Wolfgang Herrndorf
Sand

ERSTES BUCH: DAS MEER

1. TARGAT AM MEER

Wir schicken jedes Jahr — und scheuen dabei weder Leben noch Geld — ein Schiff nach Afrika, um Antwort auf die Fragen zu finden: Wer seid ihr? Wie lauten eure Gesetze? Welche Sprache sprecht ihr? Sie aber schicken nie ein Schiff zu uns.

Herodot

Auf der Lehmziegelmauer stand ein Mann mit nacktem Oberkörper und seitlich ausgestreckten Armen, wie gekreuzigt. Er hatte einen verrosteten Schraubenschlüssel in der einen Hand und einen blauen Plastikkanister in der anderen. Sein Blick fiel über Zelte und Baracken, Müllberge und Plastikplanen und die endlose Wüste hinweg auf einen Punkt am Horizont, über dem in Kürze die Sonne aufgehen musste.

Als es so weit war, schlug er Schraubenschlüssel und Plastikkanister gegeneinander und rief: «Meine Kinder! Meine Kinder!»

Die östlichen Wände der Baracken flammten hellorange auf. Der hohle, schleppende Rhythmus sank in die bleigrauen Gassen hinab. In Kuhlen und Gräben wie Mumien liegende verschleierte Gestalten erwachten, rissige Lippen formten Worte zu Lob und Preis des alleinigen Gottes. Drei Hunde tauchten ihre Zungen in eine schlammige Pfütze. Die ganze Nacht über war die Temperatur nicht unter dreißig Grad gesunken.

Unbeeindruckt hob sich die Sonne über den Horizont und schien über Lebende und Tote, Gläubige und Ungläubige, Elende und Reiche. Sie schien über Wellblech, Sperrholz und Pappe, über Tamarisken und Dreck und eine dreißig Meter hohe Barriere aus Müll, die Salzviertel und Leeres Viertel von den übrigen Bezirken der Stadt trennte. Ungeheure Mengen von Plastikflaschen und entkernten Autos erstrahlten in ihrem Licht, Pylonen aus aufgeklopften Batteriegehäusen, zerschroteten Ziegeln, Schamott, Gebirge aus Fäkalschlamm und Tierkadavern. Über die Barriere hinweg hob sich die Sonne und beschien die ersten Häuser der Ville Nouvelle, vereinzelte zweistöckige Gebäude im spanischen Stil und die bröckeligen Minarette der Vorstadt. Lautlos glitt sie über die Rollbahn des Militärflughafens, die Tragflächen einer verlassenen Mirage 5, den Suq und die angrenzenden Verwaltungsgebäude von Targat. Ihr Licht glänzte auf herabgelassenen Metallrouleaus kleiner Handwerksgeschäfte und drang durch die Fensterläden des zu dieser Stunde noch unbesetzten Zentralkommissariats, wanderte die von Halfagras gesäumte Hafenstraße hinauf, rieselte am zwanzigstöckigen Sheraton-Hotel hinunter und erreichte kurz nach sechs Uhr das vom Küstengebirge sanft abgeschirmte Meer. Es war der Morgen des 23. August 1972.

Kein Wind wehte, keine Welle ging. Wie eine Panzerplatte dehnte sich das Meer bis zum Horizont. Ein großes Kreuzfahrtschiff mit gelben Schornsteinen und erloschenen Lichterketten lag schlafend vor Anker, leere Champagnergläser standen auf der Reling.

Der Reichtum, wie unser Freund mit dem blauen Plastikkanister zu sagen pflegte, der Reichtum gehört allen. Holt ihn euch.

2. DAS ZENTRALKOMMISSARIAT

You know what happened to the Greeks? Homosexuality destroyed them. Sure, Aristotle was a homo, we all know that, so was Socrates. Do you know what happened to the Romans? The last six Roman emperors were fags.

Nixon

Polidorio hatte einen IQ von 102, errechnet nach einem Fragebogen für französische Schulkinder im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren. Den Fragebogen hatten sie im Kommissariat als Packpapier für in Marseille gedruckte Formulare gefunden und nacheinander mit Bleistift ausgefüllt, in der vorgeschriebenen Zeit. Polidorio war schwer betrunken gewesen. Canisades auch. Es war die lange Nacht der Akten.

Zweimal im Jahr wurden auf den Fluren Berge aus Papier aufgetürmt, flüchtig durchgesehen und im Hof verbrannt, eine lästige Pflicht, die oft bis zum Morgengrauen dauerte und traditionell an den Dienstjüngsten hängenblieb. Warum manche Akten weggeworfen und andere aufbewahrt wurden, konnte niemand erklären. Man hatte die Verwaltung von den Franzosen übernommen, wie man eine Höflichkeitsformel übernimmt, und der bürokratische Aufwand stand in keinem Verhältnis zum Nutzen. Die wenigsten Angeklagten konnten lesen und schreiben, Gerichtsverfahren waren kurz.

Mitten in der Nacht hatte es im Kommissariat einen Stromausfall gegeben, Polidorio und Canisades waren stundenlang damit beschäftigt gewesen, jemanden aufzutreiben, der einen Vierkantschlüssel für den Sicherungskasten besaß. Eine Weile hatten sie bei Kerzenschein weitergearbeitet, und unter dem Einfluss von Kif und Alkohol war ihre Ermüdung in Euphorie umgeschlagen. Sie veranstalteten im Hof Schneeballschlachten mit zerknülltem Papier und auf den Gängen eine Verfolgungsjagd mit rollenden Aktenschränken. Canisades erklärte sich zu Emerson Fittipaldi, Polidorio setzte mit einer Zigarette einen Abfallhaufen in Brand, dann fiel aus einer umgestürzten Hängeregistratur ein Packen Spezialausweise aus der Kolonialzeit. Sie spannten die Ausweise in die Schreibmaschine, trugen Phantasienamen ein und stolperten damit im Licht des hereinbrechenden Tages gemeinsam ins Bordell («Sonderermittler des Tugendkomitees, Bédeux mein Name»).

Und davor eben der verhängnisvolle IQ-Test. An die meisten Erlebnisse dieser fatalen Nacht konnte Polidorio sich hinterher nur noch undeutlich erinnern. Aber das Testergebnis blieb hängen. Einhundertzwei.

«Alkohol, Stress, Stromausfall!», rief Canisades, eine kleinbusige Schwarze auf jedem Knie. «Ist das eine Entschuldigung? Runden wir einfach auf hundert ab.»

Canisades’ Ergebnis hatte deutlich höher gelegen. Um wie viel höher, selbst daran konnte Polidorio sich nicht erinnern. Aber die eigene Zahl stand von nun an festbetoniert in seinem Gedächtnis. Obwohl er sicher war, dass er im nüchternen Zustand mehr Punkte erzielt hätte — nicht mehr als Canisades, aber mehr auf jeden Fall — , fiel ihm das jetzt jedes Mal wieder ein, wenn er etwas nicht verstand. Wenn er etwas mühsamer begriff als andere, wenn er Sekundenbruchteile später über einen Witz lachte als seine Kollegen.

Polidorio hatte sich immer für einen verständigen und begabten Menschen gehalten. Wenn er nun zurückblickte, wusste er nicht, worauf sich diese Überzeugung gegründet hatte. Er war ohne große Schwierigkeiten durch die Schule, die Ausbildung, die Prüfungen gekommen, aber mehr auch nicht. Immer Mittelfeld, immer Durchschnitt. Und nichts anderes besagte die Zahl ja auch: Durchschnitt.

Die Erkenntnis, nichts Besonderes zu sein, überfällt die meisten Menschen einmal in ihrem Leben, nicht selten gegen Ende der Schulzeit oder zu Beginn der Berufsausbildung, und die intelligenteren eher als die unintelligenten. Aber nicht alle leiden gleich stark darunter. Wer mit den Idealen des persönlichen Verdienstes, der Leistung, des Herausragens als Kind nicht ausreichend vertraut gemacht worden ist, wird das Bewusstsein blasser Durchschnittlichkeit vielleicht hinnehmen wie eine zu große Nase oder zu dünnes Haar. Andere wieder reagieren darauf mit den bekannten Fluchtbewegungen, die von exzentrischer Kleidung über exzentrisches Leben bis hin zur ehrgeizigen Suche nach einem Selbst reichen können, das im eigenen Innern vermutet wird wie ein prächtiger verborgener Schatz, welchen die gnädige Psychoanalyse auch dem letzten Trottel zugesteht. Und die Sensiblen reagieren mit einer Depression.

Schon ein paar Tage nachdem Canisades die herrlichen Erlebnisse der Nacht dem gesamten Kollegen- und Bekanntenkreis weitererzählt hatte, stand Polidorio vor seinem Fach mit der Nummer 703 und sah, dass irgendein Witzbold mit Kugelschreiber aus der 7 eine 1 und aus der 3 eine 2 gemacht hatte.

Achtundzwanzig Jahre lang hatte er keinen Gedanken an die Höhe und Messbarkeit seiner Intelligenz verschwendet — jetzt dachte er manchmal an nichts anderes mehr.

3. KAFFEE UND MIGRÄNE

Ein Verrückter natürlich, so einer, der die Hosen voll hat und lauter erlesene Gefühle in sich spürt, der ist immer fein raus.

Joseph Conrad

«Und interessiert mich das? Das kannst du irgendwem erzählen, deinen Briketts kannst du das erzählen, aber nicht mir.» Polidorio hatte sich Kaffee eingeschenkt und rührte ihn mit dem Kugelschreiber um. Die blauen Fensterläden waren geschlossen bis auf einen schmalen Spalt weißer Mittagshitze. «Und du kannst hier auch nicht einfach reinkommen und irgendwen anschleppen. Hollerith-Maschinen! Du weißt nicht mal, was das ist. Und das interessiert mich nicht. Das Einzige, was mich interessiert, ist: Wo ist das passiert? Das ist in Tindirma passiert. Wer ist da zuständig? Also. Pack das da ein und verschwinde. Nein, rede nicht. Hör auf rumzureden. Seit einer Stunde redest du. Hör mir zu.»

Aber der Dicke hörte nicht zu. In einer verschmuddelten Uniform stand er vor Polidorios Schreibtisch, und er machte es wie alle hier. Wenn sie nicht kooperieren wollten, redeten sie irgendeinen Unsinn. Wenn man sie dazu befragte, redeten sie einen anderen Unsinn.

Polidorio hatte ihm weder Kaffee noch einen Stuhl angeboten, und er duzte ihn, obwohl der Mann dreißig Jahre älter war und vom Rang gleichgestellt. Für gewöhnlich waren das zuverlässige Mittel, diese Leute zu kränken. Aber der Dicke schien dagegen immun. Ungerührt redete er über nahe Rente, Fahrten mit dem Dienstfahrzeug, Gartenbau und Vitaminmangel. Zum vierten und fünften und sechsten Mal erläuterte er den Inhalt seiner Tankfüllung und sein Konzept des Gefangenentransports, sprach von Gerechtigkeit, Zufall und höherem Willen. Er zeigte auf die einander gegenüberliegenden Fenster (Wüste, Meer), auf die Tür (der lange Weg durchs Salzviertel), den defekten Deckenventilator (Allah) und trat mit dem Fuß gegen das am Boden liegende Bündel (die Ursache allen Übels).

Die Ursache allen Übels war ein an Händen und Füßen zusammengeschnürter Junge namens Amadou, den der Dicke in der Wüste zwischen Targat und Tindirma aufgegriffen hatte, ein Faktum, das in seinem endlosen Redeschwall nur sehr am Rande auftauchte.

Ob er schon einmal von Kompetenzen gehört habe, wollte Polidorio wissen, und bekam zur Antwort, dass erfolgreiche Polizeiarbeit eine Frage der Technik sei. Er fragte, was Technik mit dem Tatort zu tun habe, und bekam zur Antwort, wie schwierig es sei, in der Nähe der Oase Landwirtschaft zu betreiben. Polidorio fragte, was Landwirtschaft damit zu tun habe, und der Dicke redete von Versorgungsengpässen, von Flugsand, Wassermangel und Missgunst der Nachbarn auf der einen Seite, Wohlstand, Elektronengehirnen und hoher Polizeiorganisation auf der anderen. Er warf erneut einen Blick auf die defekte Hollerith-Maschine, sah sich mit gespieltem Entzücken im Zimmer um und setzte sich, da kein Stuhl in Reichweite war, auf den Gefangenen, ohne eine Sekunde seinen Redeschwall zu unterbrechen.

«Jetzt Ruhe», sagte Polidorio. «Ruhe. Hör mir zu.» Er ließ seine Handflächen einen Moment flach über der Schreibtischplatte schweben, bevor er sie rechts und links der Kaffeetasse entschieden auf zehn Finger stellte. Der Dicke wiederholte seinen letzten Satz. An seiner Hose fehlten zwei Knöpfe. An seinen fleischigen Ohrläppchen hingen Schweißtropfen und schwangen im Takt. Mit einem Mal hatte Polidorio vergessen, was er sagen wollte. Er spürte ein leises Pochen in den Schläfen.

Sein Blick fiel auf Hunderte kleiner Bläschen, die durch das Umrühren in der Tasse entstanden waren und sich nun zu einem kreiselnden Teppich zusammenschlossen. Als die Rotation schwächer wurde, wanderten die Bläschen zum Tassenrand, wo sie sich zu einem ringförmigen Wall auftürmten. Im Innern jedes Bläschens war ein kleiner Kopf eingeschlossen, der ihn mit zusammengekniffenen Augen anstarrte, in den kleinen Bläschen ein kleiner Kopf, in den mittleren ein mittlerer und in den großen ein großer. Das Auditorium bewegte sich militärisch synchron und verfiel für einige Sekunden in eine Art Totenstarre. Dann wurden alle Köpfe plötzlich größer, und als Polidorio ausatmete, starb ein Viertel seines Publikums.

Benzingutscheine, Wüstensand, Maul- und Klauenseuche. Kinderreichtum, Rebellen, Präsidentenpalast. Polidorio wusste, worum es dem Dicken nicht ging. Aber er wusste nicht, worum es ihm ging. Die Überstellung eines Verdächtigen nach Targat ergab keinen Sinn. Vielleicht, dachte er, war der Dicke mit seiner Sitzgelegenheit vage bekannt und wollte persönlichen Verwicklungen aus dem Weg gehen. Vielleicht war der Betriebsausflug an die Küste aber auch reiner Selbstzweck. Oder er hatte hier Geschäfte zu erledigen. Vielleicht wollte er das Hafenviertel sehen. Und mit Sicherheit ging es auch ums Geld. Allen ging es bei allem immer ums Geld. Wahrscheinlich wollte er ein paar Sachen verkaufen. Er wäre nicht der erste Dorfsheriff, der als Kompensation für ausbleibende Lohnzahlungen Schreibmaschine, Blankopapiere oder Dienstwaffe zum Suq trug. Und wenn es nicht ums Geld ging, ging es um Verwandte. Vielleicht hatte er einen Sohn hier, den er besuchen wollte. Oder eine dicke Tochter im heiratsfähigen Alter. Vielleicht wollte er in ein Bordell. Vielleicht arbeitete auch seine dicke Tochter in einem Bordell, und er wollte ihr seine Dienstwaffe verkaufen. Das war alles möglich.

Ein dumpfes Weckerrasseln unterbrach seine Überlegungen. Polidorio holte ein großes Stoffknäuel aus der untersten Schublade seines Schreibtischs und schlug mit der flachen Hand auf eine bestimmte, nur ihm erkennbare Stelle. Das Rasseln verstummte. Er zog eine Packung Aspirin aus derselben Schublade und sagte gereizt: «Jetzt genug. Jetzt hau ab. Hau einfach ab in deine Oase und nimm das da mit.»

Er drückte zwei Tabletten aus dem Blister. Kopfschmerzen hatte er keine, aber wenn er jetzt keine Medikamente nahm, setzten die Schmerzen in genau einer halben Stunde ein. Jeden Tag um vier. Was die Ursache dieser periodischen Anfälle war, hatte sich bisher nicht klären lassen. Der letzte Arzt hatte die Röntgenbilder gegen das Licht gehalten, von Normvarianten gesprochen und Polidorio zu einem Psychologen geraten. Der Psychologe empfahl Medikamente, und der Apotheker, der von diesen Medikamenten noch nie gehört hatte, vermittelte ihn an einen weisen Mann. Der weise Mann wog vierzig Kilo, lag zusammengekrümmt auf der Straße und verkaufte Polidorio einen Zettel mit Beschwörungsformeln, der abends unters Bett gelegt werden musste. Seine Frau brachte schließlich eine Anstaltspackung Aspirin aus Frankreich mit.

Es war nichts Seelisches. Polidorio weigerte sich zu glauben, dass es etwas Seelisches war. Was sollte das für eine Seele sein, die jeden Tag um genau dieselbe Uhrzeit brüllende Schmerzen auslöste? Um vier Uhr nachmittags war nichts Besonderes. An der Arbeit konnte es nicht liegen, die Schmerzen kamen auch an freien Tagen. Sie kamen um vier und blieben bis zum Schlafengehen. Polidorio war jung, er war von athletischer Konstitution und ernährte sich nicht anders, als er sich in Europa ernährt hatte. In unmittelbarer Nähe des Sheraton gab es einen Laden mit Importwaren, einheimisches Wasser benutzte er nicht mal zum Zähneputzen. Das Klima? Warum hatte er dann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag Kopfschmerzen?

In den einsamen Stunden der Nacht, wenn der Pesthauch der Hitze durch das Moskitonetz zu ihm drang, wenn das unbekannte Meer an die unbekannten Felsen schlug und die Insekten unter seinem Bett tobten, glaubte er zu wissen, dass es weder etwas Körperliches noch etwas Seelisches war. Es war das Land selber. In Frankreich hatte er niemals Kopfschmerzen gehabt. Nach zwei Tagen in Afrika setzten sie ein.

Er nahm die Tabletten in den Mund, spülte sie mit zwei Schluck Kaffee hinunter und spürte dem sanften Druck in seiner Speiseröhre nach. Es war sein tägliches Ritual, und es verletzte ihn, von dem hemmungslos vor sich hin redenden Dicken dabei beobachtet zu werden. Während er die Packung wieder in der Schublade verstaute, sagte er: «Oder sehen wir hier aus wie die Annahmestelle für Scheißprovinzprobleme? Hau ab in deine Oase. Du Kaffer.»

Stille. Kaffer. Er wartete auf die Reaktion, und die Reaktion kam mit nur einsekündiger Verzögerung: Der Dicke riss lustig seine Äuglein auf, formte mit dem Mund ein kleines O und wedelte schlaff eine Hand in Schulterhöhe. Dann redete er weiter. Oase, Straßenzustand, Hollerith-Maschine.

Zwei Monate war es her, dass Polidorio seine Arbeit hier angetreten hatte. Und seit zwei Monaten wollte er nichts anderes als nach Europa zurück. Schon am Tag seiner Ankunft hatte er festgestellt (und diese Feststellung mit einem Fotoapparat bezahlt), dass vor den fremden Gesichtern seine Menschenkenntnis versagte. Sein Großvater war selbst Araber gewesen, aber früh nach Marseille ausgewandert. Polidorio hatte einen französischen Pass und wuchs nach der Trennung seiner Eltern bei der Mutter in der Schweiz auf. In Biel ging er zur Schule, später studierte er in Paris. Seine Freizeit verbrachte er in Cafés, in Kinos und auf dem Tennisplatz. Die Leute mochten ihn, aber wenn es Streit gab, nannten sie ihn Pied-noir. Wäre sein Aufschlag besser gewesen, hätte er vielleicht Profi werden können. So wurde er Polizist.

Wie so vieles in seinem Leben war es Zufall. Ein Freund hatte ihn mit zur Aufnahmeprüfung genommen. Der Freund wurde abgelehnt, Polidorio nicht. Während der Jahre seiner Ausbildung veränderte sich die Gesellschaft, ohne dass er viel davon mitbekam. Er war kein politisch denkender Mensch. Er las keine Zeitungen. Der Pariser Mai und die Irren von Nanterre interessierten ihn so wenig wie die nach Luft schnappende Gegenseite. Gerechtigkeit und Gesetze waren für ihn ungefähr identisch. Die Langhaarigen mochte er nicht, aber hauptsächlich aus ästhetischen Gründen. Von Sartre hatte er zehn Seiten gelesen. Es sei einfacher, schrieb seine erste Freundin, als sie sich von ihm trennte, ihn durch das zu beschreiben, was er nicht sei, als durch das, was er sei.

Seine zweite Freundin heiratete er. Das war im Mai 1969, und er liebte sie nicht. Sie wurde sofort schwanger. Das erste Jahr war die Hölle. Als man ihm wegen seiner Arabischkenntnisse eine Stelle in den ehemaligen Kolonien anbot, nahm er sofort an. Hochglanz-Bildbände von malerischen Wüsten, primitive Holzskulpturen in Wohnzimmerschränken, das Gerede von den Wurzeln. Er hatte keine Ahnung von Afrika.

Was sich ihm stärker als alles andere einprägte, war der fremde Geruch auf dem Flughafen. Dann die Einsamkeit der ersten Wochen, bevor die Familie nachkam. Ein Bild in der Tageszeitung: Thévenet am Mont Ventoux. Postkarte eines Freundes: schneebedeckte Alpen. Der Gestank, die entsetzlichen Kopfschmerzen. Polidorio fing an, auf der Straße stehen zu bleiben, wenn jemand ein reines Französisch ohne asthmatisches Gurgeln sprach. Der Anblick von Touristen, ihre Ungezwungenheit, die heiter-blonden Frauen. Er stellte einen Antrag auf Rückversetzung, der französische Staat lachte ihn aus. Mit jeder Woche wurde er sentimentaler. Französische Touristen, französische Zeitungen, französische Produkte. Selbst die stets in Rudeln auftretenden Gammler und Langhaarigen, die im Gänsemarsch und mit fünfhundert Gramm Kif in den Taschen aus den Bergen zu Tal strömten, um sich anschließend von ihm die Handschellen anlegen zu lassen, erfüllten ihn mit einer Art von Rührung. Sie waren Idioten. Aber sie waren europäische Idioten.

Der Dicke redete noch immer. Polidorio schob die Kaffeetasse auf dem Schreibtisch beiseite. Er wusste, dass er einen Fehler machte. Er griff mit beiden Händen über die Schreibtischkante, zog seinen Oberkörper nach vorn und spähte in den Abgrund.

«Zwanzig Dollar, ja?»

Der gefesselte Junge schien unter dem Gewicht des Dicken eingeschlafen zu sein.

«Der Herr Oberkommissar redet mit dir!», rief der Dicke und klatschte dem Gefangenen die flache Hand aufs Ohr.

«Zwanzig Dollar und ein Korb Gemüse?», wiederholte Polidorio.

«Was?»

«Ja, du!»

«Ja, was, Chef?»

«Ein paar Dollar und ein Korb Gemüse. Und dafür hast du vier Leute in Tindirma umgenietet?»

«Was?» Das Bündel begann, sich zu beleben. «Vier Leute wo?»

«Vier Leute in Tindirma. Vier Weiße.»

«Ich bin nie im Leben in Tindirma gewesen, Chef. Ich schwör!»

4. MS KUNGSHOLM

Eroberungen auf sexuellem Gebiet lösten in Ellsberg die gleiche kindliche Begeisterung und den gleichen Mitteilungsdrang aus wie vertrauliche Informationen über Nukleartechnik. Den Leuten der RAND Corporation beschrieb er seine neueste Liebschaft einmal mit den Worten: «Sie hat eine Lücke zwischen jedem Zahn.»

Andrew Hunt

Es gibt nur wenige Menschen, die man in einem einzigen Satz beschreiben kann. In der Regel braucht man mehrere, und für gewöhnliche Menschen reicht oft ein ganzer Roman nicht aus. Helen Gliese, die mit weißen Shorts, weißer Bluse, weißem Sonnenhut und riesiger Sonnenbrille an der Reling der MS Kungsholm lehnte, mit halboffenem Mund Kaugummi kaute und auf das Gewimmel der Menschen am sich nähernden Ufer schaute, konnte man in zwei Worten beschreiben: schön und dumm. Mit dieser Beschreibung konnte man einen Fremden zum Hafen schicken und sicher sein, dass er unter Hunderten Reisenden die Richtige abholen würde.

Das Erstaunliche daran war allerdings nicht die Kürze der Beschreibung. Das Erstaunliche war, dass diese Beschreibung nicht im mindesten zutraf. Helen war nicht schön. Sie war eine Versammlung ästhetischer Gemeinplätze, ein Zuviel an Körperpflege und modischer Bemühung, aber schön im eigentlichen Sinne war sie nicht. Sie war jemand, den man am besten aus der Entfernung betrachtete. Manche Fotos von ihr hätte man auf die Cover von Modezeitschriften setzen können — ein Eindruck von Glattheit, Kälte und großen Linien. Doch sobald das Bild sich zu beleben anfing, wurde man merkwürdig verwirrt. Helens Mimik war mit sich selbst schlecht synchronisiert. Der schleppende, leiernde Singsang ihrer Stimme erzeugte den Eindruck einer Vorabendserienschauspielerin, der jemand die Regieanweisung reich und blasiert ins Drehbuch geschrieben hat, ihre Arm- und Handbewegungen wirkten wie die Parodie eines Homosexuellen, und dies alles zusammen mit dem Übermaß an Schminke und ausgefallener Kleidung konnte einen, wenn man Helen zum ersten Mal begegnete, mehrere Minuten — oder Stunden oder Tage — lang von der Erkenntnis ablenken, dass fast alles, was sie sagte, logisch und durchdacht war. Ihre Gedanken waren vollkommen klar, und sie formulierte sie mühelos. Noch überraschender war es, Briefe von ihr zu lesen.

Mit anderen Worten, Helen war das genaue Gegenteil von dumm, und wenn nicht das Gegenteil von schön, so doch von einer klassischen Vorstellung von Schönheit sehr weit entfernt; was nichts an der Tatsache änderte, dass diese Vom-Hafen-abholen-Geschichte funktionierte. Oder funktioniert hätte. Es war Helens erster Besuch in Afrika, und niemand holte sie ab.

5. DIE TAT EINES VERRÜCKTEN

Er riet uns, sogleich aufzubrechen, und erbot sich, uns zu begleiten und vor Verrat zu schützen. Diese freundliche Geste eines verschlagenen alten Barbaren gegenüber zwei völlig hilflosen Fremden rührte mich zutiefst.

Rider Haggard

Der Beschuldigte hieß Amadou Amadou. Jedes einzelne Indiz sprach gegen ihn, die Summe der Indizien war ein Todesurteil. Amadou war einundzwanzig oder zweiundzwanzig, ein schlaksiger junger Mann, der mit seinen Eltern und Großeltern und einem Dutzend Brüdern und Schwestern zwei Straßen vom Tatort, einer agrarischen Kommune in der Oase Tindirma, entfernt wohnte oder gewohnt hatte.

Die Kommune bestand überwiegend aus Amerikanern, einigen Franzosen, Spaniern und Deutschen, einer Polin und einem Libanesen, insgesamt doppelt so vielen Frauen wie Männern. Die meisten von ihnen hatten sich Mitte der sechziger Jahre in der Küstenregion um Targat kennengelernt und waren zufällig auf das Anwesen in der zwanzig Kilometer entfernten Oase aufmerksam geworden, ein billig zu mietendes, zweistöckiges Haus mit einem kleinen Stück Land. Der Traum vom natürlichen, selbstbestimmten Leben, eine Idee sozialer Selbstorganisation und so weiter. Keiner der Kommunarden hatte Erfahrung mit dieser Sorte praktizierter Utopie. Anfangs lebten sie von einem mühsam bewässerten Acker und einfachem Trödel, den sie den Einheimischen abkauften und in die Erste Welt exportierten, später kam gelegentlich Handel mit verbotenen Substanzen hinzu.

Den zunächst misstrauisch beäugten, langhaarigen, redseligen und orientierungslos herumtappenden Kommunarden gelang es durch ihre Offenheit und Hilfsbereitschaft relativ rasch, das Wohlwollen ihrer neuen Nachbarn zu gewinnen. Freundlich und großzügig streckten sie die Hände zur Gegenseite hin aus, und die Gegenseite griff zunächst zögerlich und dann überraschend fest und herzlich zu. Fremder Schmuck wurde bestaunt, Haare wurden betastet, Lebensmittel getauscht. Es war die Zeit des großen Redens, der langen Diskussionen und der angedeuteten Verbrüderungen. Es kam zu einigen kleineren Festen und erster Unruhe. Im Laufe des Sommers wurde die Zahl der ungebetenen Gäste, die versuchten, finanziellen Vorteil aus der Kommune zu ziehen, unüberschaubar. Auch medizinische, handwerkliche und sexuelle Dienstleistungen wurden verlangt und teilweise gewährt. Eine Kette mühseliger Auseinandersetzungen, kommunenintern Missverständnisse genannt, war die Folge, woraufhin man sich zunächst diffus und dann programmatisch von den Einheimischen nach und nach wieder zurückzog, sich auf ein reines Geschäftsverhältnis besann und schließlich sogar die einen Meter sechzig hohe Mauer um das Anwesen herum um einen weiteren Meter aufstockte. Einer nur knappen Mehrheit von zwei Stimmen war es zu verdanken, dass in den frischen Lehm der Mauerkrone keine Glasscherben gedrückt wurden. Dies alles geschah im Laufe weniger Monate.

Die beiden auffälligsten Figuren der Kommune waren der schottische Industriellenspross Edgar Fowler III und der französische Ex-Soldat und Herumtreiber Jean Bekurtz. In einem ihrer nüchternen Momente hatten sie die Idee zu der Kommune gehabt, mit ihrem ansteckenden Enthusiasmus Mitglieder — darunter eine beachtliche Zahl sehr gut aussehender Frauen — rekrutiert und einen groben Umriss dessen entworfen, was sie ihre Philosophie nannten.

Doch die Wüste änderte die Anschauungen rasch. War man anfangs im Graubereich eines diskutierfreudigen Marxismus angesiedelt, mehrten sich schon nach kurzer Zeit die Räucherstäbchen im Haushalt. Zwischen Kerouac und Castaneda verschimmelte ein halber Meter Trotzki, und die Idee eines körperlich dauerhaft ineinander verflochtenen Humankapitals («Das ist nur eine Metapher») scheiterte am Widerstand uneinsichtiger Frauenzimmer. Zum Zeitpunkt unserer Erzählung war die Kommune auf das Niveau einer mickrigen ökonomischen Zweckgemeinschaft herabgesunken — um deren Prosperität es nur geringfügig besser bestellt schien als zur Gründungszeit.

Um den Tathergang und alles Weitere verständlich zu machen, muss an dieser Stelle eine kurze Erläuterung gegeben werden, wovon wir sprechen, wenn wir von der Oase sprechen.

Archäologische Untersuchungen ergeben keine Anzeichen für eine Besiedlung des Ortes in früher Zeit. Noch um 1850 ist Tindirma eine Ansammlung dreier Lehmhütten um ein kärgliches Wasserreservoir an den Hängen einer vereinzelt in der Wüste aufragenden Felsnadel. Geologen sprechen von einem Kegelberg vulkanischen Ursprungs. Die höchste Erhebung liegt etwa 250 Meter über dem Meer und gestattet einen Blick, der auch an guten Tagen ringsum nichts als Sand erkennen lässt, den ein stetig von der Küste herwehender Wind in die Form eines endlosen Sicheldünenfeldes gepflügt hat. Nur den westlichen Horizont säumt eine Ahnung von Dunst und Grün und Blau.

Gelegen am Kreuzungspunkt zweier unbedeutender Karawanenstraßen, lassen erst die blutigen Kämpfe um das Massina-Reich die Oase wachsen. Versprengte Fulbe, die ohne Hab und Gut und vor allem ohne Vieh von Süden her eintreffen, halb nackt und halb verhungert, bewältigen den Übergang vom Nomadendasein zur Landwirtschaft. Aus drei Lehmhütten werden fünfzig, die zwischen struppigen Akazien und Doumpalmen die flacheren Felshänge hinaufrutschen.

Das Leben ist hart, und wie viele unfreiwillige Emigranten nennen die Fulbe den kargen Flecken Erde, den sie bewirtschaften, nach dem Ort, aus dem sie geflohen sind: Nouveau Tindirma. Innerhalb einer Generation verzehnfacht sich die Zahl der Unglücklichen.

Eine Geschichtsschreibung aus dieser Zeit existiert weder in schriftlicher noch in zuverlässiger mündlicher Form. Das erste Bilddokument ist eine Schwarzweißfotografie narbengesichtiger Männer aus den 1920er Jahren. Mit erloschenen Blicken und zu einem schwarzen Rechteck gepresst stehen sie auf der Ladefläche eines Thornycroft BX, der auf der frisch planierten Hauptstraße in das vor der Umgebung kaum sich abzeichnende Tindirma einfährt, im Hintergrund ein erstes zweistöckiges Gebäude.

Ende der dreißiger Jahre verwandeln zwei Ereignisse Tindirma von Grund auf. Das erste ist die Ankunft des verirrten Schweizer Ingenieurs Lukas Imhof, der eine Autopanne erleidet und von Einheimischen an der Reparatur seines Fahrzeugs gehindert wird. Praktisch ohne Hilfsmittel und nur mit der Unterstützung einiger Haratin bohrt Imhof in den folgenden Monaten einen vierzig Meter tiefen Brunnen neben den Kaafaahi-Felsen, der die Oase fortan überreichlich mit Wasser versorgt. Anschließend werden Imhof in einem feierlichen Akt zwei gereinigte Zündkerzen übergeben (Familienalbum, quadratisches Foto).

Das zweite ist der sich auswachsende Bürgerkrieg im Süden, der Tindirma in die strategisch günstigste Lage für den Schmuggel mit Waffen und Hilfsgütern bringt. Nur zwei oder drei Familien bestellen weiterhin ihre Hirsefelder, der Rest verabschiedet sich in die Nachtarbeit und überschwemmt die Gemeinde mit ungekanntem Wohlstand und die südlichen Pisten mit leblosen Körpern.

Etwa zeitgleich siedeln die ersten arabischen Händlerfamilien aus Targat über. Europäer mit dunklen Sonnenbrillen und akkurat ausrasierten Nacken fahren in olivgrünen Autos durch Tindirma, und 1938 installiert die Zentralverwaltung einen ersten Polizeiposten. Das Erscheinen der Staatsmacht ändert am Alltag zunächst wenig. Wer das ruhige Leben schätzt und es sich leisten kann, hält sich eine Privatarmee; die Polizei kämpft hauptsächlich um ihre eigene Sicherheit.

Der Übergang vom gesetzlosen zum halbzivilisierten Gebilde vollzieht sich erst mit der Verlagerung des Bürgerkrieges im Süden und Westen. Die mit Waffen gesättigte Region wird aufnahmefähig für andere Güter. Ehemalige Schmugglerkönige investieren in die Infrastruktur, einige Bars und ein erstes Hotel entstehen. Mitte der fünfziger Jahre gibt es für kurze Zeit ein kleines Lichtspielhaus. Eine asphaltierte Straße schiebt sich einige hundert Meter durch das Zentrum der Oase, fährt als schwacher Florettstoß zur Küste hin und versickert im Sand. Zwei kleinere Moscheen strecken ihre Minarettfinger in den gelben Himmel. Die Religion übt einen mäßigenden Einfluss auf das Leben der Gemeinschaft aus, stärkt die Schwachen und Rechtgläubigen und befestigt Sitten und Zivilisation durch die Klarheit des Gottesgedankens, durch Bildung und Scharia.

Parallel zum Eindringen staatlicher und religiöser Organe werden immer wieder Anläufe unternommen, dem Ort einen anderen Namen zu geben, die dunkle Vergangenheit vergessen zu machen, aber weder unter den Einheimischen, noch unter den Arabern oder den zwei oder drei Kartographen, die von der Siedlung bis zum Jahr 1972 Kenntnis nehmen, kann sich eine andere Bezeichnung als Tindirma durchsetzen.

Am Mittwoch, dem 23. August 1972, war laut Augenzeugenberichten Folgendes passiert: Amadou Amadou war angetrunken mit einem Auto, einem hellblauen, verrosteten Toyota, der ihm nicht gehörte, in den Hof der in der Nähe des Suqs gelegenen Kommune eingefahren. Dort hatte er, wie fünf Mitglieder der Kommune übereinstimmend berichteten, zunächst nicht näher bezeichnete Dienstleistungen feilgeboten, anschließend bei einem servierten Tee ebenso freizügige wie anatomisch unkorrekte Reden über Sexualität gehalten (vier Augenzeugen) bzw. philosophische Gespräche über das Geschlechterverhältnis begonnen (eine Zeugin), hatte sich anschließend offenbar unbeobachtet in der Küche selbständig weiter mit Alkohol versorgt und war zuletzt mit einer plötzlich aufgetauchten Schusswaffe in der Hand durch das Anwesen gestürmt, auf der Suche nach Wertgegenständen. Eine Dual-Hi-Fi-Stereo-Kompaktanlage im Gemeinschaftsraum habe als Erstes sein Interesse erregt, doch habe er sie allein nicht transportieren können. Ein weibliches Kommunemitglied, aufgefordert, ihm die Boxen zum Auto hinterherzutragen, habe sich geweigert, da die Anlage noch nicht vollständig bezahlt gewesen sei, woraufhin Amadou ihr ins Gesicht geschossen habe. Er habe dann zwei weitere Kommunarden erschossen, die hinzugekommen seien, um ihn (mit Worten oder wie?) zu entwaffnen. Bei der weiteren Durchsuchung des Anwesens (jetzt die Waffe wie einen an der Leine zerrenden Hund vor sich her tragend) sei ihm ein Bastkoffer in die Hände gefallen, der randvoll mit Geld gewesen sei (Papiergeld unbekannter Währung). Amadou habe nun alles andere vergessen und mit dem Bastkoffer fluchtartig das Haus zu verlassen versucht. Dabei habe er eine Sandale verloren, die in einen Treppenschacht gefallen sei, habe einen weiteren Kommunarden in einem Schrank erschossen und sich beim Verlassen des Hauses noch eines auf der Küchenanrichte stehenden gutgefüllten Obstkorbes bemächtigt. Etwa dreißig bis vierzig Augenzeugen, von den Schüssen in den Hof der Kommune gelockt, hatten Amadou gesehen, als er, um die Menge zu zerstreuen, in die Luft schießend in den Toyota gesprungen und in Richtung Küstenstraße davongefahren war. Auf halber Strecke war ihm mitten in der Wüste das Benzin ausgegangen, und er war vom kleinen, dicken Dorfsheriff verhaftet worden, der mit dem Verdächtigen wenig später in Polidorios Büro vorstellig wurde. Amadou hatte bei seiner Verhaftung nur noch eine Sandale getragen. Der Bastkoffer mit dem Geld war unauffindbar gewesen, der Obstkorb jedoch stand auf dem Beifahrersitz des hellblauen Toyota in der Wüste. Die noch warme Mauser lag im Handschuhfach. Ein zur Waffe passendes leeres Magazin wurde später im Hof der Kommune sichergestellt. Im Treppenschacht wurde eine Sandale gefunden, die der Sandale, welche Amadou am Fuß trug, spiegelbildlich glich.

Amadou beschäftigte sich in seiner Aussage mit keinem einzelnen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Er stritt die Tat pauschal ab. Das war nichts Ungewöhnliches. In einem Land, in dem das Wort eines Mannes noch etwas galt, gab es praktisch keine Geständnisse. Die Standardaussage aller Beschuldigten in allen Ermittlungen lautete, sämtliche gegen sie erhobenen Vorwürfe seien frei erfunden und sie fühlten sich tief in ihrer Ehre verletzt. Wenn Beschuldigte oder Angeklagte sich die Mühe machten, eine eigene Version des Tathergangs zu erfinden, nahmen sie in der Regel keine Rücksicht auf Details. Amadou machte hier keine Ausnahme. Die vorhandenen Fakten in das eigene Phantasiegebilde logisch zu integrieren, kam ihm nicht in den Sinn. Wie gelangte die Sandale in den Treppenschacht der Kommune? Wie kam das leere Magazin in den Hof? Wieso vermochten vierzig Augenzeugen Amadou eindeutig wiederzuerkennen? Amadou zuckte die Schultern. Das könne er beim besten Willen nicht sagen, und er verstehe nicht, warum man diese Fragen ausgerechnet an ihn richte. Sei es nicht vielmehr Aufgabe der Polizei, sie zu beantworten? Er zeigte auf irgendein elektrisches Gerät (Fernschreiber, Kaffeemaschine) und bat, man möge ihn an den Lügendetektor anschließen. Er schwor beim wahren und einzigen Gott, er erklärte, er könne nur angeben, was sich in Wirklichkeit zugetragen habe, und das sei er jederzeit zu tun bereit. Er, Amadou Amadou, habe einen Spaziergang in der Wüste unternommen. Das Wetter sei sehr lieblich gewesen, und der Spaziergang habe mehrere Stunden gedauert. (Das war nicht so unwahrscheinlich, wie es im ersten Moment klang. Viele Oasenbewohner waren im Zweitberuf noch immer Schmuggler.) Dabei habe er in einem Dornengestrüpp eine Sandale verloren. Dann habe er nahe der Piste einen verlassenen, hellblauen Toyota entdeckt und habe sich in das unverschlossene Auto gesetzt, weil auf dem Beifahrersitz ein köstlicher Obstkorb gestanden habe, und er, Amadou, habe mit dem Gedanken gespielt, etwas von diesem Obst zu essen, denn er sei sehr hungrig gewesen. Dies sei tatsächlich etwas, was man ihm vorwerfen könne, denn das Obst habe ihm nicht gehört. Er sei bereit, dies zu beschwören. In diesem Moment jedoch sei er von einem wie aus dem Nichts auftauchenden Polizisten verhaftet und nach Targat verbracht worden. Von einer Pistole im Handschuhfach sei ihm nichts bekannt.

Diese Aussage wiederholte er an vier aufeinanderfolgenden Tagen, ohne ein Wort zu verändern. Nur einmal, am Abend des vierten Tages und im Zustand starker Ermüdung, äußerte Amadou, er habe den Bastkoffer während der Flucht aus dem Fenster geworfen; er widerrief diesen Satz jedoch schon nach wenigen Minuten und wollte sich später nicht mehr dazu einlassen. Wollte überhaupt nichts mehr sagen, wenn man ihn nicht endlich schlafen lasse.

Und dann machte die Tatsache, dass die Opfer Ausländer waren, alles unendlich kompliziert. Polidorio hatte das Verhör nur am ersten Tag geleitet, am zweiten und dritten unternahm Canisades halbherzige Versuche, den Fall nach Tindirma zurückzuschieben; doch dann schaltete sich überraschend das Innenministerium ein, und die Angelegenheit wurde dem Dienstältesten Karimi übertragen.

Ein Mitglied der Regierung befand sich seit einigen Tagen in den USA und verhandelte über Waffenbrüderschaft und Entwicklungshilfe, als das Massaker ungewöhnlich ausführlich in der amerikanischen Presse auftauchte. Auch in Europa beschäftigte man sich damit, obgleich kein Europäer unter den Opfern war. In der Hauptstadt kam es zu unangenehmen Anfragen (der französische Botschafter, der amerikanische Botschafter, ein deutsches Nachrichtenmagazin), und die Konsequenz aus allem war, dass Karimi und ein Staatsanwalt sich in einem Hotel in Tindirma einquartieren mussten. Offiziell, um nochmals gründlich zu ermitteln, in Wahrheit, um die vor Ort aufgelaufenen Journalisten mit indiskreten Informationen über den Stand der Dinge und die Unzurechnungsfähigkeit des Täters grell illustrierenden Beispielen zu versorgen. Denn mochten die Opfer auch allesamt zugedrogte Hippies gewesen sein, die einen antiimperialistischen Kiffer-Betrieb in der Wüste leiteten — sobald es ernst wurde, zählte für die Erste Welt nur noch die Staatsbürgerschaft.

Amadou bekam von diesen Ehren wenig mit. Er zeigte weiterhin auf die Lügendetektor-Kaffeemaschine, schwor beim Leben seines Vaters und Vatersvaters, schwor beim wahren und einzigen Gott, rief den König und seine Familie um Beistand an und sagte, man könne ihn foltern und Schrauben in seine Fußsohlen drehen, er werde doch keinen Millimeter von der Wahrheit abweichen.

«Schrauben in die Fußsohlen», sagte Karimi. «Das sind Methoden, die hier selbstverständlich nicht zur Anwendung kommen. Im Ernst, wenn uns dein Geständnis interessieren würde, hätten wir das längst. Das ist dir hoffentlich klar. Dafür brauchen wir deine Füße nicht. Dafür brauchen wir überhaupt nichts. Nur, wen interessiert das? Hast du mal überlegt, wen deine Aussage interessieren soll? Hast du dir die Indizien mal angesehen?»

Amadou rutschte auf dem Stuhl hin und her und grinste. Karimi wandte sich an den Anwalt: «Haben Sie wenigstens mal versucht, ihm das zu erklären? Ein Zehntel davon bringt einen Mann unters Fallbeil.» Er drehte sich wieder zu Amadou. «Ob du redest oder nicht, ist scheißegal. Nicht mal das korrupteste Bohnengericht der Welt kann dich noch freisprechen. Du kannst die Klappe halten, oder du kannst reden. Der einzige Unterschied ist, wenn du redest, kriegt deine Familie eine ordentliche Leiche. Denk mal an deine Mutter. Nein, korrigiere — das ist natürlich nicht der einzige Unterschied. Der andere ist, wenn du redest, kannst du mal zum Pinkeln raus.»

Der Anwalt, der fast die ganze Zeit schweigend und nägelkauend dabeigesessen hatte, protestierte schwach. Dann verlangte er, sich mit seinem Mandanten unter vier Augen besprechen zu dürfen. Karimi zeigte auf ein in der Ecke stehendes Sofa, auf dem die Kommissare gewöhnlich saßen, wenn sie kifften.

Der Anwalt hätte mit Amadou in einen Nebenraum gehen können. Oder er hätte Karimi, Canisades und Polidorio bitten können, vor die Tür zu treten. Stattdessen führte er Amadou zu dem sieben oder acht Meter entfernt stehenden Möbel und erklärte ihm in gedämpftem Tonfall — wenngleich für die Polizisten deutlich vernehmbar — , dass die Indizienlage erdrückend und der Tag sehr heiß sei. Er fügte mit erhobenem Zeigefinger hinzu, vor den Augen Allahs sei ohnehin alles entschieden. Vor einem irdischen Gericht hingegen könne man in diesem Fall mit einem Geständnis weder etwas verbessern noch etwas verschlimmern, allein die sinnlose und entehrende Prozedur werde abgekürzt. Und ein Mann von Ehre, wie Amadou es sei usw. Der Mann war nicht gerade ein Staranwalt. Er hatte ein Bauerngesicht und trug einen schlechtsitzenden schwarzen Anzug, in dessen Brusttasche wie ein verzweifelter Hilfeschrei ein senffarbenes Taschentuch steckte. Auf dem Kommissariat war nicht ganz klar, wo Amadous Familie den Mann überhaupt aufgetrieben hatte. Die Vermutung, er werde in Naturalien entlohnt, lag nahe. Amadou hatte sechs oder sieben Schwestern.

«Oh, Mann», sagte Canisades mit Blick auf den Schreibtisch. Er freute sich wie ein kleines Kind. «Oh, Mann. Oh, Mann.»

Polidorio sah auf seine Uhr, zog zwei Aspirin aus der Tasche und schluckte sie trocken. Mit hochgerecktem Kinn schaute er eine Weile zum Deckenventilator. Der Beschuldigte beharrte noch immer pantomimisch auf seiner Version: Spaziergang in der Wüste, Sandale, Obstkorb, Verhaftung. Er wand sich auf dem Sofa hin und her, und während der Anwalt seine Argumente zum dritten oder vierten Mal wie ein Grundschullehrer wiederholte, fing Polidorio plötzlich einen Blick des Angeklagten auf, den er so noch nicht gesehen hatte. Was war das für ein Blick? Es war der verzweifelte Blick eines nicht allzu intelligenten Menschen, dem in diesem Moment, während des monoton dahinplätschernden Redeflusses seines Anwalts, zu Bewusstsein kommt, dass sein Leben zu Ende ist, der Blick eines Mannes, der trotz erdrückender Beweislast bis vor wenigen Minuten davon ausgegangen sein musste, es gebe eine Chance, der Guillotine zu entgehen, ein Blick, der nicht allein verzweifelt, sondern auch überrascht schien, der Blick eines Mannes, dachte Polidorio, der — vielleicht unschuldig war.

Er blätterte in den Akten.

«Wo sind eigentlich die Fingerabdrücke?»

«Was für Fingerabdrücke?»

«Auf der Waffe.»

Karimi wickelte kopfschüttelnd eine Schokopraline aus dem Stanniolpapier.

«Wir haben vierzig Augenzeugen», sagte Canisades. «Und Asiz ist im Urlaub.»

«Das kann doch jeder andere auch?»

«Was kann jeder andere auch? Kannst du das?» Karimi, der unbedingt noch bei Helligkeit zurück nach Tindirma wollte, wo er eine Verabredung mit einem LIFE-Reporter hatte, schnaubte. «Nicht mal Asiz kann das. In der Palastwache hat er eine Woche lang das Gelände zugeklebt. Dann hatte er vierhundert Abdrücke, und die einzigen beiden, die erkennbar waren, waren vom achtjährigen Sohn des Hausmeisters.»

Polidorio seufzte und sah zum Anwalt hinüber, der aufgehört hatte zu reden.

Amadous Kopf war auf halbmast gesunken.

6. SHAKESPEARE

Ich bekam mal einen wundervollen Brief von der Ärzteschaft der medizinischen Fakultät in Boston, Massachusetts. Sie hatten mich zu der Person gewählt, die sie am liebsten operieren würden.

Dyanne Thorne

Helen war sich der Wirkung ihrer Person nie bewusst gewesen. Sie kannte sich nur von Fotos oder aus dem Spiegel. Ihrer eigenen Einschätzung nach sah sie gut, auf manchen Bildern sogar atemberaubend aus. Sie hatte ihr Leben im Griff, ohne besonders glücklich oder unglücklich zu sein, und sie hatte keine Probleme mit Männern. Jedenfalls nicht mehr als ihre Freundinnen. Eher weniger. Vom Beginn der Highschool an gerechnet, hatte Helen sieben oder acht Beziehungen gehabt, allesamt mit Jungen, die etwa in ihrem Alter, sehr nett, sehr wohlerzogen und sehr sportlich waren, Jungen, denen Intelligenz an ihren Freundinnen nicht sonderlich wichtig erschien und die sie auch an Helen selten bemerkten.

Helen machte sich keine Gedanken deswegen. Wenn Männer sich für geistig überlegen halten wollten, war sie nicht verstört. Meist hielten diese Beziehungen nicht lange, und ebenso schnell, wie sie zerbrachen, fanden sich neue. Ein Gang über den Campus in bauchfreiem T-Shirt, und Helen hatte drei Einladungen zum Abendessen. Die einzige Frage, die sie sich von Zeit zu Zeit stellte, war, warum die wirklich interessanten Männer sie nie ansprachen. Sie konnte sich das nicht erklären. Depressionen hatte sie wie alle anderen, nicht öfter. Aus Romanen wusste sie, dass die schönsten Frauen auch immer die unglücklichsten waren. Sie las viel.

Einen ersten Riss erhielt ihr Selbstbewusstsein, als sie zur Vorbereitung auf ein Referat ihre Stimme mit einem Tonbandgerät aufzeichnete. Helen hörte sich diese Aufzeichnung genau vier Sekunden lang an und hatte anschließend nicht den Mut, die Play-Taste ein zweites Mal zu drücken. Ein Außerirdischer, eine Tex-Avery-Figur, ein sprechendes Kaugummi. Ihr war bewusst, dass die eigene Stimme etwas Fremdes sein kann, aber die Laute auf dem Tonband waren mehr als fremd. Im ersten Moment hielt sie sogar einen technischen Defekt für möglich.

Der picklige Chemieprofessor, der ihr das Tonband geliehen hatte, erklärte, im Kopf mitschwingende Knochen und Resonanzräume seien die Ursache, dass der Mensch die eigene Stimme voller und wohltönender wahrnehme, als sie in Wirklichkeit sei, und Überraschung sei eine angemessene Reaktion. Er selbst hatte die Fistelstimme eines Kastraten und konnte seinen Blick beim Sprechen nicht von Helens Ausschnitt lösen. Sie veranstaltete keine weiteren Experimente in dieser Richtung und vergaß die Sache. Das war in ihrem ersten Jahr in Princeton.

Helen hatte die Zulassung mühelos geschafft und ein begehrtes Stipendium erhalten. Aber wie viele Studienanfänger reagierte sie auf das Verpflanztwerden in eine Welt voller fremder und abgezirkelter Rituale mit starker Verunsicherung. In ihrem Studentenwohnheim fühlte sie sich so einsam wie nie zuvor im Leben. Sie stürzte sich in Studien, ging auch dem langweiligsten Smalltalk nicht aus dem Weg und mühte sich, feste Termine für die meisten Abende der Woche zu finden.

Durch die Vermittlung eines Bekannten, der englische Literatur studierte, kam Helen in Kontakt mit einer Laienschauspielgruppe, die vier- oder fünfmal im Jahr ein klassisches Stück, selten etwas Modernes, aufführte. Die meisten Teilnehmer der Gruppe studierten, aber auch zwei Hausfrauen, ein ehemaliger Professor, der sich gern nackt auszog, und ein junger Gleisarbeiter waren mit von der Partie. Der Gleisarbeiter galt als der heimliche Star der Gruppe. Er war 24 Jahre alt, hatte das Gesicht eines Filmschauspielers, einen Körper wie eine griechische Plastik und konnte sich — einziger Mangel — keinen Text merken. Nicht zuletzt um seinetwillen beschäftigte Helen sich fast drei Jahre lang mit den Dramen der elisabethanischen Zeit.

Zuerst bekam sie nur kleine Rollen, später spielte sie die Bianca in Der Widerspenstigen Zähmung und die Dorothea Angermann. Sie war nicht untalentiert, und sie hätte auch nichts dagegen gehabt, einmal die strahlende Heldin zu sein; aber die besten Rollen wurden, wie ihr schien, weniger nach Talent als nach Erfahrung besetzt. Wer am längsten dabei war, war Desdemona.

Und dann spielten sie Die Katze auf dem heißen Blechdach. Man führte weniger das Stück auf, als dass man den Film nachspielte. Der Gleisarbeiter brillierte als Paul Newman, sah dem großen Vorbild irritierend ähnlich und humpelte derart lässig an Krücken über die Bühne, dass seine Unterhaltungen mit dem Souffleur wirkten wie ein raffinierter Teil des Stückes. Eine umwerfend schwarzhaarige Biologiestudentin aus dem vierten Studienjahr stellte Liz Taylor dar. Helen war Mae. Die bigotte Mae mit ihrer bigotten Familie. Man polsterte ihre Taille auf das Fünffache auf, puderte ihr die Haare grau, malte Apfelbäckchen unter die hohen Wangenknochen, steckte sie in ein kartoffeliges Kleid, und als halslose Kinder wurden ihr die Enkel des ehemaligen Professors zur Seite gegeben, denen man, da sie in Wirklichkeit Hälse besaßen, Zervikalstützen umgebunden hatte. Ihre Münder wurden mit Schaumgummi ausgestopft, und statt zu sprechen, gaben die Kinder ein vom Publikum begeistert begrüßtes, konsonantenloses Gequengel von sich.

Der Dozent, der die Gruppe leitete, nahm die Premiere mit der Doppel-8-Kamera auf. Es war das erste Mal seit ihrer Einschulung, dass Helen gefilmt wurde, und bei der Vorführung des Films musste sie den Raum verlassen. Sie ging auf die Toilette, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und übergab sich. In sehr aufrechter Haltung kehrte sie anschließend in den Vorführraum zurück, blickte anderthalb Stunden knapp an der Leinwand vorbei und lauschte dem monotonen Rattern des Projektors. Als nächstes Stück stand Schnitzlers Reigen auf dem Spielplan, aber noch bevor die spannende Frage beantwortet werden konnte, welche Rolle man ihr diesmal zuteilen würde, trat sie aus der Theatergruppe wieder aus.

Ihr Dozent bedauerte diesen Schritt. Außer ihm schien niemand groß Notiz davon zu nehmen. So wie niemand Notiz davon genommen hatte, was für eine durch und durch lächerliche und geistlose Vorstellung Helen auf der Bühne gegeben hatte. Zwar in gewisser Übereinstimmung mit der Rolle — um ehrlich zu sein, in genauer Übereinstimmung mit der Rolle — , aber die Figur doch auf eine Weise gelungen darstellend, die man nur schlecht als geschauspielert empfinden konnte. Diese Mimik, diese Intonation! Und niemand fand es bemerkenswert. Beim Schlussapplaus warf Helen noch einmal einen Blick auf die Leinwand. Lärmpegel und Pfiffe verdoppelten sich, als Mae im grotesken Baumwollhänger einen Schritt nach vorne tat, geziert die Arme um zwei halslose Ungeheuer legte und den Mund zu einem entsetzlich dümmlichen Lächeln verzog. Das letzte Bild auf einer knatternd sich drehenden Filmspule.

Auf der anschließenden kleinen Feier trank Helen zu viel Wein, und ihre letzte Handlung, bevor sie sich dauerhaft von der Gruppe verabschiedete, war, dem Gleisarbeiter ins Ohr zu flüstern, sie werde ihn flachlegen diese Nacht. Sie nannte Adresse und Uhrzeit und ging, ohne seine Reaktion abzuwarten. Dass sie ihre Worte bewusst drastisch gewählt hatte, um einen Misserfolg von vornherein zu rechtfertigen, machte es nicht besser.

Aber es war kein Misserfolg. Um ein Uhr nachts kratzten im Studentenwohnheim Fingernägel auf Holz. Paul Newman hatte einen Blumenstrauß in der Hand, der aussah wie auf dem Friedhof zusammengeklaubt, und wirkte erleichtert, als Helen die Blumen achtlos ins Waschbecken warf und eine weitere Flasche Wein entkorkte. Bei Sonnenaufgang gestand er schluchzend, eine Verlobte zu haben, erntete als Reaktion ein Schulterzucken, und sie sahen einander nicht wieder.

Im weißen Frotteebademantel schlich Helen über die Gänge des Studentenwohnheims, stieg mit hängendem Kopf zwei Treppen hoch und klopfte bei ihrer besten Freundin Michelle Vanderbilt. Oder vielleicht nicht ihrer besten, aber ihrer ältesten Freundin. Michelle und Helen kannten sich seit der Grundschule, und vom ersten Tag ihrer Freundschaft an bestand ein starkes und unveränderliches Machtgefälle zwischen den beiden Mädchen.

Eine der frühesten, entsetzlichsten und exemplarischsten Erinnerungen: die Sache mit dem Kanarienvogel. Vielleicht in der dritten Klasse, vielleicht sogar noch früher. Da saßen sie zwischen lauter Spielsachen auf dem Boden, als sie aus dem Nebenraum einen furchtbaren Schrei hörten. Michelles jüngerer Bruder. Sekunden später kam ein kleiner, gelber Federball über die Türschwelle zum Kinderzimmer gehüpft. Das Köpfchen hing schlaff pendelnd zur Seite. Michelle sprang panisch auf, der Federball schwirrte wie vom Windstoß getroffen zur Seite, kullerte in den Flur hinaus und näherte sich gefährlich der Treppe. Helen vertrat ihm den Weg. Der kleine Bruder rannte hysterisch hin und her. Mrs. Vanderbilt sank wie ohnmächtig auf einen Stuhl, streckte abwehrend beide Hände aus, und Michelle schrie Helen an: «Jetzt hilf ihm doch! Jetzt hilf ihm doch!»

Die achtjährige Helen, die keine Haustiere besaß und auch diesen Vogel noch nicht außerhalb des Käfigs gesehen hatte, hob ihn vorsichtig auf und hielt das Köpfchen mit einem Finger hoch. Es fiel hinunter. Sie schlug vor, das Tier ins Bett zu bringen oder seine Wirbelsäule mit Streichhölzern zu schienen. Niemand reagierte. Schließlich ging sie in das Vanderbilt’sche Wohnzimmer und schlug im Lexikon nach. Sie hangelte sich von Kanarienvogel über Notfall, Genickbruch und Fraktur bis zur Querschnittslähmung. Sie schlug Michelle vor, einen Arzt anzurufen oder eine Freundin, die ebenfalls einen Vogel hatte.

Am Ende schaffte Mrs. Vanderbilt es, einen Veterinär ans Telefon zu bekommen, der riet, das Tier von seinen Leiden zu erlösen. Die Dame des Hauses hielt den Telefonhörer weit von sich weg in die Luft, wiederholte laut die Worte des Arztes und sah sich hilfesuchend um. Doch kein Mitglied der Familie Vanderbilt war imstande, das Notwendige zu unternehmen, und so erbarmte sich schließlich Helen des Elends. Sie fegte den Vogel sacht in eine Plastiktüte, setzte beide Knie auf die Öffnung und schlug so lange mit einem Band der Encyclopædia Britannica auf das Dreidimensionale der Tüte, bis es zweidimensional war. Anschließend begruben sie das flache Ergebnis im Garten. Mrs. Vanderbilt stand weinend hinter der Gardine.

Es war mit Furcht gemischte Bewunderung, die Michelle an diesem Tag für ihre neue Freundin empfand, und dies blieb auch in den folgenden Jahren ihr beherrschendes Gefühl Helen gegenüber. Gelegentlich (und besonders während der Pubertät) kamen zu dieser Ehrfurcht noch eine Reihe anderer, sich abwechselnder Gefühle hinzu, Verständnislosigkeit, Schwärmerei, Wut, Eifersucht, vorsätzliche Kühle, fast Mitleid … und dann wieder noch größere Ehrfurcht und aufrichtige Liebe — sämtlich in ihrer Intensität gesteigert dadurch, dass das Objekt dieser widersprüchlichen Gefühle niemals auch nur den geringsten Unterschied zu bemerken schien.

Und so war der Tag nach der Filmvorführung ein ganz besonderer Tag für Michelle. Es war der erste und einzige Tag, an dem sie ihre Freundin schwach sah. Ein Häuflein Elend kam da im weißen Bademantel in ihr Zimmer geschlurft und verlangte nach Kräutertee und Zuwendung. Überwältigt von der Gelegenheit stieß Michelle das Messer in die Wunde und drehte es um: Das ginge doch jedem so, rief sie, jeder sei zunächst erschüttert, auch sie, Michelle, sei erschüttert gewesen, als sie neulich einmal zufällig ihre eigene Stimme auf Tonband gehört habe. Freilich kämen bei Helen noch die Bewegungen hinzu, und in Verbindung mit der Mimik sei das etwas, das man tatsächlich, wenn sie ehrlich sei … doch wenn man all die Jahre diesen Anblick … und es sei ja auch der Sinn von Freundschaft … letztlich gewöhne man sich. Und sie persönlich jetzt: wirklich kein Problem.

Michelle war in den Seminarräumen keine große Rhetorikerin, aber unter vier Augen und im herzlichen Gespräch konnte sie Textblöcke von beachtlichem Umfang in den Raum stellen. Auch wenn es in ihren Augen nur eine Lappalie war (Liebeskummer, Misserfolg oder eine Erkrankung der Hauskatze hätten sie mehr angestachelt), redete sie fast zwei Stunden ununterbrochen über das, was sie später die «Tonband-Sache» nannte.

Helen überhörte den gesamten Inhalt der Botschaft und nahm als Einziges deren Länge wahr. Man kann nicht zwei Stunden lang über etwas reden, sagte sie sich, das kein gravierendes Problem darstellt.

Einige Monate lang übte sie mit einem Diktaphon schnellere, klarere Aussprache, ohne Erfolg. Gleichzeitig suchte sie, um ihren Bewegungen das Gezierte und Schleppende auszutreiben, nach einer Sportart, die, wie sie annahm, allem zuwiderlief, was ihr Spaß machen oder ihrem Körper angemessen sein könnte, und kam auf Karate. Als eine von zwei Frauen schrieb sie sich für einen Kurs an der Uni ein und begriff nach vier Wochen, dass man vieles im Leben ändern kann, aber nicht gewisse physiologische Gegebenheiten. Helen wurde kräftiger und geschickter, doch an der Art ihrer Bewegungen änderte das nichts. Sie war Mae im Keiko-Gi, Mae beim Yoko-geri, Mae auf der Matte. Es war eine deprimierende Zeit.

Trotz der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen gab sie das Karate nicht auf. Als der Kurs an der Uni eingestellt wurde, wechselte sie in eine professionelle Sportschule. Dort war sie die einzige Frau, und ihr fiel die unverminderte Aufmerksamkeit aller anderen Kursteilnehmer zu, fast ausnahmslos Polizisten aus einer nahen Akademie.

Als sie ihr Studium beendete, hatte sie zwei Abtreibungen hinter sich, besaß den Schwarzen Gürtel in zwei Kampfsportarten, hatte drei oder vier Polizisten zum Freund und keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Hervortretende Wangenknochen und erste Fältchen um Mund und Augen verliehen ihrem Gesicht eine gewisse Härte, die nicht das war, was sie sich einst als Kur gegen ihr Selbst verordnet hatte, aber auch nichts völlig Unpassendes. Sie schminkte sich.

«Hör auf deine innere Stimme», riet Michelle, aber im Gegensatz zu ihrer Freundin konnte Helen eine solche Stimme in ihrem Innern nirgends entdecken. Der bürgerlichen Existenz stand sie fremd gegenüber, und hätte sie die Art und Stärke ihrer Empfindungen mit denen anderer Menschen vergleichen können, wie es für die meisten Fünfundzwanzigjährigen kaum oder nur sehr eingeschränkt möglich ist, so hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie gefühlskalt war. Situationen, in denen andere schwelgten, bedeuteten ihr so wenig wie impressionistische Postkarten, ein Wurf junger Katzen oder Grace Kellys Verlobung, und ein unaufmerksamer Beobachter hätte sie für insgesamt leidenschaftslos halten können. Aber ihre Tagträume waren erfüllt von sonderbaren Bildern. Der Feuerwehrmann, der zwei röchelnde Kinder aus dem brennenden Haus schleppt, das hinter ihm zusammenbricht … der Flieger, der, seinen Cowboyhut schwenkend, breitbeinig auf der Atombombe zu Tal reitet … der gekreuzigte Spartakus, von Jean Simmons beweint … please die, my love, die now … sie bevorzugte das heroische Sujet.

7. LUNDGREN

No Chinaman must figure in the story.

Ronald Knox, Ten Commandment List for Detective Novelists

Und jetzt hatte Lundgren ein Problem. Lundgren war tot. Als man ihn an rahmengenähten Schuhen aus einer Kloake im Osten Tindirmas zog, war nur am Schnitt seiner Kleidung noch zu erkennen, dass er Europäer gewesen war. Spielende Kinder hatten den Körper entdeckt, vier Männer ihn geborgen. Niemand wusste, wer der Tote war, niemand wusste, wie er in die Oase gekommen war oder was er dort gewollt hatte, niemand vermisste ihn.

Die erneute Gräueltat an einem Weißen, nur drei Wochen nach dem Massaker in der Kommune, versetzte die Wüstenbewohner in eine angenehme Aufregung. Mit spitzen Fingern und Holzstöcken durchstocherten sie die Taschen seines Anzugs, fanden nichts von Wert — fanden überhaupt nichts … und besiegelten das Schicksal seiner Identität, indem sie den Leichnam zurück in die Kloake beförderten.

Ein alter Tuareg, der an Flussblindheit litt und sich von Kindern an Besenstielen herumführen ließ, stellte sich einige Tage lang am Ort des Verbrechens auf und erzählte gegen ein geringes Bakschisch, eine Hand voll Pistazien oder ein Glas Schnaps die grauenvolle Geschichte. Er hatte topasblaue Augen, in denen keine Pupille mehr war, blinzelte über die Köpfe seiner Zuhörer hinweg und schwor, einen Tag vor Entdeckung der Leiche in der Wüste gewesen und durch ein unheimliches Geräusch am Himmel aufgeschreckt worden zu sein. Seine minderjährigen Begleiter hätten vor Angst mit den Zähnen geklappert und mit den Knien geschlottert, er jedoch, alter Kämpfer unter Moussa ag Amastan, habe mühelos den Überschallknall einer F-5 erkannt. Und richtig, sogleich hätten die Kinder ihm einen nadelfeinen Kondensstreifen im Blau beschrieben, aus dessen Mitte sich ein goldener Fallschirm geöffnet habe. Dieser Fallschirm und sein Schatten seien über der Flanke des Kaafaahi-Felsens wie sich paarende Adler aufeinander zu gekreist, wenig später sei ein Mann in teurem Anzug und auf allen vieren vom Berg hinunter in das Dickicht der Lehmhäuser gekrochen und verschwunden, den Fallschirm wie einen goldenen Pflug hinter sich her ziehend.

Besonders der Fallschirm erregte allgemeines Wohlgefallen unter den Zuhörern. Später erfand der Erzähler noch einen Sportwagen, einen Geheimdienst und vier Männer mit Eisenstangen hinzu, aber nach ein paar Tagen hatte jeder die Geschichten gehört, und es ließ sich kein Geld mehr damit verdienen. Man zerstreute sich wieder.

Die Wahrheit war: Es gab keinen Fallschirm. Es gab keine Eisenstangen. Die Wahrheit war: Niemand hatte etwas gesehen. In der ganzen Oase gab es nur eine einzige Person, die etwas wusste, und diese Person sagte nichts. Es war die Zimmerwirtin, bei der Lundgren am Tag seiner Ankunft Quartier genommen hatte, und sie sagte deshalb nichts, weil in dem winzigen Zimmer, das sie vermietete, nun ein herrenloses Gepäckstück voller wunderbarer Dinge stand.

Lundgrens Ankunft in der Oase war unspektakulär. Er war mit der Bahn nach Targat gekommen. Dort hatte er eine Dschellabah übergeworfen, sich einen lächerlichen Bart angeklebt und war mit dem Sammeltaxi und ohne ein Wort mit seinen Mitreisenden zu wechseln, in die Wüste gefahren. Einige Kilometer vor Tindirma hatte das Sammeltaxi eine Panne erlitten, und Lundgren, der glaubte, es eilig zu haben, war auf einen Eselskarren umgestiegen. Er gab dem Fahrer ein Bakschisch, damit der ihn durch eine bestimmte Gasse fuhr. Dann ließ er sich lange im Kreis herumkutschieren und stieg schließlich zwei Straßen von der besagten Gasse entfernt vor einer schäbigen Bar ab. Über der Bar gab es ein schäbiges Zimmerchen, das für gewöhnlich an schäbige Händler vermietet wurde. Jetzt stand es frei, wie ein Schild auf Arabisch und Französisch verkündete. Lundgren hatte eine Reservierung für das örtliche Zwei-Sterne-Hotel, aber er war kein Amateur. Er ließ sich das Zimmerchen zeigen.

Die etwa hundertjährige Wirtin führte ihn in den ersten Stock. Sie hatte ein Gesicht, das nur aus Falten bestand, mit zwei Löchern als Augen. Ihre Kiefer mahlten ununterbrochen, und aus dem jeweils tieferen Mundwinkel floss ein schwarzer Sud. Sie schloss eine niedrige Tür auf, dahinter eine Waschschüssel, eine Matratze, kein Strom. Kakerlaken flohen im Gänsemarsch an den Scheuerleisten entlang. Lundgren lächelte verbindlich — freundlich — und zahlte zwei Wochen im Voraus. Das Ungeziefer störte ihn nicht. Alte Sache: Wo es Araber gab, gab es auch Ungeziefer. Er wickelte eine Plastikfolie aus, die er mit Hilfe der Greisin über das Bett breitete, und bestrich die herabhängenden Ränder der Folie mit einer ockerbraunen, zähen Paste. Dann nebelte er das Zimmer mit einer Flitspritze ein und schloss die Tür. Was noch lebte, starb.

Die alte Frau beeindruckte das wenig. In der Küche bot sie Lundgren zu essen an, er lehnte dankend ab. Sie zog eine Flasche selbstgebrannten Schnaps unter der Schürze hervor, er behauptete, aus religiösen Gründen keinen Alkohol zu trinken. Anschließend bot sie ihm der Reihe nach einen Kaffee, einen Bohnenkaffee, einen Leihwagen, eine Prostituierte und ihre Enkelin an. Winziges Mädchen, garantiert keine zehn! Ihre dünnen, rissigen Lippen machten schmatzende Geräusche, um die verführerische Frische der Verwandtschaft anzudeuten. Lundgren sah die Greisin nachdenklich an, drückte ihr ein kleines Bakschisch in die Hand, ließ sich einen Schlüssel für die Haustür geben und sagte, er hieße Herrlichkoffer, aber sie solle mit niemandem darüber sprechen. Dann justierte er das Bärtchen auf seiner Oberlippe neu und spazierte hinaus in den Tod.

8. AUF DER GANGWAY

If you look good and dress well, you don’t need a purpose in life.

Robert Pante

Für eine Passagierin, die in Targat keinen Landgang unternehmen, sondern von Bord gehen wollte, hatte Helen erstaunlich wenig Gepäck dabei. Einen kleinen Kalbslederkoffer und einen noch etwas kleineren Hartschalenkoffer aus schwarzem Plastik. Der Chefsteward verabschiedete die Fahrgäste. Bei der ganz in Weiß gekleideten Frau mit den platinblonden Haaren stutzte er.

«Auf Wiedersehen, Mrs. …»

«Auf Wiedersehen, Mr. Kinsella.»

Auf der Gangway stauten sich die Passagiere. Zwei Seeleute an Land versuchten, die Menschenmenge in grauen Dschellabahs fernzuhalten, ein Gewimmel aus Lastträgern, Hotelvermittlern und Taschendieben. Mit Waren behängte Händler und Krüppel riefen durcheinander, ein Kinderchor sang: «Donnez-moi un stylo, donnez-moi un stylo!»

Es waren die ersten französischen Worte, die Helen seit dem College gehört hatte. Sie schob sich die Sonnenbrille ins Haar, überlegte, ob es sinnvoll sei, ihre Taschen nach einem Schreibgerät zu durchsuchen, und spürte im selben Moment, wie jemand nach ihrem Koffer griff. Ein kleiner Junge hatte sich die Hälfte der Gangway hinaufgestürzt. Mit verbissenem Gesichtsausdruck riss er an dem Gepäckstück. Wollte er es tragen? Es stehlen? Helen umklammerte den Griff. Der Junge — verfilztes, schwarzes Haar, schmale Schultern — kämpfte einen stummen und verzweifelten Kampf, dann öffnete sich der Verschluss des Koffers, und sein Inhalt stürzte in buntem Schwung ins Meer, Lippenstifte und Salben und Fläschchen und Wattepads, gefolgt von dem anmutig mit den Flügeln schlagenden Koffer selbst. Helen stolperte einen Schritt zurück.

Sofort kam Mr. Kinsella die Stufen hinuntergerannt, und von unten boxte sich einer der Seeleute durch die Passagiere hinauf. Der eingekesselte Junge ließ sich unter den Halteseilen hindurchgleiten und plumpste in den schmalen Streifen Meer zwischen Schiff und Pier. Ein Betrunkener auf dem Oberdeck klatschte Beifall, der Junge hundepaddelte mühsam davon.

«Willkommen in Afrika», sagte Mr. Kinsella. Er half Helen, den anderen Koffer zu den Taxis zu tragen, und sah ihr lange hinterher.

Der Taxifahrer hatte nur einen linken Arm und schaltete die Gänge, indem er den Oberkörper herumdrehte, während er mit den Knien das Steuer festhielt. «Mine», sagte er und wedelte mit der kahlen rechten Schulter. Es war sein einziger Beitrag zur Konversation. Über schmale, abenteuerliche Serpentinen ging es das Küstengebirge hinauf.

Das Sheraton war nicht das einzige Gebäude auf dem Höhenzug, aber das einzige, das mit seinen zwanzig Stockwerken weit über den Dschungel hinauswuchs.

Es war in den fünfziger Jahren errichtet worden, und der Architekt hatte sich nicht entscheiden können zwischen Funktionalität und einer nachträglich an die Wände geklatschten Folklore aus bunten Mosaiken, Spitzbögen und Mukarnas; eine eklektizistische Katastrophe. Es lag sicher nicht an dieser Stillosigkeit allein, dass sich das Hotel so großer Beliebtheit erfreute, aber sie hatte ihren Anteil daran. Selbst in der Nebensaison musste man lange im Voraus buchen.

Meine Eltern hatten ein Zwei-Zimmer-Apartment im neunten Stock gemietet, und wenn sie mich, wie so oft, hinausschickten, um hinter verschlossenen Türen geheimnisvolle Dinge zu treiben, erkundete ich allein das weitläufige Hotelgelände. Ich ließ mir vom Poolwärter die Verteilung der Handtücher zeigen, betrachtete die immer wieder verwirrende Droste-Cacao-Werbung vor dem Restaurant und half einer hübschen jungen Frau an der Bar, die Strohhalme zu sortieren. Mit meinen ersten französischen Worten («numéro neuf cent dix-huit») bestellte ich unbegrenzte Mengen Zitroneneis und Coca-Cola und fuhr mit dem Fahrstuhl vom Keller zur Dachterrasse und zurück. Die Hotelangestellten liebten mich. Ich trug ein weißes T-Shirt mit den olympischen Ringen drauf und eine kurze Lederhose mit roten Herzchen als Taschen.

Was das für geheimnisvolle Dinge waren, die meine Eltern nötigten, Tag für Tag die Türen vor mir zu schließen, wusste ich nicht. Ich war sieben Jahre alt. Ich wusste nur, dass es mit Sex nichts zu tun hatte. Sexuelle Handlungen waren tabu, denn alle Lebenskraft lag im Samen, und der Samen hatte im Körper zu verbleiben. So lehrte es der große Sri Chinmoy. Heute denke ich, dass die verschlossenen Türen mit den kleinen Plastiktütchen zusammenhingen, die mir bei Spaziergängen durch Targat mit einer Sicherheitsnadel hinter den Quersteg der Hosenträger meiner Lederhose geheftet wurden. Aber ich war weder sehr neugierig zu erfahren, was es damit auf sich hatte, noch unglücklich über mein Schicksal. Am liebsten stand ich auf der Dachterrasse.

Von der Dachterrasse des Sheraton hat man einen zur Seeseite hin schwindelerregenden Blick über die Bucht von Targat und den kleinen Hafen. Zahlreiche zum Hotel gehörige weiße Bungalows liegen über die Flanke des Berges ausgeschüttet wie Würfelzucker. Rostige Lastkähne, sandfarbene Häuser und lehmige Gassen drängen sich im Halbkreis um das Meer, und im Hafen dümpelt alle zwei Wochen ein strahlend weißes Kreuzfahrtschiff, ein riesiger, schwimmender Tempel, der für die einen Wohlstand und Vergnügen bedeutet und für die anderen nur Wohlstand. Nach Osten hingegen sieht man knapp über den rückwärtigen Berggrat hinweg bis weit ins Landesinnere, über einen Dschungel aus grünem Blumenkohl, Plantagen und Slums hinweg in die endlose Wüste hinaus, wo an klaren Tagen am Horizont die Felsnadel von Tindirma zittert.

Wenn ich von dort über fünf Kugeln Zitroneneis hinweg den gewölbten Erdball sah, war ich vollkommen glücklich. Ich war Rommel auf der Wüstenseite und rettete meine Männer gegen den ausdrücklichen Befehl des Führers, ich war Jacob Roggeveen am Meer und entdeckte unbekannte Osterinseln, und wenn ich zwischendurch einmal ich selber war, versuchte ich, auf die Köpfe der blonden, braunen und schwarzen Ameisen zu spucken, die fünfzig Meter unter mir aus dem Gebäude strömten. Auf dem Weg dorthin trieb der Wind meine Spucke davon, meistens traf ich nur eine blaue Markise. Die Frage, ob ich am letzten Augusttag des Jahres 1972 auch dort oben gestanden und die amerikanische Touristin und den einarmigen Taxifahrer bemerkt habe oder ob hier eine Fotografie meine Erinnerung überlagert, kann ich heute nicht mehr mit Bestimmtheit beantworten. Sicher ist allerdings: Nachdem Helen Gliese sich den Schlüssel für ihren Bungalow an der Hotelrezeption abgeholt hatte, verließ sie das Gebäude sofort wieder in Begleitung eines jungen Pagen, der ihren kleinen Kalbslederkoffer trug. Der Page wiegte den Kopf beim Gehen hin und her, als ob er leise vor sich hin sänge, und versuchte beim Überqueren der Straße mehrmals wie geistesabwesend die Hand der platinblonden Frau zu ergreifen.

Helens Bungalow lag auf halbem Weg zum Meer. Er hatte zwei Zimmer und eine Küche, eine Terrasse mit Meerblick und ein Mosaik aus gelben und blauen Arabesken über der Tür, in das mit roten Steinchen die Nummer 581d eingelassen war. Eine Fotografie dieser Tür, wie sie damals in vielen Zeitschriften zu finden war, hängt über meinem Schreibtisch.

9. SPASSKI UND MOLESKINE

Mit derlei unwichtigem Hoftratsch, der ebenso nichtssagend war wie die Begebenheit, die wir vorhin erzählt haben, müsste man den Bericht über die vier nächsten Jahre ausfüllen.

Stendhal

Canisades konnte besser mit den Einheimischen. Er stammte aus einer kleinen Stadt im Norden des Landes, seine nach den Unabhängigkeitskriegen zu Verwaltungsbeamten heruntergekommenen Vorfahren gehörten ehemals der Oberschicht an. Wie Polidorio hatte er in Frankreich studiert. Auf dem Pariser Nobelinternat, das er zwei Jahre lang besuchte, gab er an, eine jüdische Mutter zu haben, was nicht stimmte. In Targat behauptete er, Spross einer französischen Industriellenfamilie zu sein, was auch nicht stimmte. Ansonsten war Canisades kein schlechter Mensch. Sein leichter, erfindungsreicher Umgang mit der eigenen Biographie schien ihm ebenso angeboren wie die eleganten Umgangsformen und ein Charme, der in Mitteleuropa schmierig genannt worden wäre und hier die Herzen aufschloss. Er hatte kurz vor Polidorio seinen Dienst in Targat angetreten, aber im Gegensatz zu diesem keine Schwierigkeiten, sich zu akklimatisieren. Nach zwei Wochen kannte ihn die halbe Stadt. In den Kifferspelunken an der Corniche ging er ebenso ein und aus wie in den Villen der amerikanischen Intellektuellen, und er versah seinen Dienst im Übrigen durchaus zufriedenstellend.

Wenig von Erfolg gekrönt waren allein seine Versuche, auch den neuen Kollegen in das Gesellschaftsleben der Stadt einzuführen. Polidorio ließ sich zwar gern zu allerhand überreden, konnte aber mit den Gruppen, zu denen Canisades so eifrig wie unterschiedslos Kontakt aufnahm, nur wenig anfangen. Die Idee, eine Party der High Society einem Abend unter Freunden vorzuziehen, wäre ihm nie gekommen, und wie alle, denen gesellschaftliche Eitelkeit unbekannt ist, hatte Polidorio Mühe, sie sich als Triebfeder in anderen vorzustellen.

Was ihm noch am ehesten zusagte, waren die spätnächtlichen Bordellbesuche. Seitdem Canisades ihm in der langen Nacht der Akten einmal gezeigt hatte, wie die Sache funktionierte, war der Gang ins Hafenviertel für ihn zur lieben Gewohnheit geworden. Wobei schwer zu sagen war, was ihn daran reizte. Die geschlechtliche Befriedigung sicher nicht, dafür fand sie zu selten statt.

Die Frauen, die dort arbeiteten, stammten aus entsetzlichen Verhältnissen, keine von ihnen hatte je eine Schule besucht, und wer annahm, dass sie ihre intellektuellen Defizite durch Einfühlungsvermögen oder körperliches Geschick wettzumachen verstanden, täuschte sich.

Polidorio verachtete sie für das, was sie taten, schämte sich für die Dinge, die er mit ihnen trieb, und war zu scheu, das zu verlangen, was er eigentlich wollte. Es war eher die Atmosphäre, die ihn anzog, die unmerkliche Verschiebung des Alltags, der Verstoß gegen die Ordnung der Dinge, dem er sich von Berufs wegen eigentlich entgegenstemmen musste, und vor allem diese unerklärliche Aufregung. Er unterhielt sich gern mit den Damen, und es beförderte ihn in einen sonderbaren Zustand, zu wissen, dass er etwas mit ihnen tun konnte, wenn er denn wollte. Unter dieser Aufregung, die sich schon beim Gang ins Hafenviertel zuverlässig einstellte, vermutete Polidorio beständig eine Art Abgrund. Etwas tief Beunruhigendes, ja Dämonisches, das ihm, wie vielen schlichten Gemütern, an sich selbst gut gefiel: Hat meine Persönlichkeit vielleicht noch verborgene Schichten? Untiefen, die mich zu verschlingen drohen? Wobei er mit seiner Idee des Dämonischen nicht weit über das hinauskam, was Frauenzeitschriften von der Psychoanalyse wussten.

Im Gegenzug und auch, um sein Gewissen zu erleichtern, versorgte er seine Favoritinnen mit chemischen Schätzen aus der Asservatenkammer, behördlichen Dokumenten und Razzia-Durchsagen, und obgleich er darin nicht anders verfuhr als jeder andere Polizist, der ins Bordell ging, empfand er auch dies als ein wenig unheimlich, abgründig und verrucht. Indes war das Unheimlichste vielleicht, dass in diesem Abgrund zwei Drittel seines Nettolohns verschwanden. Überflüssig zu erwähnen, dass Polidorios Ehefrau bescheiden lebte und von alledem nichts wusste.

Doch am Abend des Tages, als die beiden Kommissare gemeinsam Amadou verhört hatten, gingen sie nicht ins Hafenviertel. Canisades hatte Polidorio gebeten, sich diesen Termin freizuhalten, aber nicht verraten, wohin er wollte, und Polidorio hatte das mit verhaltener Begeisterung aufgenommen.

«Nicht zu den Scheißamis», sagte er, als er Canisades in seinem besten Anzug sah, «bitte nicht zu den Scheißamis», und Canisades sagte: «Stell dich nicht so an.»

Im ersten Gang kroch der Polizeiwagen die Serpentinenstraße am Küstengebirge hinauf und hielt gegenüber einer prächtigen Villa aus den vierziger Jahren, zwischen schwarzen Limousinen und Cabrios mit weißen Reifen. Die Villa gehörte einem der beiden amerikanischen Schriftsteller, die in der Stadt lebten. Sie war von einer hohen, weißen Mauer mit überdimensioniertem Art-déco-Portal umgeben, vor dem sich tagsüber gerne Touristen fotografieren ließen. Das Portal bestand aus zwei stilisierten Papyrusbündelsäulen, davor androgyne Jünglinge mit schlanken Marmorkörpern, deren Füße in klaffender Schrittstellung in der Luft schwebten, als liefen sie aufeinander zu. Der linke Läufer trug einen Hammer und ein Dreieckslineal in der Armbeuge, er lächelte. Der rechte hatte eine Peitsche und ein Gitter in der Hand, und eine tiefe, gesäßartige Einkerbung auf seiner Stirn drückte bildhauerisch zweifelhaften Zorn aus. Schon dreißig Jahre nach Errichtung der Villa wusste kein Mensch mehr das symbolische Programm zu deuten.

Klirren und Gelächter einer Party drangen über die Mauern, und Polidorio fragte seufzend, welcher der beiden Schriftsteller hier wohne.

«Kneif einfach die Fuge zusammen.» Canisades zog am Klingelband.

«Es interessiert mich wirklich.»

«Dann lies mal eins von ihren Büchern.»

«Hab ich versucht. Also, wer wohnt hier?»

«Es gibt eine Eselsbrücke», sagte Canisades. «Die Dinger da sehen aus wie Schachfiguren.»

Es gab, soweit Polidorio das beurteilen konnte, eine Menge Amerikaner in Canisades’ Bekanntenkreis, die drei Gemeinsamkeiten hatten: Sie machten irgendwas mit Kunst, irgendwas mit Drogen und dann noch irgendwas Krankes mit Sexualität. Die beiden auffälligsten waren die Schriftsteller, die Canisades um der leichteren Unterscheidung willen Spasski und Moleskine getauft hatte. Beide galten als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, Spasski schon länger, Moleskine erst seit kurzem und eher als Geheimfavorit.

Spasski kam aus Vermont und sah sich selbst nicht so sehr als Amerikaner. Seiner Ansicht nach entsprach er eher dem distinguiert-europäischen Typus. Er trug Anzüge aus Paris, begeisterte sich für den technischen Fortschritt und verachtete seinen Kollegen für dessen rückständiges Notizbuch. Er hämmerte mit großer Disziplin jeden Tag genau vier Seiten in eine schwarze Reiseschreibmaschine und versuchte abends auf der Corniche, die Sizilianische Verteidigung einheimischer Stricher aufzubrechen.

Warum er sich dem Schachspiel mit aller Macht und Leidenschaft ergeben hatte, war nicht ganz klar. Er beherrschte es allenfalls amateurhaft und machte keine Fortschritte. In seinem letzten Buch gab es eine Szene, in der der geheimnisvolle Held, aus dunkler Unterschicht emporgetaucht, seinen messerscharfen Intellekt demonstrierte, indem er einen serbischen Großmeister en passant mit der Eröffnung b2-b4 vom Brett fegte, plus Damenopfer im Mittelspiel. Ein Kritiker der New York Times merkte dazu an, er habe diese Szene so oder so ähnlich bereits in zwei anderen Büchern desselben Autors gelesen; vierzehn Tage später erhielt die Redaktion ein schmales Luftpostpaket aus Afrika, das nichts weiter enthielt als eine verwesende Ratte.

Moleskine dagegen bevorzugte männlichere Themen. Er war vom schlanken, asthenischen Typus, litt an den Spätfolgen einer nicht ausgeheilten Tbc und hatte einen Doktor der Philosophie, was er in Gesellschaft gern verschwieg. Das bekannteste Foto zeigte ihn in Boxhandschuhen. Das zweitbekannteste zeigte, wie er am Strand von Targat stehend mit heruntergelassenen Hosen auf Das Damengambit des Kollegen Spasski urinierte.

Er sammelte historische Waffen und hatte kurz nach seiner Ankunft in Targat eine Art homosexueller Wehrsportverbindung gegründet. Für eine Reihe zwölfjähriger Knaben ließ er in Marseille weiße Hosen und prächtige blaue Uniformröcke schneidern, stattete sie mit realistisch aussehenden Spielzeuggewehren aus und veranstaltete in der nahe gelegenen Wüste als Oberbefehlshaber der kleinen Truppe paramilitärische Manöver, bei denen vor allem der Ausdauerlauf, das Ertragen körperlicher und seelischer Schmerzen, das Exerzieren in glühender Sonne und das rasche Fortwerfen der kleinen Röcke geübt wurde. Die beiden Schriftsteller waren abwechselnd gut befreundet und vollkommen zerstritten und machten sich in jeder der beiden Phasen gegenseitig ihre Haushaltshilfen in Form zartgliedriger, braungebrannter Knaben abspenstig.

Ein ebensolcher, bekleidet nur mit einer kurzen, gelben Turnhose, öffnete jetzt das schmiedeeiserne Tor. Der Vorgarten war von Fackeln erleuchtet und verschwamm an den Rändern im Dunkel hoher Bäume. Polidorio hielt sich ängstlich hinter Canisades. Sie betraten eine Halle mit riesigen Treppen, hohe Türen zum Garten hin, Männer in Anzügen, Frauen in Kleidern von Yves Saint Laurent. Dazwischen weitere Turnhosen, die auf silbernen Tabletts Speisen und Getränke servierten. Vom Gastgeber nichts zu sehen.

Canisades grüßte nach allen Seiten, Polidorio lief mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihm her. Da es keine offizielle Vorstellung oder andere altmodische Höflichkeiten gab, war man immer gezwungen zu raten, ob man gerade einem hohen Ministerialbeamten, einem mittellosen Intellektuellen oder einem dahergelaufenen Perversen gegenüberstand. Für jemanden wie Polidorio, dem Hierarchien noch etwas bedeuteten, war das ungeheuer anstrengend.

Das Buffet bestand aus Speisen, die er noch nie gesehen und deren Namen er noch nie gehört hatte. An den Wänden hingen Bilder in einem ungegenständlichen Stil, auf dem Boden um die Bar waren Sägespäne ausgestreut, und zwischen den Beinen der Anwesenden wieselte ein kleines, pelziges Tier mit goldenem Halsband herum, von dem Polidorio beim besten Willen nicht sagen konnte, ob es sich um einen kleinen Hund, eine große Ratte oder noch ganz etwas anderes handelte.

Canisades hatte sich sofort zu ein paar alten Bekannten gesellt. Polidorio stellte sich halbherzig dazu, beteiligte sich aber nicht am Gespräch. Er hatte einer der Turnhosen ein Sektglas abgenommen, und seine Aufmerksamkeit wurde gefesselt von einer ganz in Weiß gekleideten Frau, die ein wenig weiter weg stand. Sehr schlank, sehr blond, große Brüste, aber irgendetwas schien mit ihr nicht zu stimmen. Ihre Mimik wirkte sonderbar verrutscht. Um sie herum stand eine Handvoll amerikanischer Offiziere, die ihr aufmerksam zuhörten und ein wenig zu eifrig über jeden ihrer schleppend vorgetragenen Sätze lachten.

«Mein Kollege Polidorio», sagte Canisades, und eine von Altersflecken übersäte Hand streckte sich dem erschrockenen Kommissar entgegen.

«Angenehm, sehr angenehm! Ich wünschte, mein Leben wäre so aufregend wie Ihres. Warum erscheinen Sie eigentlich nie in Ihrer schmucken Uniform? Haben Sie Angst, mein Haus zu einem verrufenen Ort zu machen?»

Polidorio, der die einleitenden Sätze verpasst hatte, schüttelte schüchtern den Kopf. Der Altersfleckige war offenbar Spasski. Ein großer, kahlköpfiger Mann. Ein einnehmendes Wesen konnte man ihm immerhin nicht absprechen. Während Polidorio noch geschmeichelt versuchte, sich eine respektvolle Antwort zurechtzulegen («Habe Ihr letztes Buch gelesen», «Diese Party ist so aufregend wie gute Literatur», «Ich wünschte, mein Leben wäre so aufregend wie Ihre Bücher»), hatte Spasski sich schon einem anderen zugewandt und redete nun überaus einnehmend auf diesen ein.

Canisades führte seinen Kollegen anschließend noch bei zwei, drei anderen Gruppen ein, aber Polidorio hatte rasch das Gefühl, seinen Freund von dem Klotz am Bein, der er selber war, befreien zu müssen. Er schlenderte ins Haus und zurück in den Garten, stellte sich hierhin und dorthin, um geschäftig zu wirken, und blieb doch ohne Anschluss. Überall waren die Gespräche in vollem Gange. Das ihm sonst von Gesellschaften so vertraute peinliche Schweigen, gelegentliche und gar nicht so unsympathische Unbeholfenheiten in der Kommunikation, nachdenkliche Pausen zwischen Fragen und Antworten gab es nicht. Alles redete rasend schnell durcheinander. Wenn er hinzutrat, wurde er nicht bemerkt, mitunter sehr ostentativ nicht bemerkt, und wenn er selbst einmal einen Satz einwarf zu Themen, von denen er etwas zu verstehen glaubte, wandte man sich ihm mit so verletzender Höflichkeit zu, dass er sofort den Faden verlor. Die Gesellschaft war eine einzige, unklare Demütigung.

Den ganzen Abend wanderte er verloren umher und mied nur die Gruppe mit der blonden Frau, die ihm ein wenig unheimlich war. Er wurde immer schweigsamer und hörte nur noch zu. Er beobachtete.

Wenn es eine Eigenschaft gibt, die den erfahrenen Kriminaler vor dem Laien auszeichnet, ist es die Qualität seiner Wahrnehmung. Er weiß sofort, wohin er schauen muss, er scheidet das Wichtige vom Unwichtigen, er kennt die Unzuverlässigkeit des menschlichen Blickes. Wahrnehmen und Beobachten ist kein Naturtalent, man kann es studieren und einüben … diesen Unsinn jedenfalls hatte man Polidorio seinerzeit auf der Polizeiakademie gelehrt, und häufig, wenn er sich in Gesellschaft langweilte, versuchte er noch einmal vergeblich, ihm gerecht zu werden. Er sah Gespräche und Sprecher vorübertreiben, hörte auf Unsinniges und Zusammenhangloses, bemühte sich kurz, es zu verstehen oder sich wenigstens zu merken, und steigerte sich doch nur immer mehr in Abwehr und Verachtung hinein.

«Um mal eine Hausnummer zu nennen, wir bewegen uns im Bereich von drei fünf. Eventuell drei sieben.»

«Vor hundert Jahren hätte man aus den Daten zum Verkehrsaufkommen vorhergesagt, dass London 1972 im Pferdemist versinkt. Nichts anderes macht Peccei, die taube Nuss.»

«Vielleicht der geistreichste Mann der südlichen Hemisphäre.»

«Sobald ein Schriftsteller irgendeine Form von Literaturtheorie ausmünzt, läuft sie immer sofort darauf hinaus, dass zum allgemeinen Ziel erklärt wird, was der Autor selbst am besten kann und schon seit Jahren praktiziert. Das ist keine Theorie. Das ist das, was sich heranbildet in kleinen Hasen, wenn es nachts dunkel wird im großen Wald. Und Theorien von Leuten, die nicht schreiben: lächerlich. Insofern, es gibt keine Theorie.»

«Die sogenannte Wirklichkeit.»

«Und wenn jemand mir die Tür aufhält, gerate ich sofort unter Druck, ich fühle mich verpflichtet. Ich fange an zu rennen. Aber ich selbst halte natürlich auch immer die Türen auf. Bin ich deshalb Sadist? Fiel mir heute Morgen ein. Der Türaufhaltesadist.»

«Ah, der Herr Cetrois. Guten Abend, guten Abend! Wieder in geheimer Mission? Wo ist denn Ihr Freund?»

«Und mit geistreichster Mann der südlichen Hemisphäre meine ich, ich kenne ‹Katanga› von ihm, das müssen Sie hören. Der kennt jeden einzelnen der Beteiligten, der kann Ihnen die Belgier bis in die Haarspitzen beschreiben, er weiß, was jeder gemacht hat, er weiß, wo die wohnen, er weiß, wie viel Kinder die haben. Und wir reden hier von Geheimdienst. Er kommt direkt aus Cambridge. Jura. Sie lachen! Sie haben Lumumba nicht ernst genommen, und Sie lernen nicht dazu. Das halbe Land hat er schon hinter sich. Ich versichere Sie, wenn es einmal einen Präsidenten eines Vereinigten Afrika geben sollte … Sie dürfen sich nicht blenden lassen von der kruden Rhetorik der Mitstreiter. Das ist die Scharnierzeit, das ist die Blutleuchte, und er ist der Mann. Einfach brillant. Und er ist erst neunundzwanzig. Warm anziehen. Warm anziehen! Helms hat schon den ersten Mann in sein Büro gepflanzt, das glauben Sie nicht, nicht? Hat er aber.»

Der Sprecher hatte einen leicht osteuropäischen Akzent. Sein Gegenüber, ein Grauhaariger mit Hut, Anzug und Einstecktuch, schien nicht einverstanden. Von einer afrikanischen Blutleuchte wollte er durchaus nichts wissen und von friedlicher Einigung noch viel weniger. So wünschenswert der Fortschritt sei, so sehr verlange er zunächst den Rückschritt, den Rückschritt durch Not, Elend, Opfer und Revolution. Und deshalb gebe es kein Vereinigtes Afrika, dafür seien die Gegensätze hier nicht ausgeprägt genug. Es gebe kein klares Oben und Unten, im Grunde überhaupt kein Oben, und vor allem kein Bewusstsein davon. Wohin man auch blicke, nur gesellschaftliche Formlosigkeit, schlechtverstandene Strukturen und schlappes Gemetzel. Er korrigiere sich: zielloses Gemetzel. Nein, dergleichen Utopien könnten ihrer Verwirklichung nur entgegensehen im Zuge des noch viel größeren Projektes des Weltstaates, wobei man auf Europa vertrauen müsse. Amerika zu selbstherrlich, Russland verausgabt und Restasien seit je unpolitisch und Zweitverwerter okzidentaler Staatstheorie. Er rechne spätestens zur Jahrtausendwende damit: der Weltstaat, von Europa aus. Bei dem Wort «Jahrtausendwende» lachte sein Gegenüber albern auf, und auch Polidorio, der das Wort zum ersten Mal hörte, schien es, als sei es kaum wahrscheinlich, dass zu diesem Zeitpunkt noch menschliches Leben auf der Erde wäre. Sie stritten sich weiter.

Die blonde Frau stand allein am Rande des Gartens und schaute in die Nacht hinaus. Man hatte einen Blick das ganze Küstengebirge hinunter. Mondbeschienene Wellenkämme wanderten glitzernd auf einen unsichtbaren Strand zu. Eine Gruppe um Moleskine blätterte in einem Jugendwerk Spasskis wie ausgelassene Teenager in einem FKK-Katalog, in gelber Turnhose lief ein betrunkener Fünfzehnjähriger mit einer riesigen Infusionsspritze hinter Polidorio her und erlaubte sich mehr als einmal den Scherz, so zu tun, als wolle er sie ihm (und anderen Gästen) ins Gesäß rammen.

Irgendwann stand Polidorio dann neben dem jungen Diplomaten, der von osteuropäischer Seite bereits als zukünftiger Präsident des Vereinigten Afrika gehandelt wurde. Blitzend weiße Zähne im schwarzen Gesicht, heller Anzug, überaus gewinnendes Lächeln. Er war tatsächlich ungeheuer schnell im Kopf, wie Polidorio mit den Resten seiner betrunkenen Wahrnehmung feststellen konnte, er hatte Humor, er war geistreich. Aber was nützte es ihm? Er war immer noch ein Schwarzer. Schon nach der ersten Hypotaxe konnte Polidorio ihm nicht mehr folgen.

Als der zittrige Gastgeber von zwei Lakaien gestützt auf einen Klappstuhl im Garten stieg, verstummten alle Gespräche. Die Lakaien blieben vorsorglich neben dem Stuhl stehen, aber Spasski scheuchte sie mit herrischer Geste weg. In Erwartung einer bedeutenden Darbietung drängte die Menge hinzu, von irgendwoher erklang spontaner Vorabbeifall, und auch Polidorio, der wusste, wie viel Canisades die Bekanntschaft dieser amerikanischen Künstler bedeutete, näherte sich mit einer hochgezogenen Augenbraue. Als nur noch das leise Klirren der Eiswürfel in den Gläsern zu hören war, hob Spasski die Stimme. Brüchig, monoton, ein wenig säuselnd, aber auf ihre eigene Weise auch durchdringend, sodass auch in den entferntesten Winkeln des Gartens niemand Mühe hatte, seinen Worten zu folgen.

«Es gilt als tugendhaft, weitsichtig zu sein!», begann Spasski und machte eine Pause, als warte er, bis auch die Eiswürfel sich beruhigt hätten. «Als eine nur dem Menschen, nicht den Tieren gegebene Fähigkeit, um die Zukunft sich zu sorgen, Vorsorge zu treffen. Doch ist der aus dieser Sorge entstehende Menschenschlag exakt der greisenhafte, europäisch-amerikanische Typus, vor dem wir geflohen sind in ein unbesorgteres Afrika, in eine Gesellschaft, in ein Denken, ein Wesen, das noch in der Blüte seiner Jugend steht. Auf diese Blüte möchte ich trinken. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Niemals darf eine trübe Zukunft die strahlende Gegenwart verdunkeln. Richten Sie Ihren Blick nach oben.» Er schaute selbst mit großem Pathos in die Nacht hinauf. Nur wenige Partygäste folgten seinem Beispiel, die meisten blieben mit ihren Blicken an der großen Geste hängen, einem greisenhaft dürren Arm, der vor dem Sternenhimmel zitterte. «Wer ist unter euch, der nicht im Moment des Todes sein Leben für den Preis des größten Teils der Menschheit zurückkaufen würde? Diderot. Wenn ich wählen müsste zwischen der Schönheit des Augenblicks und dem Fortbestehen der Menschheit — ich will dazu einmal Folgendes erklären. Wenn in den nächsten zehn Jahren hier die Lichter ausgehen, wie meine Freunde des römischen Clubs mir wöchentlich über die Zeitung mitzuteilen nicht müde werden; was ist das, philosophisch gesprochen? Wir können neun Zehntel der Menschheit wegstreichen und dann vom Rest noch einmal neun Zehntel, und es bleibt immer noch ein Abschaum. Entrüstung ist nicht notwendig. Nein, wir wissen das. Neun Zehntel. Und doch kann nichts in der Welt uns davon abhalten, dem Turiner Kutschpferd schluchzend um den Hals zu fallen. Denn wir sind Menschen. Und das ist es, und ich meine das so pathetisch, liebe Freunde, wie ich es sage, und wer mich kennt, der weiß es. Reden wir nicht herum. Befreien wir uns vom Dünkel der Aufklärung! Licht gehört nicht in jede Finsternis. Wir alle kennen das Gefühl, das man empfindet. Da wirft man ein paar Kupfermünzen nach einem verhungernden Kind und sieht ein Leuchten der Dankbarkeit in kohlenschwarzen Augen, das strahlender ist als alle Sternenhimmel und jedes Utopia, das Philosophen ersinnen, und dieses Gefühl ist es, ich betone, dieses Gefühl, diese Scham, dieses Elend, der schlecht verhüllte Überlegenheitsaffekt — und nicht die Vernunft — , das können Sie mir glauben. Die Menschheit! Die Menschheit. Mr. Wallich hat vollkommen recht, das Gerede von den Grenzen des Wachstums einen Haufen unverantwortlichen Unsinns zu nennen. Wir werden auch im Jahr 1980 noch Strom haben und glücklich sein. Wir werden auch 1990 noch Strom haben und glücklich sein. Und 2000. Und 2010 werden wir tot sein, aber immer noch Strom haben. Carthage!»

Sein Arm schwenkte herum wie ein Gewehrlauf, zeigte auf eine Gruppe uniformierter Musiker, und das Schlagzeug zählte bis vier.

Targats jüngster Kommissar verabschiedete sich von seinem Kollegen unter dem Vorwand, Kopfschmerzen zu haben. Unter dem Läuferportal atmete Polidorio einmal tief durch.

Da eine Bombe rein, dachte er.

10. DIE ZENTRIFUGE

When I hear of Schrödinger’s cat, I reach for my gun.

Stephen Hawking

Das aber war genau das Problem der Kameltreiber: Sie wollten mit dem Atom rummachen und wussten nicht, wie Zentrifuge geht. Lundgren hatte nicht die besten Noten in Physik gehabt, er war seiner Meinung nach eher der sprachbegabte Typ. Auch in Musik war er gut gewesen und in Sport und in Religion. Aber so viel hatte er in der Schule mitbekommen: Eine Zentrifuge war etwas, das sich schnell drehte. Und eine Ultrazentrifuge war etwas, das sich sehr schnell drehte. Mit ihr konnte man Isotope voneinander trennen, zum Beispiel Uran-235 von Uran-238. Ein hoher, schmaler Zylinder mit großer Rotationsenergie, ein mittelkompliziertes Gerät, das einen Konstrukteur vor hauptsächlich Probleme der Mechanik stellte. Probleme, die wahrscheinlich auch ein begabter Automechaniker in den Griff gekriegt hätte. Nicht so die Kameltreiber. Die Kameltreiber kriegten es nicht in den Griff, denen fehlte selbst für einen drehenden Zylinder das Knowhow.

Wenn sie den Aufwand, den sie betrieben, dachte er, und das Geld, das sie für Folter, Menschenrechtsverletzungen und Israel-Bekämpfung ausgaben, einmal auf die schulische Ausbildung ihrer Automechaniker verwandt hätten, hätten sie sich ihre dämliche Zentrifuge auch selbst bauen können. Quasi. Jeder hätte dieses Ding bauen können. Auch er, Lundgren, hätte es wahrscheinlich mit ein wenig Übung gekonnt und wenn er in Physik besser aufgepasst hätte. Ein drehender Zylinder, Herr im Himmel, wo war das Problem? Nur die hier konnten es nicht. Oder sie wollten es nicht. Vielleicht wollten sie nicht. Lundgren sah auf seine Uhr. Bleichgrüne Zeiger, die im Dunkeln zu phosphoreszieren anfingen, ein Geschenk seiner Frau. Er nahm einen Schluck Minztee und stellte das Glas zurück auf die smaragdgrüne Tischplatte. Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber, verfiel ein zweistöckiges Haus. Die grüne Farbe blätterte ab, und auf dem Dach stand schief ein Fahnenmast, an dem ein dunkelgrüner Stofffetzen Windstille anzeigte. Die Farbe der Revolution.

Lundgren hatte schon viel Elend gesehen in dieser Welt, und er hatte irgendwann herausgefunden, was das Problem des Trikonts und seiner Bewohner war. Neben vielem anderen fanden sie Gehirntätigkeit unmännlich. Das sagte natürlich so keiner. Aber Wissenschaft stand in unscharfer Opposition zu den großen Idealen von Stolz, Ehre und Ramtamtamtam. Wissenschaft war für Weiber. Konntest du einer Frau hundert Dollar geben, und sie stampfte eine Näherei mit acht Angestellten aus dem Boden. Konntest du einem Mann hundert Dollar geben: Bürgerkrieg. Und am schlimmsten die Araber. Was ihnen im Blut lag, waren Nichtstun, Intrige und Fanatismus. Aber Nachdenken war für Frauen, und Frauen, das war auch klar, waren für Nachdenken bekanntlich zu dumm. Ein Teufelskreis. Lundgren dachte darüber nach, und je länger er darüber nachdachte, über das, was er bei sich den Teufelskreis des arabischen Nationalcharakters nannte, desto weniger fremd erschien es ihm. Denn letztlich ging es ihm genauso.

Was war die Wissenschaft? Ein hühnerbrüstiges Gebastel. Betrieben von Wichtigtuern in von Mutti rausgelegten Hemden, kleinen Männchen mit Brillen wie Glasbausteinen, die kaum bis zur Labortür gucken konnten und einem mit herablassender Fistelstimme Aufträge erteilten: Geh du in die Welt und mach den Dreck weg, die Hauptsache haben wir längst durchgerechnet und erledigt. Physik war, philosophisch betrachtet, ein Modell zur Beschreibung der Realität. Aber es war ein falsches Modell. Physik war unterkomplex, denn sie blendete das Wichtigste aus, den Menschen und seine Schwachheit. Das hatten die Kameltreiber immerhin begriffen: Auch der größte Nobelpreisträger vermochte der einfachsten Gewaltanwendung nicht standzuhalten. Die Wissenschaft hatte keinen Bezug zur Wirklichkeit, zur wirklichen Wirklichkeit, da fehlte die Rückkopplung. Spionage hatte diese Rückkopplung. Spionage war komplex, ein fast künstlerischer Vorgang, und wie jede Kunst war sie Täuschung und Illusion. Eine Kunst und ein Sport und im Gegensatz zur Wissenschaft dem Leben so ähnlich, dem herrlichen, dem großen, dem auslöschbaren, fragilen Gesamtkunstwerk des kleinen Menschenlebens, und das Einzige, was einen wahnsinnig machen konnte, war, dass der Kontaktmann nicht erschien. Wahrscheinlich hockte er irgendwo auf seinem Hof, penetrierte seinen Lieblingshammel und hatte darüber die Isotopentrennung längst vergessen.

Dass der Kontaktmann nicht erschien … und die Sonne. Schon am Abend des ersten Tages hatte Lundgren sich einen lächerlichen Strohhut gekauft. Der schützte ihn kaum vor den Strahlen, die acht Minuten zuvor die Sonne als Abfallprodukt einer Kernfusion ausgesandt hatte, damit sie unerbittlich genau auf Lundgrens Stirn prallten. Aber ins Innere des Cafés wagte er sich nicht zu setzen. Überblick behalten, Sicherheit. Grundregel. Die elektromagnetische Strahlung brannte durch den Strohhut, er schaute auf die grüne Fahne, er schaute auf das grüne Haus, und plötzlich war das Wort weg.

Ein taubes Gefühl blieb wie Watte auf seiner Zunge zurück. Das Wort war weg. Es war, als würde er sich nicht an seinen eigenen Namen erinnern. Er erinnerte sich nicht an den Namen vom Dings. Das Dings, das sich drehte. Weswegen er hier war. Klar, Zentrifuge, zentrifugal. Das kam gleich neben Zentaur, Zentrum, Zentralgestirn. Die Zentrifuge, sicher. Und davor? Es wurde immer schlimmer. Vorhin hatte er schon Münztee gedacht. Mademoiselle, ein Münztee. Und Hammelkinder. Aber warum war er jetzt eigentlich hier? Wegen der … Extremzentrifuge? Der extrem schnellen Schnellzentrifuge? Nach ausgiebigem Schläfenmassieren kam Lundgren noch auf Quasi. Die Quasizentrifuge. Das war nicht das richtige Wort. Oder? War das das richtige Wort? Und wenn das nicht das richtige Wort war, wie sollte das noch enden? Guten Tag, mein Name ist quasi Lundgren. Ich bringe hier die Dings. Ja, danke schön, keine Ursache. Es wurde wirklich immer dümmer. Es war die Sonne, die Scheißsonne. Der Scheißtee. Und die Scheißzentrifuge.

Zwei Zigaretten und eine halbe Tasse Tee später zitterte Lundgren wie Erbsenlaub. Als ein Mann, der gewohnt war, allen Seiten mit Misstrauen zu begegnen, besonders der eigenen, hatte ihn von Beginn an der Verdacht geplagt, als Köder ausgesandt worden zu sein. Wie ein Lehrling, der nach Siemens-Lufthaken oder dem verlängerten Augenmaß geschickt wird, und hinterher lachen sie ihn aus. Die Hühnerbrüstigen. Zeigen mit dem Finger auf ihn, schauen durch ihre Glasbausteine und werfen mit Tafelkreide. Nur dass sie hier nicht mit Tafelkreide werfen würden, sondern schlimmer. Lieblingsfach Foltern.

Es war nicht ungefährlich gewesen (und auch nicht einfach), unbemerkt einen Blick auf die Pläne zu werfen. Er hatte dazu an eins von diesen Leuchtgeräten gelangen müssen. Der Text war verschlüsselt, oder jedenfalls auf Arabisch, was aufs Gleiche hinauslief, aber er hatte auch Konstruktionszeichnungen enthalten. Und obgleich Lundgren nichts davon verstand, hatten die Gebilde in seinen Augen doch einen ausreichend zylinderförmigen und geheimen Eindruck gemacht. Über Hunderte Seiten. Da ging es eindeutig nicht nur um Zentrifugen. Das hatte ihn beruhigt. Das war kein Siemens-Lufthaken. Für einen Lufthaken war das Ding zu groß. Er war in ordentlicher Mission unterwegs. So leicht machte man ihm nichts vor.

Und doch wurde ihm mulmig. Es war nicht die Sorte Auftrag, bei der ein Scheitern hinnehmbar war. Er saß im Niemandsland, in der Wüste, und ihm gegenüber auf der anderen Straßenseite im Schatten seit zwei Tagen ein zahnloser Araber, der ihn anstarrte. Ununterbrochen. Ab und zu kippte der Alte nach vorn, um in irgendeine Richtung zu beten. Danach starrte er wieder ihn an.

«Der sitzt da immer, der hat sie nicht alle», informierte ihn die zwölfjährige Serviererin, aber der konnte man auch nicht trauen. Immer, wenn er sich umdrehte, warf sie ihm feurige Blicke zu. Ein Biest! So war das in diesen Breiten. Dumm wie Binsenstroh. Aber gut aussehen, das konnten sie. Wie die Tiere. Quasi Nationalcharakter. Diese goldene Haut! Diese schwarz-schwarzen Augen! Das lag ihnen im Blut. Wem konnte man noch trauen? Das war das Aufregende an dem Beruf, man konnte niemandem trauen. Der Mensch war eine Maske, die Welt nur Fassade und hinter allem ein Gedanke und ein Geheimnis. Und hinter jedem Geheimnis noch ein Geheimnis, wie der Schatten eines Schattens.

Lundgren lächelte versonnen in sich hinein. Und dann plötzlich, am Nachmittag des zweiten Tages: die Katastrophe. Von irgendwoher hatte der zahnlose Alte auf einmal ein kleines, elektronisches Gerät. Er suchte es in der Hand zu verbergen, aber Lundgren sah es aus den Augenwinkeln. Ein winziges Blinken in der Sonne. Der Araber bewegte das schwarze Kästchen auf sein Ohr zu, im selben Moment kam ein Jeep die Straße hinuntergefahren — und das war das Signal. Lundgren sprang auf. Er rannte ins Café, flüchtete auf die Toilette. Hielt sich am Waschbeckenrand fest und überredete sein Spiegelbild zur Besonnenheit. Dann Stimmen. Dann Schritte: Lundgren hechtete durch das Fenster. 42 Grad im Schatten. Er nahm eine Mauer im Sprung (110 Meter Hürden in 14,9 Sekunden, schwedischer Landesrekord der Junioren), bog zwischen aufgeschreckten Hühnern zweimal links ab und erreichte fliegend die Hauptstraße, an der das Café lag. Betastete die in der Achselhöhle verborgene Waffe. Legte den Sicherungshebel um. Dachte an seine Frau und spähte um die Ecke.

Durch sonnenflirrende Luft sah er das kleine Café, sah seinen Notizblock, seinen Sonnenhut und seinen Malztee allein auf dem Tischchen vor der Veranda. Davor ein leerer Stuhl. Lundgrenförmige Luft hatte seinen Platz eingenommen. Auf der anderen Straßenseite vor dem grünen Haus unbeweglich der Araber, an seinem Ohr ein Transistorradio. Musik, leiernder Gesang. Der Jeep war vorübergefahren. Alles an Lundgren flatterte. Die zwölfjährige Schönheitskönigin winkte ihm freundlich-erstaunt. Lundgren trottete zurück an sein Tischchen wie ein schwitzender Käse. Sie lächelte. Er sah sie nicht an. Sie drückte ihre unterentwickelten Brüste nach vorn. Er blockte. Erst Auftrag durchführen, dann Mädchen flachlegen. Alte Regel.

Am Nachmittag begann die Straße vor dem Café sich zu beleben. Männer schoben sich Richtung Zentrum, da schien was los zu sein. Unverständliche Rufe, immer dasselbe Wort. Lundgren beobachtete es mit schmerzverzerrtem Gesicht. Wenige Stunden später wogte die Masse zurück. Dasselbe Gerufe.

Am dritten Tag gab Lundgren dem zahnlosen Alten morgens ein Bakschisch, damit er sich woanders hinsetzte. Der Alte nahm das Geld und blieb sitzen. Am vierten Tag grüßte Lundgren mit den Worten: «Heute schon dein Schaf gefickt?», und der Araber hielt nur noch die Hand hin. Ein weißer Lichtstrahl schien vom Himmel herunter, und Lundgren spendete ein noch größeres Bakschisch und lachte und strahlte und konnte überhaupt nicht mehr aufhören mit Strahlen und merkte mit dem Rest Vernunft, der ihm verblieben war, dass irgendetwas in seinem Innern, vielleicht sein Gehirn, vielleicht die Diarrhö, vielleicht der Anblick der mannbaren Negerprinzessin, ihn mit gefährlicher Euphorie vollpumpte. Euphorie war kontraproduktiv, Euphorie war verboten. Er wusste das. Er wusste alles. Er war Lundgren.

11. REVISION

Wer nicht weiß, wohin er geht, erreicht mit jedem Schritt sein Ziel.

Sprichwort der Fulbe

Am nächsten Tag ließ Polidorio sich noch einmal die Akte bringen, ein von einem Faden zusammengehaltenes, schmales Papierbündel, und breitete ihren Inhalt vor sich auf dem Schreibtisch aus. Obenauf die Protokolle der Vernehmungen Amadous, die im Zentralkommissariat durchgeführt worden waren; Polidorio überflog sie nur kurz. Er war bei zweien selbst dabei gewesen und wusste, dass Amadou an seinen Angaben festgehalten hatte. Das letzte Protokoll bestand aus einem einzigen Satz: Aussage siehe Vortag.

Der Rest der Akte war ungeordnet. Polidorio suchte zuerst die Augenzeugenberichte. Sie waren zum größten Teil mit der Maschine geschrieben, zum Teil aber auch handschriftlich, mit unverständlichen Abkürzungen und stenographischen Einsprengseln abgefasst. Auf fast allen maschinengeschriebenen fehlte der Name des Befragers, mitunter auch das Datum. Es war anzunehmen, dass Karimi die Berichte angefertigt hatte. Canisades war nur kurz nach Amadous Festnahme einmal in Tindirma gewesen, Polidorio überhaupt noch nicht. Eine Häufung einfältiger Wendungen («des Weiteren gab er zu Protokoll», «äußerte der Zeuge entrüstet») deutete allerdings darauf hin, dass jemand Beschränkteres als Karimi die Aussagen abgetippt oder bearbeitet hatte. Zwischen den Papieren fanden sich Tatortbeschreibungen, Lageskizzen und Zeitpläne. Aber auch Hotelrechnungen, unentzifferbare Kritzeleien, eine Anweisung des Innenministeriums zum Umgang mit ausländischen Journalisten. Auf einer Papierserviette eine Auflistung von Geldbeträgen. Ein Erinnerungsprotokoll der Tatortbegehung: undatiert. Ein Bittschreiben der Mutter eines der Opfer: unvollständig. Lageskizze zweier Körper im Grundriss eines Hauses: unkommentiert. Die Akte ein einziger Schrott.

Eine frühe Zusammenfassung der Ereignisse stammte von Canisades, eine erste wirre Einschätzung («Mit weiteren Morden im Ausländermilieu ist zu rechnen.») von der Polizeistelle in Tindirma. Die Anwesenheit ausländischer Beobachter hatte für erhebliche Unruhe in der Oase gesorgt. Polidorio wusste von Karimi, dass es zwischen ihm und einem der örtlichen Polizisten zu Handgreiflichkeiten gekommen war, weil dieser nicht nur hartnäckig sein Gesicht vor jedes Kameraobjektiv drängte, sondern auch versuchte, sich den überlebenden Kommunarden als privater Sicherheitsservice anzudienen.

Brauchbare Fotografien des Tatorts fehlten ganz, dafür fand Polidorio ein mit einer Büroklammer hinter ein leeres Blatt Papier geheftetes Bild vom Türschild am Kommuneneingang. Selbstgetöpfert und mit grün und rot glasierten Blumenranken verziert:

Ici vivent, travaillent, aiment Bina Gilhodes,


Edgar Fowler, Jean Bekurtz, Tareg Weintenne,


Michelle Vanderbilt, Brenda Johnson, Brenda Liu,


Kula & Abdul Fattah, Lena Sjöström, Freedom


Muller, Akasha, Christine, Akhnilo James.

Das Schild musste aus den Anfangstagen der Gemeinschaft stammen, nur zwei der Mordopfer waren unter den Genannten. Von den Übrigen schien nur etwa die Hälfte noch in der Kommune zu leben, wie der Vergleich mit einer von Karimi erstellten aktuellen Liste ergab. Diese Liste umfasste einundzwanzig Personen. Hinter vier Namen stand ein Kreuz, zwei andere waren eingeklammert, als ob ihre Anwesenheit in der Kommune zum Tatzeitpunkt ungewiss wäre oder sie sich ihr jüngst entfremdet hätten.

Polidorio stöhnte, warf zwei Aspirin ein und fing an, die Augenzeugenberichte im Einzelnen zu lesen. Es gab insgesamt einunddreißig, was für hiesige Verhältnisse — und nicht nur für hiesige Verhältnisse — grotesk war. Für gewöhnlich begnügte man sich mit einem Zeugen, der das Richtige aussagte, und versuchte dann, den Verdächtigen damit in Übereinstimmung zu bringen. Das hatte in diesem Fall das öffentliche Interesse verhindert.

Die einunddreißig Augenzeugen gliederten sich in fünf Kommunarden, die sich zum Zeitpunkt der Tat im Haus aufgehalten hatten, und sechsundzwanzig Passanten, die durch die Schüsse angelockt in den Hof der Kommune geströmt waren. Die fünf Kommunarden beschrieben unterschiedlich präzise, aber im Wesentlichen übereinstimmend den Amoklauf: Amadous unerwartetes Auftauchen, sein Monolog über Fragen der Sexualität, die Selbstversorgung mit Alkohol in der Küche der Kommune. Die Waffe, der Versuch, die Stereoanlage hinauszutragen — Tötung der Kommunardin Sjöström. Auffinden des Geldkoffers. Drei weitere Morde, Obstkorb, Flucht.

Die Aussagen der Passanten hingegen waren dürr und bestanden zum größten Teil aus langatmigen Mutmaßungen über Amadous Motive und die politischen Hintergründe. Fast alle erwähnten politische Hintergründe. Das war so eine Redensart. Als Motive wurden genannt: Eifersucht, Rache, gekränkte Familienehre, Hitze, Spiritualität und Verwirrung. Nicht genannt wurde: Geldgier. Was die mageren Tatsachen betraf (Schüsse im Hof, Bastkoffer, Flucht), waren die meisten Aussagen im Wortlaut identisch und folglich wertlos. Entweder plapperten die Leute nach, was sie nur gehört hatten, oder Karimi hatte nachgeholfen.

Drei Viertel der Passanten gaben an, Amadou bereits beim Betreten der Anlage beobachtet zu haben. Polidorio hatte sich von Asiz die Lage der Kommune auf der Karte zeigen lassen, ihr Eingang lag in einer Seitenstraße am Suq, keine Händler rechts und links, viel Verkehr. Ausgeschlossen, dass irgendjemand irgendjemanden bemerkt hatte, der mit dem Auto durch ein offenes Tor hindurchfuhr, hinter dem fünfzehn Minuten später Pistolenschüsse fielen. Überhaupt die Anzahl der Schüsse: Hunderte, Dutzende, viele, zwei.

Weitere Abweichungen: Nicht Amadou, sondern ein Nordeuropäer habe mit der Pistole vor der Tür in die Luft geschossen und sie dann Amadou übergeben (ein Zeuge, befragt von «M. M.»). Eine Wolke habe die Sonne verdunkelt und Amadous Flucht erleichtert (ein Zeuge, befragt von «Q. K.»). Amadou habe eine graue Perücke «wie englische Richter in Spielfilmen» getragen (ein Zeuge), habe Goldstaub in die Menge geworfen, um einen Tumult auszulösen (zwei Zeugen), sei erkennbar betrunken gewesen (vier Zeugen) und habe beim Verlassen des Hauses die Arme in die Luft gehoben und mit ergreifenden Worten den Beistand des alleinigen Gottes erfleht (ein Zeuge).

Die Untersuchung des Tatorts: ein paar Patronenhülsen, ein leeres Magazin. Zwei Kugeln steckten in der Wand, eine in der Decke zwischen erstem und zweitem Stock. Die vier Opfer waren von jeweils mehreren Kugeln getroffen, alle Einschüsse aus nächster Nähe, einer in den Rücken, die anderen frontal. Wenig Zweifel an der Todesursache. Nicht der Hauch eines anderen Verdächtigen. Unterschrift Karimi.

Außer dass die Opfer Europäer waren, war an dem Fall nichts Besonderes.

Polidorio knüpfte die Akte wieder zusammen, schaute sich lange die Notizen an, die er gemacht hatte, und ging dann zum Chef und ließ sich zwei Tage freigeben. Er behauptete, mit seiner unlängst eingetroffenen Familie ein wenig Zeit verbringen zu wollen, schrieb einen Zettel für Asiz, er solle die Fingerabdrücke auf der Waffe überprüfen, und setzte sich ins Auto.

12. CHAMSIN

Strömen zwei Medien unterschiedlicher Dichte aneinander vorbei, ergibt sich eine wellenförmige Begrenzungsfläche.

Helmholtz’sches Gesetz

Es gab zwei Wege zur Piste nach Tindirma. Der kürzere führte in schräger Linie durch Salzviertel und Wüste direkt darauf zu, der andere umging die Elendsquartiere in einer kilometerlangen Schleife im Norden, um knapp vor den Bergen in rechtem Winkel auf die Piste abzuzweigen. Polidorio kannte beide Wege nicht, entschied sich für den kürzeren und hatte sich nach fünf Minuten im Salzviertel verfahren.

Wie um jede andere größere Stadt hatte sich um Targat ein Gürtel aus Bidonvilles gelegt, und die Bereitschaft der Verwaltung, die erbärmlichen Hütten hin und wieder mit Bulldozern die Berghänge hinabzuschieben, schien den gleichen Effekt zu haben wie das sorgfältige Beschneiden einer Pflanze. Nach jeder Säuberungswelle wucherte das Dickicht undurchdringlicher, Straßen und Wege versickerten darin. Wellblech, Kanister, Schutt. Alles, einschließlich der Wege, schien aus Müll zu sein und aus ihm zu wachsen. Mitten auf der breitesten Straße taten sich auf einmal tiefe Löcher auf, in denen Familien lebten. Einige waren mit Plastikfolie bedeckt und mit einer Krone aus Steinen verziert. Als Polidorio in einer Sackgasse zu wenden versuchte, kamen barfüßige Kinder gelaufen und drückten ihre schmutzigen Handteller aufs Beifahrerfenster. Ein Mädchen auf zwei Krücken versperrte den Weg. Andere stellten sich dazu, im Nu schloss eine Menschenmenge das Auto zähflüssig ein. Krüppel, Halbwüchsige, verschleierte Frauen. Sie schrien und rissen an den verriegelten Türen.

Polidorio versuchte, niemandem in die Augen zu sehen. Er hielt mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und drückte den Wagen albtraumhaft langsam durch die Menge. Fäuste schlugen aufs Dach. Als sich vor dem Kühler eine kleine Lücke auftat, gab er Gas und entwischte in die nächste Seitengasse. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass diese Gasse lang, gerade und menschenleer war. In der Ferne erkannte er zwischen den Baracken die ersten Ausläufer der Wüste.

Er wollte sich gerade entspannt zurücklehnen, als ein Geräusch ihn zusammenfahren ließ. Es schien aus dem Innern des Autos zu kommen. Blick in den Rückspiegel: drei grinsende Kinder. Sie standen auf der hinteren Stoßstange, die Finger oben in die Regenleiste gekrallt. Das mittlere Kind hatte nur eine Hand am Dach und hielt in der anderen eine Sichel, mit der es gegen die Heckscheibe pickte. Der Tacho zeigte 45 Stundenkilometer. Polidorio ging sofort vom Gas. Zwei blinde Passagiere sprangen ab, aber nicht das Kind mit der Sichel.

In der Sandwüste fuhr er leichte Schlangenlinien, und das Picken hörte auf. Das Kind trug die Sichel jetzt quer im Mund und krallte sich mit beiden Händen an der Regenleiste fest. Einen Kilometer hinter den Baracken und Hütten sprang der Junge endlich ab. Im Rückspiegel sah Polidorio ihn mit seinem Werkzeug zwischen den Dünen davontaumeln.

Er ließ den Wagen ausrollen. Der Schweiß war ihm bis in die Schuhe gelaufen. Aus dem Kofferraum holte er eine Flasche Wasser. Die Flasche in der rechten Hand, mit der linken wild in der Luft rudernd, erstieg er die größte Düne der Umgebung und sah sich um. Schräg voraus erspähte er eine in Ost-West-Richtung verlaufende Reihe von Telegraphenmasten, die wahrscheinlich die Piste nach Tindirma markierte. Sonst nur Sand. Er trank einen Teil des Wassers, schüttete sich den Rest über den Kopf und rutschte wieder zu seinem Auto hinab.

Eine Dreiviertelstunde war er bereits auf der Piste unterwegs, als er am Horizont etwas Eigenartiges bemerkte. Eine kleine, gelbe, schmutzige Wolke, die sich langsam ausdehnte. Er beobachtete sie genau. Nach ein paar Minuten nahm sie bereits die ganze Breite des Horizonts ein. Er hatte so etwas noch nie gesehen und wusste doch sofort, was es war. Oben an den Dünen flatterten schon kleine Fahnen aus Sand. Der Wind nahm rasch an Stärke zu, der Himmel färbte sich dunkelbraun. Schließlich wurde es einen Moment windstill. Dann bekam das Auto einen Schlag, der es fast von der Piste schob. Polidorio machte eine Vollbremsung. Ein Sandstrahlgebläse war auf seine Windschutzscheibe gerichtet, er konnte kaum noch die Spitze der Kühlerhaube erkennen. Es war ein Prasseln und Knistern, als ob der Wagen in Flammen stünde. Fast eine Stunde lang saß Polidorio fest.

Während er wartete, fiel ihm ein, dass hier in der Gegend irgendwo Amadou verhaftet worden war, kurz nachdem er die vier Morde begangen hatte. Oder auch nicht begangen hatte. Der Gedanke drängte sich auf, dass unter den Bedingungen dieser Landschaft nicht nur ein Menschenleben unbedeutend war, sondern, philosophisch gesprochen, auch vier Menschenleben oder das Leben der ganzen Menschheit. Polidorio wusste nicht genau, wie er auf diesen Gedanken kam. In seinem Büro sitzend wäre ihm dergleichen nicht nur nicht philosophisch, sondern läppisch erschienen. Mit schweißnassen Fingern stellte er das Radio an. Kein Empfang. Die Wüste flog waagerecht an ihm vorbei. Als schemenhaft wieder die Piste erkennbar war, versuchte Polidorio, weiterzufahren, aber die Räder drehten durch. Er wickelte sich ein Stück Tuch um den Kopf und öffnete die Tür. Eine Eimerladung Sand flog in den Wagen, er schloss die Tür wieder.

Als sich der Wind so weit gelegt hatte, dass man gefahrlos aussteigen konnte, schmiegten sich breite Sandhaufen aerodynamisch an die Form der Karosserie. Ein paar Meter vor dem Wagen stand jetzt ein Schild, das dort vorher nicht gestanden hatte. Es schaute mit der Spitze aus einer mannshohen Düne, war dreieckig und verrostet und die Aufschrift kaum leserlich. 102 … Rest unentzifferbar.

Der Himmel änderte die Farbe zu lichtem Ocker. Polidorio arbeitete mit Händen und Unterarmen, um den Sandhaufen am Heck abzutragen, und versuchte das Auto mit unter die Räder gelegten Sandblechen zum Weiterfahren zu bewegen. Er brauchte fast eine halbe Stunde dafür, dann noch mal eine weitere Stunde, um nach Tindirma zu gelangen, und dort noch einmal ungefähr zehn Minuten im Gespräch mit den Mitgliedern der Kommune, um herauszufinden, dass sie glaubwürdig waren. Dass sie die Wahrheit ausgesagt hatten. Und dass das Verbrechen sich nicht anders abgespielt haben konnte als in den Protokollen verzeichnet. Einhundertzwei.

13. BEI DER ARBEIT

Alert! Alert! Look well at the rainbow. The fish will rise very soon. Chico is in the house. The sky is blue. Place notice in the tree. The tree is green and brown. The fish will not take much time to rise. The fish is red.

E. Howard Hunt

Dem Kamel war ein Bein hochgebunden. Auf drei Stelzen schaukelte es zwischen den schmächtigen Männern herum, die ihm ins Maul und auf die Hufe starrten. Lundgren überlegte, wie viele Beine man dem Kamel noch hochbinden konnte, ohne dass es umfiel. Eins war möglich, zwei schwierig, bei drei war vermutlich Feierabend. Physik war nicht seine Leidenschaft, wie gesagt, aber es war auch nicht so, dass sie ihn gar nicht interessiert hätte. Lundgren war ein von Natur aus neugieriger Mensch, ein wissensdurstiger Mensch, undogmatisch und weltoffen, ohne gleich im Sumpf des Liberalismus zu versinken. Er konnte zuhören, er hatte ein ans Unheimliche grenzendes Gespür dafür, was in anderen vorging, eine feine Beobachtungsgabe. Schon immer gehabt. Die Mädchen an seiner Schule hatten es als Erste zu spüren bekommen. Sie mochten ihn. Die Jungen mochten ihn auch, wenn sie nicht gerade eifersüchtig waren wegen der Mädchen. Lundgren, strahlender Mittelpunkt des Moreno-Soziogramms. El Lobo. Und er war der kollegiale Typ. Vater Sozialdemokrat. Wenn der Lehrer sich bei der Klassenarbeit umdrehte, hielt Lundgren das Heft hoch, damit alle es sehen konnten. Auch in Physik, auch in Biologie. Lundgren. Er lachte. Er würde auf einen Kamelmarkt gehen und einem zehn Dollar geben, damit er dem Kamel ein zweites Bein hochband. Vorne rechts und hinten links. Oder vorne rechts und hinten rechts. Zehn Dollar. Aber dann Bein hoch und gucken. Verrückter Einfall! Lundgren malte es sich aus. Köstlich. Er würde jemandem davon erzählen, wenn er jemandem davon erzählen könnte. Wenn er fertig war mit seinem Auftrag hier. Erst Auftrag, dann Kamel. Dann Beauty-Queen. Oder erst Beauty-Queen, dann Kamel. Er lachte Tränen. Als er die Augen wieder öffnete, saß neben ihm am Tisch ein Mann. Der Mann in sonnengebräunter Kleidung und karierter Haut. Lundgren stellte in Sekundenbruchteilen die professionelle Fassade wieder auf. Kawock! Da saß ein Mann neben ihm. Er sah ihn aus den Augenwinkeln. Er bemühte sich, woanders hinzusehen. Da war der Mann. Der Mann, der Mann, der Mann.

Der Mann bestellte Tee. Drei Minuten Schweigen. Dann hielt Lundgren es nicht mehr aus und fragte: «Wie heißen Sie?»

Der Mann hatte gerade sein Teeglas zum Mund geführt, hielt in der Bewegung inne und sagte bedächtig: «Ja.»

«Wie heißen Sie?», wiederholte Lundgren leise.

«Ja!», erwiderte der Mann ebenso leise.

«Was ist los?»

«Was?»

«Wie Sie heißen!»

«Wie?»

Der Karierte schaute ängstlich die Straße hinunter, um das Terrain zu erkunden, wedelte unauffällig mit der Hand, um die Lautstärke des Gesprächs herunterzudämpfen, und flüsterte kaum hörbar: «Wie heißen Sie

«Sie zuerst», sagte Lundgren.

«Sie haben angefangen.»

«Was?»

«Sie haben doch angefangen.»

«Na schön», sagte Lundgren und ahmte die Handbewegung des anderen nach. «Herrlichkoffer.»

«Was?»

«Herrlichkoffer. Nicht so laut. Oder Lundgren. Für Sie Herrlichkoffer.»

«Für mich Herrlichkoffer.»

«Ja! Und jetzt schreiben Sie Ihren Namen hier — hier — hier.»

Lundgren zog einen Block aus der Tasche und schob ihn über den Tisch. Der Karierte malte sieben Druckbuchstaben auf das Papier. Nur wenig später lief Lundgren auf seine Pension zu. Ein unbeschreibliches Gefühl nach all der Aufregung. Alles klar! Sein Gehirn funkte die Meldung raus, dass erfolgreich nach Öl gebohrt wurde. Ein Telefon wäre jetzt hilfreich gewesen. Die Wuste brennt, Wuste mit u. Aber da war kein Telefon. So ging die Meldung von Lundgrens Gehirn nur an Lundgrens Gehirn: QZ ausgeführt stop die Wuste brennt stop C3 auf Oel gestossen.

Nein, Quatsch. UZ, nicht QZ! Jetzt nur keine Fehler.

14. SCHWARZWEISS

Ich bin da wie jeder andere, ich sehe lieber schlechte amerikanische Filme als schlechte norwegische Filme.

Godard

Canisades schaltete den Fernseher ein, hob die Füße auf den Schreibtisch und starrte lange auf den schwarzen Bildschirm. Die Bildröhre fing an zu knistern, eine grisselige Analoguhr erschien. Es war zwei Minuten vor sechs.

Canisades hatte den Nachmittag im Krankenhaus mit dem Versuch herumgebracht, das mutmaßliche Opfer einer Massenvergewaltigung zu befragen, und war nun zu müde, das Protokoll zu beginnen. Er konnte es sich im Grunde auch sparen. Drei Cousins des Opfers hatten am Krankenbett Wache gehalten und dafür gesorgt, dass er das Mädchen nicht zu Gesicht bekam. Nur durch Vermittlung einer Ärztin war es möglich gewesen, ein Gespräch durch einen improvisierten, weißen Vorhang hindurch zu führen. Das Ergebnis war so unspektakulär wie vorhersehbar: keine Vergewaltigung, sondern ein Sturz von der Treppe. Canisades musste sich von der Ärztin die Art der Verletzungen, die Lage der Blutergüsse, büschelweise ausgerissene Haare und Platzwunden beschreiben lassen. Er stellte die Namen der Cousins fest, von denen zwei der Beteiligung an der Vergewaltigung beschuldigt wurden und die ihn ungerührt, fast heiter verabschiedeten. Zur Anzeige gebracht hatte das Ganze die elfjährige Schwester des Opfers, die durch ein Fenster zugeschaut hatte und zur Polizei gelaufen war, wo sie das Unglück gehabt hatte, auf einen unbestechlichen Beamten zu treffen. Jetzt saß das Mädchen irgendwo im Zentralkommissariat, eine Strohpuppe und Targats einzige Anwältin an ihrer Seite, und ahnte möglicherweise bereits, dass der schönere Teil ihres Lebens vorbei war.

«Du schaust fern?» Asiz latschte kaugummikauend durch das Zimmer, warf eine Akte auf den Schreibtisch, kratzte sich am Rücken und verschwand im Nebenzimmer.

«Was?», schrie Canisades ihm hinterher.

«Die Akte.»

«Was soll ich damit?»

«Die Fingerabdrücke.»

«Was für Fingerabdrücke?»

«Auf der Mauser.»

«Auf welcher Mauser, bist du blöd? Heute Morgen war Urteilsverkündung.»

Fünf volle Sekunden passierte nichts. Dann schwenkte Asiz seinen Oberkörper zurück in den Raum. Er hatte aufgehört zu kauen. «Nenn mich nicht blöd, ich mach nur meine Arbeit. Ich hab stundenlang an dieser Mauser rumgeklebt. Dann legt mir keine Scheißzettel ins Fach, wenn ihr kein Scheißergebnis wollt.»

Er verschwand wieder. Man hörte, wie im Nebenraum eine Tür geöffnet wurde.

«Polidorio oder wer?», rief Canisades ihm hinterher.

«Woher soll ich das wissen?»

«Und was ist das Ergebnis?»

«Ja, was wohl? Was? Wenn ich euch Idioten schon Stunden …»

Mehr war nicht zu verstehen.

Eine Minute vor sechs setzte dramatische Geigenmusik ein. Canisades angelte nach der Akte, aber mit den Beinen vor sich auf dem Schreibtisch konnte er sie nicht erreichen. Die Musik brach ab, die Kamera fuhr zurück, und die grisselige Analoguhr wurde Teil eines Nachrichtenstudios. Ein sehr junger, sehr gut aussehender Mann saß hinter einem Teakholztisch, auf dem in genauer Symmetrie ein Blumengesteck, ein Kondensatormikrophon und ein schwarzer Telefonapparat standen. Der junge Mann begrüßte die Zuschauer auf Arabisch und Französisch und verlas die Meldungen anschließend nur auf Französisch.

Zu Ehren des Königs war an seinem vierundsechzigsten Geburtstag eine Parade abgehalten worden. Man sah weiß Uniformierte auf prächtigen Schimmeln, Lakaien in weißen Togen, die Pfauenfedern trugen. Ein hoher Offizier wurde zum Provinzgouverneur ernannt. Eine Oberschule war abgebrannt. Der Nachrichtensprecher las ernst und salbungsvoll. Als hinter ihm das Bild einer Frau in schwarzem Hidschab erschien, die sich vor verkohlten Kinderleichen auf dem Boden wälzte, brach ihm die Stimme. Mit einem unterdrückten Schluchzen tauchte er unter den Tisch, schnäuzte sich und verlas nach angemessener Pause die Fördermengen jüngst erschlossener Phosphorminen des Nordens. Dazu sah man eine Frau in knappem Höschen, die mit beiden Beinen waagerecht vor sich in der Luft stand. Unter ihr eine Sandgrube, hinter ihr eine Tartanbahn: Heide Rosendahl. Der Sprecher stockte kurz, und schon zeigte ein Einspieler einen Mann mit einem weißen Sonnenhütchen auf dem Kopf und Schuhcreme im Gesicht, der sich mit einer Gruppe von Anzugträgern unterhielt. Andere Männer in flotten Trainingsanzügen turnten mit Maschinengewehren über die Flachdächer des olympischen Dorfes. Der Freiheitskampf des palästinensischen Volkes würde. Der Münchner Polizeipräsident habe. Alle Geiseln seien. Anschließend minutenlanges Interview mit einem hohen geistlichen Würdenträger, der scharfsinnig die Lage analysierte.

Canisades hatte beide Hände hinter dem Kopf verschränkt, sperrte den Mund auf und schob den Unterkiefer knackend hin und her. Dann nahm er die Beine vom Schreibtisch und griff nach der Akte. Das DIN-A4-Blatt mit den Fingerabdrücken lag obenauf. Standardtext, darunter zwei quadratische Rahmen mit je einem kartoffeligen Abdruck in der Mitte.

«Targat», sagte der Nachrichtensprecher.

Canisades blickte auf. Der Bildschirm zeigte die Fotografie eines weißen Lieferwagens mit vergitterten Fenstern, der von einem Zwölftonner quer gegen eine Hauswand gefahren worden und wie eine Konservendose aufgeplatzt war. Der am Vormittag zum Tode verurteilte vierfache Mörder Amadou Amadou sei während des Gefangenentransports zur Hinrichtungsstätte entsprungen. Zur Fotografie umgewandt zeigte der Nachrichtensprecher mit beiden Armen die sich überkreuzenden Fahrtrichtungen der Autos an, erläuterte den Unfallhergang und schloss mit einem Zitat des Polizeigenerals, das sinngemäß besagte, man werde des entsprungenen Häftlings in Kürze erneut habhaft sein und möge Allah seiner Seele Frieden schenken, denn man selbst werde dies nicht tun. Er stieß den Papierstapel vor sich auf den Tisch und hüstelte. Die Kamera zoomte zurück auf die Analoguhr. Es war Viertel nach sechs.

Canisades betrachtete die Kästchen. Ein rechter Daumen von der Waffe, deutlich erkennbar, und der rechte Daumen Amadous, vor zehn Tagen auf dem Revier abgenommen. Identisch.

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