DRITTES BUCH: DIE BERGE

26. DER TEUFEL

Einen Bund machen sie also: Einer lässt den anderen aus seiner Hand trinken und trinkt selber aus des anderen Hand. Wenn sie aber gar nichts Flüssiges haben, so nehmen sie Staub von der Erde auf und lecken den ab.

Herodot

Einen kleinen Plastikbeutel mit aufgedruckten Sonnenblumen in der Hand ging er zum Einkaufen. Das Geschäft lag gleich neben dem Sheraton, dreihundert Meter den Berg hinauf. Die Tour hatte er am Tag zuvor schon einmal mit Helen gemacht, jetzt war es sein erster Weg allein. Die fremden Gesichter auf der Straße machten ihm zu schaffen. Wenn sie lächelten, meinte er, erkannt zu werden, und wenn sie ihn ansahen und nicht lächelten, beunruhigten sie ihn noch mehr. Ein Mann im Trenchcoat fiel ihm auf, weil der stehen blieb, als er sich nach ihm umdrehte. Der Portier vor dem Sheraton grüßte ihn wie einen alten Bekannten. Eine einäugige Frau streckte die Hand aus.

Als er mit vollem Einkaufsbeutel schon fast wieder am Bungalow angekommen war, rannte er von plötzlicher Unruhe getrieben zum Hotel zurück und fragte den Portier, ob er ihn schon einmal gesehen habe.

«Gestern», bestätigte der Portier.

«Und früher nicht? Sie kennen mich also nicht?»

«Bungalow 581d. Mit der Dame. Die Sie aufgelesen hat.»

Mit hängendem Kopf lief er durch die Gassen. Die Verzweiflung wurde übermächtig. Zwei Männer in dunklen Anzügen, die aus einer geparkten Limousine gestiegen waren, folgten ihm. Er bog zweimal falsch ab und bemerkte die Männer erst, als sie ihm einen Leinensack über den Kopf stülpten. Ein Strick zog sich um seinen Hals zusammen. Es gelang ihm, die Fingerspitzen beider Hände unter den Strick zu krallen, während er gleichzeitig spürte, wie seine Füße angehoben wurden. Er trat um sich und vergaß zu schreien. Seine Schulter schlug gegen Metall, dann folgte auf einen kurzen Moment der Schwerelosigkeit eine harte Landung. Gummigeruch, Kofferraumklappe, gedämpfte Akustik. Ein startender Motor.

Die Fahrt mit dem Auto dauerte kaum fünf Minuten. Er schaffte es währenddessen nur, sich die Kapuze über Kinn und Mund bis auf die Nasenwurzel hochzuzerren, wo sie hängen blieb und auf die Augäpfel drückte.

Er war noch immer damit beschäftigt, daran herumzureißen, als der Kofferraum sich schon wieder öffnete. Undeutlich erkannte er zwei Männer, die ihn an Füßen und Ellenbogen emporhoben. Ein dritter am Steuer. Er musste den Kopf weit in den Nacken legen, um sie sehen zu können. Bewaffnete Männer. Schwarzer Autolack. Ein weißer Kiesweg. Grüner Rasen vor einer riesigen Villa, um den Garten herum eine übermannshohe Mauer, dahinter die Geräusche einer belebten Straße, ganz nah. Sie hatten ihm einen Arm auf den Rücken gedreht, ihn sonst aber weder gefesselt noch geknebelt. Man schien nicht damit zu rechnen, dass er um Hilfe schreien würde, und die Männer wirkten auch nicht so, als hätten sie diese Möglichkeit aus Nachlässigkeit übersehen. Also schrie er nicht. Blut tropfte von seiner Nase.

Einer der Männer betätigte die Türglocke. Eine quäkende Stimme fragte, wer da sei.

«Julius.»

Sie betraten eine riesige Eingangshalle. Ein Anblick wie aus amerikanischen Filmen, große breite Treppe mit steinernem Geländer, Stuck und Gold, märchenhaft überladen. Ein riesiger Kristallspiegel zeigte: zwei stämmige Männer in schwarzen Anzügen, die in einer offenen Tür standen. Zwischen ihnen eine schmächtige Figur, der ein Arm auf den Rücken gedreht war, die aus der Nase blutete und der eine weiße Kapuze wie eine riesige Kochmütze bis auf die Augen gezogen war. Einige junge Männer und Frauen aus Fleisch und Blut standen mit anderen aus Stein um einen plätschernden Brunnen herum. Die Frauen trugen luftige Kleider. Schauten kurz zur Tür hinüber. Wandten sich ab.

Der, der sich Julius genannt hatte, schob ihn die Treppe hinauf in ein Zimmer. Er schnitt ihm die Kapuze vom Kopf und drückte ihn in einen Lederfauteuil, dem ein mächtiger Schreibtisch gegenüberstand. Auf dem Tisch goldene Schreibutensilien. Die Wände des Zimmers waren dunkel getäfelt. Ölschinken mit nackten Frauen neben den ungelenken Kreisen und Quadraten moderner Kunst. Julius setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke. Der eigentliche Schreibtischsessel, ein Freischwinger aus Stahl und blauem Wildleder, blieb leer.

Er öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, doch Julius hob nur leicht die Waffe, und er schwieg. Er richtete seinen Kopfverband. Die Wunde pochte. Aus dem Garten waren Stimmen und Gelächter zu hören. Eine halbe Stunde verging. Dann öffnete sich eine Tür in der Wandvertäfelung, und ein strahlend weißhaariger Mann in kurzen Hosen und mit einem Federballschläger in der Hand betrat den Raum. Unter den Rändern seines verschwitzten T-Shirts quoll aufgeschwemmtes Fleisch hervor. Seine Beine schienen dünner als die Arme, und sein Gesicht hätte auf physiognomischen Schautafeln des 19. Jahrhunderts das Musterbild des Sanguinikers abgeben können. Zusammen mit der Kleidung, dem Körper, den Bewegungen und der Umgebung vermittelte es den Eindruck eines Menschen, dem in seinem Leben nichts geschenkt worden war — und den das nie im mindesten bekümmert hatte.

Der Weißhaarige setzte sich in den Freischwinger, wechselte einen kurzen Blick mit Julius und lächelte. Und schwieg. Er dehnte das Schweigen so lange aus, bis es seinen Effekt zu verlieren drohte.

«Du traust dich ja einiges», sagte er. Und nach langer Pause: «Da haben wir wohl jemanden unterschätzt.»

Sein Französisch hatte einen unbestimmbaren Akzent.

«Zwei kleine Würstchen. Waren das meine Worte, oder waren das nicht meine Worte? Zwei kleine Würstchen! Da können wir doch froh sein und den Barmherzigen loben: dass wir diese Würstchen haben. Und jetzt das

Der Weißhaarige beugte sich zu ihm und klopfte ihm mit dem Federballschläger auf den Kopfverband. Es gab ein unangenehmes Geräusch in der Wunde.

«Ich will dir mal eine Frage stellen. Oder fangen wir doch von vorne an. Duzen wir uns eigentlich? Oder sind wir noch beim Sie? Hilf mir auf die Sprünge, kleiner Mann. Macht es dir was aus, wenn ich du zu dir sage? Gut. Hast du irgendeine Vorstellung davon, worum es hier geht?»

Der Weißhaarige betrachtete ihn eine Weile, zupfte zwei Grashalme und ein Bröckchen Erde aus den Saiten des Federballschlägers und hielt das Sportgerät dann nach hinten von sich weg. Sofort sprang Julius auf und nahm es ihm aus der Hand.

«Weißt du, worum es hier geht?»

Die schwierige Entscheidung zwischen einem wissend verlegenen und einem unwissend verlegenen Gesichtsausdruck.

Zehn Sekunden.

«Nein, du weißt überhaupt nicht, worum es geht!», brüllte der Weißhaarige. Er beugte sich vor, holte eine anthrazitfarbene Pappschachtel aus einer Schreibtischschublade und warf sie über den Tisch. Halb so groß wie eine Zigarettenschachtel, ein goldgeprägter Aufdruck irgendeines Juweliers. Sie landete in seinem Schoß. Zögerlich öffnete er sie. Ein kurzes Goldkettchen lag darin und ein Anhänger, der im ersten Moment wie eine abgeschnittene Fingerkuppe aussah. Die Größe einer Fingerkuppe, die Farbe einer Fingerkuppe. Aber es war nur ein abgegriffenes, wachsfarbenes Stück Holz, zwei blutrote Punkte obenauf. Auf der Rückseite, durch langen Gebrauch fast abgeschliffen, war das geschnitzte Gesichtchen eines Teufels zu erkennen. Die roten Punkte die Hörner. Ratlos drehte er das Amulett zwischen den Fingern.

«Jetzt bist du schockiert», sagte der Weißhaarige und lehnte sich zufrieden blickend zurück. «Aber das sollte man sich vorher überlegen: Wer Rom angreift, muss Rom kennen. Hast du gedient?»

Julius richtete spielerisch die Waffe auf ihn. Er bemühte sich, den passenden Gesichtsausdruck für die Gefühle zu finden, die man ihm unterstellte.

Mit einer plötzlichen Bewegung fuhr der Weißhaarige über den Tisch, riss ihm das Amulett aus den Fingern und warf es ihm sofort wieder hin. «Ist das Voodoo, oder was soll das sein? Ein Schutz? Vor Leuten wie uns vielleicht? Am Arsch. Auch wenn du versuchst, nicht mit der Wimper zu zucken. Du bist ein schlechter Schauspieler.»

Der Weißhaarige senkte den Kopf, um ihm von unten ins Gesicht zu schauen.

«Sieht aus wie ein Fingerchen», fuhr er fort. «Wie ein richtiges Fingerchen. Und wäre auch um ein Haar ein Fingerchen gewesen. Ist aber keins. Und wem hast du das zu verdanken, dass es keins ist?»

Julius errötete.

«Herz aus Gold!», rief der Weißhaarige sarkastisch. «Herz aus Gold! Julius hat fünf Kinder. Wenn du fünf Kinder hast, wirst du weich in der Birne. Automatisch. Und er hat mir zweimal das Leben gerettet. Das kannst du nicht wissen. Weich in der Birne, aber zweimal das Leben. Das ist seine Altersversicherung. Loyalität, right or wrong, my country. Wenn es eine Eigenschaft gibt, die ich am Menschen über alles schätze: Loyalität. Die Eigenschaft, die dir leider abgeht. Und willst du wissen, was dabei rauskommt? Ich sag dir, was dabei rauskommt: Ich sitz da mit dem kleinen Scheißerchen auf den Knien, und ich sage, der übliche Preis, nehmen wir hier den linken Zeigefinger oder den rechten? Und Julius sagt: Aua. Und dann kommt auch noch die Mutter. Himmel! Und was sagt die Mutter? Na los, musst du doch wissen: Was sagt die Mutter? Deine Frau. Du sprichst doch mit deiner Frau, du bist doch eher so der sensible Typ. Also, was sagt die fette Kuh?»

Schweigen.

«Ich hoffe, du verzeihst den Ausdruck fette Kuh. Ich will hier niemandem zu nahe treten, vielleicht hat sie andere Qualitäten. Die fette Kuh. Wobei, ficken tut sie auch nicht gut.»

Ohne den Blick abzuwenden, drehte der Weißhaarige den Kopf Richtung Julius. «Oder, Julius, fickt die gut? Fickt eher so mittel, oder was war dein Eindruck? Ja, ist halt nicht richtig in Schuss. Ihr Stecher hat ja Besseres zu tun. Zum Beispiel aus sehr großer Höhe auf das Wort Loyalität hinunterzupinkeln. Und jetzt Preisfrage: Was sagt die fette Kuh zum Thema Finger? Klavierspieler! Er will Klavierspieler werden. Ist sie praktisch schon kurz vorm Höhepunkt, sagt sie: Er will Klavierspieler werden. Stell dir das mal vor. Drei Jahre alt, schon Klavierspieler. Unglaublich, oder? Drei Jahre und Beethoven. Kein Problem, sag ich, na, hoffentlich will er nicht auch Johan Cruyff werden, Beethoven und Cruyff, das ist doch mal eine seltene Kombination. Ich also ein Zehchen gegriffen, und was sagt die Kuh jetzt?»

Der Weißhaarige wartete die Wirkung seiner Worte ab. Er konnte ja nicht wissen, dass sie keine Wirkung hatten. Jedenfalls nicht die, die sie auf einen Menschen mit Erinnerungsvermögen gehabt hätten.

«Na los, du kennst sie doch, was sagt die fette Kuh?»

Mit gesenktem Blick hörte er dem Sermon des Weißhaarigen zu und versuchte, etwas anderes als Gleichgültigkeit zu empfinden. Er hatte eine Familie? Er hatte Frau und Kind? Sie wurden bedroht? Es gelang ihm nicht, Gefühle aufzubringen für Personen, an die er sich nicht erinnern konnte. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er demnächst sein Gedächtnis wiedererlangen und große Schmerzen beim Gedanken an körperliche Misshandlungen seiner Liebsten leiden würde, aber die Überlegung blieb abstrakt, wie ein Zahnarztbesuch in zwei Monaten.

Außerdem hallten in seinem Innern die Worte «fette Kuh» und «Scheißerchen» nach, und er musste an Helen denken. Die schlanke, platinblonde Helen. Das Einzige, was das Gerede des Weißhaarigen in ihm auslöste, war Ekel. Und Angst um seine eigene Person. Hier heil rauskommen. Einige Minuten zuvor war er noch bereit gewesen zu sagen, was er wusste: dass er nichts wusste. Die traurigen Spekulationen über abgeschnittene Körperteile machten ihm klar, mit was für einem Gegenüber er es hier zu tun hatte. Er versuchte, ruhig zu bleiben.

«Heul jetzt nicht. Wer groß einen aufspielen will, muss sein Hinterland absichern. Und besser als Hinterland absichern ist immer noch: kein Hinterland haben. Schau mich an. Da kannst du Gandhi nehmen, da kannst du Hitler nehmen, alle kannst du nehmen. Jesus. Nein, mein Lieber. Frau und Kind: schlimmstes Hinterland überhaupt. Da kann jeder einmarschieren. Da bist du weich wie Käse. Guck dir Julius an: früher der Beste von allen, jetzt ein sentimentales Wrack. Sag ich zu ihm, Julius, sag ich, was denkst du, was sollen wir machen? Und Julius reißt dem kleinen Scheißerchen das Amulett vom Hals und sagt: Wie isses, Cheffe? Reicht das nicht auch? Köstlich. Und das ist jetzt die Situation. Die Kuh mit dem Kleinen ist einkassiert. Nur falls du dich schon gewundert haben solltest. Oder warst du in den letzten Tagen gar nicht zu Hause?» Der Weißhaarige nahm das Amulett, führte mit dem Teufelchen eine kleine Tanzeinlage über der Schreibtischkante auf und sagte mit verstellter Stimme: «Hat er gedacht, er kann sich vor uns verstecken. Hat er gedacht.» Und wieder mit normaler Stimme: «Und jetzt muss ich dir leider die Frage stellen, die Julius auch schon gestellt hat: Reicht das?» Er hielt das Teufelchen hoch. «Oder müssen wir Kuh und Kalb scheibchenweise nachliefern?»

Das Amulett verschwand wieder in der Schachtel und die Schachtel in der Schreibtischschublade.

«Du weißt, was jetzt kommt?»

Er dachte eine Weile nach, biss sich auf die Lippen und sagte: «Tauschgeschäft.»

«Tauschgeschäft», sagte der Weißhaarige mit einem zwischen freudestrahlend und fassungslos hin und her wechselnden Gesichtsausdruck. «Tauschgeschäft!» Der Weißhaarige blickte Julius an, dann erhob er sich und streckte freundlich die Hand über den Schreibtisch aus.

Er wollte einschlagen, und der Weißhaarige riss ihn am Arm vornüber, griff mit der Linken einen metallenen Brieföffner und rammte ihn mit einer zügigen Bewegung durch seine Hand in den Schreibtisch. Dann ließ er sich auf den Stuhl zurücksinken und machte mit einer wedelnden Geste klar, dass er auf keinen Fall versuchen solle, sich den Brieföffner selbst aus dem Fleisch zu ziehen. Julius hielt die Waffe auf ihn gerichtet.

«Na, na, na!»

Die Hand war so weit auf der anderen Seite des Schreibtischs festgenagelt, dass er weder sitzen noch stehen konnte. In einer merkwürdigen Hockstellung, die ihn aussehen ließ wie jemanden, der versucht, im Freien seine Notdurft zu verrichten, lag er halb über dem Schreibtisch.

«Was willst du denn tauschen, mein Freund, und wogegen?»

Er japste.

«Du gibst also zu, dass du etwas hast, was du tauschen kannst?»

Er winselte.

«Was mir gehört. Du gibst es also zu?»

Eine Minute verging. Er fürchtete um sein Leben. Am liebsten hätte er alles herausgeschrien, aber ein Rest von Vernunft hielt ihn zurück. Worum auch immer es dem Weißhaarigen ging, er hatte es nicht. Er nahm an und hatte guten Grund zu dieser Annahme, dass es sich um etwas handelte, womit ein Mann namens Cetrois vor wenigen Tagen auf einem Moped in der Wüste verschwunden war. Er hätte diese Vermutung natürlich äußern können, hätte dann aber auch gleich dazusagen können, dass es eine Vermutung war, dass er darüber hinaus nichts wusste und dass er sein Gedächtnis verloren hatte. Mit einiger Logik schloss er, dass er im selben Moment wertlos geworden wäre für sein Gegenüber. Selbst wenn sie ihm glaubten. Gerade dann. Und wenn sie ihm nicht glaubten, was wahrscheinlicher war, würde er sie nur noch wütender machen.

Er konnte die Wahrheit nicht sagen. Er konnte aber auch nicht lügen. Um zu lügen, hätte er wissen müssen, wovon er lügen sollte. Also biss er die Zähne zusammen.

«Das funktioniert so nicht», stöhnte er.

«Ach, das funktioniert so nicht?» Der Weißhaarige griff nach dem Brieföffner wie nach dem Schaltknüppel eines Autos und schaltete einmal die Gänge durch.

«Du denkst vielleicht, es geht hier um deine Familie. Du denkst, es geht um etwas so Läppisches wie dein Leben. Aber darum geht es nicht. Es geht um Gerechtigkeit. Weil, du darfst eins nicht vergessen: Ich hab dafür bezahlt. Und da lass ich mir von einem Amateur wie dir nicht die Tour vermasseln.»

«Ich bring das in Ordnung! Ich bring das in Ordnung!»

«Wie willst du das denn in Ordnung bringen?»

Er heulte. Er sah dem Weißhaarigen von unten ins Gesicht und entschied sich, weiter im Nebel zu stochern.

«Ich weiß, wer!»

«Du weißt, wer

«Ich weiß auch, wo.»

«Wo!», brüllte der Weißhaarige.

«Wenn ich das sage, sieht’s scheiße aus für mich.»

«Es sieht auch so scheiße aus für dich.»

«Ich bring das in Ordnung, ich kann das!», brüllte er. Blut sprudelte dunkel am Metall hoch. «Ihr kennt mich! Und ich kenn euch auch! Ihr habt meine Familie!»

Der Weißhaarige blickte ihn schweigend an.

«Ihr könnt euch auf mich verlassen», wimmerte er. «Meine Frau! Mein geliebter Sohn! O mein Gott, o mein Gott, mein Sohn, mein Söhnchen!» Tränen stürzten aus seinen Augen. Er ließ sich mit dem Gesicht auf die Schreibtischplatte fallen, um es zu verbergen. Er hatte selbst den Eindruck, ein wenig zu übertreiben.

Julius beugte sich vor und flüsterte dem Weißhaarigen etwas ins Ohr. Der Weißhaarige lehnte sich in seinen Sessel zurück. Eine Minute verging. Noch eine Minute.

«Zweiundsiebzig Stunden», sagte der Weißhaarige. «Dann ist das wieder meine Mine. Zweiundsiebzig Stunden. Sonst Fingerchen, Füßchen, Öhrchen.»

Langsam zog er den Brieföffner aus der Hand.

27. DAS LÄUFERPORTAL

I know a man who once stole a Ferris wheel.

Dashiell Hammett

Es war ein milder Spätnachmittag unter einer hohen Wolkendecke. Die schmerzende Hand an die Brust gepresst, taumelte er aus der Villa. Niemand folgte ihm. Seine Knie wurden weich. Er lehnte sich gegen eine Mauer, über die mächtige Platanen hinauswuchsen. Als er kurz die Augen schloss, hörte er leise Musik.

Die Mauer gehörte zu einem Anwesen, das etwas kleiner und weniger protzig wirkte als das, das er soeben verlassen hatte. Direkt vor ihm auf dem Bürgersteig stand eine Gruppe elegant gekleideter Männer vor einem Art-déco-Portal, in das sonderbare Marmorstatuen eingelassen waren, die Laufende darstellten. Während er sich an den Männern vorbeidrängte, kam ein Polizeiauto den Berg heraufgefahren und hielt direkt neben ihm. Zwei Männer in Zivil entstiegen dem Auto und steuerten auf das Portal zu.

«Karimi ist ein Schwachkopf», hörte er den einen sagen. Er steckte die blutende Hand in die Tasche und ging mit gesenktem Kopf eilig an ihnen vorbei. Auf dem ganzen Weg die Serpentinenstraße zum Sheraton hinunter fragte er sich, was den Weißhaarigen so sicher machte, dass er nicht zur Polizei gehen würde.

Es gab eigentlich nur eine Erklärung: Er war offenbar in schwerste Verbrechen verwickelt, und was er von der Exekutive zu erwarten hatte, musste noch unangenehmer sein als das, was ihm von dem Weißhaarigen drohte. Aber was konnte schlimmer sein als die Bedrohung seines Lebens und des Lebens seiner Familie?

Erst als er schon fast bei den Bungalows angekommen war, fiel ihm noch eine zweite Möglichkeit ein. Was, wenn der Weißhaarige selbst die Polizei war? Ein hochrangiger Vertreter der Staatsmacht? Er wandte sich an ein paar Straßenhändler, zeigte mit dem Arm das Küstengebirge hinauf und fragte, ob sie wüssten, wem die riesige Villa gehöre, die dort weithin sichtbar als prunkvollstes Gebäude am Berg klebe, direkt neben der Villa mit dem merkwürdigen Läuferportal; und erfuhr, der Besitzer sei ein Mann namens Adil Bassir. Ehrfürchtig und mit einer gewissen Zurückhaltung sprachen die Leuten den Namen aus. Deutlich schwieriger als der Name war das Gewerbe des Mannes in Erfahrung zu bringen. Als es endlich jemand nannte, war es auch nicht wirklich ein Gewerbe: König der Schieber.

28. IM ATLAS

Jesus sprach: Die Menschen denken wohl, dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Welt zu bringen. Und sie wissen nicht, dass ich gekommen bin, um Zerwürfnisse auf die Erde zu bringen, Feuer, Schwert, Krieg. Denn es werden fünf sein in einem Hause: drei werden gegen zwei und zwei gegen drei sein, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater. Und sie werden allein dastehen.

Evangelium nach Thomas

«Der zweiundzwanzigjährige Hauptverdächtige, dessen blutbesudelte Kleidung ihn unwiderruflich in die Nähe des Verbrechens rückte — mein Gott, dessen blutbesudelte Kleidung … ihn unwiderruflich … am Pressewesen müsst ihr wirklich noch arbeiten. Der über und über blutbesudelte Täter jedenfalls sei mit einem gestohlenen Toyota in die Kommune, in die seit Jahren übel beleumundete Kommune ausländischer Gammler … nein, viel steht hier nicht. Erdrückende Indizien, Teilgeständnis … dem die Todestrafe drohte … da schau, er hatte die Waffe bei sich. Eine Mauser, deren Munition genau zu den Löchern passte … zu den Löchern, was ist denn das für ein Ausdruck? Hey, mein Kollege hat Löcher in sich drin! Jedenfalls seien seine Fingerabdrücke auf der Waffe gefunden worden. Ich würde mir da nicht allzu große Sorgen machen an deiner Stelle.» Helen senkte die Zeitung, um den Mann zu betrachten, der in seinem blut- und dreckverkrusteten Anzug auf dem Sofa lag, die Beine hochgelegt, einen frischen Verband um den Kopf, einen sich schon wieder rot färbenden an der rechten Hand, neben sich einen Eisbeutel.

Er stöhnte.

«Ich habe übrigens noch mal zu Hause angerufen. Ein Freund meiner Mutter kennt sich ein bisschen aus und sagt, solang das glatt durchgeht und sonst nichts getroffen ist, ist das nicht schlimm. Man muss nur aufpassen, dass es sich nicht entzündet. Wobei ich trotzdem gern noch mal auf die Sache mit dem Arzt zurückkommen würde.»

«Lies weiter.»

«Die Schmerzen sind deine Sache, aber ich will keinen Ärger kriegen, weil in meinem Bungalow ein Mann ohne Identität an Blutvergiftung krepiert. Dem zweiundzwanzigjährigen Mörder — eben war er noch Verdächtiger — dem Zweiundzwanzigjährigen, der zuletzt noch während der Urteilsverkündung bittere Tränen der Reue vergoss, gelang während eines Gefangenentransports zur Hinrichtungsstätte durch einen glaubwürdigen Verkehrsunfall die Flucht … durch einen glaubwürdigen Verkehrsunfall, Herrgott, entweder stimmt mit meinem Französisch was nicht, oder die sind total verrückt. Jedenfalls, von Gedächtnisverlust steht hier nichts. Und es war auch am Dienstag. Nein, tut mir leid. Dabei wäre das so ein schöner Name für dich gewesen: Amadou Amadou.»

«Wie alt schätzt du mich?»

«Dreißig, würde ich sagen. Auf keinen Fall zweiundzwanzig. Und ich muss dich trotzdem noch mal fragen: Warum hast du dem Kerl nichts von deiner Amnesie erzählt?»

«Was ist daran unverständlich?»

«Mit einem Brieföffner am Schreibtisch festgenagelt hätte ich dem einiges erzählt.»

«Ich hatte den Eindruck, dass ich nichts weiß, was er nicht auch weiß. Er wusste nur nicht, dass ich nichts weiß. Wenn ich das gesagt hätte, was hätte er dann wohl mit mir gemacht?»

«Aber du hättest von den vier Männern in weißen Dschellabahs erzählen können. Und dem auf dem Moped. Und was mich am meisten wundert: dass der dich einfach gehen lässt.»

«Vielleicht hat er gedacht, dass nur ich das in Ordnung bringen kann? Er hat ja meine Familie.»

«Um die es dann jetzt schlecht steht. Weil, du kannst nichts in Ordnung bringen. Mine, Cetrois, Adil Bassir: Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, was da läuft. Zur Polizei willst du nicht. Abwarten kannst du nicht. Das Beste wäre meiner Meinung nach ein Arzt. Dass da mal einer draufguckt, was es mit dieser Amnesie auf sich hat.»

«Findest du meine Argumente irgendwie unverständlich?»

«Nein. Aber man könnte auch einen von außerhalb konsultieren. Ich hab Geld. Ich mache mir Sorgen.»

Er sah Helen lange nachdenklich an, dann sagte er: «Die Mine. Zeig noch mal die Karte.»

Helen reichte ihm die Karte, stand auf und befüllte die Cafetiere mit Wasser. «Vergiss es», sagte sie. «Wenn es ein Bergwerk ist, womit fährt dann der Typ auf dem Moped in die Wüste?»

«Vielleicht mit dem Kaufvertrag.»

«Der König der Schieber und Kaufverträge

«Oder ich bin Bergbauingenieur und hab sie erschlossen.»

«Und das ändert was genau? Das ist doch alles Quatsch. Was hat der Typ noch mal wörtlich gesagt? Dann hab ich sie wieder? Dann gehört sie wieder mir?»

«Dann ist das meine. Zweiundsiebzig Stunden, dann ist das wieder meine.»

«Und ihr habt die ganze Zeit Französisch gesprochen?»

«Was ist das Graue hier?»

«Granit.»

«Und das Grüne?»

«Phosphat, glaube ich.»

«Wozu braucht man das? Ist das das in diesen Leuchtfarben?»

«Dünger. Aber das sind Hunderte von Kilometern. Phosphat ist Quatsch. Granit ist Quatsch. Alles Quatsch.»

«Und das Runde hier mit dem Zacken drin?»

«Wir sind hier.»

«Ja, aber das hier? Das ist hier und hier und hier.»

«Das ist Landwirtschaft.»

«Oder es ist nur eine ganz kleine Mine, die hier nicht verzeichnet ist.»

«Was war noch mal das Vierte?», sagte Helen. «Du hast vorhin gesagt, vier fallen dir ein.»

«Die Miene im Gesicht.»

«Da bin ich immer noch bei drei.»

«Die Miene im Gesicht, das Bergwerk, das Sprengding und das in den Bleistiften.»

«Das heißt auf Französisch so? La mine? Das wusste ich nicht», sagte Helen nachdenklich. «Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man so einen Aufstand macht mit Leute entführen und umbringen, wenn es um eine Bleistiftmine geht. Selbst wenn sie aus Gold ist.»

«Was wäre so was wert?»

«Ein paar hundert Dollar vielleicht. Hundert Dollar, keine Ahnung. Das ist doch nicht mehr als ein Ehering. Und wenn du sagst, der Typ ist wahnsinnig reich? Landmine wäre schon das Naheliegendste. Nur dass Landminen meines Wissens auch nichts wert sind. Die explodieren und fertig.»

«Und wenn es irgendwas Größeres ist? Richtige Waffentechnik?»

«Meine Meinung kennst du. Erstens Arzt. Zweitens Bassir. Weil, du kannst mir viel erzählen über Bergwerke und Landminen. Das Konkreteste, was du hast, ist immer noch der Typ in seiner Villa.»

«Und das hier? Guck mal, das kleine schwarze Kästchen mit dem roten Punkt drin. Das ist Uran.»

«Das ist fast einen Finger weit weg.» Helen legte ihren Zeigefinger über die Karte. Er war 3000 Kilometer lang. «Da bist du halb im Kongo.»

Er dachte lange nach und fragte dann, ohne Helen in die Augen zu sehen: «Woher hast du die eigentlich? Warum fährst du hier rum mit einer Karte mit Bodenschätzen drauf?»

«Das ist ’ne ganz normale Karte», sagte Helen und drehte die Karte um. «Auf die Rückseite hab ich gar nicht geguckt. Und — was schaust du so? Hältst du mich jetzt auch für verdächtig?»

«Tut mir leid, aber ich muss noch mal fragen. Kosmetik?»

«Ja.»

«Und du bist Vertreterin?»

«Larouche ist der zweitgrößte Kosmetikhersteller der USA, und ich soll hier —»

«Und beim Ausschiffen fällt ausgerechnet dein Musterkoffer über Bord?»

«Ein Junge hat ihn mir aus der Hand gerissen.»

«Und du hast sonst nichts … ich meine … um dich …»

«Zu legitimieren? Himmel. Der Ersatzkoffer kommt erst in ein paar Tagen.»

«Ich weiß, ich sollte dir nicht —»

«Fang nicht wieder von vorne an. Erklär mir lieber mal, was Würstchen heißen soll. Zwei arme Würstchen.»

«Mein Kumpel und ich. Cetrois.»

«Das meine ich. Was macht dich so sicher, dass das dein Kumpel ist? Weil der Feind deines Feindes dein Freund ist?»

«Liegt doch nahe.»

«Und selbst wenn er dein Freund ist: Die Tatsache, dass er sich das Moped schnappt und dich in der Scheune zurücklässt, könnte das nicht auch das Ende einer Freundschaft gewesen sein?»

«Das könnte alles Mögliche sein.»

«Richtig. Und nichts davon liegt nahe. Vielleicht ist Cetrois auch der Kumpel der vier Männer und versucht gerade, sie zu hintergehen? Vielleicht ist er auch dein Kumpel und hat dir den Schädel eingeschlagen, und der Dicke hat sich dem Vierten gegenüber damit nur gebrüstet?»

«Das ist jetzt wirklich weit hergeholt.»

«Oder es gibt gar keinen Cetrois. Die drei Männer haben ihn nur erfunden als Erklärung, weil sie irgendwas unterschlagen wollen.»

«So wirkten die aber nicht … Ich hab die ja gehört, als der Vierte noch gar nicht da war. Die wirkten irgendwie hilflos und dämlich.»

«Na schön. Nehmen wir mal an, sie sind hilflos und dämlich, und Hilflosigkeit und Dämlichkeit verleiteten einen zum Sagen der Wahrheit, was ich bezweifle. Dann ist immer noch alles, was du aus dem Satz ‹Cetrois ist damit in die Wüste› folgern kannst: Erstens, es gibt einen Cetrois. Und zweitens, er ist mit irgendwas in die Wüste. Und ob das alles mit dir und Adil Bassirs Mine zu tun hat, steht in den Sternen.»

«‹Wenn er die Mine jetzt zerstört.›»

«Ja. Aber du hast gehört: Wenn er die Schiene funkentstört. Und auch wenn es so ist: In einer Eine-Million-Einwohner-Stadt, fünf Millionen mit den Slums, wie willst du diesen Cetrois finden? Hast du mal die Telefonbücher hier gesehen? Und dass die irgendwo ein Melderegister haben, wage ich zu bezweifeln.»

29. TOURIST INFORMATION

Ich bin überzeugt, dass er im Sommer farbige Prünellhalbstiefel trug, mit Perlmuttknöpfchen an der Seite.

Dostojewski

Bei der richtigen Witterung und wenn der Wind vom Meer kam, konnte man durch die geöffneten Fenster das leise Plätschern der Wellen bis zum Bungalow hinauf hören. Die mit Bergen umstandene Bucht bündelte den Schall und trug ihn an das Ohr derer, die im Halbschlaf lagen. Der Mann ohne Gedächtnis hatte sein Gesicht dem Fenster zugewandt und die Augen geschlossen. Einfältige Gedanken von Ewigkeit und erhabener Größe, die er mit der eigenen Unwichtigkeit kontrastierte, spülten durch sein nächtlich müdes Hirn, und mit Schmerzen am ganzen Körper erwachte er. Mitten im Zimmer stand ein Schatten. Im ersten Moment glaubte er an eine Täuschung. Aber der Schatten bewegte sich: Eine Frau in Jeans und engem T-Shirt, barfuß. Sie stand vor dem Stuhl, auf dem er am Abend zuvor seine Kleider abgelegt hatte. Gerade war sie dabei, die Taschen der Anzughose umzustülpen. Sie betastete den Hosenbund und legte die Hose geräuschlos zurück auf den Stuhl. Dann untersuchte sie das Jackett, von dem Sandbröckchen abfielen, prüfte die Innentasche, die beiden anderen Taschen und fuhr mit Daumen und Zeigefinger die Säume entlang. Sie hob einen braunen Halbschuh hoch, zog die Einlage heraus und schaute in den leeren Schuh. Rüttelte am Absatz, stellte den Schuh zurück und griff nach dem zweiten. Bevor sie sich zum Bett umdrehen konnte, schloss er die Augen. Aber er hielt es nicht lange aus.

«Fündig geworden?», fragte er laut. Es sollte kein Vorwurf sein. «Nur ein Bleistiftstummel», antwortete Helen ohne das geringste Zeichen von Schuldbewusstsein.

«Ich weiß.» Er setzte sich im Bett auf.

«Und ein Schlüsselbund.»

«Ja.»

«Und sagt dir der Name was?»

Sie hielt sein Jackett an beiden Schultern hoch. Im Kragen war ein kleines, weißes Stoffrechteck eingenäht, darauf stand mit dunkelgrauem Faden: CARL GROSS.

«Ist das nicht der Hersteller?»

«Denk ich auch. Wobei ich von der Firma noch nie gehört hab.»

Helen holte eine Rasierklinge aus dem Badezimmer und trennte auf der Bettkante sitzend das Etikett heraus. Auf der Rückseite lagen die Fäden flott, lange, dunkelgraue Parallelen, maschinengestickt, ganz offensichtlich das Firmenschildchen. Helen nahm das Stoffrechteck und drückte es gegen seine Stirn.

«Was dagegen, wenn ich dich trotzdem so nenne? Weil, irgendwie muss ich dich ja nennen. Carl.»

«Carl?»

«Carl.»

«Da muss aber noch was sein», sagte er und fingerte einen kleinen, rötlichen Papierschnipsel mit ascheschwarzen Rändern aus der Tasche der Anzughose. Name, Doppelpunkt. Nichts weiter.

Beim Frühstück stützte Helen ihr Gesicht in die linke Hand, Zigarette senkrecht nach oben, und machte sich einen Spaß daraus, ihn in jedem Satz mit Carl anzureden. «Zucker zum Kaffee, Carl? Warum hast du deinen Ausweis verbrannt, Carl? Von Hippies war gestern aber noch nicht die Rede. Carl.»

«Was hab ich denn gesagt?»

«Typen.»

Aus dem Schlafzimmer holte Helen einen gelben Blazer und lachsrosa Bermudas. Sie brauchte zwei Tassen Kaffee und vier Zigaretten lang, bis sie Carl überredet hatte, ihre Kleider wenigstens versuchsweise einmal anzuziehen. Sie passten ihm wie angegossen.

«Dein Zeug kannst du nachher ins Hotel bringen.»

«Ich seh aus wie ein Kanarienvogel.»

«Bis morgen ist das fertig.»

Anschließend fuhr Helen mit dem Honda zum amerikanischen Konsulat, um dort, wie sie sagte, ein paar Informationen einzuholen, während Carl einen Spaziergang zum Sheraton hinauf unternahm. Nachdem er sein Bündel in die Hotelreinigung gegeben (und sich bei dieser Gelegenheit erstmals als «Carl Gross, Nummer 581d» vorgestellt) hatte, fragte er den Hotelangestellten noch aufs Geratewohl, ob er einen Cetrois kenne, Monsieur Cetrois. Ja, in Targat heimisch. Nein, kein Hotelgast. Wahrscheinlich nicht.

Aber der Mann kannte keinen Cetrois und musste einen zweiten Angestellten herbeirufen, der ebenfalls nichts wusste. Der erste rief einen dritten und der zweite einen vierten, und bevor es zu einem Massenauflauf kommen konnte, gab Carl den Männern ein Bakschisch aus einem Packen kleinerer Geldscheine, den Helen ihm zugesteckt hatte, bedankte sich und ging.

Gegen den ausdrücklichen Rat seiner Freundin schlug er den Weg nach Targat hinunter ein. Er sah freundliche Gesichter, er sah unfreundliche Gesichter, er las Straßen- und Firmenschilder. Ein Rechtsanwalt hieß Croisenois. Auf einem Stein stand In memoriam Charles Boileau. Versuchsweise sprach er einen Passanten an, aber je näher er dem Stadtzentrum kam, desto häufiger wurde er auch selbst angesprochen. Mit dem gelben Blazer und den Bermudas sah er aus wie ein sehr exzentrischer, sehr reicher Tourist, und in den engen Gassen rund um den Suq konnte er keine fünf Schritte gehen, ohne dass irgendwelche Männer mit Worten und Gesten herzlichster Vertraulichkeit auf ihn zustürzten. Hilfsbereite, jugendliche Nichtstuer, Scharlatane, Händler begrüßten ihn per Handschlag. Den meisten stand ins Gesicht geschrieben, was sie von ihm wollten, doch plagte ihn bei vielen auch der Verdacht, sie könnten ihn aus einem früheren Leben kennen.

Aber den Männern Fragen zu stellen, war aussichtslos. Mit einem freudigen «Wie geht’s!» warfen sie ihrem lieben alten Freund und guten Bekannten einen schweren Arm um die Schultern und versuchten, ihn in kleine Läden zu bugsieren, in denen sie oder ihre Cousins unterschiedslos Gewürze, Sandalen, Schachteln aus Thujaholz, bunte Bänder, Plastiklöffel und Sonnenbrillen feilboten.

Um die Prozedur abzukürzen, änderte er schließlich seine Strategie. In einer weniger belebten Straße setzte er ein etwas gedankenverlorenes Gesicht auf, um dann seinerseits mit allen Zeichen freudigen Wiedererkennens auf irgendwelche Leute zuzustürzen und sie immer abwechselnd zu fragen, wo sie einander zuletzt gesehen hätten oder ob Monsieur Cetrois heute schon da gewesen sei. Er tat, als sei er hier verabredet gewesen mit seinem Freund, seinem Feind, seinem Schwager, seinem Schuldner. Er tat, als habe er ihn zuletzt vor fünf Minuten noch gesehen, oder erweckte den Eindruck, Monsieur Cetrois wohne hier gleich nebenan, Straße und Hausnummer vergessen. Er beschrieb einen durchschnittlichen Araber, einen Franzosen, einen Schwarzen. Aber niemand schien je von einem Mann dieses Namens gehört zu haben. Als einziges Ergebnis seiner Recherche schleppte er eine Traube von Straßenkindern hinter sich her, die ihm einen egalweg großen, schlanken, kleinen, bärtigen, dicken, hellhäutigen, negroiden, reichen, stinkenden oder drahtigen Monsieur Cetrois jederzeit herbeizuschaffen versprachen gegen ein paar Kupfermünzen oder eine Fahrt im Autoskooter. Schließlich nahm er erschöpft in einem Straßencafé Platz.

Er hatte den Minztee schon zur Hälfte getrunken, als sein Blick auf ein Schild über dem Eingang des Nachbarhauses fiel: Commissariat Central.

Seine Angst vor der Polizei war ungebrochen groß, aber zugleich musste er gegen die Gravitationskraft ankämpfen, die das Gebäude auf ihn ausübte: Wo, wenn nicht dort, gab es Informationen über vermisste Personen?

Er sah zwei Polizisten aus der Tür treten und sich unterhalten, nur einige zwanzig Meter entfernt. Der eine trug eine sich unter der Kleidung deutlich abzeichnende Waffe und ließ seinen Blick über die Menge gleiten, während er sich mit gespreizten Fingern durch die Haare fuhr. Mitten in der Bewegung hielt er plötzlich inne, packte seinen Kollegen am Arm und zeigte mit dem Kinn in Richtung des kleinen Cafés, in dem ein einzelner Gast in einem gelben Blazer saß … oder bis vor zwei Sekunden noch gesessen hatte.

Unbeholfen hatte Carl ihnen den Rücken zugedreht, einen Geldschein unter sein Teeglas geschoben und war davongerannt. In dem Gassengewirr konnte er die Polizisten leicht abschütteln. Falls sie ihm überhaupt folgten. Er hatte nicht gewagt, sich nach ihnen umzudrehen, und das war ihm vorerst genug Aufregung für einen halben Tag. Er schlug den Weg zum Sheraton ein, ging am Hafen entlang zurück und dann die Küstenstraße hinauf.

Reiche Amerikaner in weißer Kleidung posierten vor dem Meer. Goldene Stewards lehnten vor schlanken Yachten, und die Eingänge der Fischrestaurants sahen aus wie griechische Tempel aus Plastik. Er fühlte sich leer und taub. Der Anblick eines Kreuzfahrtschiffes, das mit dampfenden Schornsteinen auf den Ozean hinausfuhr, gab ihm den Gedanken ein, auszuwandern. Er hatte keine Vergangenheit, und wenn er eine hatte, sprach einiges dafür, dass Gewalt, Verbrechen und Verfolgung darin die Hauptrollen spielten. Der Wille, sein bisheriges Leben fortzusetzen, war längst nicht so stark wie der Wunsch nach Ruhe und Sicherheit. Auswandern nach Frankreich oder Amerika, ein unbelastetes Leben beginnen, sich langsam zurechtfinden an der Seite einer platinblonden Frau. War das nicht möglich?

«Cetrois!», rief jemand hinter ihm. «Cetrois? Wen suchst du? Cetrois?»

In der Schiebetür einer Werkstatt, vor der sich Autokarosserien stapelten, stand ein Mann im blauen Overall. Mit konspirativen Gesten winkte er Carl zu sich heran, zog ihn in die Werkstatt und schob die Tür hinter ihm zu. Im Halbdunkel wartete bereits ein zweiter, sehr kräftiger Mann, der Carl ansatzlos den Fuß in den Magen trat.

Er sackte vornüber und fühlte, wie ihn von hinten jemand am Hals packte. Sie stellten keine Fragen. Sie schienen vorauszusetzen, dass er wusste, was sie von ihm wollten. Falls sie überhaupt etwas wollten und das Ganze nicht nur ein kleiner Scherz auf Kosten eines Frauenkleider tragendes Mannes war, der in einer traditionsverhafteten Gesellschaft verständliche Aggressionen auslösen musste. Seine unter Fußtritten herausgekeuchten Fragen, wer sie seien, wurden mit weiteren Tritten beantwortet. Er schmeckte Blut. Sie zerrten ihn in den hinteren Teil der Werkstatt, und der Kräftige stieß ihn gegen eine Werkbank, auf der eine große Holzkiste stand. In der auf einer Seite offenen Kiste steckte eine hypermodern wirkende, chromblitzende Maschine. Sie schlugen seinen Kopf gegen die Maschine.

«Wie ist das? Wie ist das?», rief der Kräftige.

Die Maschine wackelte, und Carl sackte benommen zu Boden. Sie warfen sich über ihn, würgten ihn und hörten erst damit auf, als ein Geräusch von der Schiebetür her sie aufschreckte.

Ein schmaler, langsam breiter werdender Keil aus Sonnenlicht flutete über den Boden, die Werkbank, die chromblitzende Maschine und die wenig klassisch anmutende Gruppe dreier ringender Männer. Einige Sekunden lang herrschte Stille. Dann sagte eine leiernde, blasiert klingende Frauenstimme mit starkem amerikanischem Akzent: «Excuse me, can you tell me where to find the tourist information?»

Der Kleinere sprang sofort auf und lief mit ausgebreiteten Armen auf die Tür zu, um die Sicht auf das Geschehen hinter sich zu verdecken. Der andere hielt Carl an der Kehle zu Boden gedrückt. Durch einen Schleier aus Schweiß und Tränen sah Carl nicht mehr als zwei Schatten in einem Rechteck aus Licht. Er hörte halblaute Worte, dann ein unangenehmes Knacken, und einer der Schatten sank zu Boden. Mit wiegenden Hüften kam der zweite Schatten in die Werkstatt marschiert und blieb im Dunkel stehen. Der Kräftige ließ Carls Kehle los und ging, vorsichtig seine Faust massierend, langsam auf den Schatten zu.

Diesmal sah Carl den Handkantenschlag, der mit einem Knacken den Kehlkopf des Mannes zertrümmerte. Neunzig Kilo rollten über den Boden. Ohne zu zögern, ohne zu lächeln und ohne ein Wort eilte Helen auf Carl zu und warf einen kurzen, geschäftsmäßigen Seitenblick auf die Maschine. Sie kippte die Holzkiste auf der Werkbank an, stützte sie mit der Schulter ab und forderte Carl auf, das hintere Ende zu nehmen.

Mit der schweren Kiste stiegen sie über einen bewusstlosen Mann in der Mitte der Werkstatt und einen nicht bewusstlosen Mann an der Tür, der mit beiden Händen seinen Hals festhielt und japste. Helens Pick-up stand im Hof. Gemeinsam wuchteten sie die Maschine auf die Ladefläche und fuhren zügig davon.

«Das ist nicht das Ding, oder?», fragte Helen, als sie im Bungalow standen, die chromblitzende Maschine vor sich auf dem Tisch. Das Gerät war auf seinem Sockel fast einen Meter hoch, hatte einen schlanken, zylinderförmigen Mittelteil, außen verlaufende Rohre, ein zentrales Messinstrument und oben einen Einfüllstutzen. Es schien Strom zu benötigen, hatte aber kein Kabel, mit dem man es anschließen konnte, nur einen zweipoligen Einbaustecker an der Seite.

«Welches Ding?»

«Die Mine.»

«Die Mine? Das da? Du hast das mitgenommen, weil du dachtest —»

«Das stand so prominent im Raum. Und direkt daneben du und die Männer — ich dachte, du hast es gefunden.»

«Du hast gedacht, das ist die Mine?»

«Was weiß denn ich», sagte Helen gereizt und drehte an einer Schraube am Einfüllstutzen. «Was hast du denn gewollt in dieser Werkstatt da?»

«Und du?»

«Ich hab dich gesehen, du Künstler, wie du da rein bist. Also, was ist das für ein Ding?»

Aber auch eine genaue Untersuchung der Maschine brachte keine Klarheit. Auf einem kleinen Metallschild am Sockel standen technische Daten — 2500 wat, 12 amper — , darüber ein kurzer Text in einer Sprache, die sie nicht kannten.

«Norwegisch oder Dänisch», vermutete Carl.

«Polnisch. Warszawa, das ist Polnisch. Und das waren die Leute von Adil Bassir?»

«Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Das Ultimatum läuft ja noch.»

«Oder die aus der Wüste?»

«Nee.»

«Apropos Wüste», sagte Helen, «Bodenschätze gibt’s hier nicht. Aber es gibt eine Goldmine.»

30. HAKIM VON DEN BERGEN

Warum soll es nicht möglich sein, Gold zu machen? Wir wissen heute aus der Atomphysik, dass alles möglich ist. Noch vor kurzem glaubte man, dass nicht alles möglich ist.

Dagobert Duck

Im gelben Dunst die gelben Berge. Dass es in dieser Gegend keine Bodenschätze gab, hatte man Helen auf dem amerikanischen Konsulat glaubhaft versichert. Von einem Bergwerk, einer Grabung, einer wie auch immer gearteten Mine war den freundlichen Konsularbeamten ebenfalls nichts bekannt.

Helen hatte das Konsulat bereits wieder verlassen, als ihr auf dem Parkplatz ein junger Mann mit Schrubber und Putzeimer hinterhergelaufen kam, der Helens Gespräch mit den Beamten offenbar aus einiger Entfernung mitverfolgt hatte. Sein Englisch war sehr schlecht, und anscheinend hatte er auch nicht alles richtig verstanden. Aber aufgeregt und unter der riesigen amerikanischen Flagge am Eingangstor stehend berichtete er, dass es im Norden selbstverständlich eine Mine gebe. Oder einmal gegeben habe.

Treuherzig schaute er Helen in die Augen, wartete, bis sie ihr Portemonnaie gezückt hatte, und berichtete von einer alten Goldmine an der Ausfallstraße nach Tindirma. Freilich, eine richtige Mine sei das nicht, wie er nach einigen Minuten blumiger Rede zugeben musste; es sei tatsächlich ein Restaurant gewesen, welches ein Nigerianer oder Ghanaer dort vor sehr langer Zeit betrieben habe, es habe Zur Goldmine geheißen und sei im Gegensatz zu seinem Namen etwas ganz anderes als eine Goldmine gewesen, weshalb es auch längst nicht mehr existiere. Allein die Reste des Hauses stünden noch. Verfehlen könne man sie nicht, sagte er, sie befänden sich nur einen Kilometer hinter den großen Ziegelkamelen in der Wüste, und sonst sei da auch nichts mehr und stehe auch nichts, nur diese Ruine noch, direkt vor der kleinen Abzweigung in die Berge.

«Und das alles wäre ein großer Quatsch vermutlich», sagte Helen zu Carl, «wenn es nicht zufällig da wäre, wo ich dich aufgelesen hab. Jedenfalls nah dran.»

Sie fuhren los.

In der flirrenden Hitze des Nachmittags gaben sich die Kamele ihren zeitlosen Kuss. Der Wind wehte gelben Staub von ihren Rücken.

Die kleine Abzweigung in die Berge war leicht zu finden, aber von Resten eines Hauses konnte man nicht ernsthaft sprechen. Ein paar Bretter lagen zwischen den Felsen, ein verbeulter Eimer. Nach längerer Suche entdeckte Carl die vier Pfosten, die einmal die Ecken des Gebäudes gewesen sein mochten, und sogar ein kleines Tableau mit halb abgeblätterten arabischen Schriftzeichen: ein Teil des Wortes Goldmine. Das war alles.

Carl, der große Hoffnungen in diesen Hinweis gesetzt hatte und aus Verzweiflung so heftig gegen einen Stein trat, dass er glaubte, sich den Fuß verstaucht zu haben, wollte sofort nach Targat zurück. Helen war dagegen.

«Wenn du eine Gaststätte hast und nennst die Zur Mühle, dann heißt das doch in aller Regel, dass da irgendwann mal eine Mühle war. Selbst wenn die schon seit hundert Jahren nicht mehr steht und sich keiner mehr erinnern kann. Oder? Warum nennt einer sein Restaurant Zur Goldmine? Lass es uns wenigstens versuchen.» Sie zeigte auf den schmalen Weg, der sich in die Berge schlängelte, und Carl, der einer neuerlichen Enttäuschung aus dem Weg gehen wollte und zugleich wütend war, nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen zu sein, stieg widerwillig ins Auto.

Kahl und gleichförmig reihten sich die Berge aneinander. Vereinzelt waren Felsbrocken über die nackten Flanken hinuntergestürzt. Hier ein kleiner Felsen, dort ein großer. Gelbe und graue und braune Monolithen bedeckten die Hänge wie eine mittelmäßige Kunstausstellung. Im Schritttempo kroch der Honda die Steigungen hinauf.

Hinter einer Wegbiegung bremste Helen, weil sie oben am Berg eine Bewegung gesehen zu haben meinte. Sie setzte ein Stück zurück, und in einem schmalen Felsspalt dreißig oder vierzig Meter über der Straße wurde ein Mann in bunter Freizeitkleidung sichtbar, den Blick auf den Boden gerichtet. Seinen haarlosen Schädel zierte ein an den Ecken vierfach geknotetes Taschentuch. Auf seiner Schulter wippte eine Apparatur, die sich jedes Mal, wenn er den Oberkörper etwas hinunterbeugte, in seinem Rücken wie ein Mast aufrichtete. Die Apparatur bestand aus einer langen Angelrute mit einem großen, feinmaschigen Netz obendran. Vor der Öffnung des Netzes war eine kreisrunde Holzscheibe, die mit einem Seilzug am Griffende geöffnet und geschlossen werden konnte. Der Mann hatte nur kurz zum Honda hinuntergeblickt und war dann weitergetrottet.

Helen lehnte sich aus dem Fenster.

«Beißen sie?», rief sie auf Englisch. Der Schall brach sich zwischen den Felsen und hallte zurück. Der Mann tat einen unsicheren Schritt zur Seite, um besser sehen zu können. Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter und rief: «Eigene Erfindung!»

«Kennen Sie sich hier aus? Wir sind auf der Suche nach einer —»

«Levi Doptera! Ich!», brüllte der Mann.

«Angenehm, Helen Gliese!», rief Helen. Sie stellte den Motor ab. «Nach einer Mine. Hier muss es irgendwo eine Mine geben.»

«Eine Schiene?»

«Mine. Eine Goldmine.»

«Brauchen Sie Geld?»

«Wir suchen ein Bergwerk.»

«Ich hab Geld wie Heu», rief der Mann und winkte.

«Sag ja», sagte Carl.

«Nein!», brüllte Helen. «Sie haben nicht zufällig irgendwas gesehen? Oder ein stillgelegtes Bergwerk?»

«Ausgezeichnet!»

«Was sagt er?», fragte Carl.

«Ich weiß es nicht», sagte Helen. Und laut zum Fenster hinaus: «Was ist ausgezeichnet?»

«Ich bin auch auf der Suche!», brüllte der Mann. «Levi Doptera.»

«Phantastisch!», rief Helen. «Aber so was wie Bergbau haben Sie hier auch nicht gesehen?»

«Wo ein Berg ist, gräbt der Mensch! Lassen Sie sich nicht entmutigen. Meine Erfahrung.»

«Lass uns weiterfahren», flüsterte Carl, «der hat sie nicht alle.»

«Vielen Dank für die klugen Worte!», rief Helen. «Sollen wir Sie ein Stück mitnehmen?»

«Nein, nein!» Der Mann lachte, und der Kescher wippte lustig hin und her.

«Dann halt nicht. Arsch.»

Die Straße wurde immer schmaler und steiler und endete einige Kilometer weiter zwischen zerbröselten Felsen, mitten im Nichts.

Carl und Helen stiegen aus und besahen sich die Umgebung. Kahle Bergflanken rechts und links, Eidechsen in der Sonne. Staubige Disteln.

Helen erklärte die Unternehmung daraufhin für endgültig gescheitert, aber jetzt war es Carl, der schon fünfzig oder hundert Meter einen Hang hochgeklommen war und weiter hinaufstieg auf der Suche nach Spuren menschlichen Wirkens. Helen rief ihm eine Weile hinterher, dann setzte sie sich ins Auto und verfolgte durch die Windschutzscheibe die kraxelnde Gestalt, die nach geraumer Weile den Bergkamm erreichte, kurz Ausschau hielt und achselzuckend auf der anderen Seite verschwand. Zehn Minuten vergingen. Eine halbe Stunde. Ermattet saß Helen auf dem Fahrersitz, beide Autotüren weit geöffnet. Ein Berggipfel warf den ersten Schatten hinter Helen ins Tal. Sie löste die Handbremse und ließ das Auto langsam dorthin zurückrollen. Als sie die Bremse wieder anzog, entdeckte sie einen winkenden Mann ganz oben auf den Felsen. Carl winkte, und er musste schon länger gewinkt haben. Helen rief etwas zu ihm hinauf, er antwortete nicht und wedelte nur weiter mit den Armen.

Nach einem seufzenden Blick auf ihre Riemchensandalen machte sich Helen daran, ganz vorsichtig den Berg hinaufzusteigen.

«Pscht», sagte Carl, als sie oben angekommen war. Er zog sie an einem Felsen vorbei, kroch ein Stück auf allen vieren und zeigte hinunter in die Tiefe. Auf der gegenüberliegenden Bergflanke war auf halber Höhe ein kleines Plateau mit einer winzigen Hütte zu erkennen. Ein Windrad drehte sich, Fässer standen zu einer Pyramide getürmt, und knapp über der Hütte war ein riesiger Stollen in den Berg getrieben. Seitlich davon fielen Abraumhalden den Berg hinunter wie versteinerte Wasserfälle.

«Soldaten», sagte Carl.

«Da in der Hütte?»

«Da.» Er zeigte in eine ganz andere Richtung. «Die haben da rumexerziert und sich ganz komisch bewegt. Dass das keine Erwachsenen sind, hab ich erst gemerkt, als einer auftauchte, der doppelt so groß war wie alle anderen.»

«Kinder?»

«Hatten aber Gewehre und Uniform und alles. Jetzt sind sie schon zehn Minuten weg.»

«Und bei der Hütte waren die nicht?»

«Nein. An der Hütte tut sich nichts. Aber wenn das keine Mine ist, weiß ich auch nicht.»

Sie beobachteten noch eine Weile das Tal und die Hütte und entschlossen sich dann, auf einem in die Steilwand getretenen Weg abzusteigen. Als sie durch die Talsohle marschierten, krachte ihnen ein Schuss um die Ohren. Carl warf sich sofort zu Boden. Helen suchte Schutz hinter einem Felsbrocken. Von den Felswänden hallte das Echo wider. Keiner von ihnen hatte gesehen, woher der Schuss gekommen war.

Es blieb eine Weile still. Dann hörten sie, wie jemand in schlechtem Englisch brüllte: «Amerika! Scheißamerikaner!»

Auf dem Plateau stand schräg über ihnen jetzt ein Mann und schwang eine Winchester wie eine Keule über dem Kopf herum. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand. Er lachte. Er hob sie wieder auf, machte sich am Verschluss zu schaffen und hielt sie dann mit einer Hand senkrecht in die Luft. Presste seinen Kopf fest an den hochgereckten Arm, steckte sich den Zeigefinger seiner anderen Hand ins Ohr und schoss. Der Schuss hallte wie zuvor. Der Mann hüpfte hin und her und rief: «Scheißamerikaner!»

«Dieses Land fängt an, mir auf die Nerven zu gehen», sagte Helen.

Sie rief dem Mann aus ihrer Deckung auf Französisch zu, dass sie sich verlaufen hätten. Dass sie nicht wüssten, wie sie zur Straße zurückkommen sollten und dass sie einen Schluck Wasser gebrauchen könnten.

Als Antwort schleuderte der Mann erneut das Gewehr herum, und wieder fiel es ihm aus der Hand. Er war völlig betrunken.

Helen kletterte bis knapp unter die Auskragung des Plateaus hinauf. Sie trug Shorts, ihre Bluse war durchgeschwitzt, und mit nach oben gekehrten Handflächen redete sie leise zu dem Hüttenbesitzer hoch.

«Amerikaner!», wiederholte der Mann noch ein-, zweimal unsicher und starrte mit weit aufgerissenen Augen von oben in Helens Bluse. Dann rief er in Richtung Carl: «Ich kann dich sehen! Ich seh dich! Ich will euch beide sehen!»

Er machte eine unklare Geste und fiel rückwärts um. Mit dem Gewehr als Krücke versuchte er, sich wieder aufzurichten. Er hatte helle, wachsbleiche Haut und ganz winzige Fältchen. Er hätte dreißig sein können oder auch siebzig.

Carl und Helen, die das Plateau mittlerweile erklommen hatten, griffen dem Taumelnden unter die Achseln und führten ihn zu seiner Hütte. Sie war nicht viel geräumiger als ein großes Auto, und in ihrem Innern sah es aus wie in der Seele ihres Besitzers: ein wenig unordentlich.

Er sank sofort zu Boden, versuchte, seine Gäste zum Platznehmen zu bewegen, und hörte sich mit kindlich-fröhlichem Gesichtsausdruck ihre vier- oder fünf- oder sechsmal wiederholten Fragen an.

Nein, zurzeit grabe er nicht, sagte er und deutete auf einen Verband an seiner Wade, aus dem Lehm und verdorrte Kräuter quollen. Wie lange er schon nicht mehr grabe, könne er mit letzter Gewissheit unmöglich sagen, aber er sei bekanntlich Hakim III, Sohn von Hakim II, Enkel Hakims von den Bergen. Und natürlich, das legendäre Gold, das sein Großvater vor hundert Jahren an genau dieser Stelle, wo nun die Hütte stehe, mit eigener Hand aus dem Staube und auf Allahs Wunsch und zum Ziele seiner Heirat mit Leila, der blumenhaften, der gazellengleichen, schwarzäugigen Leila mit den zierlichen Ohren, seiner Mutter — Bitte um Verzeihung — , Großmutter, aufgeklaubt habe … was war noch mal die Frage? Genau. Verrückt geworden sei er, verrückt vor Gier. Statt Leila, der bildschönen, der kleinohrigen, den goldenen Brautschmuck schmieden zu lassen und wohlgefällig sein von Anbeginn vorbestimmtes Leben zu leben, habe Hakim, Schande über ihn, allen Reichtum investiert in Hammer und Meißel und Bohrer und begonnen zu graben im verfluchten Fels.

Hakim von den Bergen tat den ersten Schlag mit einem Hammer, als er neunzehn war, und grub, bis seine Hand verdorrte im gesegneten Alter von achtundsechzig. Die Leber. Und nicht ein Stäubchen Gold in vierzig Jahren! Sodass die Gerüchte nicht verstummten, auch das erste Gold sei in Wahrheit … doch das waren Gerüchte. Und Hakim II, der treue Sohn, der niemals zweifelte, begann zu graben, als er zwanzig war, und grub, bis der Meißel seiner Hand entglitt im Alter von vierundsechzig. Das Herz. Auch er fand nicht ein Stäubchen. Und zuletzt Hakim III, der Enkel, der treueste der Treuen. Der Mann ohne Zweifel. Begann zu graben, als er dreizehn war.

«Was ist aus ihm geworden?», erkundigte sich Helen.

«Er gräbt noch immer», sagte er und schlug sich stolz auf die Brust. Und werde graben bis an sein Lebensende, dem Beispiel seiner Ahnen folgend, und wenn er sterbe, dann werde es nicht das Herz sein und nicht die Leber, sondern die schwarze Galle, und er werde sich erschießen, genau hier, vor diesem mit eigenen Händen gegrabenen Stollen, seinem Lebenswerk und dem Werk seiner Vorfahren, werde sich einfach das Hirn wegschießen und ein Stäubchen werden in einem Gebirge aus Staub. Er steckte sich den Lauf der Winchester in den Mund, blies lustig die Backen auf und rollte mit den rot geäderten Augen.

«Wollt ihr jetzt den Stollen sehen?»

Sie wollten. Die ersten Meter war es kühl unter der Erde. Dann wurde es rasch wärmer, je tiefer man hinunterstieg. Und stickiger. Hakim torkelte mit einer Karbidlampe voran und forderte Carl und Helen wiederholt auf, sich dicht hinter ihm zu halten: «Ohne mich findet ihr hier nie wieder raus.»

Lange, schulterbreite Gänge waren kreuz und quer durch den Felsen getrieben worden. Nur am Anfang gab es einen etwas größeren Hauptgang, der natürlichen Ursprungs zu sein schien und hier und da mit Hammer und Meißel verbreitert worden war. Mit einem Klicklaut der Zunge machte Hakim auf einen im gesamten Gangsystem akkurat auf Brusthöhe angebrachten Fries aus rußschwarzen Handabdrücken aufmerksam. Nahe am Stolleneingang lauter rechte Hände im Abstand von etwa einem halben Meter; abzweigende Gänge hatten andere Markierungen. Die linke Hand, die linke Hand mit nur vier Fingern, ein Handteller mit nur Zeigefinger und Daumen. Je tiefer sie hinabstiegen, desto weniger Finger waren übrig.

Als die Markierung nur noch ein linker Handteller plus Daumen war, befanden sie sich in einem etwa mannshohen, höhlenartigen Raum, von dem drei oder vier Gänge abzweigten. Hakim leuchtete mit seiner Funzel herum und erklärte, welcher seiner Ahnen welchen Gang in welchem Jahr gegraben habe. Hin und wieder tippte er sich auch stolz auf die eigene Brust und hob vielsagend die Augenbrauen, und Carl, der aufmerksam zuhörte, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, der Erzähler habe hier als junger Mann einst mit der Grabung begonnen, sei als erwachsener und alter Mann damit fortgefahren und sei in Wirklichkeit Großvater, Vater und Enkel in einer Person. Während er noch redete, drang ein entsetzliches Stöhnen aus der Tiefe herauf. Carl sah Helen an, Helen sah den Alten an, und der Alte tat, als habe er nichts gehört. Er berichtete, wie Hakim der Zweite oder Dritte vergeblich versucht hätten, hier unten einen Presslufthammer zu betreiben, imitierte mit aufgeblasenen Backen das Rattern des Werkzeugs und konnte doch das unheimliche Geräusch, das kurz ausgesetzt und dann eine Oktave tiefer wieder eingesetzt hatte, nicht übertönen.

«Was — ist — das?», fragte Helen, und Hakim hielt sich eine Hand ans Ohr.

Es war nichts zu hören.

«Da schnauft etwas», insistierte sie, und das Gesicht des Alten hellte sich auf.

«Ah! Es schnauft? Ich zeig’s euch.»

Eilig steuerte er mit seiner Laterne den am steilsten abfallenden Gang hinunter. Carl und Helen, die oben stehen blieben, riefen ihm hinterher, sie hätten genug gesehen und kein Interesse, weitere Teile des Stollens zu besichtigen. Das Geräusch sich entfernender Schritte antwortete ihnen. Mit jedem Schritt wurde es dunkler in dem höhlenartigen Raum.

«He!», brüllte Helen. «He!»

«Ohne mich findet ihr hier nie wieder raus», kam die Stimme aus der Tiefe; und sich an den Händen fassend eilten Carl und Helen dem schwindenden Licht hinterher. Der Gang war so schmal, dass man nur im Gänsemarsch gehen konnte. Carl war näher am Alten. Helen versuchte vergeblich, sich an ihm vorbeizudrängen, und flüsterte auf Englisch: «Wenn irgendwas ist: erst auf die Lampe, dann auf den Mann. Ohne die Lampe sind wir am Arsch.»

An den Wänden ein Handteller mit nur einem rechten Ringfinger. Nach ein paar scharfen Wendungen verbreiterte der Gang sich und mündete in ein großes, hallendes Dunkel, eine zerklüftete Grotte, die so riesig war, dass das Licht der Karbidlampe die letzten Winkel nicht erreichte. Die Felsdecke war pechschwarz und spannte sich, von natürlichen Säulen und anthropomorphen Felsformationen gestützt, über einem einige Meter großen, schlammigen Tümpel.

Carl räusperte sich, und mit einem Mal erklang direkt vor ihnen ungeheuer laut und nah das Schnaufen wieder.

Hatte man es aus der Entfernung noch für einen geheimen Windzug oder dergleichen halten können, war jetzt klar: Dort im Dunkel wartete etwas Lebendiges.

Hakim turnte über ein paar Felsen hinab und beleuchtete mit seiner Lampe die Ufer des Tümpels. Auf vier zittrigen Beinen stand dort eine Ziege. Oder etwas, das einmal Ähnlichkeit mit einer Ziege gehabt haben mochte. Das Fell war ihr gänzlich ausgegangen. Über beide Augen hing ein weißer Film herab. Entsetzlich langsam drehte das Tier seinen Kopf den Besuchern entgegen und keuchte asthmatisch. Um seinen Hals war eine schwere Eisenkette geschlungen, die aus dem Tümpel herauslief. Ein Halbkreis aus Dreck und Kot am felsigen Ufer ließ die ungefähre Länge der Kette erahnen.

Hakim zog ein Büschel Gras aus seiner Tasche und warf es nach der Ziege. Sie zuckte zusammen und schnupperte dann auf dem Boden nach dem Grün.

Freudestrahlend zeigte Hakim abwechselnd auf das Tier und seinen zahnlosen Mund, machte Schnalzlaute und drückte fünf zusammengelegte Fingerspitzen gegen seine Lippen. «Hat mein Großvater entdeckt! Sechs, sieben Monate, und das Fleisch ist weißer als weiß, zarter als zart. Lecker, lecker. Gedeihen nur in der Dunkelheit.»

In der folgenden Nacht hatte Carl erneut Albträume. Er lag am Strand unweit des Hotels, und neben ihm auf einem Badetuch räkelte sich eine riesige, fette Ziege mit weißblinden Augen. Beim Blick in diese Augen wusste er sofort, dass er ihr nicht zum ersten Mal begegnete, und die Traumstimme verriet, es sei in Wirklichkeit eine Sphinx, deren Rätsel es zu lösen galt. Er durfte nur eine Frage stellen, und er hatte nur einen Versuch.

Er dachte lange nach, dann fragte er: «Wie mag es gehen?», und die Ziege antwortete: «Es geht so.» Erst in diesem Moment wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass das Tier sprechen konnte. Lächelnd rieb es sich mit beiden Hufen übers Gesicht, darunter kam Helens Gesicht zum Vorschein. Ihre Miene. Entsetzt schrak Carl hoch. Ein strahlend blauer, herrlicher Tag stand im Fenster. Er lag allein im Bett. War das noch immer Traum? Oder schon das andere? Er hörte menschliche Stimmen, hob den Kopf und sah hinaus.

Vor dem Bungalow stand Helen mit einem Hotelangestellten. Sie unterhielten sich leise. Helen lachte freundlich, winkte dem Hotelangestellten hinterher und ging mit zwei Einkaufstüten unterm Arm zu einer weißen Säule, die im Vorgarten zwischen Oleanderbüschen stand. Mit einem kleinen Schlüssel öffnete sie ein Fach in der Säule, holte einen Packen Post heraus und blätterte ihn durch.

«Gut geschlafen?», fragte sie. «Es wundert mich, dass die mir nicht schreiben, es wundert mich einfach.»

Auf dem Küchentisch sortierte sie die Post auf kleine Stapel. Wobei Post nicht ganz das richtige Wort war. Der Inhalt des Briefkastens bestand aus zwei Werbezetteln benachbarter Restaurants («gute arabische Küche», «feinste französische Gerichte»), einem Gruß des Hotels mit Verhaltensmaßregeln plus einer Telefonnummer für Notfälle (Wasserschaden, Stromausfall, Afrikaner auf dem Grundstück) und einem in durchsichtige Folie eingeschweißten, umfangreich bebilderten Prospekt der Tauchschule Poseidon («Die Tauchschule mit dem Dreizack», «Unser Kutter und wir», «Lernen Sie die faszinierende ‹Unterwasser›-Welt aus einer neuen Perspektive kennen»), der den handschriftlichen Zusatz trug: Bitte Prospekt nach Abreise wieder in den Kasten. Weiterhin zwei zerknüllte und vergilbte Papiertaschentücher, ein Briefumschlag ohne Inhalt, eine leere Schokoriegelverpackung und zuletzt noch ein auf der Schreibmaschine mit mehreren Durchschlägen beschriebener, schmaler Papierstreifen, den Helen lippenkauend durchlas und wortlos an Carl weiterreichte:

+++++++++++ Praxis f. Psychologie +++++++++++

J. Carthusian Cockcroft, M.D., Corniche 27

Tel: 2791, Sprachen: Frz., Engl., kein

Arabisch — Termiene: Mo. — Do. 8–12 & n. Ver.;

— modernste Methode — Schnupperpreise wg.

+++++++++++++!NEUERÖFFNUNG!+++++++++++++

«Was soll das sein? Ist das normal?» Carl drehte den Zettel zwischen zwei Fingern hin und her.

«Hier vielleicht schon.»

«Aber du glaubst nicht ernsthaft, dass ich da hingehe?»

Helen verteilte den Inhalt der Einkaufstaschen auf Kühlschrank, Obstkorb, Spüle und Tisch und begann, eine Ananas zu filetieren. Carl trottete ihr unentschlossen hinterher.

«Schnupperpreise. Das ist doch Quacksalberei.»

«Mich darfst du nicht fragen.»

«Ich frag dich aber.»

«Wahrscheinlich ist die Psychologendichte hier nicht ganz so hoch wie in Manhattan. Da sieht die Werbung halt anders aus. Wenn du schon nicht ins Krankenhaus willst und auch sonst nirgends hin —»

«Und hast du das gesehen? Termiene mit ie

«Gedächtnisverlust und Verfolgungswahn. Du solltest auf jeden Fall zum Psychologen.»

«Du findest das nicht seltsam?»

«Wenn da ‹Tellermine› stünde oder ‹Frauen und Kinder die Hälfte› — aber du musst jetzt nicht durchdrehen wegen eines kleinen Tippfehlers. Das ist garantiert irgend so ein Laden für Touristen, denen die Sonne zu lang aufs Hirn —»

Helen unterbrach sich, als sie sein unglückliches Gesicht sah.

«Ich hab Angst», sagte Carl leise. Der Zettel in seiner Hand zitterte, das Zittern wanderte über seinen Arm auf den Körper. Helen legte die Ananas beiseite und kam mit dem tropfenden Messer auf ihn zu. Sie umarmte Carl, stahlblinkende Haifischflosse auf seinem Rücken, und sagte: «Probier’s einfach. Und wenn’s ein Quacksalber ist, hast du nur ein bisschen Zeit verloren.»

«Auf keinen Fall», sagte Carl. «Auf keinen Fall geh ich dahin.»

31. DER TYRANN VON AKRAGAS

Wenn das menschliche Gehirn so simpel wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so simpel, dass wir es nicht könnten.

Emerson Pugh

«Wie heißen Sie?»

«Ich weiß es nicht.»

«Welche Sprache sprechen Sie?»

«Französisch.»

«Ich welcher Stadt befinden wir uns?»

«Targat.»

«Welches Datum haben wir?»

«1972.»

«Genauer?»

«Siebter September. Achter.»

«Woher wissen Sie das?»

«Aus der Zeitung.»

«Wann haben Sie Zeitung gelesen?»

«Gestern.»

«Wussten Sie schon, welcher Tag war, als Sie in der Scheune aufgewacht sind?»

«Nein.»

«Als Sie das Datum in der Zeitung gelesen haben, hat es Sie überrascht? Oder entsprach das in etwa Ihren Erwartungen, September 72?»

«Entsprach meinen Vorstellungen.»

«Wie alt sind Sie?»

«Pfff.» Carl sah Dr. Cockcroft an. Dr. Cockcroft trug einen nach vorne ausgreifenden Vollbart und mittellanges Haar, das vor nicht langer Zeit einmal blond gewesen sein musste. Augen, Nase, Mund wurden vom Gewicht des quadratischen Stirnblocks in der unteren Gesichtshälfte zusammengequetscht. Er hätte auch Komponist sein können oder Atomphysiker. Seine Hände waren riesig und die Fingernägel abgekaut bis aufs Fleisch. Ein wenig verkrampft und entschieden unmodisch gekleidet saß er Carl in einem großen, plüschigen Sessel mit Blumenmuster gegenüber. Zwischen den beiden Männern stand ein Tischchen, auf dem ein brauner Apfelrest, Dr. Cockcrofts Notizblock sowie ein Montblanc-Füller lagen. Im Fernsehen lief ein Fußballspiel ohne Ton. Die Gardinen vor den Fenstern waren zugezogen.

«Was würden Sie schätzen?», fragte Dr. Cockcroft.

«Dreißig?»

«Haben Sie Familie?»

«Weiß ich nicht.»

«Erinnern Sie sich an Haustiere?»

«Nein.»

«Präsident der Vereinigten Staaten?»

«Nixon.»

«Frankreichs?»

«Pompidou.»

«Wie viele Finger sind das?»

«Acht.»

«Machen Sie mal die Fingerstellung nach, die ich hier mache. Ja. Und jetzt spiegelbildlich mit der anderen Hand? Okay. Nehmen Sie mal das Papier da und schreiben was.»

«Was soll ich schreiben?»

«Irgendwas. Schreiben Sie: Dr. Cockcroft hat vier Finger an jeder Hand. Gut. Und jetzt zeichnen Sie ein Quadrat. Und einen Kreis um das Quadrat herum? Wenn das ein Kreis ist für Sie, dann zeichnen Sie bitte mal ein Ei. Können Sie einen perspektivischen Würfel? Spüren Sie irgendwelche Beeinträchtigungen beim Sehen?»

«Nein.»

«Können Sie lesen, was da hinter Ihnen steht?»

«Notausgang.»

«Und auch keine Unschärfen? Auch an den Rändern nicht? Fliegen da keine Punkte durchs Bild?»

«Nein.»

«Ohne nachzuschauen. Wie viele Füße haben Sie?»

«Was?»

«Wie viele Füße haben Sie?»

«Ist das eine ernstgemeinte Frage?»

«Antworten Sie einfach.»

«Zwei», sagte Carl und schaute auf seine Füße.

Dr. Cockcroft machte sich Notizen. «Welches Wort gehört nicht in die Reihe: Mensch — Schäferhund — Fisch?»

«Fisch … nein, Mensch. Der Mensch gehört nicht dazu.»

«Was für Musik hören Sie gerne?»

«Weiß ich nicht.»

«Wenn ich etwas auflege, was würde Ihnen gefallen? Arabische Musik? Europäische? Klassik? Beatmusik?»

«Keine Klassik.»

«Können Sie Gruppen nennen? Bands?»

«Die Beatles. Die Kinks. Marshal Mellow.»

«Können Sie ein Lied von den Beatles singen?»

«Ich glaube nicht.»

«Eine Melodie ansummen?»

Carl summte zaghaft ein paar Töne und sagte dann selbst überrascht: «Yellow Submarine.»

«Erinnern Sie sich, was auf dem Schild hinter Ihnen steht?»

«Exit.»

«Wie heißt Ihre Frau?»

«Keine Ahnung.»

«Die Frau, die Sie hergebracht hat?»

«Das ist nicht meine Frau.»

«Die da draußen auf Sie wartet?»

«Ja.»

Dr. Cockcroft biss auf seinem linken Daumennagel herum. Er schaute auf seinen Block und strich etwas durch. «Und wie heißt die Frau, die nicht Ihre Frau ist?»

«Helen.»

«Wo wohnen Sie?»

«Zwei oder drei Straßen von hier. In einem Bungalow.»

«Mit dieser Frau zusammen?»

Carl dachte lange nach und sagte dann: «Warum wollen Sie das wissen?»

«Wohnen Sie mit ihr zusammen?»

«Ihr gehört der Bungalow. Sie macht Urlaub. Wir haben uns zufällig kennengelernt.»

«Nachdem Sie aus dem Krankenhaus entlassen wurden?»

«Ich war nicht im Krankenhaus. Der Verband ist von ihr.»

«Warum waren Sie nicht im Krankenhaus?»

«Wie ich schon sagte, ich bin überfallen worden und … ich hatte auch den Eindruck, es ist nicht so schlimm.»

«Nicht so schlimm.» Mit der Zunge schob Dr. Cockcroft ein abgebissenes Stück Fingernagel zwischen seine Lippen und pustete. Er nickte. «Wenn Sie wollen, guck ich nachher mal drauf. Und das da an Ihrer Hand?»

«Hab ich mich geschnitten», sagte Carl und verbarg den klobigen Verband neben seinem Oberschenkel.

Dr. Cockcroft blickte in seine Notizen und seufzte. «Na schön», sagte er, «dann zählen Sie mal in Siebenerschritten von hundert rückwärts.»

«Hundert», sagte Carl, und er fuhr fort zu zählen, bis er bei 70 war und ein brummendes Geräusch des Arztes ihn davon überzeugte, dass die Aufgabe erfüllt war. Dr. Cockcroft hatte mitgeschrieben, und der Handbewegung nach zu urteilen, zog er jetzt einen doppelten waagerechten Strich unter seine Notizen. Er saugte den linken Mundwinkel ein, er saugte den rechten Mundwinkel ein. Dann blätterte er ein paar Seiten zurück und sagte:

«Und jetzt erzählen Sie mir das Ganze noch mal rückwärts, bitte. Alles, was Sie mir vorhin erzählt haben, Station für Station, von dem Moment an, wo Sie im Bungalow ankommen.»

«Alles?»

«Alles. Und rückwärts.»

Carls Blick fiel auf einen blau schillernden Käfer, der direkt vor seiner Fußspitze in kleinen Schlangenlinien das Tischbein hochkletterte. «Also. Helen und ich sind im Bungalow angekommen. Vorher sind wir durch Targat gefahren. Und davor durch die Wüste. Davor habe ich Helen an der Tankstelle angesprochen. Wo auch der weiße VW-Bus mit den deutschen Touristen war. Davor bin ich an der Piste langgelaufen. Davor haben sie mein Portemonnaie geklaut. Die Hippies. Vorher war ich im Sand eingegraben. Über mir sind die Männer im Jeep rumgefahren. Vier Männer in weißen Dschellabahs. Davor hab ich mich in den Sand gewühlt. Davor bin ich durch die Dünen gerannt. Davor bin ich durch das Scheunentor …»

Dr. Cockcroft tippte mit dem zugeschraubten Füller Punkt für Punkt auf seine Notizen und sagte: «Gut. Gut. Ist gut. Das reicht. Trinken Sie Alkohol?»

«Ich glaube nicht.»

«Nein. Ich meine, möchten Sie einen?»

Dr. Cockcroft ging zu einer kleinen Bar, schenkte sich ein Glas Bourbon ein und blickte über die Schulter zurück. «Und auch nichts anderes?»

Carl hatte sich ein wenig vorgebeugt. Auf dem Notizblock glaubte er, ein auf dem Kopf stehendes Wort entziffern zu können: Banser oder Ganser. Dahinter ein dickes Fragezeichen.

«Nein danke.»

Schnaufend setzte sich der Psychiater wieder in seinen Sessel, trank einen Schluck, stellte das fast leere Glas vor sich auf den Tisch und zog umständlich ein riesiges Taschentuch aus der Hose. Er machte seine Armbanduhr vom Handgelenk ab, legte sie neben das Glas und den Füller und deutete stumm auf die drei Gegenstände. Anschließend bedeckte er sie feierlich mit seinem Taschentuch.

«Was haben ein Auto und ein Boot gemeinsam?»

«Es sind Fortbewegungsmittel.»

«Und sonst noch?»

«Dass man drin sitzen kann?»

«Und?»

«Und?» Vor seinem geistigen Auge sah Carl Helens rostigen Pick-up und den Kutter aus dem Prospekt der Tauchschule Poseidon. Beide hatten etwas mit Helen zu tun. Nein, das war Unsinn. Er zuckte die Schultern.

«Gut», sagte Dr. Cockcroft. «Dann erzähle ich Ihnen jetzt eine Geschichte. Merken Sie sich, so viel Sie können. Der Tyrann von Akragas, ein Mann namens Phalaris, ließ durch den Bildhauer Perillus einen Bronzestier anfertigen. Der Stier war innen hohl und geräumig genug, einen Gefangenen aufzunehmen. Schürte man Feuer unter der Bronze, sollen die Schreie der Eingeschlossenen geklungen haben wie die Schreie echter Stiere. Das erste Opfer, das zu Testzwecken geröstet wurde, war der Bildhauer selbst. Geben Sie die Geschichte in Ihren eigenen Worten wieder.»

«Die ganze Geschichte?»

«Die ganze Geschichte.»

«Also, ein Mann namens … Dings lässt einen Stier bauen. Aus Bronze. Um Leute darin zu foltern. Mit Feuer. Und der Bildhauer stirbt als Erstes.»

«Wie würden Sie das interpretieren?»

«Wie, interpretieren?»

«Was ist die Moral der Geschichte?»

«Welche Moral?»

«Gibt es keine Moral? Irgendeine Aussage?»

«Vielleicht: Wer andern eine Grube gräbt.»

«Das ist für Sie die Aussage?»

Carl sah unbehaglich auf den Käfer, der mittlerweile die Tischplatte erklommen hatte und sich vorsichtig an der Kante entlangtastete.

«Denken Sie nach. Worauf genau läuft die Geschichte hinaus?»

«Dass Kunst und Politik nicht zusammengehen?»

«Konkreter?»

«Dass Kunst unmoralisch ist?»

«Das ist Ihrer Meinung nach die Aussage?»

«Ich weiß es nicht», sagte Carl gereizt. «Der Tyrann ist ein Idiot, der Bildhauer ist auch ein Idiot, ein Idiot bringt den andern um. Ich kann da nicht viel Aussage erkennen.»

Dr. Cockcroft nickte ein wenig betrübt, lehnte sich dann zurück und fragte: «Was ist unter dem Taschentuch?»

«Eine Armbanduhr, ein Glas und ein weißes Kaninchen.»

Das Gesicht des Arztes blieb vollkommen ausdruckslos. «Unter dem Taschentuch?»

«Ein Füller», korrigierte Carl.

«Fühlen Sie einen starken Drang nach Bewegung in sich?»

«Was für Bewegung?»

«Sie haben geschildert, Ihre erste Erinnerung ist, ich zitiere: Ich renne durch die Wüste.»

«Meine erste Erinnerung ist die Scheune.»

«Und dann rennen Sie», sagte Dr. Cockcroft, während er umständlich versuchte, sich die Armbanduhr wieder anzulegen. «Sie gebrauchten das Wort Flucht.»

«Weil jemand hinter mir her war.»

«Ist dieser Drang zu fliehen weiter vorhanden?»

«Es verfolgt mich ja keiner mehr.»

«Kann es sein, dass die Verfolger zurückkommen?»

«Worauf wollen Sie hinaus?»

«Eine Einschätzung: Besteht Ihrer Ansicht nach die Möglichkeit, dass die Verfolger zurückkommen?»

«Sie werden sich nicht in Luft aufgelöst haben. Und ich hab sie mir nicht eingebildet. Wenn es das ist, was Sie denken.» Carl hielt die verletzte rechte Hand hoch — und bemerkte zu spät seinen Irrtum.

An der Bar schenkte Dr. Cockcroft sich einen weiteren Bourbon ein. Diesmal brachte er die Flasche gleich mit.

«Dann noch mal zurück zur Scheune», sagte er und ließ sich zurück in den Plüschsessel fallen. «Sie haben Kolben und Kessel und Rohre geschildert. Woran erinnerten die Geräte Sie?»

«Ich hatte sie nie vorher gesehen.»

«Aber haben Sie sich keine Gedanken über den Zweck der Apparatur gemacht? Was könnte das gewesen sein?»

«Ein Laboratorium.»

«Genauer?»

«Warum fragen Sie das?»

«Warum antworten Sie nicht?»

«Weil Sie die Antwort auch nicht kennen.»

«Antworten Sie trotzdem.»

«Wozu? Wenn ich sage, es sah aus wie eine Düngerfabrik, oder wenn ich sage, es war ein Physiklabor, wollen Sie hinfahren und nachgucken?»

Dr. Cockcroft schwieg, und Carl, der vergeblich versuchte, sein aufsteigendes Misstrauen zu unterdrücken, sagte: «Ich weiß nicht, was Sie hier eigentlich testen?»

«Beantworten Sie einfach meine Frage. Was könnte es gewesen sein?»

«Sagen Sie’s mir.»

«So wie Sie das schildern und in Verbindung mit dem, ich zitiere, leichten Alkoholgeruch beim Erwachen, könnten das vielleicht Destilliergeräte gewesen sein?»

Carl schüttelte den Kopf. «Kann sein», sagte er gekränkt. «Kann sein.»

«Wissen Sie, wie Alkohol hergestellt wird?»

«Aus Früchten. Durch Vergären.»

«Genauer?»

«Wenn sie vergoren sind, erhitzt man das … man erhitzt irgendwas und siebt dann den Alkohol raus. Oder das Wasser aus dem Alkohol. Und dann … am Ende muss das wieder verdünnt werden, glaube ich.»

«Sollen wir eine kurze Pause machen? Sie sehen erschöpft aus.»

«Nein», sagte Carl entschieden. «Nicht nötig.»

«Oder soll ich zwischendurch mal einen Blick auf Ihre Kopfwunde werfen?» Dr. Cockcroft schenkte sich einen weiteren Bourbon ein. «Ich bin zwar nur Psychiater, aber einiges kriegt man ja doch mit im Studium.»

Mit dem Glas in der Hand begann er, Carls Kopfverband abzuwickeln.

«Bleiben Sie einfach sitzen. Ich klapp das hier ganz vorsichtig auf … ja. Aha, aha. Das ist ja alles schon ganz schön verkrustet. Aber vorher gereinigt und zusammengeheftet, was? Sieht ja halbwegs professionell aus. Halten Sie mal das Glas. Und wenn ich hier reindrücke? Aua. Ja. Das tut natürlich weh. Und hier? Aber wirkt doch insgesamt ganz stabil. Ein Bluterguss, vielleicht ein wenig gesplittert, aber nicht sehr schlimm. Ich kleb das mal wieder zu. Schlimm ist es, wenn’s ins Hirn reinblutet. Aber wenn’s reinblutet, sind Sie 48 Stunden später auch tot. Sodass man das im Umkehrschluss auch wieder ausschließen kann.»

Mit umsichtigen, wenn auch ein wenig ungelenken und betrunkenen Handbewegungen versuchte Dr. Cockcroft, den Verband wieder in die alte Form zu bringen, während er über Epiduralblutungen dozierte und sich schließlich erneut dem Bourbon zuwandte.

«Ich würde mir da keine allzu großen Sorgen machen», sagte er. «Auch wenn es die Eitelkeit verletzt: So ein Gehirn darf man sich nicht übermäßig kompliziert vorstellen. Haben Sie schon mal einen Computer gesehen? Ein sogenanntes Elektronengehirn? Nein, natürlich nicht. Kenn ich mich zufällig ein bisschen aus damit aus meiner Zeit am MIT … sagt Ihnen die Dreyfus-Affäre was?»

Dr. Cockcroft hielt plötzlich inne, beide Hände noch leicht erhoben von den Anführungszeichen, die er um das Wort «Elektronengehirn» herum in die Luft gemalt hatte, beugte sich vor und betrachtete die blau schillernde Lebensform, die auf dunklen Tarsen vor seiner Nase entlangkrabbelte. Er hielt einen Finger gegen die Tischplatte, wartete, bis der Käfer das Hindernis erklommen hatte, und schnippte ihn dann auf den Teppich. Durch widerborstige Sisalfasern ruderte das Insekt sofort erneut auf den Tisch zu und begann, ihn abermals zu erklimmen.

«Sisyphus. Oder Sophokles, wie heißt das noch mal?»

«Sisyphus», sagte Carl.

Den Kopf tief gesenkt saß Dr. Cockcroft da. Ein verborgenes Grinsen zog seinen Vollbart zu breiten Hamsterbäckchen auseinander.

«Ein merkwürdiges Land. Mit merkwürdigen Insekten. Aber was ich eigentlich sagen wollte: dass ich während meines Studiums immer in der Kybernetik war. Ohne Ahnung davon zu haben, natürlich. Ich kam ja aus der Humanwissenschaft. Allein diese Computer fand ich sehr faszinierend. Und die Leute da auch, und, um ehrlich zu sein, ich war verliebt in ein Mädchen, eine angeblich hochbegabte Ingenieurin. Wenn ich zu sehr abschweife, sagen Sie Bescheid … Jedenfalls sah ich sie einmal im Kampf mit einem Computer. Und das war mein erster schockierender Blick in das Innenleben einer solchen Maschine. Eine staubige Häuserschlucht grüner und brauner Platinen, von einem Blutkreislauf bunter Kabel umschlungen. Einen Fuß auf der umgestürzten Kiste, und mit dem Schraubenzieher riss sie Kabel aus der Verankerung. Brach Rechtecke aus der kristallinen Struktur, lötete irgendwas irgendwohin und zerrte alles zurück auf seine schwankenden Stelzen. Das dauerte keine dreißig Sekunden, dann lief der Rechner wieder.»

Dr. Cockcroft streckte den Arm aus, schnipste den Käfer ein zweites Mal vom Tisch und suchte den verständnislosen Blick seines Patienten. «Was ich damit sagen will: So oder so ähnlich muss man sich auch das Gehirn vorstellen. Man denkt sich das eigene Organ notgedrungen als etwas höchst Kompliziertes und Fragiles, weil man seine Äußerungen — ob zu Recht oder zu Unrecht — als kompliziert und fragil empfindet. Aber auf der rein physischen Ebene gibt es keine Entsprechung zu dieser Empfindlichkeit, und man erzielt gute Resultate mit Schraubenzieher und Kneifzange. Langer Rede kurzer Sinn: Ich würde mir über das Loch in Ihrem Kopf da keine allzu großen Gedanken machen. Das Gefährlichste sind Blutungen, und die —»

«Was ist die Dreyfusaffäre?»

«Ach, das haben Sie sich gemerkt? Sie passen ja auf wie ein Luchs.»

Verwirrt blickte Dr. Cockcroft zwischen den drei ihn umgebenden, disparaten Entitäten hin und her: dem zum dritten Mal eilig auf das Tischbein zukrabbelnden Käfer, dem fragenden Patienten und dem mit rötlicher, blasser Haut überspannten Greifgerät aus Knochen, Sehnen, Nerven und Muskeln, das zitternd ein Glas Bourbon hielt. Er führte den Bourbon zum Mund.

«Dreyfus hat mit unserer Sache nichts zu tun!», erklärte er bestimmt. «Nur dass der Rechner, von dem ich gerade sprach, natürlich ein Schachrechner war. Richard Greenblatt. Das sagt Ihnen jetzt nichts. Aber der hat vor fünf oder sechs Jahren damit angefangen. Mit ein paar Leuten haben sie versucht, einer dieser Maschinen Schach beizubringen. Nutzlos, aber Informatiker sind so. Und Dreyfus — Hubert Dreyfus — war ein Philosoph am MIT. Der kommt von Heidegger und hat es nicht so mit der Elektronik. Schreibt seit vielen Jahren Bücher, in denen er erklärt, warum es künstliche Intelligenz nicht gibt, niemals geben wird, und warum jeder Achtjährige besser Schach spielt als ein Lochkartensystem. Damit nervt er die Kollegen von der Computerwissenschaft natürlich, und da hat dann Greenblatt den guten Hubert irgendwann aufgefordert, gegen seinen Rechner anzutreten. Soweit ich mich erinnere, hörte der auf den schönen nom de guerre Mac Hack. Und dieser Mac Hack fegte die Philosophieabteilung vom Brett, dass es nur so eine Art hatte. Auf diese Weise erlangte Dreyfus zweifelhafte Unsterblichkeit als erster Mensch, der dümmer war als ein paar Kupferdrähte. Nicht ganz so toll wie der erste Mensch auf dem Mond, aber immerhin. Seine Bücher gegen die Maschinenwelt sollen seitdem noch eine Spur kompromissloser geworden sein, habe ich mir sagen lassen …»

In dieser Weise fuhr Dr. Cockcroft noch eine Weile zu reden fort. Carl, der nicht wusste, warum der Arzt ihm das alles erzählte, der vor allem nicht wusste, ob die sonderbaren Studienerinnerungen seines Gegenübers noch Teil der Untersuchung waren oder nicht (und, wenn ja, welchem Zweck sie dienten), kämpfte vergeblich gegen den Eindruck an, der Psychiater versuche hier auf ebenso verschlungene wie schlüpfrige Weise, ihn in eine überaus durchsichtige Falle zu locken.

«Was hat das mit mir zu tun?», unterbrach er schließlich das Gerede.

«Nichts!», erklärte Dr. Cockcroft fröhlich, nahm einen großen Schluck Bourbon und stellte das Glas schwungvoll zurück auf den Tisch. Mit weit aufgerissenen Augen sah er seinen Patienten an.

«War das Absicht?», fragte Carl.

«Was?»

«Das da.» Er deutete auf den Bourbon.

Dr. Cockcroft kniff ein Auge zusammen, ließ das andere weit offen und linste von oben durch den flüssigen Bernstein hindurch auf den Käfer. Ein mit dem Knöchel auf die Tischplatte geklopftes Morsezeichen, und das in einer Mulde unter dem Glas eingeschlossene Insekt krabbelte einen panischen kleinen Kreis. Ein Lupfen des gläsernen Gefängnisses — «Pardon!» — , und der Sechsbeiner hastete über die Tischplatte, plumpste über die Kante und raschelte unter einen Stapel Zeitungen.

«Also warum erzählen Sie mir das alles?», fragte Carl.

«Warum ich Ihnen das erzähle? Weil ich diese Dinge hochinteressant finde! Und weil ich glaube, wir gehen herrlichen Zeiten entgegen.» Mit beiden Zeigefingern pickte er rechts und links gegen seine Schläfen und führte parallel dazu ein Augenbrauenballett auf. «Früher oder später wird man das, was Sie in Ihrem Kopf da mit sich rumtragen und was Sie heute noch leiden lässt, durch zwei integrierte Schaltkreise und ein paar bunte Drähte ersetzen. Bildhübsche Studentinnen werden Sie mit einem Fußtritt, Hammer und Kneifzange von Ihrem Elend erlösen, und auch die Frage der Unsterblichkeit … aber ich sehe, das alles interessiert Sie nicht besonders. Gut. Ist ja auch fröhliche Zukunftsmusik. Heute müssen wir in die Abgründe Ihrer Gehirnwindungen noch einmal mit herkömmlichen Mitteln hinabtauchen, sosehr es auch schmerzt.»

Er nahm seinen Notizblock wieder auf, blätterte ein paar Seiten um und hielt plötzlich inne: «Wobei mir einfällt, erwähnten Sie schon, warum Sie eigentlich hier sind? Ich meine nicht die Amnesie. Aber Sie wollten ja erst nicht zum Arzt. Und jetzt — ist da irgendetwas vorgefallen in der Zwischenzeit?»

Carl schüttelte den Kopf. «Außer dass ich Ihren Zettel gefunden habe. Und dass es mir nicht gutgeht. Ich bin unruhig und werde immer unruhiger. Ich kann kaum schlafen. Ich träume entsetzlich.»

«Ach ja.»

«Letzte Nacht hab ich praktisch gar nicht geschlafen. Ein einziger Albtraum.»

«Verständlich. Dann mal zurück zu der Frage —»

«Soll ich Ihnen erzählen, was ich geträumt hab?»

«Nein, müssen Sie nicht. Wir können weitermachen.»

«Interessiert es Sie nicht?»

«Sie denken, weil ich Psychiater bin.» Dr. Cockcroft biss auf den Resten seines Daumennagels herum. «Wenn’s Sie erleichtert, erzählen Sie’s.»

Carl zögerte einen Moment und gab dann seinen Traum von der riesigen, fetten Ziege wieder. Der Ziege, die plötzlich Helens Miene hatte. «Also, Helens Gesicht», korrigierte er. Beim Erzählen wurde Carl immer unsicherer, weil er spürte, dass er nicht ansatzweise beschreiben konnte, was das Grauenerregende des Traums gewesen war. Bei Licht betrachtet wirkte alles ganz harmlos.

«Und jetzt wollen Sie eine Deutung von mir?», fragte Dr. Cockcroft. «Was möchten Sie hören? Dass Sie offenbar Angst haben vor der amerikanischen Touristin, die Sie aufgenommen, gesund gepflegt, mit Geld ausgestattet, verbunden und zu mir geschickt hat? Dass das Gesicht dieser Frau Ihnen fremd ist, so fremd wie das jeder anderen Person? Dass Sie in die Fänge einer raffiniert maskierten Betrügerin geraten sind?» Er griff mit beiden Händen in seinen Vollbart und zerrte daran, als müsse er seine Echtheit beweisen. «Eine Spionin in geheimer Mission? Ihre langjährige Ehefrau, die Ihnen unter Ausnutzung der Umstände eine herrliche Komödie vorspielt? Ich bin zwar Psychiater, aber kein Freund der Wiener Kloake. Wenn Sie meine bescheidene Ansicht wissen wollen: Träume sind Feuerwerke in unserem Hirn. Sie haben keine Bedeutung. Das ist auch der Stand der Wissenschaft.»

«Das ist nicht sehr ermutigend», sagte Carl nach einer längeren Pause.

«Alles, was die moderne Hirnforschung herausfindet, ist nicht sehr ermutigend», erwiderte Dr. Cockcroft begeistert. «Hat es übrigens mit dem Wort Miene etwas auf sich?»

«Was?»

«Sie ersetzten es sofort durch Gesicht. Nein? Dann noch mal zurück zu dieser amerikanischen Touristin. Helen. Der zu vertrauen Sie offenbar Schwierigkeiten haben. Haben Sie eine intime Beziehung?»

«Was?»

«Üben Sie den geschlechtlichen Verkehr miteinander aus?»

«Was geht Sie das an?»

«Ich bin Ihr Arzt. Kohabitieren Sie?»

«Was hat das mit meiner Amnesie zu tun?»

«Können Sie sich an Intimitäten nicht erinnern?»

«Nein. Weil es keine gab.»

Dr. Cockcroft nickte, pochte das Ende des Füllers seitlich gegen seinen Hals und sah Carl lange ins Gesicht. «Eine letzte Frage. Versuchen Sie einmal, ohne Gegenfrage zu antworten. Sind Sie vollkommen sicher, dass Sie nicht wissen, wer Sie sind?»

«Wäre ich sonst hier?»

«Ich frage nicht ohne Grund.»

«Ja!», sagte Carl verzweifelt.

32. DISSOZIATION

Sein Gesicht trug den einfältigen Ausdruck eines Menschen, der nachdenkt und sich nicht bemüht, es zu verbergen.

Kafka

«Ihr Krankheitsbild ist, vorsichtig ausgedrückt, außergewöhnlich. Ich weiß, man soll mit Diagnosen zurückhaltend sein, aber für angemessene Zurückhaltung fehlt uns wohl die Zeit. Erstens sind wir hier nicht im klinischen Bereich, wo Sie eigentlich hingehören. Zweitens wage ich zu bezweifeln, dass es im Umkreis von fünfhundert Kilometern einen adäquaten klinischen Bereich für Sie gibt. Und drittens haben Sie eine sehr unsichere Lebensgrundlage und scheinen darüber hinaus in Dinge verstrickt, die eine weitere Behandlung erschweren könnten. Immer vorausgesetzt, Ihre Angaben stimmen. Zuletzt bin ich auch kein ausgemachter Spezialist auf dem Gebiet der Amnesie, ich bin eher so Feld-, Wald- und Wiesenpsychiater. Ich weiß einiges, aber sicher nicht alles. Ich schieße jetzt mal ein bisschen ins Blaue, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Und in der Hoffnung, dass Sie mir helfen.»

Er blätterte in seinen Notizen. «Sie haben keine großen funktionellen Ausfälle, das merken Sie selbst. Sie sind zeitlich und räumlich gut orientiert. Ihr Weltwissen ist intakt und befindet sich auf dem Stand eines Mittelschülers. Sie können sich an alle Geschehnisse seit Ihrem — nennen wir es Unfall — erinnern, und Sie scheinen keinerlei anterograde Amnesie zu haben, wie sie für Schädelhirntraumata typisch wäre. Ihr Erinnerungsdefizit bezieht sich ausschließlich auf die Vergangenheit. Und da auf Ihren autobiographischen Zusammenhang. Was nicht ungewöhnlich ist. Funktionswissen und prozedurale Fähigkeiten bleiben oft ganz unangetastet, es schwindet das Autobiographische nach dem Ribot’schen Gesetz: last in — first out. Man vergisst die Zeitspanne unmittelbar vor dem Trauma, Tage, Wochen oder Jahre. Es sind Fälle bekannt, wo Patienten sich zuletzt an ihren siebenten Geburtstag erinnern. Es gibt auch die Fälle, die glauben, noch immer sieben Jahre alt zu sein. Da ist dann einiges zerschossen. Was allerdings äußerst selten, und äußerst selten jetzt im Sinne von gegen null ist, ist, dass der Zeitraum das gesamte Leben umfasst und die Identität. Dass einer seinen Namen nicht mehr weiß. Das ist die Art und Weise, wie Amnesie für gewöhnlich in der Fiktion auftaucht, in Unterhaltungsfilmen. Man kriegt einen Schlag auf den Kopf, und die Identität ist weg. Man kriegt noch einen Schlag, und sie ist wieder da. Asterix und Obelix.»

Dr. Cockcroft lehnte sich in seinen Sessel zurück, verknäulte die Finger ineinander und lächelte schwach.

«Und?»

«Und? Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ihre Krankheit trägt Züge des Inexistenten.»

Im Strafraum hatte sich eine Menschentraube um den Schiedsrichter gebildet, dunkel gekleidete Spieler protestierten. Weiß gekleidete Spieler schubsten dunkel gekleidete. Der Linienrichter rannte quer übers Feld.

«Was wollen Sie damit sagen?», fragte Carl. «Dass ich simuliere?»

«Das habe ich nicht gesagt.» Dr. Cockcroft riss seinen Blick vom Fernseher los. «Ich habe gesagt: Ihre Krankheit trägt Züge des Inexistenten. Soll heißen, man darf Zweifel haben an gewissen Dingen. Woran ich nicht zweifle, ist, dass Sie einen … wie soll ich sagen? Einen ernsthaften Schaden haben. Aber ich kann nicht sagen, was für einen. Simulation klingt im ersten Moment natürlich sehr negativ, bedeutet aber in der Regel nicht, dass da jemand zum Vergnügen einen Hirnausfall vortäuscht. Das kann auch eine Notwendigkeit sein. In ausweglosen Stresssituationen etwa. Die moderne Wissenschaft kennt Simulationen, die knapp unter der eigenen Bewusstseinsschwelle ablaufen. Ganser zum Beispiel … wobei das auf Sie nicht zutrifft. Und da sind wir dann beim Problem. Es trifft auf Sie auch sonst nichts zu: Altersdemenz. Vollverblödung. Korsakow. Von so zweifelhaften Dingen wie hysterischer Dissoziation mal ganz abgesehen.»

«Was ist Korsakow?»

«Alkohol. Aber dafür sind Sie eindeutig zu gut beieinander. Das wäre zwar wunderbar mit einer Scheune voller Destilliergeräte im Hintergrund. Allein, was ein richtiger Korsakow ist, der hat sich das Hirn komplett rausgesoffen. Der redet keinen Hauptsatz mit Nebensatz mehr. Nein, tut mir leid.»

«Und das heißt?»

«Das heißt, ich kann nur nach dem Ausschlussverfahren bestimmte Dinge ausschließen. Und, wie gesagt, Sie können sich an der Bemerkung festhalten, dass ich nicht der ganz große Spezialist bin. Aber ich zitiere den Lehrbuchklassiker: Die Globale Amnesie ist so selten, dass man tausendfach häufiger ihrer Simulation begegnet.»

«Aber es gibt sie.»

«Es scheint sie zu geben.»

«Was ist Ganser?»

«Ganser war ein deutscher Arzt. Der hat das zuerst bei Gefängnisinsassen entdeckt. Er hat es anfangs auch Vorbeireden genannt. Können Sie sich unter einer Krankheit, die Vorbeireden heißt, etwas vorstellen? Ja, natürlich. Und was stellen Sie sich da vor?»

«Dass jemand an einem anderen vorbeiredet. Zum Beispiel ich an Ihnen. Oder Sie an mir.»

«Wenn Sie jemand mit Ganser-Syndrom fragen, was ist zwei plus zwei, dann antwortet der fünf. Er antwortet nicht achtundvierzig, aber er antwortet auch nicht vier. Sondern immer knapp vorbei. Wie viele Ohren haben Sie? Dann wird an den Ohren rumgetastet und zwei geraten. Die Frage nach der Identität: angeblich nicht beantwortbar. Das dauert drei Tage, dann vollständige Genesung und keinerlei Erinnerung an die drei Tage des scheinbaren Blödsinns. So wird die Krankheit nämlich auch genannt: Scheinblödsinn.»

«Und das schließen Sie bei mir aus?»

«Bei manchen Ihrer Antworten würde ich mit mir handeln lassen. Andere wiederum —»

«Aber wenn das alles so blödsinnig ist, kriegen diese Leute dann auch vorher den Schädel eingeschlagen?»

«Das ist eine sehr gute Frage. Das ist eine wirklich sehr gute Frage. Darauf wollte ich gerade kommen. Natürlich geht einem Ganser-Syndrom kein Schlag auf den Kopf als Auslöser voraus. Aber allen anderen Möglichkeiten, seine Identität zu verlieren, geht ebenfalls kein Schlag auf den Kopf voraus. Sondern ein die Psyche traumatisierendes Geschehen.»

«Und was sind das für Möglichkeiten?»

«Sie suchen den Strohhalm, das ist begreiflich. Würde ich an Ihrer Stelle vermutlich auch tun. Aber es lohnt sich nicht.»

«Was war das andere, was Sie vorhin erwähnten? Hysterische Dysfunktion?»

«Dissoziation. Nein. Haben Sie nicht.»

«Aber was ist das?»

«Das kam um die Jahrhundertwende mal auf. Wandertrieb. Auch Fugue genannt. Fraglich, ob das überhaupt was ist. Da streitet sich die Zunft.»

«Aber da ist dann die Identität auch weg?»

«Die einen sagen so, die andern so. Wie gesagt. Aber es gibt nur wenige Fallbeispiele und keine belastbaren Studien. Genauso wie beim Ganser. Diese Identitätsverlustssachen stehen alle auf sehr wackligen Füßen. Wenn Sie meine Meinung wissen wollen —»

«Und die Symptome?»

«Von was jetzt?»

«Vom Wandertrieb.»

«Der Wandertrieb», sagte Dr. Cockcroft, «geht über einen gewissen, meist eng begrenzten Zeitraum, den Sie eigentlich schon überschritten haben. Und da ist das Ich dann angeblich mal komplett weg, und es herrscht ein ungeheurer Bewegungsdrang. Den Sie in bescheidenem Rahmen ja auch gezeigt haben. Und das alles ausgelöst durch ein die Psyche traumatisierendes Geschehen. Folter, Kindheit — was gerade so in Mode ist. Aber dafür sind Sie insgesamt zu verständig und besonnen. Ihre ganze Geschichte ist überhaupt viel zu klar und zu gradlinig. Allein Ihre eingebildeten oder auch nicht eingebildeten Verfolger —»

«Die sind nicht eingebildet!»

«Das kommt erschwerend hinzu. Eingebildete Verfolger wären für eine hübsche, kleine Persönlichkeitsstörung noch immer zu gebrauchen … aber reale Verfolger passen leider nicht zu diesen Dissoziationsgeschichten.»

«Vier Männer, die mich verfolgen und mir den Schädel einschlagen, können nicht traumatisierend sein?»

«Traumatisierung bedeutet nicht Schädel einschlagen. Bei einer Traumatisierung geht es um seelische Nöte. Ich will das nicht herunterspielen, aber um Ihre Identität zu verlieren, brauchen Sie ein bisschen mehr als vier Trottel in weißen Kutten, die einen Wagenheber schwingen.»

«Einen Wagenheber schwingen und drohen, mich umzubringen.»

«Nein.» Dr. Cockcroft senkte sein Kinn auf die vor der Brust gefalteten Hände, sah seinem Patienten tief in die Augen und schüttelte den Kopf. «Nein, nein, nein. Was meinen Sie, wie viele Traumatisierte wir dann hätten?»

«Und das, was vorher war? Nicht der Schlag. Aber das, was vorher war, woran ich mich nicht erinnere? Kann da nicht … ein längeres Geschehen vorausgegangen sein? Mit seelischen Nöten, die dann der Auslöser waren, und der Schlag auf den Kopf und alles andere ist nur eine Folge davon?»

«Sie würden einen guten Detektiv abgeben. Wirklich. Aber der Wandertrieb heißt nicht umsonst Wandertrieb. Der Mensch mit dem Wandertrieb ist in seinem Innern leer: Der wandert, weil er wandert. Der sieht einen schönen Fluss und denkt sich, da geh ich mal diesen Fluss entlang, und so geht der Hunderte Kilometer, und dann wird der manchmal aufgegriffen, und wenn man ihn fragt, warum, dann kann der das nicht beantworten. Der hat komplett vergessen, was ihn forttreibt. Der ist durchdrungen von schöner Gleichgültigkeit. Erstens. Zweitens: Wenn Ihre Verfolger tatsächlich real sind, dann ist das zwar ein schöner Ansatz für seelische Nöte, wie Sie eben in Ihrer Rolle als Sherlock Holmes richtig herausgefunden haben.» Dr. Cockcroft schloss kurz die Augen, als versuche er, sich die vier Männer bildhaft vorzustellen. «Da werden Sie also von diesen Typen in der Wüste so lange unter Druck gesetzt und misshandelt, bis Sie schwer traumatisiert sind. Sehr schön. Da brauchen wir den überflüssigen Schlag auf den Kopf gar nicht mehr, der kann jetzt einfach so erfolgen, als Sahnehäubchen sozusagen. Aber. Und jetzt kommt das große Aber. Ein Trauma, das so schwerwiegend ist, dass es Ihre gesamte Identität zum Verschwinden bringt, würde unter anderem auch Ihre Verfolger verschwinden lassen. Sogar an allererster Stelle die. Verstehen Sie? Das, was Sie traumatisiert, wird als Erstes weggeblendet. Das ist ja der Sinn der Sache. Wenn alles weg ist, ist auch die Erinnerung an das initiale Geschehen weg. Insbesondere an vier Männer und einen traumatischen Wagenheber. Sie dürfen Watson zu mir sagen.»

Carl blickte den Psychiater an. Er blickte auf die kahlen Wände, den Notizblock und den Tisch. Mit der Hand schirmte er die Augen ab, um besser nachdenken zu können. Er hörte, wie Dr. Cockcroft sich noch einen Bourbon einschenkte. Irgendetwas an der Beweisführung des Psychiaters kam ihm unlogisch vor. Und es irritierte ihn immer nachdrücklicher, dass Dr. Cockcroft sich fast noch mehr als für die Vorgänge in seiner Psyche für den Ablauf des Geschehens in der Wüste zu interessieren schien. Oder täuschte er sich? Er versuchte, sich den Arzt in einer weißen Dschellabah vorzustellen.

«Es tut mir leid», sagte Dr. Cockcroft. «Sie wollten eine Diagnose von mir. Das ist sie.»

Der die Arme verschränkende Arzt. Die kahlen Möbel. Das Fußballspiel.

«Sind Sie ganz sicher», sagte Dr. Cockcroft und beugte sich vor, «dass Sie mir nichts verschweigen?»

«Und Sie sind ganz sicher, dass Sie Psychiater sind?»

«Haben Sie da irgendwelche Zweifel?»

«Wenn Sie behaupten, ich bin ein Simulant, wenn Sie da ganz sicher sind — bin ich ebenso sicher, dass Sie kein Arzt sind.»

Dr. Cockcroft antwortete nicht.

«Warum stellen Sie zum Beispiel die ganze Zeit Fragen, die mit der Amnesie nichts zu tun haben? Warum sieht es hier aus wie … wie …»

«Was für Fragen?»

«Was sollte zum Beispiel die Frage nach dem Alkohol?»

«Haben Sie das schon vergessen?»

«Nein. Und ich habe auch nicht vergessen, dass Sie sagten: Der Korsakow redet keinen Hauptsatz mit Nebensatz mehr. Da wäre das Hirn völlig weg. Also wozu noch die Fragerei? Wozu, wenn es doch offensichtlich ist, dass ich —»

«Können Sie sich das nicht denken?»

«Nein, kann ich nicht!» Carl sprang auf und setzte sich wieder. «Kann ich nicht. Oder stellen Quartalssäufer ihren Alkohol neuerdings selber her?»

Dr. Cockcrofts beschwichtigende Handbewegungen signalisierten, dass er zumindest die Erregung seines Patienten für glaubwürdig zu halten bereit war.

«Vertrauen», sagte er. «Bitte bleiben Sie ruhig. Vertrauen ist das Wichtigste. Ich habe mich deshalb so ausführlich danach erkundigt, weil wir ja unter anderem nach Ihrer Identität suchen, falls Sie das vergessen haben. Und wenn einer blutüberströmt und mit eingeschlagenem Schädel in der Wüste inmitten von Apparaturen zur Alkoholherstellung zu sich kommt, ist der Verdacht, er könne der Schwarzbrenner sein, der da sein Labor hat — doch recht naheliegend, nicht wahr?» Dr. Cockcroft wog einen imaginären Trichter in seinen Händen und führte dann die Fingerspitzen zusammen. «Nur dass wir das jetzt ausschließen können. Was Sie wissen über Alkohol und seine Herstellung, ist das, was jeder weiß. Und das ist nicht viel.»

«Und der Geschlechtsverkehr?»

«Pardon?»

«Warum wollten Sie wissen, ob ich mit Helen Geschlechtsverkehr —»

«Routine», sagte Dr. Cockcroft. «Reine Routine. Ein Test, ob Sie bereit sind, ehrlich zu antworten.»

«Das glaube ich nicht.»

«Wieso glauben Sie das nicht?»

«Kein seriöser Arzt würde so etwas fragen. Er würde etwas anderes fragen.»

«Woher wissen Sie, was ein seriöser Arzt fragt und was nicht?»

«War mein Funktionswissen nicht unangetastet?»

«Schön, dass Sie sich daran erinnern. Weniger schön, dass Sie hier —»

«Sie sind kein Arzt.»

«Sie zweifeln wirklich? Und seit wann, wenn ich fragen darf?»

«Schon seit ich hier reingekommen bin. Die ganze Zeit. Schon seit ich Ihren Zettel gesehen habe.»

«Welchen Zettel?»

«Schnupperpreise.»

«Was haben Sie daran auszusetzen?»

«Kein normaler Arzt würde Schnupperpreise schreiben. Wegen Neueröffnung. Und so sieht auch keine Arztpraxis aus. Warum läuft die ganze Zeit der Fernseher? Wo sind Ihre … Geräte? Und Sie haben keine Fachliteratur. Sie haben keinen Arztkittel. Sie haben —»

«Keinen Arztkittel!» Dr. Cockcroft schien für einen Moment außer sich. «Und wenn ich einen Arztkittel anhätte, würden Sie meiner Diagnose Glauben schenken? Es tut mir leid, aber als Psychiater trägt man keinen … wobei ich tatsächlich einen besitze. Der müsste noch oben sein. Die Bibliothek mit der Fachliteratur ist ebenfalls oben. Und was den Fernseher betrifft, es tut mir leid, aber der Ausschaltknopf ist kaputt. Man muss sehr umständlich hinten den Stecker ziehen. Und wie Sie sich sicher erinnern, kommen Sie ganz und gar außerhalb meiner Sprechzeiten.»

Dr. Cockcroft trat mit dem Fuß nach dem Fernseher. Ein Nachrichtensprecher flatterte schreckhaft, löste sich in Schlangenlinien auf und verlor den Kopf. Langsam zuckend kehrte der Kopf in die Bildmitte zurück bis auf ein Stück Schädel, das am rechten Bildrand kleben blieb.

«Und ich kann Ihnen noch etwas verraten», sagte Dr. Cockcroft. «Ich weiß zwar nicht, ob ich Ihr Vertrauen damit zurückgewinne oder endgültig verliere — aber Sie haben natürlich recht. Es sieht hier nicht aus wie in einer Arztpraxis. Sie haben vermutlich keine Vorstellung davon, wie man hier seinen Lebensunterhalt verdient. Patienten wie Sie sind die absolute Ausnahme. Um ehrlich zu sein: Sie sind mein erster Patient, mein erster richtiger Patient.»

Der Nachrichtensprecher stieß einen Stapel Papier auf den Schreibtisch, und Dr. Cockcroft stürzte seinen Whisky hinunter.

«Aber das ist Afrika. Wie viele Psychiater, glauben Sie, praktizieren hier? In Kapstadt soll noch einer sein. Mit den Einheimischen können Sie nun mal keine Geschäfte machen. Die haben ihre eigenen Methoden. Ein bisschen trommeln, ein bisschen tanzen, ein bisschen singen: Das reicht in aller Regel für ihre sogenannten Probleme. Die afrikanische Seele steckt ja noch in den Kinderschuhen. Mit den Neurosengeflechten einer durchschnittlichen amerikanischen Hausfrau alles nicht vergleichbar. Und wenn Sie jetzt wissen wollen, womit ich mein Geld verdiene: hässliche Mütter mit großen Sonnenbrillen. Breithüftige Jünglinge aus gutem Hause. Touristinnen. Dafür ist das hier gemacht. Ein bisschen Erholungsurlaub, ein bisschen Stress am Strand, ein kleiner Ehebruch hier und da — ich ergänze mehr oder weniger den Freizeitbereich. Wenn das Ihre Fragen beantwortet. Meine Praxis gehört zum Hotel. Und alle zwei Wochen Schnupperpreise zur Neueröffnung — das hat sich als Konzept bewährt.»

«Aber Sie sind … ein echter Psychologe?»

«Psychiater. Studium in Princeton», sagte Dr. Cockcroft und begann, eine Reihe von Stationen und Universitäten herunterzurasseln, die Carl naturgemäß nichts sagten.

«Und haben Sie ein Zeugnis? Irgendwas, was Sie als Arzt ausweist?»

«Einen Arztkittel vielleicht?»

Carl mochte weder nicken noch den Kopf schütteln.

«Sie wollen meinen Arztkittel sehen?», setzte Dr. Cockcroft nach. Er lächelte. Kein verunsichertes Lächeln, eher ein lauerndes, interessiertes, als habe er gefragt: Sie wollen die Vagina Ihrer Mutter sehen?

«Ja», sagte Carl tapfer.

«Der ist oben. Wie gesagt. Glaube ich. Kann aber auch sein, der ist in der Reinigung.»

«Oder ein Zeugnis. Oder Fachliteratur.»

«Die Bücher sind auch oben. Wollen Sie nachschauen?» (Wollen Sie in die Vagina eindringen?)

Carl vergrub seinen Kopf in beide Hände und knetete mit der gesunden seine Kopfhaut. Ungerührt beobachtete Dr. Cockcroft seinen Patienten.

«Im Ernst», sagte Carl, «würde es Ihnen etwas ausmachen, mit mir hinaufzugehen und —»

«Wenn Sie möchten. Wenn ich Ihr Vertrauen dadurch zurückgewinnen kann. Ohne Vertrauen zwischen Arzt und Patient ist jede Therapie zwecklos … nein, kein Problem.» Dr. Cockcroft hatte sich auf den Armlehnen seines Sessels einige Zentimeter hochgedrückt. «Ich zeige Ihnen gern meinen wunderschönen Arztkittel. Wünschen Sie das?»

Seine ganze Haltung strömte eine solche Bereitschaft zur Kooperation aus, dass der Gang ins Obergeschoss dadurch schon überflüssig geworden war. Carl konnte nicht insistieren, ohne sich lächerlich zu machen. Er spürte das, und er spürte auch, dass das der geheime Zweck dieses herzlichen Entgegenkommens sein mochte, und so sagte er: «Ja. Ja, ich wünsche das.»

33. DIE BIBLIOTHEK

Ed: «Night has fallen. And there’s nothin’ we can do about it.»

John Boorman, Deliverance

Eine breite Holztreppe führte in den ersten Stock. Ihr schloss sich ein langer, dunkler Flur mit je vier oder fünf Türen rechts und links an. Carl ging zwei Schritte hinter Dr. Cockcroft; er roch die mittlerweile recht deutliche Alkoholfahne.

«Meine Bibliothek», sagte der Arzt. Er war vor einer Tür stehen geblieben, öffnete sie schwungvoll und knipste das Licht an. Der Schein einer schwachen Glühbirne beleuchtete eine winzig kleine Kammer. Zwischen Staub und zerbröselten Ziegelsteinen lag ein abgebrochenes Waschbecken auf der Erde, zwei verrostete Rohre stachen aus der Wand.

«Hoppla», sagte Dr. Cockcroft. Nonchalant zog er die Tür wieder zu, ging ein paar Schritte weiter den Gang hinunter und griff nach der nächsten Türklinke.

«Meine Bibliothek!», sagte er. Er zog an der Klinke. Er zerrte. Die Tür war verschlossen.

«Wirklich keine gute Idee, mich so spät in der Nacht aufzusuchen», sagte er kopfschüttelnd.

Schon etwas weniger selbstsicher wandte er sich um und versuchte es mit einer Tür auf der anderen Seite. Diesmal machte er keine Vorhersage, was der Raum dahinter enthalten werde. Vier Neonröhren flackerten auf und erhellten ein fast gänzlich ausgeräumtes Zimmer. Die Wände waren strahlend weiß, farbbespritzte Zeitungen bedeckten den Fußboden, es roch nach Lösungsmittel. Ein weißer Plastikeimer lag umgekippt auf der Seite. In der Mitte des Raumes stand ein ebenfalls mit Zeitungen bedeckter Tisch auf vier schlanken, runden Beinen, die in spitze Messingfüße ausliefen. Bei einem Bein war der Fuß abgebrochen, ein dünnes und ein dickes Buch lagen darunter.

«Ihre Bibliothek?», fragte Carl.

Dr. Cockcroft schlug sich vor die Stirn wie ein Darsteller im Bauerntheater und rief: «Ganz vergessen! Die Handwerker waren ja heute da.»

Er bückte sich nach den beiden Büchern, warf einen raschen Blick darauf und hielt sie Carl mit einem triumphierenden Lächeln entgegen. Ein schmales, in graues Packpapier eingeschlagenes Bändchen und ein voluminöses Werk in blauem Leinen.

«Fachliteratur aus dem Mutterland der Psychoanalyse!»

«Auf Deutsch?»

«Und bevor Sie fragen: Ich kann die nicht lesen. Das sind nicht meine. Die sind von meinem verschollenen Vorgänger …»

Carl nahm das dünne Buch und drehte es hin und her. Auf dem grauen Packpapier war mit Bleistift geschrieben: Albert Eulenburg SUM I.

«… von dem ich die Praxis übernommen habe. Die Praxis, die Patienten und die Bibliothek. Nur seine Frau hat er unverständlicherweise mitgenommen. Und nein!» Er wedelte die Luft zwischen sich und Carl betrunken zur Seite. «Da machen Sie sich keine Hoffnungen! Der ist nach Europa zurück. Höchstwahrscheinlich. War ja Österreicher. Und außerdem, wenn Sie Psychiater wären, das hätten wir doch gemerkt, nicht wahr?»

«Ja», sagte Carl, obwohl er «nein» dachte, und schlug das dünne Buch auf. Sein Blick fiel als Erstes auf ein Gedicht in Frakturschrift.

Ich habe so viele Gedanken,

Und pervers bin ich außerdem;

Ich bin in der Tat für alle

Ein ungelöstes Problem!

«Können Sie das lösen?», fragte Dr. Cockcroft.

«Bitte?»

«Ob Sie das lesen können.»

«Ja», sagte Carl verwirrt. Er nahm ein Bündel Seiten in die Hand und blätterte es durch. Ein Sachbuch mit vielen langen, schwierigen Sätzen. Das Gedicht war die Ausnahme. Bilder enthielt es nicht. Und alles in Fraktur.

«Das haben Sie gar nicht gesagt, dass Sie Deutsch können.»

«Ich wusste es auch nicht. Und ich kann’s auch … nur so halb.»

«Diese komischen Buchstaben. Was steht denn drin?»

«Es handelt von Frauen.»

«Und löst das Gefühle bei Ihnen aus? Die Sprache, meine ich.»

Carl starrte ins Buch und bewegte stumm die Lippen.

«Nein. Das ist mir zu kompliziert. Ich versteh die meisten Worte, aber mehr auch nicht. Meine Muttersprache ist das nicht.»

«Und was haben Sie verstanden?»

«Dass Frauen nicht grausam sind. Sexuell gesehen. Dass Männer sich das nur einbilden.»

«Das entspricht dem Stand der Wissenschaft», sagte Dr. Cockcroft nachdenklich. Er nahm Carl das Buch aus der Hand, um selbst einen Blick auf die rätselhafte Schrift zu werfen. Mitten in der Bewegung erstarrte er, als habe er in einer dunklen Ecke des Zimmers eine Ratte erspäht, und stürzte dorthin. Mit triumphierender Geste hob er einen weißen Kittel in die Höhe und schwenkte ihn wie ein Soldat die siegreiche Fahne. Es hätte ein Arztkittel sein können; übersät von Farbspritzern hatte er jedoch mehr Ähnlichkeit mit einem Malerumhang.

Carl nahm das andere Buch zur Hand und blätterte, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der den Kittel flügelschlagend anprobierende und sich in den Ärmeln verheddernde Arzt ihn nicht aus den Augen lassen würde, energisch darin herum. Es war ebenfalls ein deutsches Buch, ein Lexikon, der Brockhaus von 1953, erschienen in Wiesbaden, Band A — M.

Minderwertigkeitsgefühl, Mindestgebot, Mindoro, Mindszenty … Mine. Er überflog den Lexikonartikel einmal, zweimal und versuchte, sich den Inhalt einzuprägen.

Mine [franz.], allgem.: Sprengladung, die geballt oder in einem Gefäß verwendet wird. 1) Landminen dienen zu Sperren; sie werden durch Berühren (Tret-, Flatter-, Tellerminen) oder elektrisch entzündet. Minenfelder sind unregelmäßig verlegte M. im Gelände, bes. als Schutz gegen Panzerangriffe. 2) Wurfmine, das Geschoß des Minenwerfers. 3) Seeminen (kugel- oder eiförmig) bestehen aus einem Schwimmgefäß mit starker Sprengladung u. Minenanker, sind mit Einrichtungen zur Einstellung auf eine bestimmte Wassertiefe versehen und werden als Minensperren oder Minenfelder durch Minenleger, auch durch andere Kriegsschiffe ausgelegt; feindl. Seeminen werden durch Minensuch- und Räumboote beseitigt. 4) Luftminen sind Fliegerbomben mit bes. Steuerung und hoher Luftdruckwirkung. 5) ein Bergwerk mit Erzen oder gediegenen Metallen.

Mine die 1) altgriech. Münze, = 1/60 Talent = 100 Drachmen. 2) altgriech. Gewicht.

Mine, 1) Isadora, eigentlich Minescu, rumänisch-französische Landvermesserin u. Biologin, * Mamaia 1837 † 1890, bereiste im Auftrag → Pélissiers Nordafrika auf der Suche nach dem → Ouz, fertigte vorzügliches Kartenmaterial an und verfaßte einen Reisebericht Zu den Goldenen Quellen, Marseille 1866, 2 Bände. Sie war außerdem eine große Kennerin der Ameisen. 2) Aimable-Jean-Jacques, Sohn von 1), Schriftsteller, * Algier 1874, schildert in humorvoller Kleinmalerei die Abgründe kosmopolitischen Lebens, spätere Hinwendung zum Abenteuerroman mit trivialen Elementen. Hauptwerke: Maman auf großer Fahrt (1901), Maman erneut auf großer Fahrt (1903), Söhne des Sandes (1934), Die unsichtbare Fata Morgana (1940) und Der Schatten des gelben Todes (1942). Für den Roman Strand ohne Meer erhielt er 1951 den Prix Goncourt. 3) Wilhelm, * 1915, deutscher Astronom.

«Bleistifte fehlen», sagte Carl.

«Bitte?» Dr. Cockcroft beobachtete ihn durch einen Ärmel hindurch.

«Und eine altgriechische Münze, die Mine heißt?»

«Was genau ist Ihre Frage?»

«Wissen Sie, ob es eine altgriechische Münze gibt, die auf Französisch Mine heißt? Oder auf Griechisch?»

«Bedaure. Was interessiert Sie so sehr an Minen?»

«Nichts … ich frage mich nur, ob das auf Französisch auch so heißt.»

«Sie fragen merkwürdige Dinge.»

«Und haben Sie O auch? Den Buchstaben O? Den anderen Band.»

«Erstaunlich, diese Wissbegier. Nein, tut mir leid. Wie ich bereits sagte, ist das alles, was ich von meinem Vorgänger habe.»

Millimeterdünn stand die Mondsichel zwischen raketenförmigen Minaretten, als die beiden Männer gegen Mitternacht vors Haus traten. Die Luft war warm und trocken. Dr. Cockcroft hatte die Sache mit den Ärmeln aufgegeben und sich den Kittel nachlässig über die Schultern geworfen. Er wirkte damit weder wie ein Arzt noch wie ein Maler, eher wie der verrückte Physiker in schlechten Filmen, patschte seinem Patienten jovial auf die Schulter, ihn dabei einladend, jederzeit wiederzukommen, und murmelte etwas von einer geheimnisvollen Wüstenkrankheit, die man nun wahrscheinlich bald Cockcroft-Syndrom nennen würde.

«Wie hieß Ihr Vorgänger?», fragte Carl.

«Bitte?»

«Wie hieß der?»

«Ach nein, ach nein. Glauben Sie mir … Sie sind doch kein Österreicher. Er soll außerdem klein und drahtig gewesen sein. Sie sind doch eher so mittelgroß und drahtig. Geiser. Oder Geisel. Ortwin Geisel.»

Er winkte Carl mit steifer Herzlichkeit hinterher, als dieser blicklos und gesenkten Kopfes die Straße überquerte. Auf der anderen Seite trat Carl in den Schatten eines Hauseingangs und drehte sich um. Er sah Cockcroft leicht schwankend im Haus verschwinden. Nach wenigen Minuten erlosch das Licht in der Praxis. Kurz darauf konnte Carl einen vollbärtigen Schattenriss auf einer der Jalousien im ersten Stock ausmachen. Er wartete noch eine Weile, hastete dann zurück über die Straße und zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche. Die Tür zur Praxis hatte ein Sicherheitsschloss. Carl hatte vier Sicherheitsschlüssel an seinem Bund. Er versuchte, sie nacheinander leise ins Schloss zu stecken. Keiner passte.

Es war eher Erleichterung als Enttäuschung.

Helen, die am Bungalow wartete, legte ihm einen Arm um die Schulter. Carl interpretierte es zuerst als Geste der Zärtlichkeit, dann merkte er an ihrem Gesichtsausdruck, dass es keine Zärtlichkeit war. Sie stützte ihn. Er schwankte.

«Und?», fragte sie.

«Weiß nicht», sagte er.

«Hattest du Schwierigkeiten, ihm zu vertrauen?»

«Genau dasselbe hat er mich auch gefragt.»

«Ob du Schwierigkeiten hast, ihm zu vertrauen?»

«Ob ich Schwierigkeiten hätte, dir zu vertrauen.»

«Und? Hast du?»

Carl antwortete nicht.

«Wirkte der denn wenigstens einigermaßen kompetent?», fragte Helen, als sie nebeneinander im Dunkel im Bett lagen. «Oder eher so wie sein Zettel?»

Abermals lange keine Antwort. «Er ist auf jeden Fall kein Scharlatan», sagte er, als Helens Atem schon regelmäßig wurde. «Ein Scharlatan hätte sich mehr Mühe gegeben, wie ein Arzt zu wirken.»

34. DIE BANANE

God made some men small, and some men large; but Colt made them all equal.

Amerikanische Redensart

Die Frau, die vertraute Frau, die Ihnen etwas vormacht … die langjährige Ehefrau, die Ihnen unter Ausnutzung der Umstände Komödie vorspielt … wie hatte Dr. Cockcroft das genau formuliert? Es war natürlich Unsinn. Carl wusste, dass es Unsinn war. Aber die Worte quollen auf in dem schrankenlosen Vakuum seines Hirns und stiegen als schillernde Blasen durch die verhängten Sphären seines Bewusstseins.

Ihre erste zufällige Begegnung, eine Tankstelle in der Wüste. Eine amerikanische Touristin in Shorts, ein freundlicher Bungalow. Seine Nicht-Ehefrau, seine langjährige Nicht-Ehefrau Helen, der zu misstrauen er keinen Grund hatte, die sich rührend um ihn gekümmert hatte. Sie hatte seine Sachen durchsucht. Und er machte sich kein Gewissen daraus, die ihren ebenfalls zu durchsuchen.

Er nahm sich zuerst den Koffer vor und durchstöberte dann den gesamten Bungalow. Die Unterwäsche und einige Pullover hatte Helen nachlässig in den Schrank geworfen, der Rest befand sich noch im Koffer oder im Umkreis eines Meters davon. Zwei Sportjacken, Socken, ein grünes Abendkleid aus Seide. Gelbe Kleidung, weiße Kleidung, ein leerer Notizblock. Ein winziges Reisenecessaire, Nadel und Faden. Keine Schminkartikel, keine Pflegeprodukte. Eine amerikanische Zeitung, offenbar ungelesen. Ein Ausriss aus einer der hiesigen Zeitungen, in dem empört die Verstrickung des Landes in die französische Atomspionage dementiert wurde, ohne dass man erfuhr, wer diese Vorwürfe erhoben hatte und warum. Ein Ausriss aus einer englischsprachigen Zeitung mit den Ergebnissen der amerikanischen Baseball-Liga. Auf der Rückseite ein Artikel über Harold Pinter. Eine Lesebrille, deren einer Bügel mit Heftpflaster am Scharnier befestigt war, ein Paar Handschellen, ein größeres Paar Handschellen, also vielleicht Fußschellen (falls das das Wort war), ein Schlagstock, ein Morgenrock und zwei Paar Jeans. Beachball-Schläger inklusive Hartgummiball. Und zuunterst im Koffer ein massives Holzkästchen von etwa der Größe einer großen Zigarrenschachtel, das auch mit stabilen Fingernägeln nicht zu öffnen war. Im Innern ein anscheinend nicht symmetrischer, schwerer Gegenstand. Um das Kästchen herumgewickelt das knallgrüne Oberteil eines verirrten Bikinis, das Carl gerade zurück in den Koffer schnipste, als er ein Geräusch hinter sich hörte.

«Ist das die Retourkutsche?» Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte die Besitzerin des Bikinis im Türrahmen, lächelnd. Neben sich eine Tüte mit Einkäufen.

Carl fand keine Zeit, seinen empörten Gesichtsausdruck durch eine Miene überraschter Unschuld zu ersetzen.

«Was bist du, Polizistin?», rief er. Er hielt Handschellen und Schlagstock hoch und sah seine Ganz-sicher-nicht-Ehefrau wütend an, und die Ganz-sicher-nicht-Ehefrau sah ihn an wie einen kleinen Jungen, der über allerhand Geheimnisse aufgeklärt werden will. Carl verstand ihren Blick nicht, er verstand auch ihre Gesten nicht, und da wurde Helen explizit und klärte ihn darüber auf, dass manche Bienchen ihre Blümchen auch in Handschellen bestäuben, sowie darüber, dass das längliche Plastikgerät, das er da in der Hand hielt, kein «Schlagstock» war. Sie redete vom freien Amerika und benutzte das Wort modern.

Im ersten Moment war Carl stumm. Im zweiten sah er sich mit den ominösen Gegenständen in beiden Händen dastehen und legte sie vorsichtig in den Koffer zurück. Mit flackerndem Blick sagte er: «Und das Kästchen krieg ich nicht auf.»

«Eine.357er.»

«Was?»

«.357er Magnum», sagte Helen und lächelte mit ihrer verrutschten Mimik.

«Das glaub ich nicht.»

Helen warf das Kästchen achselzuckend in den Koffer, klappte ihn zu, schob Carl aus dem Schlafzimmer und setzte sich an den Frühstückstisch.

«Das glaub ich nicht», wiederholte Carl. Er drehte seinen Stuhl herum. Helen schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, griff eine Banane aus der Obstschale, richtete sie auf ihn und sagte: «Ich geh doch nicht unbewaffnet unter euch Brüder.»

35. RISA, GENANNT KHACH-KHACH

These bullets are not meant to kill. They are mainly used to create serious wounds, and to incapacitate the enemy. After all, seriously wounded soldiers take the enemy more time and money to treat than dead soldiers.

Dokumentation über die belgische Waffenfabrik FN Herstal

Der Mann, der ganz hinten allein im Dunkel der Bar saß, hieß Risa, genannt Khach-Khach. Er hatte ein nervöses, aufgewecktes Gesicht, über das von der Stirn bis zum Kinn drei senkrechte Narben liefen. Er mochte zwanzig Jahre alt sein. Er war Linkshänder.

Im Alter von sechs Jahren hatte er mitangesehen, wie seine Eltern, seine Großeltern, vier Schwestern, ein Schwager und dessen sämtliche Verwandte, dazu zwei andere Tuareg-Familien, eine Handvoll Rebellen und einige Unbeteiligte in einer Reihe in den Wüstensand gelegt und angepflockt worden waren. Dann war ein Armeepanzer über ihre Körper gerollt, die wie Zahnpastatuben aufplatzten. Bis zum zehnten Lebensjahr wuchs Risa in einem Lager auf, nordöstlich des Leeren Viertels. Zwei Sommer lang besuchte er eine Armenschule, in der ein dicker Spanier kostenlosen Unterricht erteilte. Risa war der intelligenteste Schüler, den die Schule jemals gesehen hatte. Er lernte Lesen und Rechnen und kam zu einem Gerber in die Lehre. Die Werkstatt des Gerbers lag im Schatten der Müllberge, und eines Tages stand ein riesiger Schwarzer in bunten Gewändern und mit viel Goldschmuck an den Fingern in der Tür. Der Gerber kroch vor ihm auf dem Lehmboden, suchte alles Geld, das er hatte, zusammen und legte es ihm zu Füßen. Der Schwarze nahm das Geld, und er nahm auch Risa mit. Im Keller seiner prächtigen Villa quartierte er den Jungen ein. Er kaufte ihm Kleider und gab ihm zu essen. Ein Jahr lang lernte Risa den Umgang mit Geschäftsleuten und Waffen. Er machte Kurierdienste und besorgte die Buchhaltung. Mit dreizehn hatte er seinen ersten Menschen getötet.

Mittlerweile lebte er auf der kleinen Insel vor der Küste. Zweimal wöchentlich kam er aufs Festland, um Geschäfte abzuwickeln. Ein fetter goldener Ring, ein Erbe seines Ziehvaters, prangte an seiner rechten Hand. Risa blätterte durch eine Unterwäschestrecke in der amerikanischen Ausgabe der Vogue und blickte auch nicht auf, als ein etwas unsicher wirkender Mann ihn ansprach.

«Ich hab gehört, du verkaufst was?», fragte der Mann.

«N-n.»

«Du verkaufst nichts?»

«Verpiss dich.»

Unschlüssig sah Carl auf einen freien Stuhl am Tisch. Er wagte nicht, sich zu setzen.

«Jemand hat gesagt, du verkaufst was.»

«Kif dahinten.»

«Kein Kif.»

Risa hob den narbengesichtigen Kopf, streifte Carl flüchtig mit dem Blick und sah zum Ausgang, wo eben ein Halbwüchsiger verschwand. Er sah den Barmann an. Der Barmann zuckte die Schultern.

«Nur eine Information», sagte Carl unbeholfen.

«Was hab ich damit zu tun?»

«Jemand hat gesagt, du bist der Richtige.»

«Ich bin nicht der Richtige.»

«Ich dachte.»

«Du dachtest was?»

«Oder dass du vielleicht jemanden weißt, der was weiß.»

«Der was weiß?»

«Jemand, der mir eine Auskunft geben kann.»

Risa wartete einen Moment, ob die merkwürdige Erscheinung mit dem gelben Blazer und den lachsrosa Bermudas sich vielleicht von selbst in Luft auflösen würde, dann sagte er: «Ich kann dir die Auskunft geben, wie du noch genau zehn Sekunden lang lebend hier rauskommst.»

«Bitte.» Carl griff nach der Lehne des freien Stuhls und zog ihn ein paar Zentimeter in seine Richtung. «Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs. Jemand hat gesagt, dass du —»

«Wer?»

«Ein Junge.»

«Was für ein Junge?»

«Ich weiß nicht … ein Junge. Er hat mich hergeführt.»

«Woher kanntest du den?»

«Ich kannte den nicht. Jemand hat mich an ihn verwiesen.»

«Wer?»

«Den kannte ich auch nicht.»

«Bist du von Westinghouse?»

«Nein.»

«Von El-Fellah?»

«Nein.»

«Du kommst allein hierher, dich hat niemand hergeschickt, und alles, was du willst, ist eine ‹Information›?»

«Recherche.»

«Dann verpiss dich.»

Risa wandte sich wieder den bunten Bildern zu. Unterwäsche, Unterwäsche, Lippenstift. Fünf Frauen auf einem Podest. Zwei Frauen auf einem Sofa. Zigaretten. Als er erneut aufblickte und den Mann unverändert dastehen sah, riss er mit einem Ruck die Faust hoch und ließ sie einige Sekunden unter Carls Kinn schweben. Carl zuckte nicht. Risas Mimik war nicht zu entnehmen, ob er vor Aggression kochte oder sich amüsierte, und gerade die Undurchschaubarkeit seiner Miene überzeugte Carl, dass dies der Mann war, den er suchte.

«Kann ich dir was zu trinken bestellen?»

Abendkleider und Mäntel, Unterwäsche, eine Frau mit zwei Doggen. Eine Frau in schwarzen Stiefeln. Eine Frau in weißen Stiefeln. Risa antwortete nicht.

«Ich will wirklich nichts kaufen», sagte Carl.

«Wo gibt’s denn hier was zu kaufen?»

«Ich weiß. Ich wollte nur —»

«Du wolltest mir was zu trinken bestellen?»

«Gern», sagte Carl und ignorierte den höhnischen Gesichtsausdruck seines Gegenübers. Er rief dem Barmann etwas zu. Mit verschränkten Armen stand der in seiner Ecke und rührte sich nicht.

Strandmode, Strandmode, Badeanzug. Eine kauernde Nackte, nur mit einer Brille bekleidet. Extravagante Hüte. Risa blickte kurz und beiläufig auf, blätterte ein paar Seiten weiter und hielt zwei Finger in die Höhe. Der Barmann schenkte zwei Marmeladengläser mit einer klaren Flüssigkeit voll und brachte sie an den Tisch. Carl wartete noch ein paar Sekunden, drehte dann den Stuhl zu sich herum und setzte sich. Eine Zehn-Watt-Birne über dem Tisch verbreitete Dunkelheit.

Er hatte fast den ganzen Vormittag benötigt, um hierherzugelangen. Zuerst hatte er auf der Straße nach einem Viertel gefragt, in dem man sich amüsieren könne. Man hatte ihn zum Hafen geschickt. Dort hatte er sich vorsichtig nach Waffen erkundigt. Ein Mann hatte ihn an den nächsten verwiesen. Je konkreter seine Fragen wurden, desto verschwommener wurden die Antworten. Zuletzt hatte Carl sich von einem Halbwüchsigen fünf oder sechs Straßenzüge weit in die Bidonvilles führen lassen und war in diesem Loch gelandet. Der Halbwüchsige hatte einen Dollar für seine Dienste verlangt, dreimal so viel wie alle anderen zusammen, weshalb Carl sich überhaupt für ihn entschieden hatte.

Risa führte das Glas an die Lippen, schloss die Augen und roch das Holzaroma des Selbstgebrannten. «Wenn du nichts kaufen willst, wozu dann der Aufstand?»

«Wie gesagt —»

«Du denkst, du kannst mir was vormachen», sagte Risa. «Aber du kannst mir nichts vormachen.»

Carl schwieg.

«Du willst etwas kaufen.»

«Nein, ich —»

«Dann verkaufen.»

«Nein.»

«Kaufen oder verkaufen.» Risas Stimme bekam einen bedrohlichen Unterton.

«Verkaufst du denn was?»

«Nein.»

«Na schön», sagte Carl und überlegte kurz. «Nehmen wir mal an, ich wollte etwas kaufen. Oder nehmen wir einmal an, ich wollte vielleicht etwas kaufen und würde mich bei jemandem, der nichts verkauft und auch nichts damit zu tun hat, danach erkundigen, wo man denn was bekommt.»

«Nehmen wir mal an, du bist eine Schwuchtel.» Risa langte über den Tisch und drehte mit zwei Fingern Carls Kinn hin und her. Der Barmann grinste.

«Gut», sagte Carl kompromissbereit. «Nehmen wir mal an, ich bin eine Schwuchtel. Und als solche habe ich naturgemäß keine Ahnung von der Materie und brauche eine Information. Und zwar, was das kostet.»

«Was was kostet?»

«Minen zum Beispiel.»

«Was denn für Minen?»

«Eine Mine. Irgendeine.»

«Irgendeine? Du willst wissen, was irgendeine Mine kostet? Und deshalb kommst du hierher?»

«Die teuerste.»

«Die teuerste? Eine mit Wums oder was?»

«Ja. Hauptsache teuer.»

«Nein», sagte Risa. «Nein, nein, nein, nein! Mit Wums — oder teuer?»

«Es geht um den Preis.»

«Du willst irgendeine Mine kaufen — Hauptsache teuer?»

«Ich will sie nicht kaufen.»

Risa kippelte mit seinem Stuhl vor und zurück und wieder vor. Mit der flachen Hand patschte er auf Carls Kopfverband. «Was ist das? Haben sie dir da das Hirn rausgemacht?»

«In gewisser Weise.»

«In gewisser … du gibst also zu, dass du einen Schaden hast?»

«Ja.»

«Mir machst du nichts vor.»

«Ich hatte nicht die Absicht.»

«Der letzte Flic, der das versucht hat —»

«Ich bin kein Flic.»

Risa trank einen Schluck und stellte das Glas vor sich hin. Er klappte die Zeitschrift zusammen und schob sie in die rechte Tasche seines Jacketts. Gleichzeitig griff er mit der linken Hand unauffällig in die linke Tasche seines Jacketts. Zwei Gäste, die weiter hinten im Dunkel der Bar saßen, sprangen auf und rannten zum Ausgang. Der Barmann duckte sich hinter der Theke. Ein Stuhl fiel um.

«Nehmen wir mal an», sagte Risa leise, «ich hätte wirklich schon einmal was von diesen Sachen gehört, von denen du da redest. Waffen.» Er zog die Mundwinkel auseinander und entblößte zwei Reihen strahlend weißer Zähne, ganz langsam, wie er es bei Burt Lancaster gesehen hatte. «Und nehmen wir zusätzlich mal an, dass du dich tatsächlich nicht dafür interessierst. Dass du mir nichts verkaufen willst, dass du keine Waffen brauchst und dass du kein Flic bist. Nehmen wir mal an, du betreibst tatsächlich eine — wie hattest du das gesagt? — eine Recherche.»

«Ja», sagte Carl ängstlich.

«Eine journalistische Recherche. Und wozu? Um in den führenden Intelligenzblättern Europas aufsehenerregende pazifistische Artikel gegen Landminen zu veröffentlichen und die Welt ein kleines bisschen schöner und moralischer zu machen?»

Carl versuchte, aus dem Gesichtsausdruck seines Gegenübers schlau zu werden, und entschied sich dafür, unmerklich zu nicken.

«Nehmen wir mal an, ich würde dir glauben. Ich glaube dir nicht. Aber nehmen wir’s mal an. Würde nicht selbst der dümmste Journalist zuerst einmal ganz andere Fragen stellen?»

«Was für Fragen?»

«Fragen nach Herkunft, Verbreitung, Einsatzgebiet? Und wenn’s schon um Preise geht, muss man dann nicht die Typen benennen?»

«Was für Typen?»

«Was für Typen?» Risa zog beide Hände wieder aus den Taschen und legte sie vor sich auf den Tisch. «Du fragst nach einer Mine! Das ist ungefähr so, als ob du fragen würdest: Was kostet ein Obst?»

«Aber ich sag doch: das teuerste Obst.»

«Und das ist alles? Das teuerste Obst? Für so was interessiert man sich in Europa?»

«Ich hab nichts von Europa gesagt.»

«Und das war’s? Du willst wissen, wie teuer die teuerste Mine ist? Warum fragst du ausgerechnet mich das? Das kann dir jeder andere auch beantworten.»

«Es antwortet aber keiner.»

«Jeder Trottel auf der Straße kann dir das beantworten.»

«Das Problem ist, dass keiner von den Trotteln, die ich gefragt hab, geantwortet hat. Genauso wenig wie du. Weil alle glauben, dass ich irgendwas will. Oder dass ich so tue, als ob ich was will. Ich will aber gar nichts, und keiner sagt mir was.»

«Weil es jeder weiß.»

«Ich weiß es nicht.»

«Weil du ein Trottel bist. Schau dich an!» Risa fasste Carls gelben Blazer am Revers. «In dieser Clownsgarderobe würd ich dir nicht mal verraten, wie du heißt. Zieh dich erst mal anständig an. Das ist nicht gut für die Gesundheit, wenn man so aussieht. Und es ist auch nicht gut für die Gesundheit, wenn man derart ahnungslos ist. Kapiert? Und du bist ahnungslos. Du hast absolut keine Ahnung.»

«Stimmt. Ich hab absolut keine Ahnung. Und du bist der Fachmann, und deshalb bin ich hier.»

«Ich bin kein Fachmann.»

«Nein. Okay.»

«Wer hat das gesagt, dass ich ein Fachmann bin?»

«Niemand hat das gesagt. Entschuldigung. Du bist natürlich kein Fachmann. Aber im Gegensatz zu mir weißt du immerhin schon mal, dass es unterschiedliche Typen von Minen gibt, die unterschiedlich viel kosten. Wahrscheinlich. Und du weißt wahrscheinlich auch, was sie kosten, weil es jeder auf der Straße genauso weiß. Mehr will ich doch gar nicht wissen.»

«Mein Glas ist leer», sagte Risa nach einer langen Pause. Carl schob ihm sein eigenes Glas rüber, das er nicht angerührt hatte. Risa trank es in einem Zug aus und sagte: «Es ist schon wieder leer.»

Carl versuchte, dem Barmann ein Zeichen zu geben, und der Barmann rührte sich wieder erst, nachdem Risa das Zeichen durch Kopfnicken bestätigt hatte.

«Na schön», sagte Risa. «Du willst also was wissen. Und ich sag dir was. Weil du meinen Schnaps zahlst. Und weil es jeder weiß. Weil es Wissen ist, das auf der Straße liegt. Du willst also den Rolls-Royce unter den Minen. Jugoslawisches Fabrikat?»

«Ja.»

«Oder englisches?»

«Ja. Egal.»

«Oder amerikanisches?»

«Ja. Amerikanisches.»

«Du willst also was Amerikanisches? Sind dir jugoslawische nicht gut genug?»

«Nur der Preis. Was am meisten kostet.»

«Was am meisten kostet?» Wütend starrte Risa Carl an. Er sprang auf und setzte sich wieder. Die Narben auf seinem Gesicht leuchteten hellrosa. Carl, der dem Blick nicht standhalten konnte, machte den Fehler, sich abzuwenden. Im nächsten Moment lag er auf dem Rücken neben der Bar. Der Narbengesichtige kniete auf seiner Brust, Scherben splitterten, und der Barmann stand mit einer am Hals abgebrochenen Flasche über ihnen.

«Was! Am! Meisten! Kostet!», schrie Risa. «Glaubst du im Ernst, ich fall auf dich rein? Glaubst du, ich weiß nicht, wer du bist? Das wusste ich schon, als du reingekommen bist! Ich erkenn doch einen Flic! Und du bist kein Flic. Was bildest du dir ein, du Scheißschwuler?» Er drückte Carl die Kehle am Hemdkragen zusammen. Carl röchelte und versuchte, sich so wenig wie möglich zu wehren. «Denkst du, du kannst hier einen aufzaubern, wenn du nicht mal weißt, wo der Unterschied zwischen einer englischen und einer jugoslawischen Mine ist? Also verkauf mich nicht für blöd. Weil: Ich bin nicht blöd! Dein Gesicht stinkt zum Himmel. Ich kenn dich. Ich kenn Typen wie dich. Soll ich dir sagen, wer du bist? Du bist ein Intellektueller. Ein Scheißintellektueller, einer von diesen verblödeten Kommunisten, der zu viel von dieser französischen Rollkragenpulloverscheiße gelesen hat und jetzt irgendwas in die Luft jagen will. Ein Abgedrehter. Ich kenn Abgedrehte. Und du bist ein Abgedrehter. Ein Hobbyterrorist.» Er lockerte seinen Griff und fuhr etwas ruhiger fort: «Aber mit Eiern in der Hose. Und jetzt willst du eine Mine mit Wums, und ich sag dir was. Wenn du versuchst, in dieser kleinen, beschissenen Stadt hier deinen kleinen, privaten Rachefeldzug gegen den Imperialismus zu starten, wenn du irgendwas in die Luft jagen willst, ich meine, wenn du nichts anderes im Kopf hast, als hier irgendeine kranke Scheiße zu starten und Hunderte von Arabern in die Luft zu sprengen und die ganze Stadt in einem Flammenmeer zu ertränken — meine Unterstützung hast du.»

Langsam entspannten sich Risas Gesichtszüge. Er stieg wieder von Carl herunter, putzte sich den Staub von den Knien und setzte sich zurück an den Tisch. «Aber lüg mich nicht an. Lüg mich um Gottes willen nicht an. Und setz dich. Setz dich. Du kannst von Glück sagen, dass dieser ‹Junge› dich zu mir geschickt hat und nicht zu irgendeinem Irren. Wenn ich nämlich eins nicht abkann, ist das, wenn man mich anlügt. Verstanden? Also setz dich.»

Carl knöpfte sich den Hemdkragen wieder zu, ordnete seinen Kopfverband und setzte sich. Er schwieg.

«Nur dass ich nicht mit Waffen handle. Sodass ich dir in diesem speziellen Punkt leider nicht behilflich sein kann. Was ich mich aber frage, ist — rein hypothetisch, weil, du willst ja nichts, und ich verkaufe auch nichts — aber wenn einer so dringend eine Mine braucht, warum macht er es dann nicht wie alle anderen und geht dahin, wo die Minen sind, und schraubt eine ab? Du weißt, wo Süden ist? Wo die Sonne steht. Da gehst du hin und schraubst fünf Claymore von jedem Pfahl.»

Er wies mit einer Kopfbewegung auf einen Mann, der in vorgebeugter Haltung ein paar Tische weiter saß und mit dem Mund aus seiner Suppentasse schlürfte. Der Mann hatte keine Arme.

«Vielleicht deshalb», sagte Carl. «Und das ist dann das Beste, was es gibt?»

«Die Claymore? Nein.»

«Also gut. Nehmen wir mal an, jemand hat Glück. Und schraubt das Beste ab, was es gibt. Und will es verkaufen. Was würde der da etwa verlangen?»

«Zweihundert.»

«Dollar?»

«Für dich hundertfünfzig.»

«Und was ist das dann?»

«Panzermine. Mit Hohlladung. Magnetauslöser.»

«Und das ist das Teuerste, was es gibt?»

Risa wurde wieder unruhig. Er sah sich im Lokal um. «Was zum Schinder hast du vor? Ist dir hundertfünfzig nicht genug?»

«Ich dachte, es müsste noch irgendwas Wertvolleres geben.»

«Wertvoll? Eine wertvolle Mine?»

Aus kürzester Entfernung starrte Risa Carl ins Gesicht. Bisher hatte er sich nicht allzu viele Gedanken gemacht. Der Kerl war ein Spinner. Ein Kommi. Oder ein Hilfspolizist. Jedenfalls zu blöd, um gefährlich zu sein. Aber irgendetwas schien doch nicht zu stimmen mit dem Mann. Was um Gottes willen wollte der Kerl in die Luft sprengen?

«Bist du sicher, dass du eine Mine brauchst und keine Atombombe?»

«Ich kann dir nicht sagen, was ich brauche. Ich brauche wirklich nur die Information … was das kostet.»

«Dann bist du ja jetzt zufrieden.»

«Da werden die Hersteller auch nicht reich, oder?»

«Was denn für Hersteller?»

«Von Minen.»

«Es gibt auf dem ganzen beschissenen Kontinent keinen Hersteller von Minen. Was kratzt dich das?»

«Ich frag nur. Ich dachte, es müsste noch irgendwas anderes geben. Aber hundertfünfzig —»

«Oh, Mann», sagte Risa und legte Carl eine Hand auf die Schulter. Er sprach jetzt ganz leise, fast flüsterte er. «Ich will dir mal was sagen, mein Freund. Weil, du bist mein Freund. Wir trinken hier einen herrlichen Holzschnaps zusammen. Und dein Hirn ist offenbar nicht größer als eine Erbse. Und ich sage dir: Ich, Risa, genannt Khach-Khach, handle nicht mit Waffen. Bei mir gibt es nichts zu kaufen. Aber wenn du eine Mine kaufen willst, dann zahlst du nicht mehr als zehn Dollar. Ist das klar? Du kriegst sie auch für fünf. Oder noch weniger. Panzer, Antipersonen, egal. Nur die neue Claymore mit Fernzünder — zehn. Maximal zwanzig. Wenn du blöd bist. Das ist dann auch keine Claymore, da steht nur Claymore drauf, aber funktionieren tut die genauso, und du kannst einen ganzen Bus damit leermachen, und alles andere ist Beschiss. Hast du das kapiert? Kannst du dir das merken in deinem amputierten Hirn dadrin?»

Carl sackte etwas zusammen.

Risa trank sein Glas aus.

«Und wenn du noch mehr bekloppte Fragen stellen willst, mein Freund: jede Antwort ein Gläschen. Oder fünf Dollar. So viel kostet das nämlich.»

Er sah Carl an, Carl sah den Barmann an.

«Na gut», sagte Carl, «ich frag noch was. Weißt du zufällig, ob es hier in der Nähe ein Bergwerk gibt?»

Risa schwieg. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und deutete mit einer winzigen Bewegung des kleinen Fingers vor sich auf den Tisch.

Carl holte sein Geld aus der Tasche und legte die Scheine in einer Reihe aus. Teilte die bisherige Zeche ab; drei Fünf-Dollar-Noten blieben übrig. Er schob eine Note ein Stück nach vorn.

«Weißt du, ob es hier irgendwo ein Bergwerk gibt?», wiederholte er.

«Was für ein Bergwerk?»

«Irgendein Bergwerk.»

«Irgendein Bergwerk?» Risas Stimmung kam langsam auf den Höhepunkt. «Du willst wissen, ob es hier irgendein Bergwerk gibt? Und was willst du dann damit? Willst du mit irgendeiner Mine, die du nicht kaufen willst, irgendein Bergwerk in die Luft jagen, von dem du nicht weißt, ob es existiert?»

«Da ist kein Zusammenhang, ich weiß. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.»

«Außer dass beides Mine heißt.»

«Ja. Aber das ist Zufall.»

«Das ist Zufall? Was ist Zufall?»

«Dass beides so heißt. Ich frage nur —»

«Seit wann ist das Zufall, wie was heißt? Mine und Mine. Du meinst, das ist Zufall? So scheißintellektuell bist du dann auch wieder nicht, was?»

«Ich hab nichts von intellektuell gesagt. Das hast du gesagt.»

Risa grinste, als habe er ein Messer zwischen den Zähnen. Er lehnte sich zurück, drückte beide Hände gegen die Tischkante und sagte: «Warum, glaubst du, heißt die Mine Mine?»

Das war eine Frage, über die Carl noch gar nicht nachgedacht hatte.

«Streng dich an», sagte Risa. «Wenn du von selbst draufkommst, sparst du fünf Dollar. Warum heißen die einen Minen und die andern auch?»

«Weil man in Bergwerken Sprengstoff einsetzt, schätz ich mal. Man sprengt das Gestein mit Minen. Und deshalb heißen die Bergwerke dann auch so.»

«Schätzt du mal. Schätzt du aber falsch. Seit wann gibt es Bergwerke? Seit der Bronzezeit. Und seit wann gibt es Sprengstoff?»

«Dann eben umgekehrt», sagte Carl. «Bergwerke heißen Minen, und als der Sprengstoff erfunden wird, wird er da eingesetzt. Und dann überträgt sich der Name irgendwie.»

«Ah, der überträgt sich. Irgendwie! So einfach ist das also. Aber wenn was explodieren kann, wo setzt man das zuerst ein? Doch nicht im Bergbau, sondern auf dem Schlachtfeld. Willst du weiterraten, oder geht der nächste Schein auf Reisen?» Risa gefiel sich sichtlich in der Rolle des Dozenten.

Carl dachte nach. Einige Minuten vergingen. Mit dem Zeigefinger schob er die mittlere Banknote ein Stück nach vorn.

«Du weißt es also nicht.» Befriedigt winkte Risa dem Barmann, die Gläser neu zu füllen. «Aber Schlachtfeld ist schon richtig. Krieg. In diesem Fall: Belagerung. Es geht um Belagerungskrieg. Wenn die früher Festungen belagert haben, und ich rede jetzt von Mittelalter … wenn die versucht haben, Festungen zu knacken, wie haben die das gemacht? Erst mal einen Graben. Und dann im Zickzack auf die Mauern zu, damit man nicht beschossen werden kann. Und wenn man nah genug dran war, unter die Erde. Und wer gräbt da unter der Erde? Fachleute natürlich, Bergwerksarbeiter. Mineure. Die haben die Stollen gebuddelt, alles mit Holz abgestützt, und wenn die dann unterm Fundament waren, haben sie das Holz angezündet und sind rausgelaufen, dann sind die Minen eingestürzt, und die Festung dadrüber ist zusammengesackt. Deshalb heißt die Mine Mine. Und Sprengstoff kam da erst viel später rein. Wegen mehr Wums. Aber geht auch ohne.»

«Ah.»

«Und um deine Frage zu beantworten — nein, von Bergwerken hier weiß ich nichts. Die Berge sind wertlos. Willst du deine letzten fünf Dollar auch noch verballern, oder war’s das für heute?»

Carl dachte lange nach, tippte auf den verbliebenen Schein und sagte: «Schlag mich bitte nicht. Aber weißt du zufällig, ob es hier in der Nähe alte Festungen gibt?»

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