. Mit verbissenem Gesicht erklärte er vor Journalisten: »Das ist ganz offensichtlich das Werk von hartgesottenen Terroristen.«
Auf die Frage, ob er daraus auch schließen würde, daß es sich bei den Entführern der Sloanes um ausländische Terroristen handle, antwortete er: »Das ist zwar nicht in meinem Revier passiert, aber ich würde davon ausgehen.«
»Für die Abendausgabe sollten wir uns auf diese Theorie von den ausländischen Terroristen konzentrieren«, sagte Harry Partridge zu Rita und Iris Everly, als er von der Bemerkung des Polizeichefs erfuhr.
Die CBA-Gruppe war wenige Minuten zuvor in zwei Fahrzeugen eingetroffen, das Kamerateam in einem Jeep Wagoneer, Partridge, Rita, Iris und Teddy Cooper in einer Chevrolet Limousine, die von einem Boten des Senders gesteuert wurde. In weniger als dreißig Minuten hatten die beiden Autos die fünfundzwanzig Meilen von Mid-Manhattan bis hierher geschafft. Neben verschiedenen Reporterteams drängte sich nun auch eine immer größer werdende Menge von Schaulustigen hinter den von der Polizei errichteten Absperrungen. Minh Van Canh und Ken O'Hara, der Tontechniker, nahmen bereits Bild- und Tonmaterial von der Gebäuderuine, den Verletzten, deren Abtransport noch andauerte, und von den zerstörten, teilweise noch brennenden Autos auf. Zuvor hatten sie schon bei einer improvisierten Pressekonferenz die Stellungnahme des Polizeichefs aufgenommen.
Nachdem Partridge sich einen ersten Überblick über die Szene verschafft hatte, rief er Minh und O'Hara zu sich und begann, die an der Rettungsaktion Beteiligten zu interviewen. Normalerweise hätte dies das Kamerateam alleine oder zusammen mit einem Produzenten erledigen können. Doch die Arbeit gab Partridge das Gefühl, selbst an den Vorgängen beteiligt zu sein und zum ersten Mal direkte Tuchfühlung mit der Story zu bekommen.
Diese Tuchfühlung war psychologisch für einen Korrespondenten sehr wichtig, wie gut er über den Hintergrund der Story auch informiert sein mochte. Partridge arbeitete nun bereits mehr als zweiundvierzig Stunden an der Entführungsgeschichte, hatte aber bis jetzt noch keinen direkten Kontakt mit den konkreten Einzelheiten dieses Falls gehabt. Manchmal war er sich wie eingesperrt vorgekommen, da ihn nur das Telefon und der Computer auf seinem Schreibtisch mit der Wirklichkeit draußen verbanden. So war diese Fahrt nach White Plains, so tragisch die Umstände auch sein mochten, für ihn absolut notwendig. Und er wußte, daß dasselbe auch auf Rita zutraf.
Bei dem Gedanken an Rita fiel ihm etwas ein. Er machte sich auf die Suche nach ihr und fragte sie: »Hat schon jemand mit Crawf gesprochen?«
»Ich habe ihn eben zu Hause angerufen«, antwortete sie. »Er wollte schon herkommen, aber ich habe ihn gebeten, es nicht zu tun. Zum einen wäre er sofort von Schaulustigen umringt, und zum anderen würde es ihn schrecklich aufregen, wenn er sieht, wozu diese Kerle fähig sind.«
»Die Bilder wird er aber trotzdem sehen.«
»Das will er auch. Er wartet im Sender auf uns, Les übrigens auch, und ich habe hier, was wir bereits im Kasten haben.« Rita hatte einige Videokassetten in der Hand. »Ich glaube, wir beide sollten losfahren«, fügte sie hinzu. »Iris und Minh können ja noch ein wenig blieben.«
Partridge nickte. »Nur noch einen Augenblick.«
Sie standen im dritten Stock des Parkhauses. Partridge ließ Rita stehen und ging zu einem leeren, noch intakten Winkel. Von dort aus hatte man eine gute Aussicht auf White Plains und die rege, alltägliche Geschäftigkeit der Stadt. In der Entfernung war der Highway nach New England und dahinter die grünen Hügel von Westchester zu sehen - alles Szenen der Normalität in einem entsetzlichen Kontrast zu der Verwüstung vor Ort.
Er hatte sich einen Augenblick von dem Chaos abwenden wollen, um in Ruhe nachdenken zu können und die Antwort auf eine quälende Frage zu finden: Da er nun den Auftrag übernommen hatte, Jessica, ihren Sohn und Crawfords Vater zu finden und zu befreien, bestand denn überhaupt die geringste Hoffnung, daß er Erfolg haben könnte? Im Augenblick fürchtete Partridge, die Frage eher mit Nein beantworten zu müssen. Es war für ihn ein sehr ernüchterndes Erlebnis, mit ansehen zu müssen, war hier passiert war, und dabei zu erkennen, wozu seine Gegner fähig waren. Und es warf weitere Fragen auf: Gab es überhaupt etwas, das man einem solch gnadenlosen Wüten entgegensetzen konnte? Gab es nun, da ein terroristischer Hintergrund praktisch bestätigt war, überhaupt zivilisierte Mittel und Wege, um ein solchen Feind aufzuspüren und zu überwältigen? Und auch falls die Antwort Ja lautete und trotz des anfänglichen Optimismus in der CBA News-Zentrale, war es denn nicht nur leere Eitelkeit zu glauben, ein unbewaffnetes Reporterteam könne Erfolg haben, wo Polizei, Regierungen, Geheimdienste und Militär so oft versagten?
Für ihn, Partridge selbst, war dies kein offener Kampf, nicht die Art von Kriegsführung, die ihn, pervers oder nicht, erregte und seinen Kreislauf in Schwung brachte, sondern ein heimlicher, schmutziger Krieg, mit unbekanntem Feind, unschuldigen Opfern und einem ekelerregenden Umfeld...
Doch ungeachtet seiner persönlichen Empfindungen, sollte er aus rein pragmatischen Überlegungen eine Einstellung der aktiven Suche von CBA und die Rückkehr zur üblichen Rolle des Beobachters empfehlen oder, wenn er das schon nicht konnte, doch wenigstens seine Verantwortung jemand anderem übertragen?
Er wurde sich einer Bewegung hinter seinem Rücken bewußt. Als er sich umdrehte, stand Rita hinter ihm. »Kann ich dir helfen?« fragte sie.
»Wir haben uns noch nie in einer ähnlichen Lage befunden«, erwiderte er, »in der so viel nicht nur davon abhängt, was wir berichten, sondern davon, was wir tun.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Und du hast daran gedacht, aufzugeben und die Last einem anderen aufzuhalsen, oder?«
Ritas Scharfblick hatte ihn schon öfters überrascht. Er nickte. »Ja, das habe ich wirklich.«
»Tu's nicht, Harry«, bat sie ihn. »Gib nicht auf. Weil, wenn du es tust, ist keiner mehr da, der auch nur halb so gut ist wie du.«
12
Gemeinsam fuhren Partridge, Rita und Teddy Cooper nach Manhattan zurück, allerdings beträchtlich langsamer als bei der Hinfahrt. Partridge saß vorn neben dem Fahrer, Teddy und Rita im Fond.
Cooper, der sich erst im letzten Augenblick entschieden hatte, die anderen nach White Plains zu begleiten, hatte sich dort beobachtend im Hintergrund gehalten und wirkte nun etwas abwesend, als würde er sich auf ein Problem konzentrieren. Auch Partridge und Rita hatten zunächst wenig Lust zu reden. Für beide war dieser Vormittag eine schreckliche, aber wichtige Erfahrung gewesen. Im Ausland hatten sie die Auswirkungen des Terrorismus schon häufig miterlebt, aber diese terroristische Invasion einer amerikanischen Kleinstadt war traumatisch, so als hätten Barbarei und Wahnsinn nun auch dieses Land erreicht und eine Gesellschaft vergiftet, in der zwar nicht unbedingt absolute Ruhe herrschte, die aber bis jetzt ein solides Fundament der Vernunft besessen hatte. Die Erosion dieses Fundaments, die heute begonnen hatte, würde sich immer weiter ausdehnen und vermutlich irreversibel sein, das wußten sie beide.
Nach einer Weile drehte sich Partridge um, sah die anderen zwei an und sagte: »Die Briten waren überzeugt, daß der Terrorismus nicht bis in ihr Land vordringen könnte, aber er tat es trotzdem. Und auch bei uns glaubten das eine ganze Menge.«
»Die haben sich von Anfang an geirrt«, erwiderte Rita. »Dazu mußte es einfach kommen. Die Frage war nur wann und nicht ob.«
Wie schon der Polizeichef von White Plains gingen auch Rita und Partridge inzwischen davon aus, daß es sich bei den Entführern der Sloanes mit ziemlicher Sicherheit um ausländische Terroristen handelte.
»Aber wer zum Teufel sind sie?« Partridge schlug sich mit der Faust auf die geöffnete Linke. »Darauf müssen wir uns konzentrieren. Wer?«
Rita merkte nun deutlich, daß Harry den Gedanken an eine Aufgabe bereits wieder hinter sich gelassen hatte. Sie erwiderte ihm: »Natürlich denkt man zunächst an den Mittleren Osten -Iran, Libanon, Libyen... die ganze religiöse Front: Hisbollah, Schiiten, Islamischer Jihad, FARL, PLO und was es sonst noch alles gibt.«
»Daran habe ich zuerst auch gedacht«, gab Partridge zu. »Aber dann frage ich mich: Was für einen Grund hätten die? Warum sollten sie das Risiko eingehen, ihre Operationen bis hierher auszudehnen, wo sie doch viel einfachere Ziele bei sich zu Hause haben?«
»Vielleicht, um Eindruck zu machen. Um den >großen Satan< davon zu überzeugen, daß er nirgends sicher ist.«
Partridge nickte bedächtig. »Vielleicht hast du recht.« Dann sah er Cooper an. »Teddy, sollten wir auch die IRA in Betracht ziehen?«
Der Ermittler wachte aus seiner Gedankenversunkenheit auf. »Ich glaube nicht. Die IRA ist eine Drecksbande, die zu allem fähig ist, aber nicht in Amerika, weil's hier immer noch ein paar irisch-amerikanische Idioten gibt, die ihnen Geld zuschießen. Mit einem Anschlag in Amerika würden sie sich diesen Geldhahn selber zudrehen.«
»Hast du eine andere Idee?«
»Was den Mittleren Osten betrifft, bin ich mit dir einer Meinung, Harry. Vielleicht solltest du dich eher im Süden umsehen.«
»Lateinamerika«, sagte Rita. »Klingt einleuchtend. Wahrscheinlich Nicaragua, vielleicht Honduras, Mexiko oder Kolumbien.«
Sie spekulierten weiter, waren aber noch zu keinem Schluß gekommen, als Partridge plötzlich zu Teddy sagte: »Ich weiß doch, daß du in deinem wirren Schädel noch irgend etwas ausbrütest. Dürfen wir schon daran teilhaben?«
»Glaub' schon.« Er überlegte kurz, dann sagte er: »Sie haben das Land verlassen.«
»Die Entführer?«
Der Rechercheur nickte. »Und sie haben Mr. Sloanes Familie mitgenommen. Was da heute morgen passiert ist« - er deutete mit dem Kopf in Richtung White Plains - »ist wie ein Erkennungszeichen. Damit wir wissen, welche Art von Leuten sie sind, mit welch harten Bandagen sie kämpfen. Als Vorgeschmack für diejenigen, die mit ihnen später verhandeln müssen.«
»Ich will nur ganz sichergehen, daß ich dich auch richtig verstanden habe«, sagte Partridge. »Du glaubst also, die haben sich ausgerechnet, wie lange es dauert, bis der Kleinbus entdeckt wird und in die Luft fliegt, und es dann so eingerichtet, daß das erst passiert, nachdem sie verschwunden sind?«
»So in der Richtung.«
»Aber das ist doch nur Spekulation«, gab Partridge zu bedenken. »Du könntest dich auch täuschen.«
Cooper schüttelte den Kopf. »Das ist mehr als nur Spekulation - sagen wir mal, es ist eine intelligente Einschätzung, die wahrscheinlich richtig ist.«
»Nehmen wir mal an, du hast recht«, sagte Rita. »Wohin bringt uns das?«
»Das bringt uns in die Zwangslage«, erwiderte Cooper, »entscheiden zu müssen, ob wir viel Geld in eine intensive Suche nach ihrem Versteck investieren wollen, obwohl es bereits leer ist, wenn wir es finden.«
»Warum sollten wir uns damit abgeben, wenn die Vögel, wie du annimmst, bereits ausgeflogen sind?«
»Weil, wie Harry gestern gesagt hat, jeder Spuren hinterläßt. Also haben auch sie welche hinterlassen, ganz gleich wie vorsichtig sie waren.«
Das Auto näherte sich Manhattan. Sie fuhren auf dem Major Deegan Expressway auf die Third Avenue Bridge zu, und der Fahrer mußte wegen des stärker werdenden Verkehrs abbremsen. Partridge sah zum Fenster hinaus, orientierte sich kurz und wandte sich dann wieder den beiden anderen zu.
»Gestern abend«, sagte er zu Cooper, »hast du gesagt, du würdest dir einen Weg überlegen, wie man den Unterschlupf der Bande ausfindig machen könnte. Gehört dieses >viele Geld für eine intensive Suche< auch zu diesem Weg?«
»Ja. Aber das Ganze wäre eine höchst unsichere Sache.«
»Dann erzähl mal«, sagte Rita.
Cooper blätterte in seinem Notizbuch und begann dann: »Ich habe mir zuerst überlegt, welche Art von Anwesen diese Bande braucht, um all das zu tun, worüber wir gestern abend gesprochen haben: mindestens fünf Autos abstellen beziehungsweise verstecken, eine Lackierwerkstatt einrichten, die groß genug ist, um alle Autos immer wieder umspritzen zu können, und genug Platz haben, um vier oder wahrscheinlich noch mehr Leute unterzubringen. Sie brauchen Lagerräume, ein sicheres Zimmer, wo sie die Sloanes nach der Entführung einsperren können und, für eine Operation dieses Umfangs, eine Art Büro. Etwas Kleines kommt da nicht in Frage, vor allem kein gewöhnliches Haus mit Nachbarn, die alles beobachten können.«
»Okay«, warf Partridge ein, »so weit kann ich dir folgen.«
»Welche Art Anwesen wäre das also?« fuhr Cooper fort. »Wie ich das sehe, kommen drei Möglichkeiten in Frage: entweder eine kleine, stillgelegte Fabrik, ein leeres Lagerhaus oder ein großes Haus mit verschiedenen Nebengebäuden. Aber was es auch ist, es muß an einem Ort liegen, wo nicht viel los ist, eine einsame, abgelegene Gegend, und es darf außerdem, denn davon gehen wir ja inzwischen aus, nicht mehr als fünfundzwanzig Meilen von Larchmont entfernt liegen.«
»Du gehst davon aus«, bemerkte Rita. »Wir anderen haben das nur akzeptiert, weil uns nichts Besseres eingefallen ist.«
»Das Problem ist«, gab nun Partridge zu bedenken, »daß es wahrscheinlich auch in diesem Fünfundzwanzig-Meilen-Radius Zehntausende von Objekten gibt, auf die deine Beschreibung paßt.«
Cooper schüttelte den Kopf. »So viele auch wieder nicht. Ich hab' gestern nach dem Abendessen noch mit ein paar von den anderen gesprochen, und wir sind darauf gekommen, daß es, wenn man die einsame Gegend berücksichtigt, wahrscheinlich nur ein- bis dreitausend sind.«
»Aber auch dann, wie zum Teufel sollen wir in dieser Menge genau das finden, was wir suchen?«
»Wie gesagt, die Sache ist ziemlich unsicher, aber einen Weg gibt es vielleicht doch.«
Partridge und Rita hörten aufmerksam zu, während Cooper ihnen seinen Plan erläuterte.
»Überlegt euch einmal folgendes: Diese Entführer kommen ins Land, egal woher, und müssen sich zunächst einmal eine Operationsbasis aufbauen. Und zwar, wie wir gesagt haben, in der Nähe von Larchmont, aber auch nicht zu nahe. Was tun sie also, um ein geeignetes Anwesen zu finden? Sie suchen sich erst mal die ungefähre Gegend aus. Und dann tun sie das, was jeder tun würde, vor allem, wenn er wenig Zeit hat - sie sehen sich die Immobilienannoncen in den Zeitungen an, und die Art von Bruchbude, die sie suchen, steht vermutlich in den Kleinanzeigen. Wir können natürlich nicht hundertprozentig sicher sein, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß sie genau auf diese Art an ihre Bude herangekommen sind.«
»Möglich ist das natürlich«, sagte Partridge. »Aber möglich ist auch, daß sie vor Ort Helfershelfer hatten, die ihnen diese Basis schon vor ihrer Ankunft besorgt haben.«
Cooper seufzte. »Du hast ja nur zu recht. Aber wenn man nichts als Möglichkeiten in der Hand hat, muß man sich eben damit weiterhelfen.«
»Ich spiel' nur den Advocatus Diaboli, Teddy. Mach weiter.«
»Bin schon dabei... Wir sollten jetzt eigentlich die Kleinanzeigen in sämtlichen regionalen und lokalen Zeitungen durchgehen, die in den letzten drei Monaten in diesem Fünfundzwanzig-Meilen-Gebiet um Larchmont erschienen sind. Dabei müßten wir vor allem auf die Objekte achten, von denen wir gesprochen haben und die über längere Zeit inseriert waren und dann plötzlich verschwanden.«
Rita schnappte nach Luft. »Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie viele Tages- und Wochenzeitungen und wie viele Leute... «
Partridge unterbrach sie: »Ich denke in die gleiche Richtung, aber laß ihn erst mal ausreden.«
Cooper zuckte mit den Achseln. »Ob ich weiß, wie viele Zeitungen es sind? Nicht genau, aber daß es eine Wahnsinnsmenge ist, weiß ich schon. Wir müßten eben Leute einstellen - junge, helle Köpfe -, die sich sämtliche Zeitungen vornehmen. Soweit ich weiß, gibt es da ein Buch...« Cooper warf einen Blick auf seine Notizen. »....Publisher and Editor International Yearbook. In dem sind sämtliche Zeitungen, sogar die winzigsten, aufgeführt. Damit müßten wir anfangen. Von dort gehen wir in die Bibliotheken, die Zeitungen archivieren, einige sogar auf Mikrofilm. Bei den anderen gehen wir direkt in die Redaktionen und lassen uns die alten Nummern zeigen. Wir bräuchten 'ne Menge Leute, und die Sache müßte sehr schnell passieren, bevor die Spur kalt wird.«
»Und du glaubst, daß ein Zeitraum von drei Monaten ausreicht?«
»Wir wissen doch, daß diese Leute die Sloanes ungefähr einen Monat lang ausspioniert haben, und ich würde wetten, daß die ihr Hauptquartier bereits eingerichtet hatten, als sie damit anfingen. Deshalb sind drei Monate eine vernünftige Zeitspanne.«
»Was passiert, wenn wir eine Anzeige finden, die auf das Objekt, das wir suchen, paßt?«
»Wahrscheinlich wird es auch davon wieder eine ganze Menge geben«, erwiderte Cooper. »Wir sortieren sie nach Prioritäten und lassen dann ein paar von den Leuten, die die Zeitungen durchgegangen sind, weiterforschen. Zuerst, indem sie bei den Leuten, die diese Anzeigen aufgegeben haben, nachfragen. Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, entscheiden wir dann, welche Anwesen wir uns ansehen.« Cooper zuckte mit den Achseln. »Bei den meisten Besichtigungen werden wir Nieten ziehen, aber vielleicht haben wir Glück. Ich habe vor, mich selber an diesen Nachforschungen zu beteiligen.«
In dem Schweigen, das folgte, wägten Partridge und Rita ab, was sie eben gehört hatten.
Partridge war der erste, der sprach. »Meinen Glückwunsch zu deiner originellen Idee, Teddy, aber du hast selber gesagt, daß es eine sehr unsichere Sache ist, und das ist es wirklich. Verdammt unsicher sogar. Im Augenblick kann ich mir nicht vorstellen, daß es funktioniert.«
»Offen gesagt«, meinte nun Rita, »ich glaube, du versuchst das Unmögliche. Erstens wegen der vielen in Frage kommenden Zeitungen - eine Unmenge geradezu! Zweitens, weil die Leute, die wir dazu brauchen, ein Vermögen kosten würden.«
»Wäre es denn das nicht wert«, fragte Cooper zurück, »wenn wir damit Mr. Sloanes Familie zurückbekommen würden?«
»Natürlich wäre es das. Aber was du vorschlägst, würde sie nicht zurückbringen. Es würde uns höchstens ein paar Informationen liefern, und sogar das ist unwahrscheinlich.«
»Ob nun so oder so«, warf Partridge ein, »nicht wir treffen hier die Entscheidung. Wenn's um Geld geht, ist Les Chippingham zuständig. Und da wir den später noch sehen, kannst du ihm ja deine Idee vorschlagen, Teddy.«
Der zweieinhalbminütige Bericht, den Iris Everly für die Samstagsausgabe der National Evening News produzierte, war dramatisch, schockierend und bildintensiv, wie es im Fachjargon hieß. Auch in White Plains hatte Minh Van Canh seine Kamera sehr kreativ eingesetzt. In der Zentrale hatte Iris dann, zusammen mit dem Cutter Bob Watson, aus dem Bildmaterial eine Fernsehdokumentation zusammengestellt, die fast schon ein kleines Meisterwerk war.
Iris und Partridge hatten sich mit Watson in einem winzigen Schneideraum getroffen, einem aus einer ganzen Reihe nebeneinanderliegender, die alle besetzt waren, da sich der Sendetermin näherte. Die drei sahen sich alle vorliegenden Videobänder an, und Iris machte sich Notizen über deren Inhalt. Ein spät aufgenommenes Band, das sie mit Sicherheit verwenden würden, zeigte die Ankunft von FBI-Agenten am Ort der Explosion. Auf die Frage, ob sie schon eine Nachricht von den Entführern erhalten hätten, wies der ranghöchste Beamte lediglich auf den Schauplatz und sagte mit verbissenem Gesicht: »Nur die da.«
Andere Bänder zeigten Szenen der Verwüstung und Partridges Interviews.
Nach diesem ersten Überblick sagte Iris: »Ich glaube, wir sollten mit den brennenden Autos und den Löchern in Boden und Decke der Parketage beginnen und dann den Abtransport der Toten und Verwundeten zeigen.« Partridge stimmte zu, und nun wurde gemeinsam der Aufbau der Sendung erarbeitet.
Als nächstes sprach Partridge noch im Schneideraum seinen Kommentar auf eine Tonspur, mit der später das fertig geschnittene Bildmaterial unterlegt würde. Er hatte sein in aller Eile zusammengeschriebenes Manuskript vor sich liegen und begann: »Wer noch daran zweifelte, daß es sich bei den Entführern der Familie Crawford Sloanes um skrupellose Terroristen handelte, wurde heute auf entsetzliche Weise eines Besseren belehrt...«
War Partridge in den beiden vergangenen Tagen als Moderator beziehungsweise, zusammen mit Crawford Sloane, als Co-Moderator der Abendnachrichten eingesprungen, so beschränkte er sich in der nun bevorstehenden Sendung auf seine gewohnte Rolle als Korrespondent, denn die Samstagsausgabe wurde von Teresa Toy gemacht, einer charmanten und sehr beliebten Moderatorin chinesischer Abstammung. Teresa hatte anfangs mit Partridge und Iris über den allgemeinen Aufbau ihres Berichts gesprochen. Doch da sie wußte, daß sie es mit zwei Vollprofis zu tun hatte, hielt sie es für klüger, die beiden bei der Feinarbeit alleine zu lassen.
Nach Fertigstellung der Tonspur verließ Partridge den Schneideraum. Iris und Bob Watson brauchten dann noch drei Stunden, um den mühseligen Schneideprozeß zu beenden, ein Aspekt der Fernsehberichterstattung, dem die Zuschauer, die nur das perfekte Endprodukt sehen, kaum Beachtung schenken.
Vom Äußeren her schien Bob Watson für diese penible, Geduld erfordernde Arbeit denkbar ungeeignet. Er war kräftig und untersetzt und hatte kurze, dicke Finger. Obwohl er sich jeden Morgen rasierte, sah er bereits mittags aus, als trage er einen Dreitagebart. Er rauchte beständig dicke, stinkende Zigarren, über die sich die anderen, die mit ihm in dem winzigen Zimmer arbeiten mußten, beklagten. Aber er hielt ihnen entgegen: »Wenn ich nicht rauchen darf, funktioniert mein Hirn nicht so gut, und ihr kriegt eine schlechte Arbeit.« Und so ertrugen Producer wie Iris Everly wegen Watsons überragender Fähigkeiten lieber den Rauch.
Das Schneiden der einzelnen Reportagen geschah in der Senderzentrale, in den über die ganze Welt verteilten Redaktionen und manchmal auch direkt vor Ort, am Schauplatz des Geschehens. Die täglichen Nachrichtensendungen enthielten alle drei Arten von Berichten.
Das Handwerkszeug eines Cutters, vor dem Watson und die schöne und sehr eigensinnige Iris nun saßen, bestand im wesentlichen aus zwei komplizierten Videorecordern mit präzise funktionierenden Kontrollanzeigen und Reglern. Angeschlossen an die beiden Recorder waren eine Reihe von über den Geräten selbst angebrachten Monitoren und Lautsprechern. Neben und hinter dem Cutter standen Regale mit Dutzenden von Cassetten, die er von den Kameramännern, aus der Videothek oder von angeschlossenen Sendern erhalten hatte.
Der Cutter mußte nun auf das Masterband in der linken Maschine Bildsequenzen und Geräusche von einer Vielzahl anderer Bänder übertragen, die er auf der rechten Maschine immer und immer wieder ablaufen ließ. Das Übertragen von Szenen, die selten länger als drei Sekunden dauerten, erforderte künstlerisches und journalistisches Urteilsvermögen, eine unendliche Geduld und die Feinfühligkeit eines Uhrmachers. Auf dem Masterband entstand so das Endprodukt, das schließlich gesendet wurde.
Watson stellte nun die Eröffnungssequenz zusammen, auf die man sich bereits geeinigt hatte - die brennenden Autos und das zerstörte Gebäude. Mit der Geschwindigkeit eines Briefsortierers nahm er die verschiedenen Cassetten vom Regal, schob sie in den rechten Recorder und suchte mit dem Schnellvorlauf die gewünschte Szene. Offenbar unzufrieden mit dem Gefundenen, spulte er wieder hin und her, hielt bei einer anderen Szene an und kehrte dann zur ersten zurück. »Nein«, sagte er, »da muß noch irgendwo eine Totale aus der anderen
Perspektive sein, die mir besser gefällt.« Er legte eine andere Cassette ein, überflog sie kurz, nahm dann noch eine dritte und fand dort, was er suchte. »Mit dem sollten wir anfangen, und dann bringen wir die Nahaufnahme aus der ersten.«
Iris war einverstanden, und Watson kopierte Bilder und Geräusche auf das Masterband. Die beiden ersten Ergebnisse gefielen ihm nicht, er löschte sie wieder und war schließlich mit dem dritten zufrieden.
Etwas später sagte Iris: »Zeig mir doch noch mal diesen Werbespot von Nissan.« Sie sahen sich das Band an, es zeigte einen neuen, makellosen Nissan Kleinbus, der in strahlendem Sonnenschein über eine baumbestandene Landstraße fuhr. »Idyllisch«, bemerkte Iris. »Was hältst du davon, wenn wir zuerst den bringen und dann das Wrack nach der Explosion?«
»Müßte klappen.« Nach einigen Versuchen hatte Watson die wirkungsvollste Kombination gefunden.
»Ausgezeichnet!« flüsterte Iris.
»Du bist ja selbst auch nicht gerade von gestern.« Der Cutter nahm seine Zigarre in den Mund und stieß eine dichte Rauchwolke aus.
Unter regem Gedankenaustausch ging die Arbeit voran. Das Zusammenspiel von Produzent und Cutter hatte einmal jemand als Duett bezeichnet, was häufig zweifellos zutraf.
Während des Schneidevorgangs gab es unendliche Möglichkeiten der Verzerrung und der tendenziösen Färbung des Faktenmaterials. Handlungen von Personen konnten aus dem Zusammenhang gerissen werden. So konnte man zum Beispiel einen Politiker beim Anblick von Obdachlosen lachen lassen, obwohl er in Wirklichkeit geweint hatte, und das Lachen aus einer ganz anderen Bildsequenz stammte. Mit einer Technik, die man »Audioslipping« nannte, konnte man Sprache oder Geräusche so von einer Szene auf eine andere übertragen, daß nur der Produzent und der Cutter von dem Tausch wußten und ihn sonst niemand bemerkte. Wenn man so etwas vorhatte, bat man den Korrespondenten, falls der anwesend war, den Schneideraum zu verlassen. Er konnte sich zwar denken, was beabsichtigt war, doch war es ihm vermutlich lieber, wenn er es nicht genau wußte.
Offiziell sah man solche Praktiken nicht gern, doch sie kamen bei allen Sendern vor.
Iris hatte Bob Watson einmal gefragt, ob seine politischen Überzeugungen - er war strammer Sozialist - seine Schneidearbeit beeinflußten. »Klar, bei Wahlen, wenn ich das Gefühl habe, damit durchzukommen. Es ist ja nicht schwer, jemand gut, schlecht oder einfach lächerlich aussehen zu lassen. Voraussetzung ist nur, daß der Produzent mitmacht.«
»Versuch es nie bei mir«, hatte Iris erwidert, »sons t bekommst du Schwierigkeiten.«
In gespieltem Gehorsam hatte Watson die Hand an die Stirn gelegt.
Während sie nun weiter an dem White Plains-Bericht arbeiteten, schlug Iris plötzlich vor: »Versuch doch diese Szene mal mit dem Fischaugen-Effekt.«
»Das ist besser - ach, dieser verdammte Trottel!« Der Kopf eines Fotografen war plötzlich im Bild aufgetaucht und hatte die Aufnahme ruiniert - ein Beispiel für den beständigen Kampf zwischen Pressefotografen und Kameramännern.
An einer Stelle paßten die Bilder auf dem Masterband nicht zum Kommentar. »Harry muß da ein paar Worte ändern«, sagte Watson.
»Das kann er später. Laß uns zuerst unser Zeug hier fertigmachen.«
Watson ärgerte sich, weil er einige Einstellungen auf drei Sekunden kürzen mußte. »Im Britischen Fernsehen lassen sie ihre Einstellungen fünf Sekunden laufen; so kann man besser eine Stimmung aufbauen und die Umweltgeräusche effektiver einsetzen. Hast du gewußt, daß die Briten eine längere Aufmerksamkeitsspanne haben als wir?«
»Ich hab' schon mal davon gehört.«
»Und wenn du bei uns ab und zu mal 'ne Einstellung fünf Sekunden laufen läßt, wird's zwanzig Millionen Idioten langweilig, und sie schalten auf einen anderen Kanal.«
Nach einer Weile legte sie eine Kaffeepause ein, und Watson zündete sich eine neue Zigarre an. »Wie bist du eigentlich zu dem Job gekommen?« wollte Iris wissen.
Er kicherte. »Du wirst es mir nicht glauben, wenn ich's dir erzähle.«
»Wollen mal sehen.«
»Ich hab' in Miami als Hausmeister im Nachtdienst bei einem Lokalsender gearbeitet. Einer der Jungs in der Nachtschicht hat gemerkt, daß ich mich für das Zeug interessiere, und hat mir gezeigt, wie die Schneidemaschinen funktionieren; damals wurde noch Film verwendet, keine Videobänder. Von da ab hab' ich mich mit dem Putzen immer sehr beeilt. Um drei oder vier saß ich dann regelmäßig im Schneideraum und hab' aus den Schnipseln, die die anderen weggeworfen hatten, meine eigenen Geschichten zusammengestellt. Na, und nach einer Weile konnt' ich das dann ziemlich gut.«
»Und dann?«
»Eines Nachts, ich war noch immer Hausmeister, kam's in Miami zu Rassenunruhen. Totales Chaos, ein Großteil des Schwarzenviertels, Liberty City, brannte. Der Sender, für den ich arbeitete, hatte seine ganzen Leute alarmiert, aber einige blieben unterwegs stecken. Und so hatten sie keinen Cutter, brauchten aber unbedingt einen.«
»Da hast du dich angeboten«, sagte Iris.
»Zuerst wollte mir niemand glauben, daß ich das überhaupt kann. Doch als es dann immer enger wurde, ließen sie es mich versuchen. Mein Zeug ging sofort auf Sendung. Einiges davon ging an einen der großen Sender. Und der brachte es den ganzen nächsten Tag. Zehn Stunden durfte ich den Job machen. Danach hat mich der Direktor gefeuert.«
»Gefeuert?«
»Als Hausmeister. Sagte, ich würde nur Mist bauen und sei mit den Gedanken nicht bei der Arbeit.« Watson lachte. »Und dann hat er mich als Cutter wieder eingestellt. Ich hab' dem alten Job nie eine Träne nachgeweint.«
»Eine nette Geschichte«, sagte Iris. »Falls ich je ein Buch schreibe, werde ich sie verwenden.«
Kurze Zeit später glich Partridge, auf Watsons und Iris' Bitte, seinen Text den Bildern an, und Watson kopierte die Neuaufnahme auf das Masterband. Vor der Fassade der CBA News-Zentrale nahm Partridge außerdem noch einen Schlußkommentar für die Reportage auf.
Seit seiner Rückkehr aus White Plains hatte Partridge sich darüber den Kopf zerbrochen, was er sagen sollte. Bei einer normalen Reportage wäre es kein Problem gewesen. Die Schwierigkeit lag darin, daß Crawford Sloane in diese Geschichte verwickelt war. Partridge wußte, daß einige der Formulierungen, die er sich überlegt hatte, Crawf Angst einjagen würden. Sollte er sie deshalb abschwächen und ein wenig herumreden, oder sollte er der hartgesottene Reporter mit einem einzigen Maßstab sein - dem der Objektivität?
Am Ende löste sich das Problem von selbst. Während das Kamerateam und einige Schaulustige bereits auf ihn warteten, schrieb er sich draußen vor dem Gebäude in aller Eile die wichtigsten Punkte zusammen, prägte sie sich ein und improvisierte dann.
»Was sich heute in White Plains ereignete, ist nicht nur für die unschuldigen Einwohner dieser Stadt eine entsetzliche Tragödie, sondern auch eine Schreckensmeldung für meinen Freund und Kollegen Crawford Sloane. Denn nun steht fest, daß seine Frau, sein junger Sohn und sein Vater in den Händen wilder, gnadenloser Verbrecher sind, über deren Identität und Herkunft man bis jetzt noch nichts weiß. Sicher ist nur, daß sie vor nichts zurückschrecken werden, um ihre Ziele zu erreichen.
Die Art und der Zeitpunkt dieses Anschlags in White Plains werfen eine Frage auf, die sich inzwischen viele stellen: Wurden die Entführungsopfer bereits außer Landes gebracht und an einem weit entfernten Ort versteckt, wo immer der auch sein mag?
Harry Partridge, CBA News, New York.«
13
Teddy Cooper hatte sich getäuscht. Die Entführer und ihre Opfer hatte die Vereinigten Staaten noch nicht verlassen. Doch wenn alles nach Plan lief, waren sie in wenigen Stunden verschwunden.
Für die Medellin-Gruppe, die sich an diesem Samstagnachmittag noch immer in ihrem Versteck in Hackensack aufhielt, hatte der Druck einen Höhepunkt erreicht, die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Der Grund für die Sorge waren die Radio- und Fernsehberichte über die Ereignisse in White Plains an diesem Vormittag.
Miguel war ruhelos und besorgt, er gab nur barsche Antworten auf die Fragen der anderen und fuhr die Frager einige Male böse an. Als Carlos, normalerweise der sanfteste der fünf Kolumbianer, wütend bemerkte, die Sprengladung in dem Kleinbus sei una idea imbecil gewesen, griff Miguel nach einem Messer. Doch dann beherrschte er sich und legte es wieder weg.
In Wirklichkeit wußte Miguel nur zu gut, daß es ein schlimmer Fehler gewesen war, den Wagen in White Plains mit einer Sprengladung zu versehen. Denn zu der Explosion, die als Warnung gedacht war, daß sie, die Entführer, es ernst meinten, hätte es erst nach ihrem Verschwinden kommen sollen.
Dieses nach war hierbei das entscheidende Wort.
Miguel hatte sich darauf verlassen, daß der Kleinbus wegen der äußerlichen Veränderungen - das Abziehen der dunklen Folien und das Auswechseln der Nummernschilder - erst nach fünf oder sechs Tagen oder vielleicht sogar noch später entdeckt würde.
Doch da hatte er sich ganz offensichtlich getäuscht. Schlimmer noch, die Explosion und ihre Folgen hatten die Entführung der Sloanes wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt und Polizei und Öffentlichkeit in höchste Alarmbereitschaft versetzt, und das zu einem Zeitpunkt, als sie sich in aller Stille davonstehlen wollten.
Weder Miguel noch die anderen bedauerten die Toten und die Verwüstung, die sie in White Plains angerichtet hatten. Unter anderen Umständen hätte das sie sogar amüsiert. Sie bedauerten nur, daß sie jetzt in größerer Gefahr schwebten, denn das hätte nicht passieren müssen.
Es waren immer die gleichen Fragen, die sich die Verschwörer stellten: Wurden die Straßensperren, die Berichten zufolge seit Donnerstag bereits wieder abgebaut wurden, nun erneut errichtet? Wenn ja, wie viele waren es zwischen ihrem Unterschlupf und Teterboro Airport? Und was war mit dem Flugplatz? Waren wegen der erhöhten Alarmbereitschaft die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt worden? Und auch wenn die vier mit ihren Gefangenen es schafften, Teterboro ungehindert zu verlassen, was war dann mit Opa Locka in Florida? Welche Gefahren warteten dort auf sie?
Keiner kannte die Antworten, auch Miguel nicht. Sicher wußten sie nur, daß sie aufbrechen mußten; die Maschinerie ihres Transfers war bereits in Gang gesetzt, und sie mußten das Risiko eingehen.
Ein weiterer, wahrscheinlich unvermeidlicher Grund für die erhöhte nervliche Belastung waren die zunehmenden Reibereien der Gruppenmitglieder untereinander. Nachdem sie über einen Monat auf engstem Raum und praktisch ohne Kontakte nach draußen gelebt hatten, waren aus geringfügigen persönlichen Animositäten Haßgefühle geworden.
Besonders lästig für alle anderen war Rafaels Gewohnheit, ständig Schleim auszuhusten und ihn auszuspucken, wo er eben war, vor allem auch beim Essen. Bei einer Mahlzeit war Carlos darüber so wütend, daß er Rafael un bruto odioso nannte, worauf Rafael ihn an den Schultern packte, gegen die Wand warf und mit seinen riesigen Fäusten auf ihn einhämmerte. Nur Miguels Eingreifen bewahrte Carlos vor Verletzungen. Nach dem Zwischenfall spuckte Rafael unbeirrt weiter, und Carlos kochte vor Wut.
Auch Luis und Julio waren Feinde geworden. In der Woche zuvor hatte Julio Luis vorgeworfen, er betrüge beim Kartenspielen. Es folgte eine Schlägerei, die keiner gewann, doch tags darauf hatten beide geschwollene Gesichter. Seitdem hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen.
Inzwischen war auch Socorro ein Grund für Reibereien. Trotz ihrer früheren Zurückweisung jeder sexuellen Annäherung war sie in der letzten Nacht mit Carlos ins Bett gegangen. Ihre wilden Geräusche hatten in den anderen Männern Neid geweckt und rasende Eifersucht in Rafael, der Socorro für sich beanspruchte und sie an diesem Morgen auch daran erinnerte. Vor allen anderen erwiderte sie ihm während des Frühstücks: »Du mußt schon zuerst deine abscheulichen Manieren ablegen, bevor du deinen verga in mich stecken darfst.«
Miguels starkes Verlangen nach Socorro machte die Situation noch komplizierter. Er mußte sich beständig daran erinnern, daß er es sich als Anführer der Truppe nicht leisten konnte, in den Wettstreit um Socorro mit einzutreten.
Er merkte, daß seine Führerrolle auch noch andere Auswirkungen auf ihn hatte. Wenn er in den Spiegel sah, fiel ihm auf, daß er seine frühere Unscheinbarkeit verlor. Er glich immer weniger einem unauffälligen Angestellten oder einem kleinen Filialleiter, was ja seine frühere, natürliche Tarnung gewesen war. Alter und Verantwortung ließen ihn als den erscheinen, der er wirklich war - ein erfahrener, starker Kommandeur.
Was soll's, dachte er nun, jeder Kommandeur macht einmal Fehler. White Plains war ganz offensichtlich einer der seinen gewesen.
So war es für jeden aus unterschiedlichen Gründen eine große Erleichterung, als der Zeitpunkt des Aufbruchs näherrückte.
Julio sollte den Leichenwagen fahren, Luis den Lastwagen mit der Aufschrift Serene Funeral Homes. Beide Fahrzeuge waren bereits beladen.
In dem einzelnen Sarg im Leichenwagen lag die betäubte Jessica, Angus und Nicholas in den beiden anderen im Lastwagen. Carlos hatte auf jeden Sarg ein Bukett weißer Chrysanthemen und rosa Nelken gelegt.
Auf eigenartige Weise dämpfte der Anblick der Särge und der Blumen die Stimmung der Verschwörer, es schien, als wären die Rollen, die sie im Geiste immer wieder geprobt hatten und die sie nun bald spielen mußten, dadurch etwas leichter geworden.
Nur Baudelio, der zwischen den Särgen hin- und hereilte und noch letzte Messungen mit seinen Kontrollgeräten vornahm, war voll und ganz auf seine Arbeit konzentriert, denn er wußte, daß während der nächsten Stunden der Erfolg des ganzen Unternehmens von der Präzision seiner früheren Schätzungen abhing. Wenn einer der Gefangenen während der Fahrt und vor allem bei Kontrollen das Bewußtsein wiedererlangte und schrie oder um sich schlug, war alles verloren.
Auch schon der leiseste Verdacht, daß an den Särgen etwas ungewöhnlich sei, konnte zu einer Öffnung durch die Behörden führen und so die ganze Aktion vereiteln - wie es 1984 auf dem Stansted Airport in Großbritannien passiert war. Damals war ein Nigerianer, Dr. Umaru Dikko, entführt worden und sollte betäubt und in einem versiegelten Sarg nach Lagos geflogen werden. Flughafenangestellte hatten einen starken »medizinischen« Geruch bemerkt, und der Britische Zoll bestand deshalb auf einer Öffnung des Sarges. So wurde das bewußtlose, aber lebende Opfer entdeckt.
Miguel und Baudelio kannten den Fall und wollten es nicht zu einer Wiederholung kommen lassen.
Kurz vor der Abfahrt erschien Socorro erstaunlich verführerisch in einem schwarzen Leinenkleid mit passender bortenbesetzter Jacke. Die Haare waren unter einem schwarzen Hut hochgesteckt, sie trug goldene Ohrringe und eine dünne goldene Halskette. Sie weinte heftig, die Pfefferkörner, die Baudelio ihr unter die unteren Lider gesteckt hatte, taten ihre Wirkung. Nun mußte auch Rafael diese Behandlung über sich ergehen lassen; er hatte sich zunächst dagegen gewehrt, doch da Miguel darauf bestand, gab der große Mann nach. Er hatte sich bald an das leicht unangenehme Gefühl gewöhnt, und nun flossen auch bei ihm die Tränen.
Rafael, Miguel und Baudelio sahen in ihren schwarzen Anzügen und Krawatten überzeugend wie Trauernde aus. Wenn Fragen gestellt wurden, spielten Rafael und Socorro Bruder und Schwester einer toten kolumbianischen Frau, die während eines Besuchs in den Vereinigten Staaten bei einem Autounfall getötet und nun zum Begräbnis nach Hause geflogen wurde. Und da der kleine Sohn der Frau, so die Tarngeschichte, bei dem Unfall ebenfalls getötet wurde, waren Rafael und Socorro Nickys Onkel und Tante. Der dritte »Tote«, Angus, war ein älterer entfernter Verwandter, der die beiden auf der Reise begleitet hatte.
Baudelio war ein weiteres trauerndes Familienmitglied, das den Leichenzug zur Unterstützung der Hinterbliebenen begleitete, Miguel ein enger Freund.
Eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten stützte die Tarngeschichte, darunter gefälschte Totenscheine aus Pennsylvania, wo der Unfall angeblich stattgefunden hatte, drastische Fotos von einer Karambolage auf einer Autobahn und sogar Zeitungsausschnitte, die angeblich aus dem Philadelphia Inquirer stammten, in Wirklichkeit jedoch auf einer privaten Presse gedruckt worden waren. Zu den Papieren gehörten neue Pässe für Miguel, Rafael, Socorro und Baudelio sowie zwei zusätzliche Totenscheine, von denen einer für Angus verwendet worden war. Miguel hatte dieses »Dokumentenpaket« für über zwanzigtausend Dollar von einem seiner Kontakte in Little Columbia gekauft.
Ein wichtiger Punkt in der Tarngeschichte, der auch von den falschen Presseberichten gestützt wurde, war die Behauptung, alle drei Leichen seien bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Miguel hoffte, daß dies die Behörden von einem Öffnen der Särge abhalten würde.
Leichenwagen und Laster warteten bereits mit laufenden Motoren, und hinter ihnen stand der Plymouth Reliant mit Carlos am Steuer. Er sollte den beiden Fahrzeugen mit einigem Abstand folgen, bereit zum Eingreifen, falls es zu Schwierigkeiten kam. Mit Ausnahme von Baudelio waren alle bewaffnet.
Die Truppe wollte direkt zum Flughafen fahren, was zehn, höchstens fünfzehn Minuten dauern würde.
Im Hof des Anwesens in Hackensack sah Miguel auf die Uhr. 19 Uhr 35. »Alles einsteigen!« befahl er den anderen.
Dann kontrollierte er alleine ein letztes Mal das Haupthaus und die Nebengebäude, um sicherzugehen, daß sie keine Spuren hinterlassen hatten. Nur eins machte ihm Sorgen. An der Stelle, wo sie die Funktelefone und die andere Ausrüstung vergraben hatten, war der Boden im Vergleich zur Umgebung uneben. Julio und Luis hatten versucht, die Erde glattzurechen und die Stelle mit Blättern zu bedecken, aber dennoch blieben Spuren sichtbar. Miguel hoffte, daß es nicht auffallen würde, denn er konnte nun nichts mehr dagegen tun.
Er kehrte zum Leichenwagen zurück, stieg auf den Beifahrersitz und befahl Julio: »Los!«
Es dämmerte bereits. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden am Horizont, während sie auf Teterboro zufuhren.
Luis war der erste, der die Blinklichter der Polizei bemerkte. Er fluchte leise und bremste. Nun sah auch Miguel vom Beifahrersitz des Leichenwagens die Lichter und streckte den Kopf zum Fenster hinaus, um sich ein Bild über die Verkehrslage zu machen. Socorro saß zwischen den beiden Männern.
Sie fuhren in südlicher Richtung auf dem State Highway 17, die Überführung des Passaic Expressway lag bereits eine Meile hinter ihnen. Der Verkehr war sehr dicht. Zwischen ihrer Position und den Blinklichtern gab es keine Ausfahrt nach rechts, und die Abtrennung zwischen den beiden Fahrtrichtungen machte ein Umkehren unmöglich. Miguel begann zu schwitzen, nahm sich aber zusammen und sagte zu Luis: »Fahr weiter.« Er sah nach hinten, um sicherzugehen, daß der Laster ihnen direkt folgte.
Carlos, im Plymouth, fuhr irgendwo hinter ihnen, doch zu sehen war er im Augenblick nicht.
Nun sahen sie, daß der Verkehr vor ihnen von einigen Bundespolizisten in die beiden rechten Fahrspuren gelenkt wurde. Zwischen den Spuren stand eine Art transportables Häuschen, von dem aus weitere Polizisten die Autos anhielten und mit den Fahrern zu sprechen schienen. Am rechten Straßenrand waren mehrere Polizeiautos mit blinkenden Lichtern zu sehen.
»Ganz ruhig«, sagte Miguel zu den anderen. »Und laßt mich reden.«
Zehn Minuten lang krochen sie Meter um Meter vorwärts. Und auch dann war noch nicht genau zu erkennen, was an der Spitze der Schlange eigentlich passierte. Es war inzwischen dunkel geworden, und die vielen Lichter verwirrten nur. Aber es sah so aus, als würden nach einem kurzen Wortwechsel zwischen den Polizisten und dem jeweiligen Fahrer einige Fahrzeuge zu einer genaueren Untersuchung an den Straßenrand gewunken.
Miguel sah auf die Uhr. Fast 20 Uhr. Man würde den Learjet bestimmt nicht mehr zum vereinbarten Zeitpunkt erreichen.
Obwohl Miguel den anderen eingeschärft hatte, ruhig zu bleiben, stieg jetzt auch in ihm die Nervosität. Sollte das nun das Ende sein, nachdem alles bislang so glatt gelaufen war, ein Ende in der Gefangennahme oder im Tod nach einer Schießerei? Miguel zog den Tod vor. Die Chancen, sich mit einem Bluff aus dieser Zwangslage zu befreien, waren ziemlich gering. Miguel fragte sich nur, ob es vernünftiger war, zum Angriff überzugehen und eine Schießerei zu provozieren, oder ruhig sitzenzubleiben, die Minuten verstreichen zu lassen und auf die hauchdünne Chance zu hoffen, daß sie mit ihrer Tarngeschichte durchkamen?
»Die Schweine suchen uns!« murmelte Luis, zog eine Walther P38 aus der Jacke und legte sie neben sich auf den Sitz.
»Versteck das Ding!« fauchte Miguel ihn an.
Luis legte eine Zeitung über die Pistole.
Miguel spürte, daß Socorro neben ihm zitterte. Er legte ihr die Hand auf den Arm, und das Zittern hörte auf. Er sah, daß sie den Blick starr nach vorne gerichtet hatte, auf einen Bundespolizisten, der nun auf sie zukam.
Der Uniformierte schien alleine zu sein, ohne Verbindung zu der Gruppe an der Spitze der Schlange. Er sah im Vorübergehen in die wartenden Autos, blieb ab und zu stehen und schien auf Fragen zu antworten. Als der Beamte nur noch wenige Meter entfernt war, beschloß Miguel, die Initiative zu ergreifen. Er öffnete das Fenster.
»Officer«, rief Miguel, »können Sie mir bitte sagen, was hier los ist?«
Der Beamte, der offensichtlich noch sehr jung war, kam näher. Ein Namensschild identifizierte ihn als »Quiles«.
»Nur ein Alkoholtest, Sir, im Interesse der öffentlichen Sicherheit«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln.
Miguel glaubte ihm nicht.
Der Beamte sah sich nun den Leichenwagen und dessen Inhalt genauer an und fügte hinzu: »Ich hoffe nur, Sie kommen nicht von einem feuchtfröhlichen Leichenschmaus.«
Es war nur ein schwacher, unbeholfener Versuch, witzig zu sein, aber Miguel sah seine Chance und griff danach. Er warf dem Beamten einen vernichtenden Blick zu und sagte streng: »Falls das ein Witz sein sollte, dann war es ein sehr geschmackloser.«
Der Gesichtsausdruck des jungen Polizisten veränderte sich augenblicklich. Mit betrübter Miene sagte er: »Es tut mir leid...«
Als hätte er es nicht gehört, fuhr Miguel fort: »Die Dame neben mir war gemeinsam mit ihrer Schwester zu Besuch in diesem Land. Ihre geliebte Schwester liegt nun in diesem Sarg -sie wurde bei einem tragischen Verkehrsunfall getötet, zusammen mit zwei anderen Personen, die sich in dem Transporter hinter uns befinden. Wir wollen die Leichen außer Landes fliegen, damit sie in ihrer Heimat begraben werden können. In Teterboro wartet ein Flugzeug auf uns, und wir können weder Ihren Humor noch diese Verzögerung hier gebrauchen.«
Wie aufs Stichwort wandte Socorro dem Beamten ihr tränenüberströmtes Gesicht zu.
»Ich sagte bereits, daß es mir leid tut, Sir und Madam«, lenkte Quiles reumütig ein. »Es ist mir einfach so herausgerutscht. Ich möchte mich wirklich dafür entschuldigen.«
»Wir nehmen Ihre Entschuldigung an, Officer«, entgegnete Miguel gnädig. »Aber ich frage mich, ob Sie uns vielleicht die Weiterfahrt ermöglichen könnten.«
»Einen Augenblick, bitte.« Der Polizist ging schnell zur Spitze der Schlange, wo er mit einem Sergeanten sprach. Der Sergeant hörte zu, sah in ihre Richtung und nickte dann. Der junge Polizist kehrte zurück.
»Ich fürchte, wir sind alle ein bißchen nervös, Sir«, sagte er zu Miguel. »Die Alkoholkontrolle ist nur ein Vorwand, in Wirklichkeit suchen wir nach diesen Entführern. Sie wissen doch, was heute vormittag in White Plains passiert ist?«
»Ja«, erwiderte Miguel ernst. »Eine entsetzliche Sache.«
Das Auto vor ihnen war angefahren und hatte eine Lücke hinterlassen.
»Sie können mit beiden Fahrzeugen links vorbeifahren, Sir. Bitte folgen Sie mir bis zur Sperre, und von dort können sie ungehindert weiter. Und ich möchte mich noch einmal für meine dumme Bemerkung entschuldigen.«
Der Beamte ließ den Leichenwagen und den Lastwagen aus der Schlange ausscheren und winkte dem nachfolgenden Auto, es solle aufschließen. Miguel sah sich um, konnte aber den Plymouth Reliant nirgends entdecken. Na, dachte er, Carlos wird schon alleine zurechtkommen.
Der Polizist ging ihnen bis zu dem Häuschen, das sie aus der Entfernung gesehen hatten, voran und winkte sie dann vorbei. Die Straße vor ihnen war frei.
Als der Leichenwagen an ihm vorbeifuhr, nahm Quiles Haltung an, legte die Hand an die Mütze und blieb so, bis beide Autos ihn passiert hatten.
Den ersten Test hatte ihre Tarngeschichte also bestanden, dachte Miguel. Die Frage war nur, ob sie sich auch bei der Kontrolle in Teterboro bewähren würde.
Während ihres Aufenthalts in Hackensack war Miguel zweimal nach Teterboro gefahren, um sich die Anlage des Flughafens einzuprägen.
Es war ein belebter, nur von Privatflugzeugen benutzter Flughafen. Im Verlauf eines Tages starteten und landeten durchschnittlich vierhundert Maschinen, viele davon in der Nacht. Etwa hundert Maschinen, die am nordöstlichen Rand abgestellt wurden, diente Teterboro als Standort. Am nordwestlichen Rand des Geländes lagen die Gebäude von sechs Firmen, die sich um Service und Abfertigung der Flugzeuge kümmerten. Jede dieser Firmen hatte einen separaten Zugang zum Flughafen und kümmerte sich auch selbst um Sicherheitsund Kontrollmaßnahmen.
Die größte dieser Firmen war Brunswick Aviation, und eben diese hatte Miguel für die Abfertigung des Learjet 55LR aus Kolumbien ausgewählt.
Bei einem seiner Besuche hatte Miguel sich als Besitzer einer Privatmaschine ausgegeben und mit den leitenden Herren von Brunswick und noch zwei anderen Firmen verhandelt. Aus diesen Gesprächen ging hervor, daß es zum Beladen einer Maschine gewisse Bereiche auf dem Flugplatz gab, die abgeschlossener und weniger einsehbar waren als andere. Der zentralste und beliebteste Lande- und Parkbereich trug den Namen »Der Tisch« und lag direkt neben dem Tower.
Der am wenigsten benutzte, weil als unpraktisch geltende Parkbereich befand sich am Südende des Geländes. Ein Platz war dort leicht zu bekommen, weil damit der »Tisch« entlastet wurde. In der Nähe gab es außerdem ein verschlossenes Tor, zu dem alle sechs Firmen Zugang hatten.
Miguel hatte daraufhin über seinen Kontaktmann im kolumbianischen Konsulat in New York nach Bogota Anweisung gegeben, der Learjet solle beim Anflug um einen Stellplatz am Südende in der Nähe des Tores bitten. An diesem Vormittag, kurz bevor sie die Funktelefone vergruben, hatte er dann bei Brunswick Aviation angerufen und um Öffnung des Tores zwischen 19 Uhr 45 und 20 Uhr 15 gebeten.
Aus den vorangegangenen Gesprächen wußte Miguel, daß eine solche Bitte in Teterboro nichts Ungewöhnliches war. Besitzer von Privatmaschinen tätigten häufig Geschäfte, die sie lieber gehe imhielten, und das Flughafenpersonal stand im Ruf der Verschwiegenheit. Einer der Firmendirektoren hatte Miguel sogar von einem Vorfall mit einer hereinkommenden Marihuanalieferung erzählt.
Eines Tages beobachtete dieser Direktor, wie verdächtige Ballen aus einem Flugzeug in einen Lastwagen umgeladen wurden. Er rief die Polizei an, die daraufhin die Drogenhändler verhaftete. Doch danach beklagte sich der Flugzeugbesitzer, der den Platz regelmäßig benutzte, über die Verletzung seiner Privatsphäre, zumal er Teterboro, wie er es formulierte, immer für »einen diskreten und verläßlichen Flughafen« gehalten habe.
Als sich der Leichenwagen und der Laster nun Teterboro näherten, dirigierte Miguel Luis zu dem Tor am Südende. Obwohl er nicht erwartete, sämtlichen Kontrollen zu entgehen, hoffte er doch, daß sie hier etwas oberflächlicher sein würden als am Haupteingang.
Seit dem Zwischenfall mit der Bundespolizei herrschte im Leichenwagen gespanntes Schweigen. Doch nun ließ die Spannung nach, und Socorro sagte zu Miguel: »Du warst magnifico!«
»Stimmt«, fügte Luis hinzu.
Miguel zuckte nur mit den Schultern. »Wie müssen auf der Hut bleiben. Vielleicht kommt noch mehr.«
Während sie auf das Tor zufuhren, sah Miguel auf die Uhr: 20 Uhr 25. Eine halbe Stunde zu spät und zehn Minuten über der vereinbarten Öffnungszeit des Tors.
Das Licht ihrer Scheinwerfer fiel nun auf das Tor; es war verschlossen. Dahinter war alles dunkel und kein Mensch zu sehen. Frustriert schlug Miguel mit der Faust auf das Armaturenbrett und rief: »Mierda!«
Luis stieg aus und sah sich das Schloß an. Rafael verließ den Lastwagen, ging ebenfalls zum Tor und kam dann zum Leichenwagen: »Ich könnte das Ding mit einer Kugel aufschießen«, sagte er zu Miguel.
Miguel schüttelte den Kopf. Er fragte sich, warum keiner der Piloten des Learjet hier auf sie wartete. In der Dunkelheit konnte er hinter dem Zaun einige abgestellte Flugzeuge erkennen, jedoch nirgends Licht oder eine Aktivität. Hatte der Flug vielleicht Verspätung? Doch wie die Antwort auch ausfiel, Miguel wußte, daß sie nun den Haupteingang von Brunswick Aviation benutzen mußten.
»Steigt wieder ein«, befahl er Luis und Rafael.
Während sie vom Südtor wegfuhren, setzte sich der Plymouth Reliant wieder hinter sie. Carlos hatte die Straßensperre offenbar ungehindert passiert. Er hatte den Auftrag, ihnen bis zum Flughafeneingang zu folgen und dann draußen zu warten, bis Leichenwagen und Laster zurückkehrten.
Sie näherten sich dem hell erleuchteten Brunswick-Gebäude und mußten plötzlich erkennen, daß ihnen ein weiteres Tor den Weg versperrte. In der Tür des Wachhäuschens stand ein uniformierter Posten und neben ihm ein großer Zivilist mit beginnender Glatze, der den Leichenwagen interessiert ansah. Ein Polizist? Miguel spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
Der zweite Mann trat vor. Er war schätzungsweise Anfang Fünfzig und wirkte sehr bestimmt. Luis öffnete das Fenster, und der Mann fragte: »Führen Sie ungewöhnliches Frachtgut für Senor Pizaro mit sich?«
Miguel ließ sich erleichtert in den Sitz zurücksinken. Es war die vorher vereinbarte codierte Frage. Er wußte, wie er darauf zu antworten hatte. »Die Ladung ist bereit zum Transport, alle Papiere sind in Ordnung.«
Der Mann nickte. »Ich bin Ihr Pilot. Mein Name ist Underbill.« Er hatte einen amerikanischen Akzent. »Sie sind aber verdammt spät!«
»Wir hatten Probleme.«
»Die interessieren mich nicht. Ich habe bereits meinen Flugplan angemeldet. Wir müssen uns beeilen.« Während er zur Beifahrerseite ging, winkte er dem Wachposten zu, und das Tor öffnete sich.
Es gab also offensichtlich weder Sicherheitsüberprüfungen noch Polizeikontrollen. Ihre so sorgfältig ausgearbeitete Tarngeschichte erübrigte sich damit. Doch Miguel schien darüber nicht unglücklich.
Mit vier Leuten wurde es eng im Leichenwagen, und sie hatten Mühe, die Tür zu schließen. Der Pilot dirigierte Luis auf eine Rollbahn und zwischen blauen Lichterreihen hindurch zum Südende des Flughafens. Der Laster folgte in kurzem Abstand.
Vor ihnen in der Dunkelheit standen mehrere Maschinen. Der Pilot deutete auf die größte, einen Learjet 55LR. Aus seinem Schatten tauchte ein Mann auf.
»Faulkner. Der Kopilot«, sagte Underhill knapp.
Die beiden Klappen der linken Seitentür des Learjets waren geöffnet, in der unteren war eine Treppe integriert, die vom Rumpf zum Boden führte. Der Kopilot war hineingeklettert und hatte die Lichter eingeschaltet.
Luis fuhr mit dem Leichenwagen rückwärts bis knapp vor die Tür. Der Laster blieb in geringer Entfernung stehen, Julio, Rafael und Baudelio sprangen heraus.
Als alle an der Tür der Maschine versammelt waren, fragte Underhill: »Wie viele lebende Passagiere haben wir?«
»Vier«, antwortete Miguel.
»Ich brauche die Namen für die Passagierliste«, sagte der Pilot, »und auch die Namen der Toten. Abgesehen davon, wollen ich und Faulkner über Sie und Ihre Angelegenheiten nichts wissen. Wir liefern den vertraglich vereinbarten Charterflug. Und sonst nichts.«
Miguel nickte. Er zweifelte nicht daran, daß sich die beiden Piloten mit diesem Flug eine goldene Nase verdienten. In den Luftkorridoren zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika wimmelte es nur so von Flugzeugen, deren Besatzungen es mit dem Gesetz nicht so genau nahmen und für viel Geld große Risiken eingingen. Was diese beiden anging, war es Miguel gleichgültig, ob sie sich von der Sache selbst distanzieren wollten oder nicht. Wenn es wirkliche Probleme gab, machte das sowieso keinen Unterschied. Dann würde man auch die Piloten zur Rechenschaft ziehen.
Unter der Aufsicht des Kopiloten hoben Rafael, Julio, Luis und Miguel den Sarg mit Jessica aus dem Leichenwagen in die Maschine. Es war Zentimeterarbeit, den Sarg durch die Türe und um die Ecke zu manövrieren. Die Sitze an der rechten Seite der Kabine waren ausgebaut. An den Führungsleisten am Boden und den Verstrebungen an der Decke waren Gurte angebracht, mit der die Fracht, in diesem Fall die Särge, befestigt werden konnte.
Während der erste Sarg eingeladen wurde, fuhr der Leichenwagen weg, und der Laster kam mit der Ladeklappe bis an die Tür. Kurz darauf waren auch die beiden anderen Särge in der Maschine, Miguel, Baudelio, Socorro und Rafael folgten, und die Tür wurde geschlossen. Man hatte sich grußlos getrennt. Als Miguel sich auf seinen Platz setzte und zum Fenster hinaussah, verschwanden die Lichter der beiden Fahrzeuge bereits in der Entfernung.
Während der Kopilot die Gurte um die Särge festzog, legte der Pilot im Cockpit einige Schalter um, und die Turbinen begannen zu dröhnen. Dann ging der Kopilot nach vorn. Aus dem Funkgerät drang Rauschen, als er beim Tower um Starterlaubnis nachfragte und kurz danach die Freigabe kam.
Augenblicke später rollten sie bereits.
Baudelio begann nun von seinem Sitz aus, seine externen Kontrollinstrumente an den Särgen zu befestigen. Er arbeitete weiter, während der Learjet abhob, schnell an Höhe gewann und durch die Dunkelheit in Richtung Florida flog.
Am Boden gab es noch einiges zu erledigen.
Als der Leichenwagen und der Laster am Tor des Flughafens auftauchten, legte Carlos, der draußen gewartet hatte, den Gang ein und folgte dem Leichenwagen nach Patterson, das etwa zehn Meilen westlich von Teterboro lag. Dort fuhr Luis den Leichenwagen zu einem bescheidenen Bestattungsinstitut, das sie zuvor willkürlich ausgesucht hatten, und stellte ihn auf dem Parkplatz ab. Er ließ die Schlüssel stecken, lief zu dem Plymouth und fuhr mit Carlos davon.
Am nächsten Morgen würde der Besitzer des Instituts wahrscheinlich mit seinem Gewissen ringen, ob er zur Polizei gehen oder besser abwarten solle, was mit diesem offensichtlich geschenkten, wertvollen Leichenwagen passierte. Wie er sich auch entschied, Carlos Luis und die anderen würden zu diesem Zeitpunkt schon weit weg sein.
Von Patterson aus fuhren Carlos und Luis sechs Meilen in nördlicher Richtung nach Ridgewood, wohin Julio in der Zwischenzeit den Lastwagen gebracht hatte. Er hatte ihn vor dem Gelände eines Gebrauchtlastwagenhändlers abgestellt, der über Nacht geschlossen hatte. Es war anzunehmen, daß ein fast neuer Lastwagen, den niemand mehr abholte, nach einer Weile von dem Geschäft absorbiert würde und so die Polizei nie von seiner Existenz erfuhr.
Die beiden anderen holten Julio an einem vereinbarten Treffpunkt ganz in der Nähe ab, und das Trio fuhr ein letztes Mal zu ihrem Unterschlupf in Hackensack. Dort stieg Julio in den Chevrolet Celebrity und Luis in den Ford Tempo. Dann fuhren die drei in verschiedene Richtungen davon.
Sie würden die Autos an drei weit voneinander entfernten Orten abstellen - mit unverschlossenen Türen und den Schlüsseln im Zündschloß, weil so die Möglichkeit bestand, daß die Autos gestohlen und damit alle Spuren, die auf eine Verbindung mit der Sloane-Entführung hindeuten könnten, verwischt wurden.
14
Erst nach der Erstausgabe der National Evening News nahm die Sondereinheit ihre Konferenz, die am Vormittag von der Schreckensnachricht aus White Plains unterbrochen worden war, wieder auf. Es war inzwischen 19 Uhr 10, und die Mitglieder der Gruppe hatten sich bereits damit abgefunden, daß aus ihren privaten Wochenendplänen nichts wurde. Es wurde oft behauptet, daß die unregelmäßige Arbeitszeit, die langen Abwesenheiten von zu Hause und die Unmöglichkeit eines kalkulierbaren gesellschaftlichen Lebens schuld waren an der außergewöhnlich hohen Scheidungsrate unter den Fernsehreportern.
Harry saß nun wieder am Kopfende des Tisches und betrachtete seine Kollegen - Rita, Norman Jaeger, Iris Every, Karl Owens, Teddy Cooper. Die meisten sahen müde aus; Iris zum Beispiel war bei weitem nicht mehr makellos, ihre Frisur war aufgelöst, auf der weißen Bluse zeigten sich Tintenflecken. Jaeger lümmelte sich in Hemdsärmeln auf seinem nach hinten gekippten Stuhl und hatte die Füße auf dem Tisch.
Im Konferenzraum selbst herrschte ein einziges Chaos, die Abfallkörbe und Aschenbecher quollen über, schmutzige Kaffeetassen türmten sich auf dem Tisch, auf dem Boden lagen Zeitungen verstreut. Die sicher verschlossenen Büros hatten ihren Preis, denn so konnten auch die Putzfrauen nicht herein. Rita nahm sich vor, dafür zu sorgen, daß die Zimmer bis Montagmorgen aufgeräumt wurden.
Die beiden Wandtafeln »Ereignisablauf« und »Vermischtes« hatten beträchtlichen Zufluß bekommen. Die letzte Ergänzung war eine Zusammenfassung der Katastrophe in White Plains, die Partridge getippt hatte. Doch über die Identität der Entführer und den Aufenthaltsort der Opfer gab es leider noch immer keine eindeutigen Informationen.
»Irgendwelche Neuigkeiten?« fragte Partridge.
Jaeger, der inzwischen die Füße vom Tisch genommen und den Stuhl herangezogen hatte, hob die Hand.
»Schieß los, Norm.«
Der altgediente Produzent hatte ein ruhige, gelehrte Art zu sprechen. »Ich habe fast den ganzen Tag in Europa und im Mittleren Osten herumtelefoniert und allen - unseren Redaktionsleitern, Korrespondenten und Informanten - die gleichen Fragen gestellt: Was wißt ihr von neuen oder ungewöhnlichen Entwicklungen in der Terroristenszene? Gibt es unter den Terroristen irgendwelche auffälligen Bewegungen? Sind in der letzten Zeit Terroristen, vor allem ganze Gruppen, von der Bildfläche verschwunden? Wenn ja, könnte es möglich sein, daß sie sich in den Vereinigten Staaten aufhalten? Und so weiter.«
Jaeger unterbrach sich, blätterte in seinen Aufzeichnungen und fuhr dann fort: »Ich bekam einige halb positive Antworten. Eine Gruppe von Hisbollah-Leuten ist vor einem Monat aus Beirut verschwunden. Es gibt Gerüchte, daß sie in der Türkei sind und dort einen neuen Überfall auf Juden planen, und Ankara bestätigt, daß die türkische Polizei nach ihnen sucht. Aber Beweise gibt es keine. Die könnten überall sein.
Die FARL - die Libanesische Bewaffnete Revolutionäre Fraktion - hat angeblich Leute ausgeschickt, doch gibt es drei Berichte, einer davon aus Paris, wonach sie sich in Frankreich aufhalten sollen. Wieder keine Beweise. Abu Nidal ist aus Syrien verschwunden und angeblich in Italien, wo es Gerüchte gibt, daß er, die Islamische Jihad und die Roten Brigaden irgend etwas planen.« Jaeger streckte die Hände in die Luft. »Diese Gangster sind schwer greifbare Schatten, aber die Kontakte, von denen ich diese Informationen habe, waren bisher alle sehr zuverlässig.«
Leslie Chippingham betrat den Konferenzraum, Crawford Sloane folgte ihm wenige Augenblicke später. Sie setzten sich zu den anderen an den Tisch. Als Schweigen entstand, bat der Chef der Nachrichtenabteilung: »Macht doch bitte weiter.«
Während Jaeger fortfuhr, warf Partridge einen Blick auf Sloane, und ihm fiel auf, daß der Moderator entsetzlich aussah, noch blasser und ausgezehrter als am Tag zuvor, was bei der immer stärker werdenden Belastung auch kaum verwunderlich war.
Jaeger berichtete: »Meine Gewährsmänner bei den Geheimdiensten berichten von einigen kleineren Terroristenbewegungen. Ich will euch nicht mit Einzelheiten langweilen; wichtig ist nur, daß sie offensichtlich auf Europa und den Mittleren Osten beschränkt sind. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, gehen davon aus, daß es keine Bewegungen in Richtung USA oder Kanada gegeben hat, weil sich das mit Sicherheit herumgesprochen hätte. Aber ich habe allen gesagt, daß sie Augen und Ohren aufsperren sollen.«
»Danke, Norm.« Partridge wandte sich an Carl Owens. »Ich weiß, daß du dich im Süden umgehört hast, Carl. Irgendwelche Ergebnisse?«
»Nichts Eindeutiges.« Der jüngere Produzent brauchte nicht lange in seinen Aufzeichnungen zu wühlen. Es war typisch für seine präzise Arbeitsweise, daß er jeden Anruf mit sauberer Handschrift auf einer Karteikarte festhielt und die Karten sortierte.
»Ich habe mit der gleichen Art von Kontakten gesprochen wie Norm und ihnen ähnliche Fragen gestellt; meine Leute sitzen in Managua, San Salvador, Havanna, La Paz, Buenos Aires, Tegucigalpa, Lima, Santiago, Bogota, Brasilia und Mexico City. Wie immer gibt es dort fast überall terroristische Aktivitäten, wobei manche Terroristen von einem Land ins andere wechseln, das heißt sie überschreiten die Grenzen wie Pendler, die einfach von einem Zug in den anderen steigen. Aber nichts davon entspricht der Art von Gruppenbewegung, nach der wir suchen. Ich bin nur über eins gestolpert. Aber daran arbeite ich noch... «
»Erzähl«, sagte Partridge. »Wir sind auch mit der Rohfassung zufrieden.«
»Nun, es ist etwas aus Kolumbien. Über einen Kerl namens Ulises Rodriguez.«
»Einer von der ganz üblen Sorte«, sagte Rita. »Man hat ihn schon als den Abu Nidal Lateinamerikas bezeichnet.«
»Was durchaus zutrifft«, bestätigte Owens, »und es gibt auch Gerüchte, daß er an einigen Entführungen in Kolumbien beteiligt war. Bei uns erfährt man von denen nicht viel, obwohl sie da drüben an der Tagesordnung sind. Also, vor drei Monaten ist Rodriguez angeblich in Bogota aufgetaucht, aber dann war er plötzlich verschwunden. Leute, die es wissen müssen, sind davon überzeugt, daß er irgendwo aktiv ist. Es gab Gerüchte, daß er sich in London aufhielt, aber wo immer er jetzt auch ist, seit Juni ist er erfolgreich untergetaucht.«
Owens hielt inne und warf einen Blick auf eine seiner Karten. »Da ist noch etwas: Rein auf Verdacht habe ich einen Kontaktmann bei der Einwanderungsbehörde in Washington angerufen und Rodriguez' Namen erwähnt. Mein Kontaktmann rief mich dann später zurück und erzählte mir, daß die Einwanderungsbehörde vor drei Monaten, also zu der Zeit, als Rodriguez verschwand, von der CIA die Warnung erhalten habe, Rodriguez versuche über Miami ins Land einzureisen. Es gibt einen Haftbefehl auf seinen Namen, und der Zoll und die Einwanderungsbehörde in Miami waren in höchster Alarmbereitschaft. Aber er ist nicht aufgetaucht.«
»Oder er hat es geschafft, unerkannt durchzukommen«, fügte Iris Everly hinzu.
»Das ist natürlich möglich. Oder er ist durch einen andere Tür hereingekommen - vielleicht über London, wenn das Gerücht, das ich erwähnt habe, zutrifft. Rodriguez hat in Berkeley Englisch studiert und spricht ohne Akzent, oder genauer, mit einem amerikanischen Akzent. Ich will damit sagen, daß er als Ausländer nicht auffällt.«
»Die Sache wird langsam interessant«, sagte Rita. »Gibt's noch mehr?«
Owens nickte. »Ein bißchen.«
Während die ganze Runde Owens aufmerksam zuhörte, dachte Partridge darüber nach, daß nur die Leute im Nachrichtengewerbe wirklich verstanden, wieviel Information man über Kontaktleute und durch beständiges Telefonieren sammeln konnte.
»Zu dem wenigen, was man über Rodriguez weiß«, fuhr Owens fort, »gehört neben dem, was ich eben erzählt habe, auch, daß er seinen Abschluß in Berkeley im Jahr 1972 machte.«
»Gibt es Fotos von ihm?« fragte Partridge.
Owens schüttelte den Kopf. »Bei der Einwanderungsbehörde haben sie keins. Und dort sagen sie, daß auch sonst niemand eins hat, auch die CIA nicht. Rodriguez hat immer gut aufgepaßt. Aber in dieser Hinsicht haben wir vielleicht Glück.«
»O Mann, Carl!« rief Rita. »Du sollst keinen Roman schreiben, sondern uns einfach erzählen, was du weißt!«
Owens lächelte. Es war seine Art, eine Geschichte langsam und geduldig aufzubauen. Nur so funktionierte es, und er hatte keine Lust, es wegen Rita Abrams oder sonst jemandem zu ändern.
»Nachdem ich also das von Rodriguez wußte, hab' ich in unserer Redaktion in San Francisco angerufen und sie gebeten, jemand nach Berkeley zu schicken.« Er warf Chippingham einen Blick zu. »Ich hab' deinen Namen erwähnt, Les, und gesagt, du hättest Toppriorität angeordnet.«
Chippingham nickte nur, und Owens fuhr fort.
»Die schickten Fiona Gowan, die auch in Berkeley studiert hat und sich dort gut auskennt. Fiona hatte Glück - schließlich ist ja Samstag - und konnte wirklich, ob ihr mir's nun glaubt oder nicht, ein Mitglied des Fachbereichs Englisch ausfindig machen, das sich an einen Rodriguez aus der 72er Klasse erinnerte.«
Rita seufzte. »Wir glauben es dir.« Ihr Tonfall bedeutete: Na, mach schon!
»Rodriguez war offensichtlich ein Einzelgänger, er hatte keine engen Freunde. Der Typ von der Uni erinnerte sich auch daran, daß Rodriguez sehr kamerascheu war, daß er sich nie fotografieren ließ. Die Daily Cal, das Studentenblättchen, wollte über ihn und einige andere ausländische Studenten eine Reportage bringen, aber er lehnte ab. Die ganze Sache entwickelte sich zu einem Sport, und irgendwann schaffte es ein Kommilitone, der ein ziemlich guter Zeichner war, eine Kohleskizze von Rodriguez zu machen, ohne daß der es merkte. Als der Künstler die Zeichnung herumzeigte, wurde Rodriguez wütend. Schließlich kaufte er ihm das Bild zu einem überhöhten Preis ab. Der Gag dabei war aber, daß der Künstler einen ganzen Stapel Kopien von der Zeichnung gemacht und an seine Freunde ausgeteilt hatte. Rodriguez erfuhr nie etwas davon.«
»Und diese Kopien...«, begann Partridge.
»Dazu kommen wir gleich, Harry.« Owens lächelte, er ließ sich auch weiterhin nicht drängen. »Fiona ist inzwischen wieder in San Francisco, und sie hing den ganzen Nachmittag an der Strippe. Es war 'ne Wahnsinnsarbeit, weil der 72er EnglischJahrgang dreihundertachtundachtzig Studenten hatte. Aber sie schaffte es, ein paar Namen und Telefonnummern aufzutreiben, und da führte eins zum anderen. Kurz vor unserem Treffen hat sie mich noch angerufen und mir gesagt, daß sie eine dieser Kopien aufgetrieben hat und daß sie die morgen bekommt. Sobald sie da ist, faxt die Redaktion sie uns 'rüber.«
Am Tisch entstand zustimmendes Gemurmel. »Gute Arbeit«, sagte Chippingham. »Richte Fiona meinen Dank aus.«
»Vielleicht sollte man das Ganze trotzdem nicht überbewerten«, gab Owens zu bedenken. »Was wir im Augenblick haben, sind nur ein paar glückliche Zufälle, und es ist ja auch nur eine Vermutung, daß Rodriguez an der Entführung beteiligt war. Außerdem ist diese Kohlezeichnung zwanzig Jahre alt.«
»So stark verändern sich die Leute auch in zwanzig Jahren nicht«, sagte Partridge. »Wir können das Bild ja in Larchmont herumzeigen und die Leute fragen, ob sie den schon einmal gesehen haben. Sonst noch etwas?«
»Die Washingtoner Redaktion hat sich gemeldet«, sagte Rita. »Soweit die wissen, hat das FBI noch nichts Neues. Ihre Spurensicherung arbeitet an dem, was von dem Nissan noch übrig ist, aber große Hoffnungen machen sie sich nicht. Wie schon Salerno in der Freitagssendung gesagt hat, bei Entführungen ist das FBI darauf angewiesen, daß die Entführer sich melden.«
Partridge sah Sloane am anderen Ende des Tisches an. »Tut mir leid, Crawf, aber das scheint alles zu sein, was wir haben.«
»Bis auf Teddys Vorschlag«, gab Rita zu bedenken.
»Welchen Vorschlag?« fragte Sloane scharf. »Davon weiß ich ja gar nichts.«
»Teddy wird's dir erklären«, sagte Partridge. Er nickte dem jungen Engländer zu, der ebenfalls am Tisch saß, und Coopers Gesicht leuchtete auf, als sich alle Aufmerksamkeit auf ihn richtete.
»Es ist eine Möglichkeit, das Versteck der Entführer ausfindig zu machen. Obwohl ich mir sicher bin, daß sie inzwischen verschwunden sind.«
»Wenn sie wirklich verschwunden sind, was bringt es uns dann noch?« fragte Chippingham.
Sloane winkte ungeduldig ab. »Das ist doch unwichtig. Ich will den Vorschlag hören.«
Trotz des Zwischenrufs antwortete Cooper zuerst auf Chippinghams Frage. »Spuren. Es besteht immer die Möglichkeit, daß die Leute Spuren hinterlassen, die uns zeigen, wer sie sind, woher sie kommen und vielleicht sogar, wohin sie verschwunden sind.«
Cooper wiederholte nun seinen Vorschlag, mit großem Personaleinsatz die Immobilienanzeigen der Zeitungen aus der Region um Larchmont zu durchforsten, um so dem Versteck der Entführer auf die Spur zu kommen.
»Ich gebe zu, daß es eine sehr unsichere Sache ist«, sagte er schließlich.
»Und das ist noch gelinde ausgedrückt«, entgegnete Chippingham. Er hatte während Coopers Erläuterung die Stirn in Falten gelegt, und diese Falten wurden bei dem Vorschlag, zusätzliches Personal einzustellen, noch tiefer. »Um wie viele Leute geht es?«
»Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt«, antwortete Rita. »In dem Gebiet, von dem wir reden, gibt es ungefähr einhundertundsechzig Tages- und Wochenzeitungen. In den Bibliotheken werden nur die allerwenigsten davon aufbewahrt, und das heißt, daß man direkt in die Redaktionen gehen und dort die Archive durchstöbern müßte. Die Ausgaben von drei Monaten durchzulesen und sich Notizen zu machen, ist eine gigantische Arbeit. Aber wenn es etwas bringen soll, müßte es schnell geschehen... «
»Kann jetzt vielleicht jemand meine Frage beantworten«, warf Chippingham dazwischen. »Wie viele Leute?«
»Ich schätze, ungefähr sechzig«, erwiderte Rita. »Und dann noch ein paar für die Koordination.«
Chippingham wandte sich an Partridge: »Harry, willst du mir das allen Ernstes empfehlen?« Sein Tonfall deutete an: So verrückt kannst du doch gar nicht sein!
Partridge zögerte. Er teilte Chippinghams Zweifel. Auf der Rückfahrt von White Plains hatte er bereits darüber nachgedacht und Teddys Vorschlag als Spinnerei abgetan; und seitdem hatte er seine Meinung noch nicht geändert. Doch manchmal war es nicht schlecht, überlegte er nun, wenn man sich auf etwas einließ, auch wenn es nur eine unsichere Sache war.
»Ja, Les«, sagte er. »Ich empfehle es. Meiner Meinung nach sollten wir alles versuchen. Im Augenblick leiden wir ja nicht gerade unter einem Überfluß an Spuren und neuen Ideen.«
Chippingham war unglücklich über die Antwort. Ihm war unbehaglich bei dem Gedanken, über Wochen hinweg sechzig Leute bezahlen und auch noch für Reisekosten und andere Spesen aufkommen zu müssen - ganz zu schweigen von dem zusätzlichen Koordinationspersonal, das Rita erwähnt hatte. Solche Aktionen kosteten horrende Summen. Früher, als man beim Fernsehen noch spendabler war, hätte er sich darüber kaum den Kopf zerbrochen. Aber nun klang ihm noch Margot Lloyd-Masons Anweisung bezüglich der Spezialeinheit in den Ohren: »Ich will nicht, daß irgend jemand... nun plötzlich wild mit Geld um sich wirft... Ohne meine vorherige Zustimmung darf nichts unternommen werden, was unser Budget überschreitet.«
Doch Chippingham lag nicht weniger als allen anderen daran, herauszufinden, wohin man Jessica, den Jungen und den alten Mann gebracht hatte, und wenn nötig, würde er sich mit Margot um das erforderliche Geld streiten. Aber dann mußte es für etwas sein, von dem er auch selbst überzeugt war, und nicht nur ein Hirngespinst dieses arroganten Engländers.
»Harry, dieses eine Mal sage ich nein, zumindest für den Augenblick«, verkündete Chippingham. »Ich sehe einfach nicht genug Erfolgschancen, um diesen Aufwand zu rechtfertigen.« Wenn die anderen wüßten, daß der Gedanke an Margot seine Entscheidung beeinflußt hatte, dann hätten sie ihn einen Feigling genannt, das wußte er nur zu gut. Aber schließlich hatte er Probleme - nicht zuletzt die Angst, seinen Job zu verlieren -, von denen die anderen auch nichts wußten.
»Ich hätte geglaubt, Les...«, begann Jaeger.
Doch Crawford Sloane unterbrach ihn. »Laß mich reden, Norm.« Während Jaeger verstummte, wurde die Stimme des Moderators scharf: »Wenn du davon sprichst, daß der Aufwand nicht gerechtfertigt ist, Les, dann meinst du doch in Wahrheit, daß du das Geld dafür nicht ausgeben willst, oder?«
»Das ist ein Faktor, und du weißt, daß das immer eine Rolle spielt. Aber es ist vorwiegend eine Frage der Einschätzung. Ich halte den Vorschlag nicht für eine gute Idee.«
»Hast du vielleicht eine bessere?«
»Im Augenblick nicht.«
»Dann habe ich eine Frage, und ich hätte gern eine ehrliche Antwort«, sagte Sloane eisig. »Hat Margot Lloyd-Mason eine Ausgabensperre verhängt?«
»Wir haben über das Budget gesprochen, das ist alles«, antworte Chippingham unbehaglich. »Kann ich dich unter vier Augen sprechen?«
»Nein!« brüllte Sloane, sprang auf und sah Chippingham böse an. »Nicht wegen dieser kaltherzigen Hexe. Du hast meine Frage beantwortet. Es gibt eine Ausgabensperre.«
»Das ist ohne Bedeutung. Wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht, rufe ich einfach in Stonehenge an... «
Nun explodierte Sloane: »Und ich werde eine Pressekonferenz einberufen - und zwar hier und heute abend noch. Dann werde ich der ganzen Welt erzählen, daß dieser reiche Sender wie ein pedantischer Buchhalter um Pfennige feilscht, während meine Familie in irgendeinem Höllenloch weiß Gott wo auf der Welt leidet...«
»Niemand feilscht«, protestierte Chippingham. »Crawf, das ist unnötig. Es tut mir leid.«
»Und was zum Teufel soll das nützen?«
Die anderen am Tisch trauten ihren Ohren kaum. Sie konnten einfach nicht glauben, daß über ihr Projekt in aller Stille eine Ausgabensperre verhängt worden war, und daß sie in der augenblicklichen verzweifelten Situation nicht alle Möglichkeiten ausprobieren durften.
Noch etwas anderes war ähnlich unglaublich: daß CBA seinen berühmtesten Mitarbeiter, den Chefsprecher der Abendnachrichten, auf diese Weise beleidigte. Margot Llyod-Mason war erwähnt worden; und daraus konnte man nur schließen, daß sie die axtschwingende Hand von Globanic Industries war.
Nun stand auch Norman Jaeger auf, es war die einfachste Form des Protests. »Harry glaubt, wir sollten Teddys Vorschlag eine Chance geben. Ich bin der gleichen Meinung.«
»Ich auch«, sagte Carl Owens.
»Und ich ebenfalls«, sagte Iris Everly danach.
Rita war noch etwas unentschlossen, sie machte sich Sorgen wegen Chippingham, doch schließlich sagte sie: »Na, dann schließe ich mich auch an.«
»Okay, okay, genug der großen Gesten«, sagte Chippingham. Er merkte nun, daß er sich verrechnet hatte, und da er wußte, daß er so oder so nur verlieren konnte, verfluchte er insgeheim Margot. »Ich revidiere meine Entscheidung. Vielleicht hatte ich unrecht, Crawf. Also fangen wir an.«
Doch er hatte nicht vor, zu Margot zu gehen und sie um Erlaubnis zu bitten; er wußte viel zu gut, was sie antworten würde. Er wollte das Risiko eingehen und die Ausgaben selbst genehmigen.
Rita, die wie immer praktisch dachte und die Situation entschärfen wollte, sagte: »Wenn wir die Sache machen, dann dürfen wir keine Zeit verlieren. Bis Montag morgen sollten wir die Rechercheure haben. Wo fangen wir an?«
»Wir werden uns an Onkel Arthur wenden«, entgegnete Chippingham. »Ich werde ihn heute noch von zu Hause anrufen, dann kann er morgen gleich mit der Auswahl der Leute beginnen.«
Crawford Sloanes Gesicht hellte sich auf. »Eine gute Idee.«
Teddy Cooper flüsterte Jaeger, der neben ihm saß, zu: »Wer zum Teufel ist Onkel Arthur?«
Jaeger grinste. »Du kennst Onkel Arthur nicht? Na, dann mach dich morgen auf ein einzigartiges Erlebnis gefaßt, mein junger Freund.«
»Die Drinks gehen auf mich«, sagte Chippingham. Und im Geist fügte er hinzu: Ich habe euch alle hierhergebracht, um kleine Wunden zu heilen.
Sie hatten sich alle bei Sfuzzi wiedergetroffen, einem Restaurant mit Bar im neorömischen Stil in der Nähe des Lincoln Center. Es war ein Stammlokal vieler Fernsehreporter. Obwohl das Sfuzzi, wie an jedem Samstagabend, restlos überfüllt war, schafften sie es doch, sich an einen Tisch zu zwängen, an den man einige zusätzliche Stühle gestellt hatte.
Chippingham hatte jeden eingeladen, der an der Konferenz teilgenommen hatte, doch Sloane hatte abgelehnt und es vorgezogen, mit Havelock, seiner FBI-Begleitung, nach Hause zu fahren. Dort würden sie wieder ein Nacht durchwachen, in der Hoffnung auf einen Anruf von den Entführern.
Als jeder mit Getränken versorgt und die Stimmung bereits etwas gelöst war, sagte Partridge: »Les, ich glaube, eins muß mal gesagt werden. Auch unter normalen Umständen möchte ich nicht mit dir tauschen. Aber vor allem in der augenblicklichen Situation zweifle ich daran, daß auch nur einer von uns mit den Problemen und den Leuten so umgehen kann wie du.«
Chippingham sah Partridge dankbar an und nickte. Für ihn war dieses Kompliment ein Zeichen des Verstehens von jemand, den er respektierte, und für die anderen ein Hinweis, daß nicht alles immer glattlief und nicht jede Entscheidung leicht zu treffen war.
»Harry«, sagte nun Chippingham. »Ich weiß, wie du arbeitest und daß du sehr schnell eine Gefühl für eine Situation entwickelst. Ist das bei dieser Geschichte auch schon passiert?«
»Ja, ich glaube schon.« Partridge warf Teddy Cooper einen flüchtigen Blick zu. »Teddy glaubt, daß diese Gauner das Land bereits verlassen haben, und ich bin zu dem gleichen Schluß gekommen. Aber mein Instinkt sagt mir auch, daß wir kurz vor einem Durchbruch stehen - entweder durch unser Zutun oder weil etwas passiert. Und dann wissen wir, wo und wer die Entführer sind.«
»Und dann?«
»Sobald wir das wissen«, sagte Partridge, »bin ich unterwegs. Gleichgültig, wohin die Spur führt, ich will so schnell wie möglich und vor allem als erster dort sein.«
»Das wirst du auch«, sagte Chippingham. »Und ich verspreche dir, du bekommst von mir jede Unterstützung, die du brauchst.«
Partridge lachte und sah sich am Tisch um. »Ihr habt das alle gehört. Vergeßt es nicht.«
»Auf keinen Fall«, sagte Jaeger. »Les, falls es nötig ist, werden wir dich an deine Worte erinnern.«
Chippingham schüttelte den Kopf. »Es wird nicht nötig sein.«
Während das Gespräch weiterging, schien Rita etwas in ihrer Tasche zu suchen. Doch in Wirklichkeit kritzelte sie eine Nachricht auf ein Stückchen Papier, das sie dann unter dem Tisch Chippingham verstohlen in die Hand drückte.
Er wartete, bis er einen Augenblick unbeobachtet war, und sah dann nach unten. Auf dem Papier stand: Les, hast du Lust, mit mir zu schlafen? Laß uns von hier verschwinden.
15
Sie fuhren in Ritas Wohnung an der West Seventy-second, nur wenige Taximinuten vom Sfuzzi entfernt. Chippingham wohnte etwas weiter nördlich, auf der Höhe Eightieth Street. Solange sein Scheidungsprozeß noch lief, mußte er sich mit einer kleinen, für New Yorker Verhältnisse billigen Wohnung begnügen, auf die er nicht gerade stolz war. Er vermißte die luxuriöse Eigentumswohnung am Sutton Place, die er zwanzig Jahre lang zusammen mit seiner Frau bewohnt hatte. Doch diese Wohnung war nun für ihn verbotenes Territorium, ein verlorenes Paradies. Dafür hatten Stasias Anwälte gesorgt.
Aber im Augenblick wollten er und Rita nur möglichst schnell allein sein. Schon im Taxi waren ihre Hände sehr beschäftigt, bis er zu Rita sagte: »Wenn du so weitermachst, explodiere ich wie der Vesuv, und dann kann's Monate dauern, bis der Vulkan wieder tätig wird.«
Lachend erwiderte sie: »Du doch nicht!« aber sie hörte dennoch auf.
Unterwegs ließ Chippingham den Taxifahrer an einem Zeitungskiosk anhalten. Er stieg aus und kehrte gleich darauf mit den Sonntagsausgaben der New York Times, der Daily News und der Post zurück.
»Wenigstens weiß ich jetzt, wie du deine Prioritäten setzt«, bemerkte Rita. »Ich hoffe nur, du willst sie nicht lesen, bevor wir... «
»Später«, erwiderte er, »viel, viel später.«
Noch während er das sagte, fragte er sich, ob er, was Frauen betraf, je erwachsen werde. Wahrscheinlich nicht, oder zumindest erst dann, wenn seine Libido auf kleinerer Flamme brannte. Er wußte, daß ihn einige Männer um seine Manneskraft beneideten, die wenige Monate vor seinem fünfzigsten Geburtstag kaum schwächer war als vor fünfundzwanzig Jahren. Aber diese permanente Lust hatte auch ihre Schattenseiten.
Während Rita ihn nun erregte, wie sie es auch früher schon des öfteren getan hatte, und er wußte, daß Augenblicke des gemeinsamen Vergnügens vor ihnen lagen, wußte er doch auch, daß er sich in einer oder zwei Stunden fragen würde: Ist das den ganzen Ärger wert? Und ähnlich stellte er sich auf die Frage, ob seine sexuellen Exkursionen es wert waren, eine Frau zu verlieren, die er wirklich mochte, und gleichzeitig seine Karriere aufs Spiel zu setzen - eine Tatsache, die ihm Margot Lloyd-Mason bei ihrer letzten Unterredung allzu deutlich vor Augen geführt hatte.
Warum tat er es? Teilweise, weil er diesen Freuden, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, einfach nicht widerstehen konnte, und solche Gelegenheiten gab es im Nachrichtengewerbe unzählige. Dazu gehörte auch das Vergnügen an der Jagd, das nie nachließ, und schließlich das Eindringen und die körperliche Erfüllung - das Nehmen und das Geben, die beide gleich wichtig waren.
Les Chippingham führte ein sorgsam verstecktes Tagebuch, in das er seine sexuellen Eroberungen eintrug - eine Liste von Namen in einem speziellen Code, den nur er entziffern konnte. Und all diese Namen bedeuteten Frauen, die er gemocht, und einige, die er, zumindest eine Zeitlang, wirklich geliebt hatte.
Ritas Namen, den er erst kürzlich in das Buch aufgenommen hatte, war der einhundertsiebenundzwanzigste Eintrag. Chippingham versuchte, die Liste nicht als Trefferkarte zu sehen, aber in gewisser Weise war sie es.
Leute, die ein ruhigeres und unschuldigeres Leben führen, finden diese Zahl vielleicht übertrieben, ja, unglaubwürdig. Wer aber beim Fernsehen oder in anderen kreativen Bereichen, ob nun als Maler, Schauspieler oder Schriftsteller, arbeitet, wird diese Zahl ohne Zögern akzeptieren.
Chippingham bezweifelte, daß seine Frau auch nur eine ungefähre Vorstellung von der Anzahl seiner Seitensprünge hatte, und das brachte ihn auf eine Frage, die er sich schon oft gestellt hatte: Gab es eine Möglichkeit, ihre Ehe zu kitten und zu der Vertrautheit zurückzukehren, die er mit Stasia einmal erlebt hatte, obwohl sie von seinen Amouren wußte? Er wünschte sich, die Antwort könnte Ja lauten, aber er wußte, daß es zu spät war. Stasias Verbitterung war zu stark, die Wunde saß zu tief. Vor einigen Wochen hatte er brieflich einen zaghaften Annäherungsversuch gemacht. Doch geantwortet hatte ihm Stasias Anwalt mit der Warnung, er, Chippingham, habe jede direkte Kontaktaufnahme mit seiner, des Anwalts, Klientin zu unterlassen.
Auch wenn dieses Spiel verloren war, so überlegte er nun, hinderte ihn doch nichts daran, das Vergnügen der nächsten Stunden mit Rita zu genießen.
Rita hatte sich ebenfalls Gedanken über Beziehungen gemacht, allerdings auf einer etwas einfacheren Ebene. Sie war unverheiratet geblieben, da sie bis jetzt noch keinen Mann kennengelernt hatte, an den sie sich auf Dauer hätte binden wollen. Sie wußte, daß auch diese Affäre mit Les keine Zukunft hatte. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, daß er zur Treue nicht fähig war. Er wechselte die Frauen mit einer Beiläufigkeit wie andere die Wäsche. Was ihn so unwiderstehlich machte, war dieser große, starke Körper mit allem, was dazugehört, und wegen dieses Körpers wurde ein sexuelles Abenteuer mit ihm zu einem euphorischen, glücklichen, himmlischen Traum. Als sie vor ihrer Wohnung eintrafen und Les das Taxi bezahlte, träumte sie bereits von ihm.
Rita verriegelte die Wohnungstür, und einen Augenblick später lagen sie sich schon in den Armen. Rita ging voran ins Schlafzimmer, Les folgte ihr, und noch auf dem Weg warf er sein Sakko zu Boden, zog sich die Krawatte vom Hals und knöpfte sein Hemd auf.
Das Schlafzimmer war typisch für Rita, ordentlich und doch auf eine lässige Art gemütlich mit den pastellfarbenen Stoffbezügen und den überall herumliegenden Kissen. Mit einer schnellen Bewegung zog sie die Tagesdecke vom Bett, faltete sie flüchtig zusammen und schleuderte sie in einen Sessel. Dann zog sie sich schnell aus und warf ihre Kleider in alle Richtungen, die unbewußte Geste einer Liebenden, die damit auch ihre Hemmungen Stück für Stück ablegte. Dabei lächelte sie Les an, und er erwiderte ihren Blick, während er aus seiner Unterhose stieg und sie zu Ritas Slip und BH warf.
Wie schon zuvor, gefiel ihm, was er sah.
Rita, die von Natur aus brünett war, hatte Anfang der Dreißig, als sich erste graue Strähnchen zeigten, begonnen, sich die Haare zu färben. Doch nach ihrem Wechsel von der Korrespondenten- in die Produzentenlaufbahn, der ja auch eine Veränderung ihres Images bedeutete, hatte sie der Natur ihren Lauf gelassen, und nun zeigten ihre Haare eine interessante Mischung aus Dunkelbraun und Silber. Auch ihre Figur war reifer geworden. »Man könnte sagen«, hatte Rita leicht spöttisch bemerkt, als Les sie das erste Mal nackt sah, »aus der Aphrodite, die ich mal war, ist eine solide Venus geworden.«
»Mir gefällt die Venus«, hatte er geantwortet.
Denn mit ihren sanft gerundeten Hüften und dem festen, hohen Busen brauchte sich Rita wirklich nicht zu verstecken.
Als sie den Blick senkte, sah sie, daß Les schon mehr als bereit war. Und doch kam er langsam zu ihr, er beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn, die Lider und den Mund. Dann umfaßte er sanft ihre Brüste mit beiden Händen und nahm abwechselnd ihre Warzen in den Mund. Ein wohliger Schauder lief ihr über den Rücken, als sie spürte, wie sie hart wurden.
Sie atmete schwer, und während jede Bewegung ihres Körpers ihre Lust noch erhöhte, ließ sie ihre Hand langsam, zärtlich über Les' Lenden gleiten, und sie tastete nach ihm mit behutsamen, erfahrenen Fingern. Sie spürte, wie sich sein ganzer Körper anspannte, hörte, wie es ihm beinahe den Atem verschlug, und dann ein sanftes, leises Stöhnen der Lust.
Zärtlich drückte Chippingham sie aufs Bett, während er mit Fingern und Zunge die süße, feuchte Wärme ihres Körpers erkundete. Und als beide es nicht mehr aushielten, glitt er in sie. Rita schrie auf, und Augenblicke später durchströmte ihren Körper ein letztes, herrliches Hochgefühl der Lust.
Rita ließ sich treiben, sie genoß die wenigen trägen Augenblicke, bevor ihr immer aktiver Verstand sie mit Fragen bedrängte. Die Liebe mit Les war immer so perfekt und makellos, daß sie sich fragte, ob es für alle Frauen so war, die mit ihm ins Bett gingen. Sie nahm an, daß es so war. Er hatte eine Art, mit dem Körper einer Frau umzugehen, die Rita - und wahrscheinlich alle anderen - bis zur Ekstase trieb. Und Ritas Erregung erhöhte sicherlich die seine. Doch erst nach ihrem fantastischen Höhepunkt - wie schön, daß sie ihn nicht vorspielen oder mühsam darauf hinarbeiten mußte! - explodierte auch er in ihr.
Später lagen sie dann tief und gleichmäßig atmend nebeneinander, und der Schweiß ihrer feuchten Körper vermischte sich zum herbsüßen Aroma der Liebe.
»Leslie Chippingham«, sagte Rita. »Hat dir schon einmal jemand gesagt, daß du der perfekteste Liebhaber der Welt bist?«
Er lachte und küßte sie. »Liebe ist Poesie. Und die Poesie lebt aus der Inspiration. In diesem Augenblick bist du die meine.«
»Mit Worten bist du aber auch nicht schlecht«, erwiderte sie. »Vielleicht solltest du im Nachrichtengeschäft arbeiten.«
Nach einer Weile schliefen sie ein, und beim Aufwachen liebten sie sich wieder.
Doch schließlich und unausweichlich trat der Sex in den Hintergrund, und Rita und Les wandten sich dem Stapel Zeitungen zu, die Les unterwegs gekauft hatte. Er nahm sich zuerst die Times vor, Rita die Post.
Beide verschlangen die neuesten Meldungen über die Entführungsgeschichte, die sich fast ausschließlich auf die Explosion in White Plains und die entstandene Verwüstung konzentrierten. Von einem rein professionellen Standpunkt aus war Rita froh, als sie sah, daß die Berichterstattung von CBA News alle wichtigen Punkte abgedeckt hatte. Die Printmedien brachten zwar ausführlichere Berichte mit mehr Reaktionen, doch die Fakten waren im wesentlichen dieselben.
Danach wandten sich Rita und Les anderen wichtigen nationalen und internationalen Meldungen zu, denen sie in den letzten Tagen weniger Aufmerksamkeit als sonst geschenkt hatten. Doch keiner der beiden beachtete einen einspaltigen Bericht, der versteckt in den Innenseiten der Post stand:
UN-DIPLOMAT TÖTET IN RASENDER EIFERSUCHT GELIEBTE UND SICH SELBST
Ein Diplomat bei den Vereinten Nationen, Jose Antonio Salaverry, und seine Freundin Helga Efferen wurden am Samstag erschossen in Salaverrys Wohnung an der 48th St. aufgefunden. Nach Polizeiangaben handelte es sich bei der Tat um einen »Mord aus Eifersucht mit anschließendem Selbstmord«.
Salaverry war Mitglied der peruanischen Delegation bei den Vereinten Nationen. Helga Efferen, eine libanesische Immigrantin und jetzige amerikanische Staatsbürgerin, arbeitete in einer Filiale der American-Amazonas Bank an der Dag Hammerskjöld Plaza.
Die beiden Leichen wurden am frühen Samstagmorgen von einem Hausmeister entdeckt. Eine ärztliche Untersuchung ergab einen wahrscheinlichen Todeszeitpunkt zwischen 20 und 23 Uhr des vorangegangenen Tages. Die Polizei geht anhand der vorliegenden Indizien von der Vermutung aus, daß Salaverry, nachdem er entdeckt hatte, daß Helga Efferen seine Wohnung für sexuelle Eskapaden mit anderen Männern benutzte, aus Wut und Eifersucht, zuerst sie und dann sich selbst erschoß.
16
Mit der Anmut einer Seemöwe schwebte der Learjet 55LR durch die Nacht. Die Turbinen waren gedrosselt, und die Maschine senkte die Nase auf zwei parallele Lichtbänder, die die Landebahn eins-acht des Opa Locka Airport markierten. Hinter dem Flughafen funkelten die unzähligen Lichter von Miami, deren Reflexion wie ein riesiger Heiligenschein über der Stadt lag.
Miguel in seinem Sitz in der Passagierkabine sah aus dem Fenster, er hoffte, daß die Lichter Amerikas und alles, was sie repräsentierten, bald hinter ihm lägen.
Er sah auf die Uhr. 23 Uhr 18. Der Flug von Teterboro hatte etwas mehr als zweieinviertel Stunden gedauert.
Rafael im Sitz hinter ihm hatte den Blick starr auf die näher kommenden Lichter gerichtet. Socorro neben ihm schien zu dösen.
Miguel drehte sich zu Baudelio um, der noch immer mit seinen externen Kontrollgeräten die drei Särge überwachte. Baudelio nickte, es war offensichtlich alles in Ordnung, und Miguel wandte sich wieder einem Problem zu, das eben erst aufgetreten war.
Wenige Minuten zuvor war er ins Cockpit gegangen und hatte gefragt: »Wie lange braucht ihr in Opa Locka, um alles Nötige zu erledigen und uns wieder in die Luft zu bringen?«
»Normalerweise nicht länger als eine halbe Stunde«, antwortete Underbill, der Pilot. »Wir müssen nur auftanken und unseren Flugplan durchgeben.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Aber wenn der Zoll sich unser Flugzeug genauer ansehen will, kann es länger dauern.«
»In Opa Locka gibt es keine Zollkontrollen«, zischte Miguel.
Der Pilot nickte. »Stimmt schon. Im Normalfall kümmern die sich nicht um hinausgehende Flüge. Aber ich habe gehört, daß sie in letzter Zeit Stichproben machen, und manchmal eben auch bei Nacht.« Obwohl er versuchte, gelassen zu klingen, verriet seine Stimme, daß er sich Sorgen machte.
Miguel erschrak über diese Information. Was er und das Medellin-Kartell über die Regeln und Gepflogenheiten des amerikanischen Zolls in Erfahrung gebracht hatten, war der Grund gewesen, warum sie sich für Opa Locka als Ausreiseflugplatz entschieden hatten.
Wie Teterboro wurde auch Opa Locka ausschließlich von Privatflugzeugen benutzt. Wegen der hereinkommenden Auslandsflüge gab es dort eine Zolldienststelle - ein kleines, provisorisches Büro in einem Anhänger mit entsprechend geringer Belegschaft. Verglichen mit den großen Dienststellen in wichtigen internationalen Flughäfen wie Miami, New York, Los Angeles oder San Francisco, war die in Opa Locka wie eine arme Verwandte, die nicht die Mittel für eine umfassende Kontrolle hatte. Für gewöhnlich taten nur zwei Beamte Dienst, und auch das nur werktags zwischen 11 Uhr und 19 Uhr und sonntags zwischen 10 Uhr und 16 Uhr. Bei der Planung des Flugs mit dem Learjet war man davon ausgegangen, daß zu einer so späten Stunde die Dienststelle geschlossen und das Personal längst zu Hause sei.
Underhill fügte nun hinzu: »Falls noch jemand in der Dienststelle sitzt und sein Funkgerät eingestellt hat, kann er unseren Sprechverkehr mit dem Tower hören. Danach wird sich zeigen, ob der Zoll Interesse an uns hat oder nicht.«
Miguel merkte, daß er nichts tun konnte, außer zu seinem Platz zurückzukehren und abzuwarten. Als er wieder saß, spielte er in Gedanken alle Möglichkeiten durch.
Falls sie wirklich noch mit dem Zoll zu tun bekamen, so unwahrscheinlich das auch schien, würden sie erneut ihre Tarngeschichte benutzen. Socorro, Rafael und Baudelio mußten ihre Rollen spielen und Miguel die seine. Die Kontrollgeräte an den Särgen konnte Baudelio sehr schnell verschwinden lassen. Nein, das Problem war weniger die Tarngeschichte und alles, was dazugehörte, sondern die Vorschriften, die ein Zollinspektor befolgen mußte, wenn eine Leiche außer Landes gebracht wurde.
Miguel hatte sich die offiziellen Vorschriften genau angesehen, er kannte sie auswendig. Für jede Leiche mußten gewisse Papiere vorliegen - ein Totenschein, eine Freigabe von einem Gesundheitsamt und eine Einfuhrerlaubnis des Ziellandes. Der Paß des Toten war nicht nötig, aber - und das war der kritische Punkt - der Sarg mußte geöffnet und, nachdem der Inhalt kontrolliert war, versiegelt werden.
Miguel hatte sich in weiser Voraussicht alle nötigen Unterlagen beschafft. Zusätzlich hatte er noch die Unfallfotos, auf denen zwar nichts Konkretes zu erkennen war, die aber zu der Geschichte paßten, sowie die gefälschten Zeitungsausschnitte mit der Behauptung, die Leichen seien bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und verstümmelt.
Wenn also in Opa Locka der Zoll noch geöffnet war und ein Beamter sie kontrollieren wollte, dann waren ihre Papiere zwar in Ordnung, aber es stellte sich die Frage, ob der Beamte darauf bestehen würde, die Särge zu öffnen. Und weiter, wenn er erst einmal sämtliche Unterlagen und Berichte gelesen hatte, ob ihm dann überhaupt noch danach zumute war.
Wieder einmal spürte Miguel, wie die Spannung in ihm wuchs, während der Learjet glatt und problemlos landete und zum Hangar Eins rollte.
Der Zollinspektor Wally Amsler ging davon aus, daß sich irgendein fanatischer Schreibtischstratege in Washington diese Operation Egress ausgedacht haben mußte. Der (oder diejenige) lag inzwischen sicher schon schlafend im Bett, und genau dort wollte Wally nun auch sein, anstatt hier auf diesem gottverlassenen Opa Locka Airport herumzustehen, der weitab von allem lag und der nachts noch dazu verflucht einsam war. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht, und er und die beiden anderen Zollbeamten im Sondereinsatz mußten noch zwei Stunden absitzen, bevor sie die Operation Egress abhaken und nach Hause gehen konnten.
Die schlechte Laune war ungewöhnlich für Amsler, der im Grunde immer fröhlich und freundlich war, außer zu jenen, die das Gesetz brachen, das er vertrat. Dann konnte er kalt und hart sein und unerbittlich in seinem Pflichtgefühl. Eigentlich gefiel ihm seine Arbeit, nur die Nachtschichten mochte er nicht, und er vermied sie auch, sooft es ging. Erst vor einer Woche hatte er mit Grippe im Bett gelegen, und er fühlte sich noch immer nicht ganz gesund. Er hatte schon überlegt, ob er sich an diesem Abend krank melden sollte, dann aber beschlossen, es nicht zu tun. Und dann war da auch noch etwas anderes, das ihm in letzter Zeit Kummer machte - seine Stellung beim Zoll.
Obwohl er seit mehr als zwanzig Jahren gewissenhaft seine Arbeit tat, war er nicht so weit aufgestiegen, wie er es bei seinem Alter - er stand wenige Monate vor seinem fünfzigsten Geburtstag - eigentlich hätte erwarten können. Er war Inspektor, GS-9, und das war eigentlich nur ein Mannschaftsgrad, nicht mehr. Es gab genügend andere, die jünger waren als er und viel weniger Erfahrung hatten und trotzdem bereits zum Oberinspektor, GS-11, aufgestiegen waren. Von denen mußte er Befehle entgegennehmen.
Er hatte immer angenommen, daß man ihn eines Tages zum Oberinspektor befördern würde, aber inzwischen mußte er sich eingestehen, daß die Chancen dazu nicht eben günstig standen. War das gerecht? Er wußte es nicht. Seine Beurteilungen waren durchweg positiv, und er hatte seine Pflicht immer über alles andere gestellt, vor allem auch über seine privaten Interessen. Aber gleichzeitig hatte er sich nie besonders angestrengt, um in eine Führungsposition aufzusteigen, wie er auch keine spektakulären Leistungen oder Erfolge aufweisen konnte; vielleicht lag darin das Problem. Natürlich verdiente er auch als GS-9 nicht schlecht. Mit Überstunden und einer Sechs-TageWoche kam er auf etwa $ 50000 pro Jahr, und in fünfzehn Jahren würde er eine ansehnliche Pension erhalten.
Aber Gehalt und Pension waren nicht alles. Er brauchte etwas, um seinem Leben neuen Schwung zu geben, etwas, das ihn, wenn auch nur auf bescheidene Art, unvergeßlich machte. Er wünschte sich, daß so etwas passierte, und er meinte, es auch zu verdienen. Aber in Opa Locka, so spät in der Nacht und bei dieser Operation Egress, war das eher unwahrscheinlich.
Operation Egress war der Versuch einer stichprobenartigen Kontrolle von Flugzeugen, die das Land verließen. Natürlich konnten unmöglich alle überprüft werden, dazu fehlte dem Zoll das Personal. Deswegen schickte man unangekündigt und überfallartig ein Team von Inspektoren auf gewisse Flughäfen, die dann einige Stunden lang vorwiegend Privatmaschinen mit ausländischen Zielflughäfen kontrollierten. Häufig wurden solche Aktionen nachts abgewickelt.
Offiziell wollte man mit dem Programm dem illegalen Export von High-Tech-Geräten auf die Schliche kommen. Inoffiziell suchte der Zoll auch nach Geldbeträgen, die die festgesetzten Ausfuhrquoten überstiegen, vor allem nach Drogengeld. Inoffiziell deshalb, weil die amerikanische Zollgesetzgebung die Suche nach Geld nur dann zuließ, wenn ein »gerechtfertigter Grund« vorlag. Doch wenn bei der Suche nach etwas anderem große Geldbeträge entdeckt wurden, hatte der Zoll das Recht, sich damit zu beschäftigen.
Manchmal konnte Egress Erfolge vorweisen - gelegentlich sogar sensationelle. Aber so etwas passierte nie, wenn Amsler Dienst hatte, und das war ein Grund, warum er für dieses Programm nur wenig Begeisterung aufbringen konnte. Aber trotzdem war Egress dafür verantwortlich, daß er und zwei andere Inspektoren an diesem Abend in Opa Locka herumliefen, obwohl es bis jetzt weniger Auslandsflüge gegeben hatte als gewöhnlich und es unwahrscheinlich war, daß noch viele kamen.
Eins dieser wenigen Flugzeuge traf eben letzte Startvorbereitungen - ein Learjet aus Teterboro, der vor wenigen Minuten seinen Flugplan nach Bogota in Kolumbien durchgegeben hatte. Amsler war nun auf dem Weg zum Hangar Eins, um sich die Maschine anzusehen.
Opa Locka war, im Gegensatz zum übrigen Südflorida, ein sehr unattraktiver Ort. Sein Name leitete sich aus einem Wort der Seminole Indianer ab, opatishawockalocka, was hoher, trockener Hügel bedeutete. Die Beschreibung paßte, wie auch die modernere des Schriftstellers T. D. Allman, der Opa Locka ein verarmtes »Getto« nannte, das aussah wie »ein seit langem verlassener und verwüsteter Vergnügungspark«. Der benachbarte Flugplatz hatte, trotz des regen Flugverkehrs, nur wenige Gebäude, und das trockene, flache Gelände auf der Spitze des natürlichen Hügels wirkte fast wie eine Wüste.
In dieser Wüste war der Hangar Eins eine Oase.
Er war untergebracht in einem modernen, attraktiven weißen Gebäude, das darüber hinaus noch einen Luxusterminal beherbergte, in dem die Privatmaschinen, ihre Passagiere und Piloten versorgt wurden.
Siebzig Leute arbeiteten in Hangar Eins, und ihre Pflichten reichten von Reinigungsarbeiten im Inneren der Flugzeuge über das Wiederauffüllen der Bordküchen mit Speisen und Getränken bis hin zu mechanischen Wartungsarbeiten - kleinere Reparaturen und gründliche Überholungen. Andere kümmerten sich um die VIP-Lounges, die Duschen und um einen Konferenzsaal, der mit audiovisuellen Geräten, Telex, Telefax und Kopierern ausgestattet war.
Auf der anderen Seite einer fast, aber doch nicht ganz unsichtbaren Linie gab es ähnliche Einrichtungen für die Piloten und zusätzlich einen mit allen technischen Hilfsmitteln ausgestatteten Flugplanungsbereich. In diesem Bereich ging nun Zollinspektor Wally Amsler auf Underbill, den Piloten des Learjet, zu, der gerade einen Ausdruck mit Wetterdaten studierte.
»Guten Abend, Captain. Soviel ich weiß, fliegen Sie nach Bogota.«
Underbill sah hoch, und der Anblick der Uniform überraschte ihn nicht besonders. »Das stimmt.«
In Wirklichkeit entsprachen weder diese Antwort noch die Angaben im Flugplan der Wahrheit. Das eigentliche Ziel des Learjet war eine Staubpiste in den Anden in der Nähe von Sion in Peru, und es war beabsichtigt, nonstop dorthin zu fliegen. Aber die Instruktionen, die Underbill erhalten hatte und für deren Befolgung er äußerst großzügig entlohnt wurde, legten ausdrücklich fest, daß er Bogota als Flugziel angeben mußte. Im Prinzip war die Sache ohne Bedeutung, denn sobald er, und das war kurz nach dem Start, den Bereich der amerikanischen Luftraumkontrolle verließ, konnte er fliegen, wohin er wollte, und niemand würde sich mehr für ihn interessieren oder ihn überprüfen.
»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Amsler höflich, »möchte ich gerne Ihre Maschine und Ihre Passagiere kontrollieren.«
Underbill hatte etwas dagegen, aber er wußte, daß es sinnlos war, es auch zu sagen. Er hoffte nur, daß seine Passagiere, dieses komische Quartett, den Zollbeamten zufriedenstellen konnten, damit er seine Starterlaubnis bekam und endlich abheben konnte. Doch was ihm eigentlich Sorgen machte, waren nicht die Passagiere, sondern seine mögliche Verwicklung in eine Sache, von der er ja gar nichts wußte.
Denis Underbill hatte den Verdacht, daß an den Särgen etwas ungewöhnlich, vielleicht sogar illegal war. Er vermutete, daß sie entweder etwas anderes als Leichen enthielten, oder wenn Leichen, dann die von Opfern eines peruanischkolumbianischen Bandenkriegs, die außer Landes geschafft wurden, bevor die US-Behörden etwas merkten. Keinen Augenblick hatte er die Geschichte der Unfallopfer und der trauernden Familie geglaubt, die man ihm in Bogota bei den Verhandlungen über diesen Charterflug erzählt hatte. Wenn die Geschichte stimmte, warum dann die ganze Heimlichtuerei? Underbill war sich auch ziemlich sicher, daß zumindest zwei der Leute an Bord bewaffnet waren. Warum also dieser offensichtliche Versuch, das zu vermeiden, was nun passierte -eine Kontrolle durch den amerikanischen Zoll?
Obwohl Underbill der Learjet nicht gehörte - der Besitzer war ein reicher Geschäftsmann aus Kolumbien, wo die Maschine auch registriert war -, arbeitete er doch fast in eigener Regie und erhielt neben seinem Gehalt plus Spesen noch eine großzügige Profitbeteiligung. Sein Arbeitgeber wußte, da war sich Underbill ziemlich sicher, daß Aufträge dieser Art manchmal die Grenze des Legalen überschritten, aber offensichtlich vertraute der Mann darauf, daß Underbill mit solchen Situationen umgehen konnte und sein Flugzeug nicht in Gefahr brachte.
Underbill dachte nun an dieses Vertrauen und auch an sein finanzielles Interesse, und er beschloß, das Märchen von den Unfallopfern zu benützen, in der Hoffnung, damit sich selbst und das Flugzeug aus allem, was noch passieren mochte, heraushalten zu können.
»Es ist ein trauriger Anlaß«, sagte er dem Zollbeamten und erzählte die Geschichte, die er in Bogota gehört hatte und die, ohne das Underbill das wußte, von den Unterlagen in Miguels Besitz gestützt wurde.
Amsler hörte unverbindlich zu und erwiderte dann: »Gehen wir, Captain.«
Amsler kannte Typen wie Underbill und war nicht beeindruckt. Er hielt den Piloten für einen Glücksritter, der gegen entsprechende Bezahlung jede Fracht an jeden Ort flog und sich dann, falls Probleme auftauchten, als unschuldiges Opfer hinstellte, das von seinen Auftraggebern getäuscht wurde. In Amslers Augen waren Leute wie dieser Pilot allzuoft Gesetzesbrecher, die meistens auch noch ungeschoren davonkamen.
Gemeinsam gingen sie vom Hauptgebäude des Hangar Eins zu dem unter einem Vordach abgestellten Learjet 55LR. Die Seitentür der Maschine war offen, und Underhill stieg dem Inspektor voraus die Stufen hinauf in die Passagierkabine. »Lady and Gentlemen«, verkündete er, »wir haben freundlichen Besuch vom amerikanischen Zoll.«
In den fünfzehn Minuten seit der Landung waren die Medellin-Leute auf Miguels Befehl hin an Bord geblieben. Nachdem die Turbinen abgeschaltet waren und die beiden Piloten das Flugzeug verlassen hatten - Underhill, um den Flugplan anzumelden, Faulkner, um das Auftanken zu überwachen -, setzte sich Miguel mit den drei anderen zu einem ernsten Gespräch zusammen.
Er warnte sie vor der Gefahr einer Zollinspektion und schärfte ihnen ein, sich strikt an die vereinbarten Rollen in ihrer Tarngeschichte zu halten. Eine gewisse Anspannung lag in der Luft, vielleicht sogar ein wenig Angst, aber alle signalisierten ihre Bereitschaft. Socorro steckte sich mit Hilfe des Spiegels in ihrem Schminkkoffer wieder Pfefferkörner unter die unteren Lider, und ihre Augen füllten sich fast augenblicklich mit Tränen. Rafael weigerte sich diesmal, doch Miguel ließ ihn gewähren. Baudelio hatte seine Kontrollgeräte bereits versteckt, jedoch nicht, ohne sich zuvor ein letztes Mal zu vergewissern, daß die drei Opfer noch immer in tiefer Betäubung lagen und sich in den nächsten ein oder zwei Stunden nicht rühren würden, falls er sie unbeaufsichtigt lassen mußte.
Miguel machte deutlich, daß vorwiegend er reden würde. Die anderen sollten nur auf sein Stichwort hin etwas sagen.
Nach diesen Vorbereitungen war es für keinen mehr ein besonderer Schock, als Underhill den Zoll ankündigte und hinter ihm ein Beamter erschien.
»Guten Abend, Leute.« Amsler gab sich ebenso freundlich wie zuvor schon bei Underhill. Doch gleichzeitig sah er sich um und registrierte die Särge, die auf der einen Seite der Kabine festgezurrt waren, und die Passagiere auf der anderen Seite, von denen drei saßen und einer, Miguel, stand.
Miguel antwortete: »Guten Abend, Officer.« Er hatte ein Bündel Papiere und vier Pässe in der Hand. Die Pässe hielt er dem Beamten als erstes entgegen.
Amsler nahm sie, sah sie aber nicht an, sondern fragte: »Wo fliegen Sie hin, und was ist der Anlaß für diesen Flug?«
Da Amsler den Flugplan gesehen hatte, kannte er das Flugziel bereits und von Underbills Bericht auch den Anlaß. Aber es war typisch für die Beamten von Zoll und Einwanderungsbehörde, daß sie die Leute gleich am Anfang zum Reden brachten; manchmal enthüllten ihre Art oder gewisse Anzeichen von Nervosität mehr als die eigentliche Antwort.
»Es ist eine tragische Reise, Officer, die Trauer hat diese früher so glückliche Familie überwältigt.«
»Und Sie, Sir? Wie heißen Sie?«
»Meine Name ist Pedro Palacios. Ich bin ein enger Freund der Familie und hierhergekommen, um den Trauernden in der Not beizustehen.« Miguel benutzte den neuen Decknamen, auf den sein kolumbianischer Paß lautete. Der Paß war echt, und das Bild wirklich von ihm, aber der Name und die anderen Einträge, darunter ein erst wenige Tage zuvor eingestempeltes US-Einreisevisum, waren geschickte Fälschungen. »Meine Freunde haben mich gebeten, für sie zu sprechen, da ihr Englisch leider nicht ausreichend ist.«
Amsler betrachtete die Pässe in seiner Hand, suchte Miguels heraus und verglich das Foto mit dem Gesicht des Mannes. »Ihr Englisch ist ausgezeichnet, Senor Palacios.«
Miguel überlegte nur kurz und antwortete dann selbstbewußt: »Ich habe einen Teil meiner Ausbildung in Berkeley absolviert. Dieses Land liebe ich sehr. Wenn es nicht ein so trauriger Anlaß wäre, würde ich mich glücklich schätzen, hier zu sein.«
Amsler schlug die anderen Pässe auf und verglich die Fotos mit den Anwesenden. Dann sprach er Socorro an: »Madam, haben Sie verstanden, worüber wir eben sprachen?«
Socorro hob ihr tränenüberströmtes Gesicht. Ihr Herz schlug schnell. Stockend, ihr für gewöhnlich flüssiges Englisch unterdrückend, antwortete sie: »Ja... ein wenig.«
Amsler nickte und wandte sich wieder an Miguel. »Erzählen Sie mir davon.« Er deutete auf die Särge.
»Ich habe alle notwendigen Papiere... «
»Die sehe ich mir später an. Erzählen Sie erst einmal.«
Miguel gab seiner Stimme einen erstickten Klang. »Es war ein furchtbarer Unfall. Die Schwester dieser Dame, deren kleiner Sohn und ein älterer Herr, der ebenfalls zur Familie gehörte, waren hier auf Urlaub. Es passierte auf der Autobahn bei Philadelphia... Ein außer Kontrolle geratener Lastwagen kam quer über die Autobahn geschossen... stieß frontal mit dem Auto der Familie zusammen... alle Insassen wurden getötet. Es herrschte starker Verkehr zu dieser Zeit... weitere Autos kollidierten mit dem Wrack... noch mehr Tote... ein entsetzliches Feuer, das die Leichen - Mein Gott, die Leichen!«
Bei der Erwähnung der Leichen fing Socorro an zu jammern und zu schluchzen. Rafael hatte das Gesicht in den Händen vergraben, seine Schultern zuckten, und Miguel mußte zugeben, daß das noch wirkungsvoller war als Tränen. Baudelio sah einfach blaß und traurig aus.
Während er sprach, hatte Miguel den Zollinspektor sehr aufmerksam beobachtet. Aber der Mann zeigte keine Regung, er stand nur einfach da und hörte mit unergründlicher Miene zu. Nun streckte ihm Miguel die restlichen Unterlagen entgegen. »Es steht alles hier. Bitte, Officer, ich flehe Sie an - lesen Sie selbst.«
Diesmal nahm Amsler die Papiere und blätterte sie durch. Die Totenscheine schienen in Ordnung zu sein, und ebenso die behördliche Freigabe und die Einfuhrgenehmigung für Kolumbien. Dann las er die Zeitungsausschnitte, und bei den Worten »...verbrannte und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen...« drehte sich ihm der Magen um. Als nächstes kamen die Fotos. Ein flüchtiger Blick genügte, und er steckte sie wieder weg. Ihm fiel ein, daß er ja eigentlich daran gedacht hatte, sich krank zu melden. Warum zum Teufel hatte er das bloß nicht getan? Im Augenblick war ihm schon ganz übel, und der Gedanke an das, was er nun tun mußte, machte ihn noch kranker.
Miguel, der den Inspektor ansah, hatte keine Ahnung, daß Amsler sich genauso unbehaglich fühlte wie er selbst, wenn auch aus anderen Gründen.
Wally Amsler zweifelte nicht an dem, was er bis jetzt gehört und gesehen hatte. Die Papiere waren in Ordnung, Zeitungsausschnitte und Fotos bestätigten die Geschichte, und kein Mensch, so dachte er, konnte die Trauer, die er hier erlebte, nur vortäuschen. Amsler war selbst ein anständiger Familienvater, er hatte Mitleid mit diesen Leuten und wünschte sich, er könne sie einfach abfliegen lassen. Aber das war nicht möglich. Das Gesetz schrieb vor, daß die Särge geöffnet und inspiziert werden mußten, und genau das war der Grund für seinen Kummer.
Denn Wally hatte eine Schwäche. Er konnte den Anblick von Leichen nicht ertragen, und schon der Gedanke, die verstümmelten Überreste ansehen zu müssen, die Palacios selbst und danach der Zeitungsausschnitt erwähnt hatten, erfüllte ihn mit Entsetzen.
Angefangen hatte das Problem damit, daß man Wally als achtjährigen Jungen zwang, seine tote Großmutter, die bereits im Sarg lag, zu küssen. Bei der Erinnerung an das wächserne, leblose Fleisch, das er mit den Lippen berühren mußte, obwohl er protestierend und schreiend um sich schlug, lief ihm noch heute ein Schauer über den Rücken. Von da an wollte Wally nie mehr in seinem Leben eine Leiche sehen. Als Erwachsener erfuhr er dann, daß die Psychiatrie einen Namen für seine Abneigung hatte - Nekrophobie. Doch das half ihm auch nichts. Er wollte nur, daß man ihm die Leichen vom Hals hielt.
Nur ein einziges Mal hatte er in seinen vielen Jahren als Zollinspektor dienstlich mit einem Toten zu tun gehabt. Damals traf spätnachts die Leiche eines Amerikaners aus dem Ausland ein. Amsler arbeitete in dieser Nacht alleine. Im Paß des Verstorbenen war dessen Gewicht mit siebzig Kilo angegeben. Doch das Frachtgut wog über einhundertvierzig Kilo. Auch wenn man das Gewicht des Sargs und des Containers abrechnete, war der Unterschied noch sehr verdächtig, und Amsler ließ deshalb widerwillig den Sarg öffnen. Das Resultat war entsetzlich.
Der Tote im Sarg war fett, er hatte seit der Ausstellung des Passes enorm zugenommen. Doch schlimmer war noch, daß der Tod und eine verpfuschte Einbalsamierung die Leiche fürchterlich aufgebläht hatten; auch hatte die Verwesung bereits eingesetzt, was einen ekelerregenden Gestank verursachte. Als Amsler diesen abscheulichen Geruch einatmete, konnte er gerade noch mit einer verzweifelten Handbewegung andeuten, man solle den Sarg wieder schließen. Dann lief er hinaus und übergab sich. Noch Tage danach war ihm übel, der entsetzliche Gestank ging ihm nicht mehr aus der Nase; und nun kehrte die Erinnerung an diese Abscheulichkeiten zurück.
Doch stärker als diese Erinnerung und stärker als seine Ängste war sein unerbittliches Pflichtbewußtsein. Und deshalb sagte er zu Miguel: »Es tut mir aufrichtig leid, aber die Vorschriften verlangen eine Öffnung der Särge.«
Genau das hatte Miguel am meisten befürchtet. Er machte noch einen letzten Versuch, den Beamten mit einem Appell an den gesunden Menschenverstand zu überzeugen. »Officer, bitte! Ich flehe Sie an. Es ist doch so schon genug Schmerz, genug Leid. Wir sind Freunde Amerikas. Man wird doch um des Mitleids willen eine Ausnahme machen können.«
Er wandte sich in Spanisch an Socorro: »El hombre quiere abrir los ataüdes.«
Sie schrie entsetzt auf: »Ay, no! Madre de Dios, no!«
»Le suplicamos, senor. En el nombre de decencia, por favor, no!« flehte nun auch Rafael.
Baudelio flüsterte mit aschfahlem Gesicht: »Por favor, no lo haga, senor! No lo haga!«
Ohne die Sätze im einzelnen zu verstehen, begriff Amsler doch das wesentliche von dem, was er eben gehört hatte. Er wandte sich an Miguel: »Bitte sagen Sie Ihren Freunden, daß ich die Vorschriften nicht gemacht habe. Es macht mir nicht immer Spaß, sie auszuführen, aber es ist meine Arbeit und meine Pflicht.«
Miguel hatte bereits resigniert. Es war sinnlos, diese Farce weiterzuspielen. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen.
Der Idiot vom Zoll plapperte weiter. »Ich schlage vor, die Särge aus dem Flugzeug zu nehmen und sie an einen ungestörten Ort zu bringen. Ihr Pilot kann das arrangieren. Er kann von Hangar Eins Hilfe anfordern.«
Miguel wußte, daß er das nicht zulassen durfte. Die Särge durften das Flugzeug auf keinen Fall verlassen. So blieb ihm noch ein Ausweg - Waffengewalt. Sie hatten es nicht bis hierher geschafft, um jetzt vor einem einzigen Zollbeamten, diesem cabrön, zu kapitulieren; er würde den Mann entweder töten oder ihn gefangennehmen und in Peru exekutieren. Die nächsten Sekunden würden das entscheiden. Man mußte auch die Piloten mit Waffengewalt in Schach halten, denn sonst könnten sie sich, aus Angst vor Konsequenzen, weigern zu starten. Miguel ließ die Hand unter die Jacke gleiten. Er spürte die Makarow 9 mm, die er bei sich trug, und entsicherte sie. Er warf Rafael einen flüchtigen Blick zu, der große Mann nickte. Socorro hatte die Hand bereits in ihrer Tasche.
»Nein«, sagte Miguel. »Die Särge bleiben, wo sie sind.« Er veränderte leicht seine Position, so daß er zwischen dem Beamten, den beiden Piloten und der offenen Tür stand. Seine Finger schlossen sich um die Pistole. Es war soweit. Jetzt!
In diesem Augenblick, eine fremde Stimme: »Echo eins-sieben-zwei. Sector.«
Die Stimme überraschte jeden außer Wally Amsler, der an die Meldungen aus dem Walkie-Talkie an seinem Gürtel gewöhnt war. »Sector, hier Echo eins-sieben-zwei.«
»Echo eins-sieben-zwei«, kam krächzend eine Männerstimme. »Verlassen Sie Ihren augenblicklichen Einsatzort, und melden Sie sich unverzüglich über Telefon bei Lima zwei-sechs-acht auf vier-sechs-sieben vierundzwanzig vierundzwanzig. Vermeiden Sie jeden Funkkontakt, wiederhole, kein Funkkontakt.«
»Sector. Zehn-vier. Echo eins-sieben-zwei verstanden und over.« Während Amsler seine Bestätigung durchgab, hatte er Mühe, sich seine Erleichterung nicht an der Stimme anmerken zu lassen. Im allerletzten Augenblick war die Rettung gekommen - ein deutlicher Befehl, den er befolgen mußte. Lima zwei-sechs-acht war der Code des Einsatzleiters für das Einzugsgebiet von Miami, und »unverzüglich« bedeutete in der Ausdrucksweise seines Vorgesetzten: »Setz deinen Arsch in Bewegung!« Amsler kannte auch die Telefonnummer, die man ihm durchgegeben hatte, es war die der Frachtabteilung von Miami International.
Die Nachricht bedeutete höchstwahrscheinlich, daß der Zoll einen Hinweis auf einen hereinkommenden Flug mit Schmuggelware erhalten hatte - die meisten Fahndungserfolge kamen auf diese Weise zustande - und daß man Amsler als Verstärkung benötigte. Und um diesen Hinweis geheimzuhalten, hatte er den Befehl, nicht sein Funkgerät, sondern ein Telefon zu benutzen. Nun mußte er so schnell wie möglich zum nächsten Apparat.
»Man hat mich abberufen, Senor Palacios«, sagte er. »Ich gebe Ihren Flug frei, Sie können starten.«
Während Amsler hastig die notwendigen Unterlagen ausfüllte, merkte er gar nicht, daß die Spannung in der Kabine plötzlich nachließ und sich nicht nur unter den Passagieren, sondern auch den Piloten Erleichterung ausbreitete. Underhill und Miguel wechselten Blicke. Dem Piloten waren die Vorbereitungen zum Waffeneinsatz nicht entgangen, und er fragte sich nun, ob er vor dem Abflug die Aushändigung der Pistolen verlangen sollte. Doch als er Miguels eisigem Blick begegnete, beschloß er, es lieber sein zu lassen. Verzögerungen und Komplikationen hatte es schon genug gegeben. Er zog es vor, so schnell wie möglich zu starten.
Als Amsler wenige Augenblicke später auf den Hangar Eins und das nächste Telefon zulief, hörte er, wie sich die Tür des Learjets schloß und die Turbinen angeworfen wurden. Er war froh, diese Episode hinter sich zu haben, und fragte sich schon, was ihn am Miami International erwartete. Vielleicht die große, entscheidende Sache, auf die er schon so lange hoffte?
Weit oben schwebte der Learjet 55LR durch die Nacht, der Luftraum der Vereinigten Staaten lag bereits hinter ihm, und er nahm Kurs auf Sion in Peru.