FÜNFTES BUCH: DIE NACHT

54. DER BASTSTUHL

Ihre Toten begraben die Hirtenvölker wie die Hellenen, außer den Nasamonern; diese begraben sie im Sitzen und geben genau acht, wenn er das Leben aushaucht, dass sie ihn aufrichten und er nicht auf dem Rücken liegend stirbt. Ihre Häuser sind zusammengefügt aus Asphodilstängeln mit Binsen durchflochten, und können sie mit sich umhertragen. Das sind so die Sitten und Gebräuche dieser Völker.

Herodot

Ein Knebel im Mund, eine locker über den Kopf gestülpte Plastiktüte und erneut auf dem Rücken gefesselte Hände. Dazu die Füße mit dem Gürtel des Bassisten zusammengebunden. Carl kam es vor, als dauere die Fahrt ewig. Außer einigen dürren Kommandos, die Richtung betreffend, sprach nun niemand mehr ein Wort. Die Klänge der Stadt verhallten, bald war außer den Fahrgeräuschen des Jeeps nichts mehr zu hören. Steinchen prasselten gegen den Unterboden. Carl war sich sicher, dass sie durch die Wüste fuhren. Irgendwann eine scharfe Linkskurve, und es ging steil bergan. Serpentinen. Noch mehr Serpentinen. Das Auto bremste.

Kräftige Hände zerrten Carl hinaus in die Nacht. Er wurde auf den Boden gelegt und mit einem langen Strick um den Hals irgendwo festgebunden. An der Stoßstange, wie er unter dem Rand der Plastiktüte hindurch erkennen konnte. Er schrie in seinen Knebel und spürte, wie zwei, vier, sechs Hände an ihm herumtasteten, an seinen Kleidern zerrten, seine Taschen durchsuchten. Sie zogen ihm die Schuhe und die Socken aus. Sie öffneten seine Hose und griffen zwischen seine Beine. Er wand sich hin und her. Die Plastiktüte rutschte ihm vom Kopf. Sie zogen ihm die Schuhe wieder an. Dann hörte er die drei Männer davongehen. Der Wind wehte Wortfetzen herüber. Schließlich kamen sie zurück. Dr. Cockcroft leuchtete Carl mit einer Taschenlampe ins Gesicht, überprüfte die Kordel, die den Knebel fixierte, und stieg dann mit den anderen in den Jeep. Offenbar, um zu schlafen.

Carl schlief nicht. Der zusammengeknüllte Lappen in seinem Mund verwandelte sich über Nacht in einen riesigen, schleimigen Klumpen. Sein Kiefer war wie gelähmt. Die gefesselten Hände und Füße spürte er schon lange nicht mehr.

Er war froh, im ersten Licht des anbrechenden Tages den Bassisten aus dem Auto steigen zu sehen.

Dr. Cockcroft machte gymnastische Übungen. Kniebeugen, Holzhacken, Liegestütz. Der Bassist klagte über die Arbeitsbedingungen. Der Syrer presste seine Stirn auf den Boden und pries den Barmherzigen. Nachdem jeder der drei Männer einen Apfel gegessen hatte, banden sie Carl von der Stoßstange los, nahmen ihm die Fußfesseln ab und zogen ihn an einer langen Leine hinter sich her den Berg hinauf, über den Berg und hinunter ins nächste Tal — und auf die Goldmine zu. Auf fast demselben Weg, den er wenige Tage zuvor mit Helen gegangen war.

Schon in der Nacht, beim Anblick der Bergformationen, die sich als schwarze Dreiecke vor dem besternten Himmel abzeichneten, hatte Carl eine Ahnung gehabt, wohin sie ihn gebracht hatten. Aber er hatte diesen Gedanken immer wieder verworfen, und noch eine ganze Weile, während sie sich dem kleinen Plateau auf der gegenüberliegenden Bergflanke näherten, auf dem ein Windrad, ein paar Fässer und die Hütte Hakims III standen, hielt Carl es für möglich, dass alles nur ein Zufall war. Zu fest war seine Überzeugung gewesen, in dieser Mine gebe es nichts zu holen.

Einige zwanzig Meter unter dem Stolleneingang und der Hütte legten sie ihn hinter einem Felsblock auf den Bauch, banden seine Füße mit einem Strick über den Rücken an seinem Hals fest und ließen ihn liegen.

Der Knebel in seinem Mund schien immer noch weiter aufzuquellen. Er atmete angestrengt durch die Nase, wälzte sich herum und stöhnte. Die Sonne wanderte über den Bergkamm. Von oben glaubte er Stimmen zu vernehmen, er konnte aber den Kopf nicht dorthin wenden. Dann war es lange still. Dann kam der Bassist den Berg hinunter, überzeugte sich, dass der Gefangene noch an derselben Stelle lag, und verschwand erneut. Schließlich kamen die Männer zurück, befreiten Carl von dem Strick auf seinem Rücken und nahmen ihm den Knebel aus dem Mund. Offenbar durfte er jetzt schreien, wenn er wollte. Er schrie nicht. Er hätte auch kaum gekonnt.

Aus einer Trinkflasche füllte der Syrer Wasser in eine Karbidlampe; den spärlichen Rest Flüssigkeit schüttete er über Carls Gesicht.

Cockcroft, den Carl in Gedanken schon lange nicht mehr mit Doktor anredete, sagte ein paar Worte in einer Sprache, die Carl nicht verstand, und der Bassist antwortete. Dann führten sie ihn zum Stolleneingang hinauf und zerrten ihn durch einen mit einem rußschwarzen Handteller plus vier Fingern markierten Gang in den Berg. Es folgte eine linke Rußhand mit Zeigefinger und Ringfinger und eine rechte Hand ohne Daumen. Von Hakim und seinem Gewehr keine Spur.

Der Schein der Lampe fiel auf eine rostige Metalltür, die in den Fels gekantet war und an die Carl sich nicht erinnerte. Mit einem kräftigen Ruck öffnete der Syrer sie. Dahinter ein mittelgroßer Raum. Hacken und Schaufeln, Eisenstangen und Seile, große Holzkisten mit der Aufschrift «Zurück an Daimler Benz AG Werk Düsseldorf». Zerklopfte Steine, Staub, Seilschlingen. Die Werkzeugkammer eines Bergarbeiters.

In der Mitte des Raums ein Stuhl, dessen Sitzfläche mit Bast bespannt war. Darauf setzten sie Carl und fesselten ihn. Und sie fesselten ihn nicht nur, sie verschnürten ihn. Fast eine Stunde verging, bis der Syrer und der Bassist mit dem Ergebnis zufrieden schienen. Dann waren Carls Ellenbogen hinter der Stuhllehne zusammengebunden, Füße und Unterschenkel an den vorderen Stuhlbeinen fixiert und mehrere Meter Seil um seinen Oberkörper gewunden. Von hinten schlang sich eine Kordel um seinen Hals. Sogar über die Oberschenkel liefen Stricke. Zuletzt entfernte der Syrer die Handschellen und band die Hände in der Nähe der Sitzfläche mit schmerzhaft dünner Schnur fest. Carl konnte nun nur noch den Kopf ein wenig hin und her bewegen und mit den Fingern wackeln. Er schwitzte vor Angst. Cockcroft und der Bassist verließen wortlos den Raum; sie zogen die Tür hinter sich zu. Der Syrer zündete sich lächelnd eine Zigarette an. Carl war kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Dann verließ auch der Syrer den Raum.

Die Karbidlampe rußte vor sich hin. Es war still. Carl zog und zerrte an seinen Fesseln. Schweiß tropfte von seinem Kinn. Als die Männer zurückkehrten, hatte der Syrer einen grauen Metallkasten von der Größe eines Kofferradios in der Hand, den er vor Carl niedersetzte. Der Bassist schlenkerte eine sackleinene Tasche, die wie ein Einkaufsbeutel aussah und aus der er ein Gestrüpp blauer und gelber Kabel hervorzog. Er hielt es einen Moment hoch wie die schematische Darstellung eines menschlichen Adern- und Nervengeflechts und reichte es an Cockcroft weiter.

«Warum hinterlassen die Leute das immer in diesem Zustand?», fragte Cockcroft, während er das Kabelgeflecht zu entwirren versuchte und zwei daran angebrachte Elektroden versuchsweise mit Spucke befeuchtete. «Nur weil einem die Sachen nicht persönlich gehören. Die Menschennatur, an der der Kommunismus scheitern wird.»

Er reichte die entknoteten Kabel an den Syrer weiter, der sie in seinen grauen Kasten einstöpselte, und dann fingen sie an, sich darüber zu streiten, wo am Körper die Elektroden festzumachen seien. Der Bassist und der Syrer waren sich einig, dass das Genital der bevorzugte Ort sei, allerdings war bei der Art der Fesselung ein Anbringen der Elektroden dort kaum noch möglich. Die Verschnürung in der Hüftgegend gestattete nicht einmal mehr das Öffnen der Hose. Man hätte Carl die Fesseln wieder abnehmen müssen, um die Elektroden zu befestigen.

«Dann eben der Kopf», sagte der Syrer.

«Kopf ist immer richtig», fand auch der Bassist.

Hier aber machte Cockcroft Einwände. Seine Kenntnisse der Elektrokrampftherapie beschränkten sich zwar, wie er durchblicken ließ, auf einen in der letzten Nacht konsultierten Artikel in einer russischsprachigen Fachzeitschrift für Psychologie, doch behauptete er, nach dessen Lektüre vollkommen sicher zu sein, dass das Schocken des Gehirns im Falle verschiedener Krankheiten, vor allem bei Epilepsie, Depression und depressiver Paranoia, segensreich sei — jedoch niemals im Falle von Erinnerungsstörungen. Im Gegenteil könne es zu weiteren Schädigungen des Gedächtnisses führen, und was man hier beabsichtige, sei ja weder eine Schädigung des Gedächtnisses noch eine Therapie, sondern eine Form der Wahrheitsfindung. Ob und inwieweit Störungen vorlägen, müsse Teil der Untersuchung sein.

Dagegen konnten die anderen nicht viel sagen, und nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, die Verkabelung auf die Extremitäten und den Hals zu beschränken, entzündete sich sofort neuer Streit an der Frage, ob der Strom um das Herz herumgeleitet werden müsse oder nicht.

Carl folgte der vor seinen Augen mit großen Worten und schlechten Argumenten geführten Diskussion, als sei alles nur ein Traum. Die Phrasen, die Cockcroft und der Bassist vorbrachten, aber insbesondere die Reden, die der Syrer schwang, machten auf ihn einen zunehmend unwirklichen Eindruck, den Eindruck des auswendig Gelernten und vorher Geprobten. Und dass während der ganzen Veranstaltung keiner der Akteure dem Publikum auch nur einmal in die Augen blickte, verstärkte noch den Anschein des Schülertheaters.

Nachdrücklich sprach der Syrer sich für die Kombination linke Hand und rechter Fuß aus, gerade weil der Strom so über das Herz geleitet werde. Der Bassist deutete auf seine eigene Leistengegend und erklärte, mit linkem und rechtem Fuß könne man den Strom behelfsweise doch übers Genital leiten, woran ihm gelegen zu sein schien, während Cockcroft sich schlussendlich durchsetzte mit: rechte Hand, rechter Fuß. Und auf keinen Fall das Herz.

Unterdessen hatte der Syrer der sackleinenen Tasche einen weiteren Gegenstand entnommen, ein glänzend schwarzes, halbrundes Ding mit zwei Höckern drauf, das aussah wie der Fußschalter einer Nähmaschine und es möglicherweise auch war. Mit einem Spiralkabel verband er das kleine schwarze Kästchen mit dem großen grauen. Eine Kontrolllampe leuchtete auf.

«Sind wir dann so weit?», fragte Cockcroft.

55. DAS SCHWARZE KÄSTCHEN

Luke Skywalker: Your thoughts betray you, Father. I feel the good in you, the conflict.

Darth Vader: There is no conflict.

Return of the Jedi

«Wir werden Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen», sagte der zweifelhafte Psychiater, der auf einer länglichen Kiste der Daimler Benz AG direkt vor Carl Platz genommen hatte. Zu seinen Füßen lag das schwarze Kästchen. Weiter hinten in der dunkelsten Ecke der Höhle stand der Bassist und rauchte, ein glimmender Punkt. Schräg vor Carl auf dem Boden kauerte der Syrer zwischen den elektrischen Verbindungen.

«Ganz einfache Fragen. Antworten Sie nur mit ja oder nein oder klaren Aussagesätzen. Stellen Sie keine Gegenfragen. Die Fragen, die wir an Sie haben, sind Ihnen alle schon einmal gestellt worden. Jedenfalls die meisten. Wobei wir Grund zu der Annahme haben, dass die Antworten, die wir bisher bekommen haben, in keinem besonders innigen Verhältnis zur Wahrheit standen. Deshalb fragen wir jetzt noch einmal. Und ich beginne mit der einfachsten Aufgabe von allen: Wie heißen Sie?»

«Weiß ich nicht.»

«Tatsächlich nicht? Wenn Sie an dieser vergleichsweise einfachen Frage schon scheitern — haben Sie eine Ahnung, was dann auf Sie zukommt?» Cockcroft hatte sich ein wenig vorgebeugt. In seinem Vollbart hingen Tabakkrümel. «Ich wiederhole meine Frage. Wie heißen Sie?»

«Weiß ich nicht.»

«Ihr letztes Wort?»

«Sie wissen, dass ich das nicht weiß.»

«Spekulieren Sie nicht über mein Wissen. Ich weiß mehr, als Sie denken. Antworten Sie.»

«Wenn Sie Arzt wären, wüssten Sie das auch.»

«Ich bin Arzt. Erinnern Sie sich an meinen Namen?»

«Cockcroft.»

«Dr. Cockcroft.»

«Aber Sie sind kein Doktor.»

«Da täuschen Sie sich. Nur ist das nicht die Frage. Die Frage ist: Wer sind Sie

«Wissen Sie es?»

«Was hatte ich Ihnen über Gegenfragen gesagt?»

«Aber Sie wissen es, oder? Sie wissen, wer ich bin? Oder was ich gemacht habe? Warum sagen Sie’s nicht einfach?»

«Weil Sie Frage eins noch nicht beantwortet haben. Und Sie bekommen jetzt die allerletzte Gelegenheit dazu.» Cockcroft hob den Fuß, ließ ihn wenige Zentimeter über dem schwarzen Kästchen schweben und wiederholte in genau dem gleichen Tonfall wie zu Anfang: «Wie heißen Sie?»

«Weiß! Ich! Nicht!», brüllte Carl.

Der Fuß hing eine Weile unentschlossen in der Luft und sackte dann hinunter. Carls Körper verkrampfte sich in Panik. Sein Kopf flog zurück, er presste stoßweise Luft durch die Nase und zog sie durch die Backenzähne wieder ein.

In Erwartung des Stromstoßes hatte er alle Muskeln angespannt. Das Ausbleiben des Schmerzes trieb ihm die Tränen in die Augen. Der Bassist, der herangekommen war, beobachtete Carls Reaktion zufrieden, der Syrer mit zusammengekniffenen Augen und Cockcroft stirnrunzelnd. Er schaltete den grauen Kasten aus und wieder ein und betätigte erneut den Schalter. Carl krampfte mit leichter Zeitverzögerung. Abermals kein Schmerz. Cockcroft sah seinem Gegenüber in die Augen, wartete einige Sekunden und machte dann drei schnelle, unregelmäßige Bewegungen mit dem Fuß. Carl versuchte, so gut es ging, im selben Rhythmus zu krampfen und zu stöhnen. Cockcroft schüttelte den Kopf. Mit ein paar raschen Tritten beförderte er das schwarze Kästchen außer Sichtweite. Kurz war es still. Dann gereiztes Herumtrampeln auf dem Schalter.

«Der Kerl spürt überhaupt nichts», sagte Cockcroft.

Die Männer untersuchten die Verkabelung, rüttelten an der grauen Kiste und drehten sie herum. Sie zogen die Elektroden von Carls Haut, hielten sie an ihre eigenen Unterarme, befeuchteten sie mit Speichel und klebten sie zurück. Sie ließen die Kabel Stück für Stück durch ihre Hände gleiten. Der Syrer zog die Verbindungsstecker ab und rieb das Metall blank. Sie rüttelten an den Kontakten, sie schraubten den Fußschalter auf und wieder zu und drückten darauf herum. Nach quälend langen Minuten entdeckten sie schließlich eine Stellschraube auf der Rückseite der grauen Kiste. Erleichtert drehte der Syrer das Potentiometer mit dem Schraubenzieher ganz nach rechts, und der Bassist sagte: «Sind wir dann so weit?»

Sie wandten sich wieder dem Gefangenen zu. Cockcroft schloss den elektrischen Kontakt, und Carl flog mit dem Stuhl gegen die Wand.

Es fühlte sich an wie flüssiger Sprengstoff, den man in jede Ader, jedes Gefäß hineingepumpt hat und lautlos zur Explosion bringt.

«Erstaunlich dafür, dass er sich gar nicht bewegen kann», sagte der Syrer. Er stellte mit dem Bassisten zusammen den Stuhl wieder auf und prüfte die Fesseln.

Dann diskutierten sie, ob sie das Potentiometer zurückdrehen oder den Stuhl mit Steinen beschweren sollten. Carl rang die ganze Zeit nach Atem und kam zu sich mit dem Gefühl, als habe ihn ein Mühlstein am Hals getroffen.

Das Nächste, was er wahrnahm, war ein Felsbrocken auf seinem Schoß. Eine blinkende Kontrolllampe. Ein vollbartumrahmtes Lächeln.

«Kommen wir zum aufregenden Teil des Abends», sagte Cockcroft.

56. STROM

Our story deals with psychoanalysis, the method by which modern science treats the emotional problems of the sane. The analyst seeks only to induce the patient to talk about his hidden problems, to open the locked doors of his mind. Once the complexes that have been disturbing the patient are uncovered and interpreted, the illness and confusion disappear … and the devils of unreason are driven from the human soul.

Hitchcock, Spellbound

Er redete über alles, was er wusste, und über das, was er nicht wusste, redete er auch. Und was sie von ihm wissen wollten, wusste er noch immer nicht. Sie fragten, wie er heiße und wo er wohne. Aber sie wollten nicht wissen, wie er hieß und wo er wohnte, sie wollten nur wissen, ob er bereit war zuzugeben, ein Simulant zu sein, und also gab er es zu. Und da wiederholten sie ihre Frage, wie er heiße, und er sagte, er wisse es nicht, und sie gaben ihm Stromschläge. Er sagte, sein Ausweis laute auf den Namen Cetrois, und sie gaben ihm Stromschläge. Er sagte, er heiße möglicherweise Adolphe Aun oder Bertrand Bédeux, und sie sagten, er heiße nicht Adolphe Aun und auch nicht Bertrand Bédeux und Cetrois schon gar nicht, und gaben ihm Stromschläge. Er sagte, er wisse nicht, wie er heiße, und er sagte, er wisse es. Er erfand Namen und Geschichten, und wenn er genügend Stromschläge bekommen hatte, erfand er andere Namen und Geschichten, und er bat sie, damit aufzuhören, und schrie zwischendurch alles heraus, was er über sich wusste, in der Hoffnung, dass sie seinen guten Willen erkannten, sein ganzes Leben von der Scheune angefangen bis jetzt, und sie gaben ihm Stromschläge. Sie sagten, das sei nicht das, was sie wissen wollten, und wiederholten Frage eins, und Frage eins war die Frage nach dem Namen, und er sagte, sein Name sei Carl Gross. Und sie gaben ihm Stromschläge.

Sie fragten, was ein Auto und ein Boot gemeinsam hätten, und gaben ihm Stromschläge. Sie fragten, was er in Tindirma gemacht habe und ob er sich an den Tyrannen von Akragas erinnere, und ließen ihn in Dreizehnerschritten von tausend zurückzählen. Und gaben ihm Stromschläge. Sie wollten wissen, ob er in der Wüste ausgestiegen sei und mit wem er sich getroffen habe. Und gaben ihm Stromschläge. Sie fragten nach dem Namen seiner Frau. Sie fragten, ob er den Witz mit dem Skelett in der Höhle und den Geheimdiensten kenne und warum er Helen an der Tankstelle angesprochen habe und nicht das deutsche Pärchen im VW-Bus. Sie verlangten eine Personenbeschreibung der Frau, mit der er im Hotel gewesen war, und eine Beschreibung der Gegenstände aus dem gelben Mercedes. Sie fragten, wer Adil Bassir («Adil wer?») sei und in welcher Verbindung er zu ihm stehe. Gestanden habe. Sie fragten nach seinem Kumpel. Sie fragten nach seinem Namen. Und gaben ihm Stromschläge. Sie fragten, wie er den Mercedes in Tindirma gefunden habe mit seinem Gedächtnisverlust, und gaben ihm Stromschläge. Eine Getränkedose? Ein Barbier? Ein Kugelschreiber? Sie fragten nach Details, wiesen ihm Widersprüche nach oder behaupteten, ihm Widersprüche nachgewiesen zu haben, und sie gaben ihm Stromschläge.

Sie schienen sich sicher zu sein, dass er wusste, was sie von ihm wollten, oder sie versuchten den Eindruck zu erwecken, sich sicher zu sein, um ihm das Gefühl zu geben, dass sie nicht aufgeben würden, ihn zu verhören, bevor er alles gesagt hatte. Als wollten sie, dass er die Hauptsache selbst benannte, als fürchteten sie, ihn zu beeinflussen. Fast als wüssten sie selbst nicht genau, worum es ging. Aber er hatte schon alles zehnmal gesagt und berichtet, woran er sich erinnern konnte, und er wusste nicht, was er noch sagen sollte, und er fragte sie, was sie wollten. Und sie gaben ihm Stromschläge.

Was wollten sie? Natürlich das Gleiche, was auch Adil Bassir gewollt hatte. Den sie erschossen hatten. Die Mine. Aber welche Mine?

Wenn sie das Bergwerk suchten, warum verhörten sie ihn dann? Sie hatten es doch gefunden? Und wenn es um die beiden Dinger aus dem Kugelschreiber ging, warum hatten sie ihn dann hierhergebracht? Das ergab keinen Sinn. Er driftete ab, er antwortete mechanisch, in seinem Kopf erschienen Bilder. Ein immer wiederkehrendes Bild war, wie er von einem Hochhaus fiel und mit einem erfreulichen Klatschen aufschlug. Nichts davor und nichts danach, keine Geschichte, nur der Sturz und das Aufschlagen. Ein anderes Bild war der Alte mit seiner Flinte. Über Kimme und Korn zielend stürzte er durch die Metalltür und schoss. Cockcrofts Kopf flog auseinander wie eine vollbärtige Wassermelone, dann kamen der Bassist und der Syrer dran. Und sie gaben ihm Stromschläge. Es waren nicht einmal Tagträume. Carl tat nichts dazu, und er konnte auch nichts dagegen tun. Jemand in seinem Kopf schnipste mit den Fingern, und schon öffnete sich lautlos die Tür, und Hakim von den Bergen sorgte für Gerechtigkeit. Was hatten sie mit ihm gemacht? Hatten sie ihn außer Gefecht gesetzt? Bestochen? Gehörte er auch zu ihnen?

Es gelang ihm nicht, darüber nachzudenken. Er hatte Schmerzen, und wenn er keine Schmerzen hatte, geisterte die Erwartung der Schmerzen durch seinen Körper und löschte die Gedanken. Er hatte das Gefühl, sein Leben hänge von diesen Gedanken ab, von der Fähigkeit, sich zu konzentrieren und logisch zu erschließen, was sie mit dem alten Bergarbeiter gemacht hatten, der der Einzige war, der ihn noch retten konnte, und dann wieder schien es ihm, als hinge sein Leben nicht davon ab und als sei der Alte ein von seinen Gedanken vollkommen unabhängiges System. Und plötzlich fiel es ihm ein. Worum es bei alledem ging. Es ging nicht um die Mine. Es ging auch nicht ums Gold. Es gab hier kein Gold. Aber etwas anderes. Etwas Verborgenes. Was sie nicht finden konnten. Er hob mühsam den Blick, sah Cockcroft fest in die Augen und sagte: «Ich führe Sie hin.»

«Bitte?»

«Ich kann nicht mehr. Ich hab genug.» Carl versuchte, selbstbewusst zu klingen, und weil er wusste, dass seine Mimik ihn verraten würde, ließ er den Kopf auf der Brust hin und her rollen. «Wenn Sie mich losbinden, führe ich Sie hin.»

«Wohin?»

«Es ist weiter unten im Berg. Ich kann’s nicht beschreiben. Ein Gang mit nur einem Finger. Ich weiß, wo er ist. Ich führe Sie hin.»

Lange Sekunden vergingen, dann kam der nächste Stromschlag, und Carls Kopf schleuderte herum.

Das war es also auch nicht. Aber was zum Henker wollten sie dann hier?

«Darf ich eine Frage stellen?»

«Nein», sagte Cockcroft und trat auf den Schalter. «Und Sie dürfen auch keine Fragen stellen, ob Sie Fragen stellen dürfen.»

«Warum hier!», rief Carl. «Warum verhören Sie mich ausgerechnet hier?»

«Was ist denn das für eine Frage?» Cockcroft sah den Gefangenen stirnrunzelnd an. «Wollten Sie auf einem öffentlichen Marktplatz gefoltert werden? Ich mag Ihre Mittelschülerintelligenz auf keine allzu harte Probe stellen, aber das, was wir hier tun, ist mit den Gesetzen dieses Landes nicht vereinbar. Mit unseren übrigens auch nicht.»

Und so ging es weiter. Auf die Frage, warum er im Leeren Viertel gewesen sei, sagte er, er möge die Kinks lieber als die Beatles, auf die Frage, für wen er arbeite, sagte er, er möge die Beatles lieber als Marshal Mellow, und auf die Frage, wie sein richtiger Name sei, sagte er, das Bohnengericht werde über sie kommen. Und sie gaben ihm Stromschläge.

Der Schmerz war nichts Begrenztes. Nicht vergleichbar mit einem Zahnschmerz etwa, der die Seele des Menschen in einem Punkt konzentriert. Es war eher ein Hin- und Herfluten, eine Theateraufführung, die teils in seinem Körper, teils in den Gesichtern der Zuschauer stattfand. Die kreischenden Finger, abgestorbenen Beine, Axtschläge im Hals, pochende, wandernde Wände aus Stein. Carl fühlte seinen Herzmuskel, der die Brust wölbte. Die Kopfschmerzen in den Pausen schienen nicht nur im Kopf zu sein, sondern auch im restlichen Körper und dem ihn umgebenden Raum. Er fiel in eine längere Ohnmacht und erwachte. Die Sekunde vor der Ohnmacht war das Angenehmste, was er seit langem erlebt hatte, die Minuten danach ein morgendliches Zimmer im Halbdunkel, in dem Reste eines Albtraums hingen. In verschwitzter Bettwäsche liegend, die Sonne grell auf der Jalousie von Helens Bungalow, Kreischen von Meeresvögeln und die langsam in den Körper zurückflutende Erkenntnis, dass er aus dem Albtraum nicht erwacht war. Er versuchte, sich seiner physiologischen Reaktionen vor dem Ohnmachtsanfall zu erinnern, um dorthin zurückzukehren, und beobachtete sich wie ein von sich Getrenntes. Aber Cockcroft und der Syrer beobachteten ihn auf die gleiche Weise, um genau das zu verhindern. Sie reduzierten die Stromstärke und ließen nicht zu, dass er ein zweites Mal entkam.

«… ein bisschen unterhalten.»

«Wie vernünftige, zivilisierte Menschen.»

«Nichts weiter.»

«Hier ist das.»

«Schulkinder.»

«Im Ernst.»

«Ihr Name.»

«Und wirklich Psychologie. Sechs Semester.»

Satzfetzen ohne tieferen Sinn.

Mehrere Minuten lang war schon nichts mehr passiert. Es sah nach einer Pause aus. Dicker Zigarettenrauch, drei glimmende Punkte. Cockcroft redete. Carl versuchte, von Körper auf Geist umzuschalten. Gedankenfetzen. Er dachte an Helen und dass sie abgereist war, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Er dachte an das Meer und an den Brand in Tindirma. An Helens Pick-up. War sie wirklich abgereist, oder hatten sie sie auch entführt? Würde es wohl einmal einen Schluck Wasser geben? Und war es überhaupt sinnvoll zu kooperieren, oder zog jeder Versuch einer Antwort die peinliche Prozedur nur unnötig in die Länge? Es sah sich im Geiste in seidener Bettwäsche liegen, und dann wusste er mit einem Mal, warum sie hier waren.

Es war so einfach, dass es schmerzte: weil er sich seine Verfolger in den letzten Tagen eben doch nicht eingebildet hatte. Sie hatten ihn verfolgt — hatte Cockcroft es nicht selbst gesagt? Sie brauchten einen abgeschiedenen Ort, wo sie ihn in Ruhe verhören konnten. Und weil sie ihm die ganze Zeit und also auch bei seinem Ausflug mit Helen auf den Fersen gewesen waren, waren sie auf das Bergwerk gestoßen. Ideal für ihre Zwecke. Hakim konnten sie einfach bestochen oder aus dem Weg geräumt haben. «Oder der war gar nicht da!», sagte Carl aus Versehen laut und grübelte, ob diese Hypothese auch stichhaltig war. Aber ihm fielen keine Gegenargumente ein, und folglich ging es um den Kugelschreiber. Nicht um das Bergwerk, eindeutig um den Kugelschreiber. Und um die beiden Dings. Die Dings aus Metall.

«Die Dings», sagte er laut.

Cockcroft betrachtete ihn mit schiefgelegtem Kopf.

«Die Dings, die beiden Dingskapseln», sagte Carl. «Ich habe sie.»

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, war er hundertprozentig überzeugt, das Richtige getroffen zu haben. Die Dingskapseln, das war es, darum ging es, und sie verhörten ihn hier, weil sie den Ort während der Verfolgung zufällig entdeckt hatten. Er hätte vor Glück und Zuversicht gestrahlt, wenn ihm nicht eingefallen wäre, dass ihm die Dingskapseln, die er verloren hatte, nicht im Geringsten weiterhelfen konnten. Und dass man in dieser kargen Bergregion niemanden unbemerkt verfolgen konnte, kam ihm nicht in den Sinn.

57. DIE STASI

A tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.

Shakespeare

«Die Dingskapseln», sagte Cockcroft und lächelte spöttisch. «Sie haben die Dingskapseln. Kann es sein, dass wir eine kleine Pause brauchen?»

Er gab dem Syrer und dem Bassisten ein Zeichen, und die beiden verließen den Raum. Auf dem Gang hörte man Lachen.

Cockcroft beugte sich zum Gefangenen vor. Er nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und blies den Rauch höflich nach oben. Mit trostlos aufrichtiger Miene saß er Carl gegenüber, die Beine übereinandergeschlagen. Sein einer Fuß stand neben dem schwarzen Kästchen, der andere wippte in der Luft, während Carl vollkommen damit beschäftigt war, sich einen akzeptablen Aufenthaltsort für die Dingskapseln zurechtzulegen. Er wollte nicht den Anschein erwecken, lange darüber nachdenken zu müssen, und platzte heraus: «Ich habe sie Adil Bassir gegeben.»

«Ich weiß nicht, was Sie mit Dingskapseln meinen», sagte Cockcroft, «aber während wir uns hier gepflegt unterhalten, möchte ich Sie auf einen kleinen Umstand aufmerksam machen, der mir wichtig erscheint und der Ihnen unbekannt sein muss. Und ich meine nicht den Umstand, dass Herr Adil Bassir und seine drei Schergen wohl kaum in voller Rüstung und fahnenschwenkend hinter Ihnen her gewesen wären, wenn Sie ihm die von Ihnen so genannten Dingskapseln — oder was auch immer — vorher ausgehändigt hätten. Nein, ich meine den Umstand, dass ich gestern noch zwei Stunden mit Prof. Martinez gesprochen habe, einer absoluten Koryphäe auf dem Gebiet. Der Koryphäe. Es ist nicht ganz leicht, hier Ferngespräche durchzukriegen, und es kostet ein Vermögen, aber Prof. Martinez, um das mal in aller Bescheidenheit zu sagen, ist vollkommen meiner Meinung. Von Globaler Amnesie kann keine Rede sein. Um eine Globale Amnesie vorzutäuschen, dazu reichen Ihre Kenntnisse vorn und hinten nicht, so leid es mir tut. Und wenn meine beiden Kollegen gleich zurückkommen, werden wir Ihnen das mit etwas schmerzhafteren Methoden auch noch einmal demonstrieren. Sie dürfen sich dann schon mal auf einen neuen Spielleiter freuen. Denn für das, was dann kommt, bin ich leider zu zart besaitet. Aber wir haben jetzt sicher noch ein paar Minuten unter vier Augen, und wenn Sie mir auf den letzten Drücker doch noch irgendetwas erzählen wollen … nein? Na schön, dann nicht. Es hätte sich nur gut gemacht in meiner Personalakte. Aber Ihre Entscheidung. Dann warten wir jetzt einfach auf die Rückkehr des Fachpersonals. Schweigend, wenn Sie wollen. Oder soll ich Ihnen einen Witz erzählen?»

«Ist das Teil der Folter?»

«Wahrheitsfindung. Ihnen geht’s ja blendend.»

Cockcroft stützte beide Hände hinter sich auf die Kiste, blickte ein wenig undurchsichtig den Gefangenen an und sagte schließlich: «Die CIA.»

Carl schloss die Augen.

«Die CIA, der KGB und die Stasi machen einen Wettbewerb. Stasi ist Staatssicherheit, falls Sie das nicht wussten. Der deutsche Geheimdienst. Wussten Sie nicht? Ah, man spricht nicht mit mir. Egal. Also, CIA, KGB und Stasi machen einen Wettbewerb. In einer Höhle befindet sich ein prähistorisches Skelett, und wer das Alter des Skeletts am genauesten bestimmen kann, ist der unsterbliche Sieger. Der CIA-Mann geht als Erster rein. Nach ein paar Stunden kommt er wieder raus und sagt, das Skelett ist circa 6000 Jahre alt. Die Juroren staunen. Das ist verdammt gut, wie haben Sie das so genau rausgefunden? Sagt der Amerikaner: Chemische Substanzen. Als Nächster ist der KGB-Mann dran. Nach zehn Stunden kommt er wieder aus der Höhle: Das Skelett ist etwa 6100 Jahre alt. Sagen die Juroren: Ausgezeichnet, Sie sind noch näher dran! Wie haben Sie das gemacht? Sagt der Russe: Kohlenstoff-Methode. Als Letzter ist der Stasi-Mann an der Reihe. Er bleibt zwei Tage in der Höhle. Vollkommen erschöpft kriecht er wieder raus: 6124 Jahre! Den Juroren steht der Mund offen. Das ist das genaue Alter, wie haben Sie das rausgekriegt? Zuckt der Stasi-Mann die Achseln: Er hat’s mir gestanden. Finden Sie nicht lustig? Ich find’s lustig. Oder ein anderer Witz, der gefällt Ihnen bestimmt. Ein hochrangiger israelischer Militär sucht eine Sekretärin.»

«Ich will das nicht hören.»

«Was wollen Sie dagegen machen? Er sucht eine Sekretärin.»

«Ich will es nicht hören.»

«Und er fragt die erste Bewerberin: Wie viele Anschläge schaffen Sie pro Minute?»

Carl schloss die Augen, drehte den Kopf hin und her und machte: «Lalalala.»

Mittlerweile waren der Bassist und der Syrer zurückgekehrt. Der Bassist hatte eine Tupperware-Dose in der Hand. Umständlich öffnete er sie und entnahm ihr ein Sandwich, das er Cockcroft über die Schulter reichte. Cockcroft biss einmal davon ab und sagte mit vollem Mund: «Ich erzähle diesen Witz seit vielen Jahren, und es ist einer der besten Witze, die ich kenne. Verzeihung.» Er bürstete ein paar Krümel von Carls Hose. «Jeder, dem ich ihn bisher erzählt habe, hat darüber herzlich lachen können, und Sie werden hier keine Ausnahme machen. Hören Sie ihn sich bitte ganz genau an, und wenn die Pointe kommt, dann lachen Sie als Zeichen Ihrer geistigen Reife. Er sucht also eine Sekretärin.»

Zwei oder drei Witze später wusste Carl nicht mehr, ob er noch bei Bewusstsein war oder träumte. Zwischen verklebten Augenlidern hindurch nahm er an der Metalltür eine Bewegung wahr. Die Klinke war langsam hinabgesunken, und die Tür hatte sich einen Spaltbreit geöffnet. Oder hatte sie die ganze Zeit offen gestanden? Nein, sie war gerade erst geöffnet worden. Und sie öffnete sich weiter, Millimeter für Millimeter. Carl riss seinen Blick davon los und starrte Cockcroft in die Augen.

Cockcroft und der Bassist saßen mit dem Rücken zur Tür. Der Syrer hatte auf der grauen Kiste Platz genommen, blickte auf seine Füße, die mit den blauen und gelben Kabeln spielten, und dann sagte eine sehr schleppende, blasiert und leiernd klingende Frauenstimme: «Sorry to interrupt. Can you tell me where to find the tourist information?»

58. DAS VANDERBILT-SYSTEM

Im Menschenhirn sind viele Areale ungenutzt, was darauf deutet, dass unserer Evolution ein langfristiger Plan zugrunde liegt, dessen Erfüllung zur längsten Frist noch vor uns liegt.

Ulla Berkéwicz

Das Keltische Kreuz funktionierte nicht. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass das Klapptischchen an der Lehne des Vordersitzes viel zu klein war. Darauf hatten maximal sechs Karten Platz, wenn man sie als Rechteck anordnete. Schon während Michelle mit konzentriertem Schlucken, Augenschließen und dem Abruf verschiedener Kindheitserinnerungen die Startphase des Düsenflugzeugs überstand, war ihr der Gedanke gekommen, die Karten weiter hinten auf dem Teppichboden der 727 auszubreiten. Aber die Maschine war noch keine Viertelstunde in der Luft, als Geschäftsleute in Zweireihern, Touristen in Bequemhosen und Mütter mit kleinen Kindern begannen, den Gang zur Toilette zu blockieren. Hätte sie dort das Kreuz ausgelegt, hätte sie alle diese Leute um Verzeihung bitten, ihr Tun rechtfertigen, Anfängerfragen beantworten und Interesse oder Verständnislosigkeit ertragen müssen. Ed Fowler hätte das gekonnt. Und wäre Ed bei ihr gewesen, hätte Michelle sich stark genug gefühlt, es auch zu können. Aber an manchen Tagen — und dies war ein solcher Tag — beunruhigte sie schon der Blick in das Gesicht eines Fremden.

Mit dem Handballen rieb sie den Tisch vor sich sauber. Sie ignorierte den dicken, schnaufenden Mann links neben sich und sah nicht einmal aus dem Fenster hinaus auf die weißen Wolken, unter denen ein Abgrund gähnte. Sie schloss allerdings auch nicht die Jalousie, um den Energiefluss nicht zu stören. Sie konzentrierte sich ganz auf das Tischchen. Zwei mal drei Karten, mehr Platz war nicht. Da hätte man zur Not das Kleine Kreuz machen können, aber Michelle hatte keine guten Erfahrungen mit kleinen Legesystemen gemacht. Kleine Systeme — für kleine Probleme. Bei großen Ausgangsfragen brauchte man mehr als vier Karten, sonst wurde das Ergebnis leicht schematisch. In der Kommune hatte sich für alle wichtigen Entscheidungen eine Erweiterung des Keltischen Kreuzes mit dreizehn Karten durchgesetzt, die sich hier unmöglich improvisieren ließ, selbst wenn Michelle die Armstützen, ihre Oberschenkel und das kleine Stück Sitzfläche zwischen ihren Beinen zu Hilfe nähme. Sie klappte den wackligen Speisetisch hoch und wieder runter. Ein kleineres Blatt, eine Art Reisetarot, dachte sie, hätte hier Abhilfe geschaffen. Vielleicht streichholzschachtelgroße Karten, fotomechanische Verkleinerungen ihrer Stiche. Mit ein wenig kaufmännischem Talent könnte man daraus wahrscheinlich einen Verkaufsschlager machen und reich werden. Man könnte die Spiele an Bahnhöfen und Busbahnhöfen anbieten, auf Schiffen, Flughäfen oder in Duty-free-Shops, überall, wo beengte Verhältnisse herrschten. Oder die Fluggesellschaften gleich direkt beliefern! Dann würden die Karten schon beim Einsteigen mit Zeitungen, Obst und Erfrischungstüchern zusammen an aufgeschlossene Passagiere gereicht. Ungeübten könnte die Stewardess nach ihrer Verhalten-im-Notfall-Choreographie mit gleicher Anmut das Keltische Kreuz demonstrieren. Michelle schloss die Augen und sah sich selbst in einer hellblauen Uniform die Bewegungen machen. Als der Wagen mit den Speisen und Getränken an ihr vorüberrumpelte, bestellte sie einen Kaffee. Der dicke Mann neben ihr nahm zwei Whisky, trank sie auf ex, warf Michelle einen Blick zu und versank erneut schnaufend im Halbschlaf. Ein Speichelfaden pendelte aus seinem leicht geöffneten Mund.

Das Bedürfnis, etwas über die Zukunft zu erfahren, wurde immer größer in Michelle. Und wenn sie doch das Kleine Kreuz machte? Sie sah sich um. Die meisten Passagiere waren mit ihren Zeitungen und Büchern beschäftigt. Hinten sammelte eine Stewardess die leeren Plastikbecher in einen Müllsack. In diesem Moment hatte Michelle eine Eingebung.

Sie drückte ihr Rückgrat durch, ordnete ihre Haare und rüttelte dann entschieden den Sitznachbarn wach, dessen dicker Kopf fast auf ihre Schulter gesunken war. Ob er etwas dagegen habe, wenn sie sein Tischchen mitbenutze? Entgeistert sah der Mann sie an. Der Speichelfaden schlackerte aufs Kinn. Dann warf er sich unwillig grunzend auf die andere Seite.

Als Michelle sicher war, dass er wieder schlief, legte sie vorsichtig sechs Karten auf seinen Tisch und sechs auf ihren eigenen. Sie dachte eine Weile nach und platzierte noch eine Karte auf die Armlehne zwischen den Sitzen. Ihre Augenlider flatterten leicht. Wie war dieses neue Muster zu deuten?

Die beiden Karten ganz links waren deutlich erkennbar die Tiefenschichten, die Vorvergangenheit, oben das männliche, nein, oben das weibliche Prinzip, darunter der Vater. Als nächste Paarung Kindheit und Jugend, die eigene und die fremde Perspektive, Umwelt und Selbst, Hoffnungen und Wünsche, zukünftige körperliche und geistige Entwicklung. Und die einsame Karte auf der Armlehne? Konnte eigentlich nur die neuralgische Verbindung von allem sein, der Ist-Zustand des Ich, der Nexus … die Ausgangsfrage.

Lange hielt Michelle den Stapel der restlichen Karten in ihrem Schoß. Sie presste den Rücken fest gegen die Lehne und ließ die Anordnung auf sich wirken wie ein Künstler, der einen Schritt von seinem Werk zurücktritt. Schön war es. Aber würde es auch seinen Zweck erfüllen? Sie beschloss, als Erstes, als Funktionsprüfung sozusagen, die Frage nach der Boeing 727 zu stellen.

Bis auf eine kleine Irritation am rechten Rand war das Ergebnis sehr beruhigend. Das Flugzeug war von der Firma Boeing unter Einhaltung aller Vorschriften für den Flugzeugbau und unter Aufbietung höchster Ingenieurskunst entwickelt und gebaut worden, es hatte eine sehr beachtliche Anzahl störungsfreier Flugstunden hinter sich, fast ebenso viele noch vor sich, und in der Mitte, quasi als Pilot, lag auf der Armlehne zwischen den Sitzen — der Herrscher. Günstiger konnte eine Prognose für einen Atlantikflug nicht ausfallen. Die Irritation am rechten Rand deutete maximal auf eine kleine Reparatur in ferner Zukunft hin, vielleicht eine lose Schraube in einem nicht ganz so wichtigen Bereich des Flugzeugs. Vielleicht an der Außenhaut … oder noch wahrscheinlicher eine Schönheitsreparatur im Innenraum. Eine defekte Sitzlehne möglicherweise. Kein Grund zur Beunruhigung, teilte Michelle den anderen Passagieren kraft ihrer Gedanken mit. Sie sah sich um. Die meisten waren eingeschlafen oder hinter ihrer Zeitung vergraben.

Als Nächstes legte sie die Karten für Helen aus, wozu sie den Hängenden Mann ins Deck zurückmischte, der jedoch nicht auftauchte. Auch hier lieferte das Schema gute Ergebnisse. Mit besten Anlagen ausgestattet entwickelte Helen Gliese schon in frühester Jugend ihren ambivalenten Charakter. Zwischen Narr und Teufel blickte die Fratze ihres verletzenden Zynismus heraus. Härte, Kälte, Entschlossenheit. Eigenschaften, die die meisten Männer irritierenderweise nie abstießen, sondern geradezu anzuziehen schienen.

Michelle suchte nach Anzeichen für einen neuen Lebensgefährten mit arabischen Wurzeln, konnte ihn aber zu ihrer eigenen Erleichterung nirgends entdecken. Nicht dass sie Carl ihrer Freundin nicht gegönnt hätte, aber diese Verbindung stand unter keinem guten Stern. Das war deutlich zu spüren. Auf der Armlehne erneut die Hohepriesterin, und zur rechten Seite hin wagte Michelle kaum zu sehen: Dort lagen alle sechs Karten kopfüber.

Grunzend erwachte der dicke Mann, warf einen Blick auf das Durcheinander auf seinem Tischchen und sackte wieder in sich zusammen. Nun legte Michelle für sich selbst die Karten aus, dann für Edgar Fowler. Dann für ihre Mutter, für ihren verstorbenen Vater. Für Sharon, für Jimi, Janis und zuletzt, als sie sich schon mitten über dem Atlantik befanden, auch für Richard Nixon. Alles, was dabei herauskam, war so ungeheuer treffend, viel treffender noch als für gewöhnlich die Aussagen des Keltischen Kreuzes. Michelle geriet darüber in einen solchen Enthusiasmus, dass sie fast zum zweiten Mal ihren Sitznachbarn geweckt hätte. Sie brauchte unbedingt jemanden zum Sprechen. In ihrer Vorstellung sah sie Medienvertreter auf sich zukommen. Sie gab Interviews. Fachzeitschriften in Amerika rissen sich um sie. Ein junger Mann mit kohlenschwarzen Augen, weich in die Stirn fallenden, braunen Haaren und randloser Brille, das Aufnahmegerät an einem Lederriemen über seiner muskulösen Schulter, der Gesichtsausdruck voll schmerzlicher Anteilnahme. Wie bei den meisten anderen Interviews, die Michelle bereits gegeben hatte, galt auch seine erste Frage den großen Leiden, die ihr Leben für immer gezeichnet hatten, damals in der Sahara. Doch mit geschlossenen Augen und kopfschüttelnd gab Michelle zu verstehen, dass sie darüber zu sprechen nicht willens oder imstande war. Selbst nach so langer Zeit nicht. Es saß zu tief.

«Dann, Miss Vanderbilt, mal zu der Frage, die für unsere Leser wahrscheinlich die aufregendste ist. Wie kommt man — oder anders ausgedrückt — welche Umstände waren es, die zu der Entdeckung des Sechser-Systems geführt haben, das in der westlichen Welt bei den meisten Insidern heute das Keltische Kreuz mit seinen Schwächen in der Kongruenzdeutung fast verdrängt hat?»

Sie dachte lange nach, richtete ihren Blick auf die Belüftungsdüsen über sich und korrigierte schließlich den sympathischen jungen Mann. Auch wenn es heute von fast allen das Sechser-System genannt werde, heiße es doch eigentlich 727-System. Zwar sagten viele auch Vanderbilt-System dazu oder, der Einfachheit halber, V-System, doch sie selbst als Entdeckerin bevorzuge diesen Ausdruck, denn das sei der ursprüngliche Name. Wenn auch die Kartenverteilung im Grunde genommen 6-1-6 sei. Aber man habe hier sowohl das Flugzeug als Entdeckungsort als auch das Legesystem plus eins, also plus eins wegen der höheren Kräfte, die in hoher Höhe, symbolisch gesprochen, hinzuwirkten, mitzudenken, folglich 7-2-7 … und ein kalter Schauer lief Michelle über den Rücken, als sie sich plötzlich erinnerte, dass 616 im Codex Ephraemi auch der Name des Tieres war. In der Bibel fälschlicherweise mit 666 wiedergegeben, doch ältere Schriften und Palimpseste zeigten die ursprüngliche Zahl, die für die Unwissenden verschleiert und von den Mächtigen umgelogen wurde in die vergleichsweise harmlosere Sechs. Ihr schwindelte. Da war es wieder, das Numinose, das sich wie von selbst aus den Tiefen herauf seinen Weg bahnte und offenbarte, wenn man nur ein wenig offen war für Phänomene dieser Art. Michelle war über die Beantwortung der ersten Interviewfrage noch nicht wirklich hinaus, als die Stewardess bereits das Hauptmenü servierte.

Abstoßende kleine Plastikschälchen, mit Plastik umwickelt, auf Plastiktabletts. Der Dicke machte beim Essen Bemerkungen so weltlicher Art, dass Michelle ihm nicht zu folgen vermochte. Minuten später war er wieder eingeschlafen, und ihr Blick fiel auf eine lose Schraube rechts unten an ihrem Sitz. Sie lächelte. Sie war nicht einmal erstaunt.

Sie betrachtete die Sonne mit ihren acht gelben und roten flackernden Armen, und später bot sie auch einmal dem Dicken an, ihm kostenlos die Karten zu legen. Da war er schon seit einiger Zeit wieder erwacht und verfolgte, ohne seine Schlafhaltung im Geringsten verändert zu haben, mit zusammengekniffenen Augen das Treiben auf beiden Tischchen.

«Was ist das?», brummte er, und Michelle erklärte es ihm mit der Gelassenheit einer Person, die allein fünf ihrer Lieblingskarten in ihrer Zukunft hatte. Sofort hob er abwehrend die Hände.

«Das kann ich verstehen», rief Michelle. «Den meisten Menschen macht es Angst, etwas über sich zu erfahren. Weil sie Angst haben, der Erkenntnis nicht gewachsen zu sein. Dass es zu tief ist für sie.»

«Was?»

«Das Leben», sagte Michelle. «Die Vergangenheit. Die Zukunft. Der Zusammenhang.»

«Sie interessieren sich für meine Zukunft? Da interessieren Sie sich für mehr als ich.»

Dieser letzte Satz schien Michelle dunkel und unverständlich, sie verstand ihn nicht sogleich, und der Mann fuhr fort: «Meine Zukunft kenn ich schon. Da müssen Sie mir nichts erzählen. Meine Zukunft ist wie meine Vergangenheit, und meine Vergangenheit ist ein Haufen Mist. Sehen Sie das hier?» Er zog seinen Hemdkragen herunter und entblößte ein paar dünne Schrammen am Hals und weiter unten.

«Haben Sie Urlaub gemacht?», fragte Michelle vorsichtig.

«Urlaub! Soll ich Ihnen mal erzählen, was mir passiert ist bei diesen Kaffern?», und Michelles Kopfschütteln ignorierend begann er die Geschichte seines Afrika-Aufenthaltes zu erzählen. Michelle versuchte, ihre Mimik unter Kontrolle zu halten. Waren seine Schilderungen anfangs noch leidlich konsistent und einigermaßen erheiternd, wurden sie doch rasch widerlich, ja geradezu kriminell. Nur aus Wohlerzogenheit wagte sie seinen Redefluss nicht andauernd zu unterbrechen.

«Also das billigste Zimmer», sagte er und beschrieb ausführlich sein Zimmer und sein Hotel, die verstopfte Toilette, das schlechte Essen, den Strandurlaub, das Klima und die Nächte in den Bars, sehr viele Nächte und sehr viele Bars und aus einem Grund, den Michelle nicht wirklich nachvollziehen konnte, immer wieder die Frauen in diesen Bars. Aber das sei ja alles ganz egal, sagte er selbst, und er sei nun einmal Kfz-Mechaniker aus Iowa und seine Vorfahren eingewandert aus Polen, Polen, jawohl, und er sei doch ein solider Mann — Hand aufs Herz — , solide sei sein zweiter Vorname. Zwar verdiene er nicht viel, und dies wäre sein erster Urlaub überhaupt, aber garantiert auch sein letzter in diesem entsetzlichen Europa.

«Afrika», sagte Michelle.

«Afrika», sagte der Dicke, «eins wie das andere.» Ein Missverständnis. Denn warum käme ein Mann hierher? Weil man ihm erzählt habe, dass hier — und er zeigte auf den Boden des Flugzeugs — Alte Welt und Neue Welt zusammenträfen. Die Frauen hübsch, die Sitten locker, die Feste bizarr. Und die Hauptsache, wie dieser österreichische Nervenarzt richtig herausgefunden habe, sei doch — und jetzt nannte er ein Wort, das Michelle noch nie gehört hatte und das auf — ismus oder — asmus endete. Sie wollte nachfragen, zögerte jedoch und glaubte schon beim nächsten Satz, sich verhört zu haben, denn der Dicke kam vom — ismus direkt zu der Feststellung, dass von wegstecken hier nicht die Rede gewesen sein könne. Eine einzige fade Fickfackerei sei es gewesen und — padamm!

Dreizehn Karten flogen gleichzeitig hoch wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm. Im ersten Moment haschte Michelle danach, bevor ihre Hände sich nach einem solideren Halt ausstreckten, und noch während ihr Körper im Sitz herumgeschleudert wurde, war sie weniger erschrocken über das Rucken des Flugzeugs, von dessen ordnungsgemäßem Zustand sie sich ja bereits überzeugt hatte, als von der Tatsache, dass sie auf einmal beide Arme um den dicken, schwitzenden Mann geschlungen hatte und aus Leibeskräften kreischte.

«Ein Schlagloch», meldete der betrunken klingende Pilot sich per Lautsprecher. «Wir durchfliegen ein Gebiet mit Tänzen.»

«Tänzen», sagte der Dicke, als habe er überhaupt nicht bemerkt, dass eine junge, hochattraktive Frau an seinem Hals hing wie an der letzten Rettung. Er half ihr, die Karten aufzuheben, sie entschuldigte sich, und ohne erkennbare Veränderung in der Stimme fuhr er mit seiner Geschichte fort. Unsummen, sagte er, Unsummen habe das alles verschlungen, und selbst die Afrikanerinnen in den Bars, selbst die kleinsten, selbst die schwärzesten … sie wisse, worauf er hinauswolle. Stattdessen Gestank, Insekten, Hitze. Und das Hauptproblem wie immer das Geld. Denn was sei teurer als eine Frau? Michelle wusste es nicht. Zwei Frauen, genau. Und dann habe der Zufall und plötzlich.

Er hustete bellend, hielt sich eine Serviette vor den Mund und betrachtete den dunkelgelben Auswurf wie ein Kind sein Spielzeug.

«Ich höre gerne Ihre Geschichte», sagte Michelle, die sich immer noch nicht ganz sicher war, wovon diese eigentlich handelte, aber des Mannes Beschäftigung mit dem Auswurf noch unappetitlicher fand als alles, was er hätte erzählen können.

Er zog sehr geräuschvoll auf, steckte das Taschentuch in den Spalt zwischen den beiden Sitzen und stieß es mit der flachen Hand tiefer hinein.

Jedenfalls, sagte er, sei dann plötzlich dieser Mann auf ihn zugekommen. Der wie ein Einheimischer gewirkt habe. Oder so halb und halb. Aber albern angezogen, fast wie ein Clown. Und ihn gebeten habe, ihn in sein Haus zu begleiten.

«Nicht, was Sie denken!», rief er und schob seinen Kopf ganz nah an Michelles verständnisloses Gesicht heran.

In Wahrheit habe der Mann nur einen Dolmetscher gesucht. Zu diesem Zweck sei er unter den am Strand Liegenden herumgegangen, wer denn Polnisch verstehe. Und auch wenn er Polnisch nicht wirklich verstehe, habe er sich gemeldet. Immerhin seien doch seine Großeltern. Und man solle sein Erbe nicht. Und er habe als Kind. Hier könne man über Sprachen und Sprachtalent sicher einiges sagen. Jedenfalls sei er eher praktisch veranlagt, wie die ganze Familie — und jetzt habe er den Faden verloren.

«Der Mann», sagte Michelle, «der Mann mit dem Haus.»

Genau, der Mann mit dem Haus. Und den rosa Bermudas. In das Haus seien sie dann hineingegangen, und da habe mitten im Zimmer eine Maschine gestanden. Eine chromblitzende Maschine, in der er, auch ohne Polnisch zu können, sofort eine Espressomaschine erkannt habe. Riesengroß, wie Kantinen sie benutzen. Oder Bars. Polnische Schriftzeichen. Also nichts Besonderes. Nur teuer. Und jetzt werde es mysteriös.

Das Wort mysteriös übte seine zuverlässige Wirkung auf Michelle aus, und sie versuchte, sich schräg hinzusetzen und ein Bein über das andere zu schlagen, was auch bei hochgeklapptem Tischchen kaum möglich war. Der Dicke stand auf, weil er dachte, sie wolle zur Toilette, und sie brauchten einen Moment, um das Missverständnis zu klären.

«Und dann», sagte der Dicke, «war er auf einmal weg.» Nämlich der Mann. Der nur habe wissen wollen, was das für eine Maschine sei in seinem eigenen Haus da. Er habe den Bungalow dann ohne Erklärung verlassen, eilig und grußlos — und das war es auch schon.

«Das ist ja verrückt!», rief Michelle enttäuscht. Sie hatte keine Ahnung, warum der Mann ihr das alles erzählte.

Er schwieg eine Weile. Dann lächelte er.

«Und jetzt wollen Sie natürlich wissen, was ich dann gemacht habe», sagte er, und Michelle, die gern länger darüber nachgedacht hätte, ob sie das wirklich wissen wollte, spürte eine Art von geistiger Lähmung. Sie machte große Augen und nickte.

«Ich bin ja auch immer noch meiner Mutter Kind», sagte der Dicke. Und wenn das kein Wink des Schicksals sei. Da sei er dann eben an den Strand zurück, von wo aus man das Haus habe beobachten können. An dem ja noch immer die Tür offen gestanden habe. Bis zum Abend. Und als der Mann nicht zurückkehrte, habe er einen Handkarren gemietet und die Maschine abtransportiert und zu Geld gemacht, moralisch hin oder her. Achtzig Dollar habe das gebracht, ein Zehntel des Werts, höchstens, aber weil es sein letzter Tag gewesen sei, sie verstehe. Und dann ins Hafenviertel und einmal Full House. Zwei Schwarze und eine Weiße.

Sie bitte um Verzeihung, sagte Michelle, und er wiederholte: zwei Superschwarze und eine Weiße. Die Weiße nur als Alibi. Aber sie müsse entschuldigen, da könne man als Mann nun einmal nicht gegen seine Präferenzen. In seinem Fall schwarz wie ein Brikett. Schwarz wie die Hölle. Oder gar nicht. Und, um es kurz zu machen, das Ende vom Lied, sie hätten versucht, ihn umzubringen. Er zog erneut seinen Hemdkragen runter und fuhr sich mit dem Daumen die Kehle entlang.

Aufgewacht in einem Straßengraben ohne Gepäck, ohne Geld, ohne Kleidung, Pass und Flugticket. Ein halber Tag auf der amerikanischen Botschaft. Und das sei nun seine Vergangenheit. Und die Zukunft sehe genauso aus, denn so seien sie. Die Frauen. Immer. Sein Pech. Das ganze Leben. Und er könne nun auch ohne Kartenlegen durchaus unglücklich sein.

Er schnaufte, hustete noch einmal schwer, schaute wie prüfend auf Michelles von der Wüstensonne dunkelbraun, ja fast schwarz gebrannte Haut und lächelte sie dann plötzlich auf eine so unangenehme, aufdringliche Art an, wie sie bei einem Mann seines Alters nicht selten zusammen mit Übergewicht und Haarausfall ein Ergebnis natürlicher Vorgänge zu sein scheint, auf eine Art, die doch zugleich so sonderbar kindlich und unschuldig wirkte, dass Michelle annahm, er sei sich seines Gesichtsausdruckes oder zumindest der Inkongruenz zwischen seinem aufgedunsenen, gealterten Gesicht und seinen jugendlichen Absichten kaum bewusst.

Aber sie wich seinem Blick auch nicht aus. Sie fixierte ihn im Gegenteil genau. Wie ein hochempfindliches Messgerät registrierte sie das Aufblühen seines Lächelns über das Stagnieren bis zu seinem unsicheren und leicht zuckenden Abebben und Verschwinden. Sie beobachtete, wie der große, starke Mann sich von ihr abwandte, verunsichert durch ihr Selbstbewusstsein, sich erneut zu ihr umwandte, um versuchsweise das anzügliche Lächeln zu erneuern, und der ganze Vorgang, der ganze durchsichtige Mann in seiner animalischen Unbeholfenheit erinnerte Michelle so sehr an den in der Kindheit besessenen liebenswerten Bullterrier, den sie als Ersatz für einen eingegangenen Kanarienvogel unterm Weihnachtsbaum gefunden hatte (im Schlafe sabbernd, mit blauer Schleife um den Bauch und einer Leine aus hellbraunem Leder), dass sie eine Neigung in sich keimen spürte, auf die weiteren Vertraulichkeiten des Dicken, die zum Ende dieser Flugreise so sicher erfolgen würden wie der tägliche Untergang der Sonne, weniger voreingenommen zu reagieren, ja geradezu überraschend herzlich einzugehen. Ihr Hochzeitsgeschenk war ein Solarium. Die Ehe lang und glücklich.

59. OPERATION ARTISCHOCKE

In solch einem Krieg ist es christlich und ein Werk der Liebe, die Feinde getrost zu würgen, zu rauben, zu brennen und alles zu tun, was schädlich ist, bis man sie überwinde. Ob es wohl nicht so scheint, dass Würgen und Rauben ein Werk der Liebe ist, weshalb ein Einfältiger denkt, es sei kein christliches Werk und zieme nicht einem Christen zu tun: so ist es doch in Wahrheit auch ein Werk der Liebe.

Luther

«Kleiner Scherz», sagte Helen. Mit weißen Shorts, weißer Bluse, weißem Sonnenhut, weißen Segeltuchschuhen und einer großen Umhängetasche aus Jute trat sie in den Raum. Sie warf Carl über Cockcrofts Schulter hinweg einen kurzen Blick zu und zog dann ein Paar grüner Gummihandschuhe, eine dicke, arabische Tageszeitung und eine Flachzange aus ihrer Tasche, welche sie alle dem Syrer gab.

Der Syrer faltete die Zeitung auseinander, nahm den Sportteil heraus und breitete die restlichen Teile sorgfältig auf dem Boden aus.

«Wie geht es dir?», fragte Helen und zog noch eine schwarze Plastikflasche heraus. «Hast du Durst?»

Sie schraubte die Flasche auf, roch an der Öffnung und reichte sie weiter an Cockcroft, der ebenfalls daran roch. Dann gingen sie zu dritt — Helen, Cockcroft und der Bassist — vor die Tür. Obgleich die Tür nicht fest schloss, konnte Carl kein Wort ihrer Unterhaltung verstehen. Als sie zurückkamen, gab Cockcroft dem Syrer ein Zeichen. Der riss sich von den unerfreulichen Ergebnissen der Primera División los, stopfte den Sportteil in seinen Hosenbund und stellte sich hinter den Baststuhl. Mit Händen wie ein Schraubstock umklammerte er Carls Kopf. Der Bassist griff Carl von vorn unters Kinn, und Helen setzte ihm die schwarze Flasche an die Lippen, während sie ihm gleichzeitig die Nase zuhielt.

«Mund auf. Mund auf. Mund auf. Schmeckt nicht gut, ist aber nicht giftig.»

Es schmeckte wirklich nicht gut. Und es war wirklich nicht giftig. Irgendwas streng Medizinisches. Bitter. Seifengeschmack.

Als sie ihm den Inhalt der Flasche zu großen Teilen eingeflößt hatten, ließen sie ihn los und traten rasch zurück. Carl gab einen Schwall gelblicher Flüssigkeit von sich, und während er noch schluckte und hustete, lösten sie seine Fesseln. Kraftlos rutschte er zu Boden. Sie befahlen ihm, sich auszuziehen, aber seine roten und blauen Arme gehorchten ihm nicht mehr. Sie beugten sich über ihn und zogen ihn aus. Dann zerrten sie ihn zu den ausgebreiteten Zeitungen und versuchten, ihn eine Hockstellung darauf einnehmen zu lassen. Aber er kippte immer wieder um. Schließlich hielt der Syrer ihn mit einer Faust am Schopf hoch. Sie schwankten zusammen hin und her.

Helen wischte ein paar Spritzer von ihrer Bluse. Cockcroft zerknüllte eine leere Zigarettenschachtel. Der Bassist krempelte seine Ärmel auf.

«Soll ich dich mal ablösen?»

«Wie lange braucht das denn?»

«Was steht denn auf der Flasche?»

«Spürst du schon was?»

«Nichts.»

«Gib mal die Flasche.»

«Spürst du schon was?»

«Wann war er denn zuletzt?»

«Ja, gar nicht.»

«Und davor?»

«Am Tag vorher. Und danach nicht mehr. Wenn ihr aufgepasst habt.»

«Und jetzt guck dir das an. Guck dir das an. Oha.»

Während Carl seinen Darminhalt über Hacken und Zeitung verteilte, schüttelte der Syrer ihn an den Haaren hin und her wie eine Tasche, die man ausleeren will.

Etwas später löste sich der Griff, und Carl kippte schlaff zur Seite. Seine Stirn schlug auf. Er rührte sich nicht mehr. Direkt vor seinem Auge bewegten sich kleine schwarze Punkte. Ameisen. Er hörte ein schnappendes Geräusch und sah über die wehenden Fühler hinweg, wie der Bassist sich die grünen Gummihandschuhe überstreifte. Carl hatte sich lange beherrscht, jetzt fing er an zu weinen.

Mit einem Taschenmesser begann der Bassist, im Kot herumzustochern. Tief in der Hocke vor der Zeitung, beide Arme zwischen den Knien herabhängend, schnitt er mit der Klinge kleine Stücke von der Kotwurst ab und strich sie auf dem Papier daneben aus, wie man ein Brot schmiert.

Cockcroft, Helen und der Syrer standen mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihm wie Spielkameraden. Dass sie sich über etwas hermachten, was eben warm und stinkend seinen Körper verlassen hatte, erfüllte ihn mit einer sonderbaren Wehmut. Es lag etwas Symbolisches in diesem Vorgang, etwas Grauenvolles, die dunkle Ahnung, dass sie auch andere Teile und Güter seines Körpers von ihm trennen und in Besitz nehmen könnten. Carl wandte den Blick wieder den Ameisen zu.

Nachdem der Bassist den Kot auf der ganzen Zeitung wie auf einem großen Nutella-Brot ausgestrichen hatte, verkündete er mit dem Gesichtsausdruck und im Tonfall eines Achtjährigen: «Hier ist nix», und drei blaue und ein schwarzes Augenpaar wanderten zu dem Mann, der nackt und schniefend auf dem Boden lag.

Helen schob Carl mit dem Fuß seine Kleider zu, und nachdem er sich mehr oder weniger allein wieder angezogen hatte, banden sie ihn erneut auf den Stuhl.

«Dann weiter mit der Zwei», sagte Cockcroft. Und zu Helen: «Ihr Mann.»

60. DIE LEGENDEN DER STANDHAFTEN

There has been a good deal of discussion of interrogation experts vs. subject-matter experts. Such facts as are available suggest that the latter have a slight advantage. But for counterintelligence purposes the debate is academic.

KUBARK-Manual

Die dünne, aber sehr gerade und aus schwarzen Punkten bestehende Linie wimmelte rechts an Carls Stuhl vorbei in den hinteren Teil der Höhle, wo er sie mit den Augen nicht weiter verfolgen konnte. Zur anderen Seite hin lief sie mit kleinen orangefarbenen Körnchen beladen unter der Metalltür hindurch in die Freiheit.

Während Carl sich noch über das Schicksal der Ameisen Gedanken machte, nahm Helen ihm gegenüber Platz. Die anderen hatten den Raum verlassen. Sie zog eine Zigarette aus der Packung, zündete sie aber nicht an und begann, in der ihr eigenen schlaff und wie betäubt wirkenden Art, mit der Zigarette in der einen Hand und dem Feuerzeug in der anderen zu reden und zu gestikulieren. Sie schlug die Beine übereinander, und Carl zerrte an seinen Fesseln, als habe er Schmerzen. Tatsächlich hatten sie ihn nicht so fest gebunden wie beim ersten Mal, und seine rechte Hand, die er kaum noch spürte (er wagte nicht hinzusehen), rutschte Millimeter für Millimeter weiter aus den Stricken. Er sagte: «Du weißt, dass ich nichts weiß», und Helen sagte: «Ich weiß gar nichts.» Wie um zu zeigen, dass sie nicht unterbrochen zu werden wünschte, zog sie das schwarze Kästchen mit dem Fuß zu sich heran und hob es auf ihren Schoß, wo es auf den weißen Shorts und den nackten Oberschenkeln hin und her schaukelte.

«Jetzt, wo fangen wir an? Du magst dich fragen, warum so ein Aufstand wegen einer solchen Kleinigkeit? Denn es ist eine Kleinigkeit, ob du das weißt oder nicht. Jedenfalls für uns. Die Konstruktion kennt jeder Student, und das Ganze ist nicht so raffiniert, dass ein paar kluge Köpfe es nicht irgendwie zusammensetzen könnten. Immerhin raffiniert genug, dass wir keinen schwunghaften Exporthandel damit veranstalten können. Oder wollen. Abgesehen davon, dass auf der Route noch anderer Mist transportiert wurde.» Helen hob Zigarette und Feuerzeug hoch, ließ aber beide Arme sofort wieder sinken. «Du bist nicht der Erste, der sich da versucht. Du bist nur der Erste, den wir erwischen. Oder der Zweite. Aber der erste Lebende, und deshalb bist du auch der Erste, der sein Wissen mit uns teilen wird. Denn wie du vielleicht weißt, geht es bei unserem kleinen Spiel hier nicht darum, ob du uns die Wahrheit sagst. Das hängt nicht von dir ab. Was von dir abhängt, ist allein der Zeitpunkt, zu dem du dich entschließt, uns die Wahrheit zu sagen. Du kannst dich eine Weile selbst quälen, du kannst es hinauszögern, aber vermeiden kannst du es nicht. Wenn du eine ordentliche Ausbildung bezüglich Verhalten in Verhörsituationen hast — wovon wir bedauerlicherweise ausgehen müssen — , weißt du das auch. Du weißt, dass du plumper Gewaltanwendung mit Willenskraft, Autosuggestion und ähnlichem Schnickschnack eine Weile standhalten kannst. Vorausgesetzt, du bist gut. Vielleicht ein, zwei Tage. Vielleicht sogar drei, man hat schon Pferde kotzen sehen. Carthage», Helen deutete mit dem Daumen hinter sich, «behauptet, jemanden zu kennen, der es fünf Tage gemacht hat. Aber das glaube ich nicht. Das sind diese Legenden vom tapferen Soldaten, der von glühenden Kohlen versengt seine Brigade, seine Heimat, seine Familie nicht verrät und dem man anschließend Denkmäler aufstellt, auf denen er mit zwei intakten Marmoraugen nachdenklich zum Horizont schaut, zufrieden, noch alle vier Gliedmaßen zu besitzen. Aber entweder sind das Legenden. Oder die Verhörspezialisten waren unfähig. In den meisten Fällen waren sie wohl unfähig. Und zumindest in diesem Punkt kann ich dich vollkommen beruhigen.» Helen steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und blies den Rauch gegen die von Meißelschlägen schartige Decke.

«Und ich kann dir deine Entscheidung auch noch etwas erleichtern. Indem ich mal erzähle, was wir wissen. Dass du nicht denkst, dass du irgendwen oder was decken müsstest. Oder könntest. Weil, was wissen wir? Wir wussten, dass die Übergabe in Tindirma stattfindet. Und auch wann ungefähr. Wir wussten, wer es übergibt, aber nicht an wen. Im Hotel gab es eine Reservierung für einen Mann namens Herrlichkoffer. Herrlichkoffer, das ist deutsch und heißt so viel wie Herrlichkoffer. Sagt dir das was? Nein? Glaub ich sogar. Wir haben diesen herrlichen Koffer jedenfalls am Flughafen in Targat ausfindig gemacht und nach Tindirma verfolgt, und dort haben wir ihn verloren. Er ist im Hotel nicht aufgekreuzt. Und wir hätten natürlich vorher zugreifen können, aber wir wussten auch nicht, ob er das Ding dabeihat. Oder wo es ist. Wir wussten nicht mal genau, was es ist oder in welcher Form es transportiert wird. Wir wussten nur, wo es herkommt, aus welchen Forschungslabors. Und dann haben wir fast vierundzwanzig Stunden gebraucht, um den Mann wiederzufinden. Aber da war anscheinend noch nichts passiert. Der saß da Tag für Tag im Café wie bestellt und nicht abgeholt. Wir haben einen Kerl davor hingesetzt mit Funkverbindung im Ohr, und der meldete: nichts. Entweder war der blind, oder unser Mann hatte Verdacht geschöpft. Oder aber er war gar nicht unser Mann. Und da kam dann das Massaker. In der Kommune. Und da haben wir einen klitzekleinen Fehler gemacht. Den wahrscheinlich jeder gemacht hätte. Denn was war das? Eine Gruppe von Kommunisten und Hippies und Langhaarigen, politisch wirr, vier Tote, Unmengen Geld weg … klar, dachten wir, wir sind am falschen Mann dran. Also rein in die Kommune. Unsere Leute sind aber nicht reingekommen. Die hatten sich sofort abgeschottet, Presse und alles. Und Trauer. Und als rauskam, dass da eine alte Schulfreundin von mir drinsitzt, haben sie mich geholt. Ich war zu der Zeit in Spanien. Aber nachdem ich der Kommune einen Besuch abgestattet hatte und nachdem Michelle mir auch noch mal klargemacht hatte, dass Geld in Wirklichkeit gar nicht im Spiel war, dass das wohl wirklich nur ein arabischer Irrer mit Sexproblemen gewesen ist, dieser Amadou im Quadrat, da hatten wir die Spur komplett verloren. Herrlichkoffer hatte sich in Luft aufgelöst, und das kriminelle Potential dieser Hippies hätte nicht ausgereicht, einen Riegel Schokolade durch den Schweizer Zoll zu schmuggeln. Also alles abgeblasen. Ich war auch in Gedanken schon längst wieder daheim — da läuft mir dieser Araber über den Weg. An der Tankstelle mitten in der Wüste. Blutend, wirr, hilfesuchend und offensichtlich auf der Flucht. Und das war nur so eine Ahnung, dass ich dich da eingesammelt hab. Ich hab gedacht, wer weiß. Weil, dein Gerede vom Gedächtnisverlust, das war ja alles Quatsch. Meine erste Einschätzung war: Mitleidstour. Araber auf der Suche nach der weißen Frau. Neunzig Prozent. So hab ich das am Abend jedenfalls rausgemeldet. Aber ich war mir nicht sicher. Wir waren uns ganz lange nicht sicher. Und erst als Bassir dich gecasht hat … die reinste Katastrophe. Da hätten ein paar Leute hier fast ihren Job verloren. Hundert Mann um dich rum, und die stopfen dich einfach in den Kofferraum. Ich hab noch nie so viele Trottel auf einem Haufen gesehen. Alles Amateure. Unser ganzes Team. Wir hatten ja keine vierundzwanzig Stunden, das zusammenzustellen und in die Wüste zu karren. Ich hab nicht mal einen Flug gekriegt, ich musste mit dem Schiff von Spanien kommen. Zwei andere sind in New York hängengeblieben. Und allein, was sich unser kleiner Thoraschüler alles geleistet hat! Der Zettel für die Praxis, ich bin ja fast gestorben, als ich das aus dem Briefkasten gefischt hab. Schnupperpreise! Und so ging das die ganze Zeit. Du hast, denke ich mal, keine Vorstellung davon, was es bedeutet, im August ein Kommando zusammenzubauen. Zwei von uns können nicht mal Französisch. Einen Arabisch-Übersetzer hatten wir gleich gar nicht, da mussten wir aus Belgien noch einen einfliegen, der liegt jetzt mit Magen-Darm-Grippe im Hotel. Unser Funker ist schwerhörig, kommt aus Iowa und hat die ersten 48 Stunden geglaubt, dass er in Libyen operiert. Zwei sind auf der Suche nach der Mine fast verdurstet. Und Herrlichkoffer war schon tot, bevor wir ihn überhaupt verkabeln konnten. Ein kleines Missgeschick. Und so weiter. Und dass Bassir dich wegfischt — wie gesagt. Ein unglaubliches Gestümper. Aber dass du dich dieser Brigade von Stümpern immer wieder vertrauensvoll in die Arme geworfen hast, sollte dir auch klarmachen, dass du nicht der hellste Stern am Himmel bist.»

Helen tippte die Asche an ihrer Zigarette ab und lächelte. Es war das gleiche sachliche Lächeln, das sie auf der Terrasse des Bungalows gelächelt hatte, als sie sich nach ihren gymnastischen Übungen zu Carl umgedreht hatte und ihm zum ersten Mal klargeworden war, dass er sie liebte.

«Glaub mir, ich habe jeden Tag gebetet, Himmel, hab ich gebetet, lass ihn bitte exakt so dämlich sein, wie er aussieht. Keiner hat damit gerechnet. Dreimal», sie hob drei tautologische Finger in die Luft, «dreimal genau habe ich Anweisung bekommen, alles abzubrechen und gleich die graue Kiste in Betrieb zu nehmen. Dreimal konnte ich nur mit äußerster Mühe den Laden am Laufen halten. Der führt uns noch hin, hab ich immer gesagt.»

Carl zerrte an seinen Fesseln. Er spürte ein Knacken und Knirschen in seiner rechten Hand und kniff die Augen zusammen.

«Und wenn du denkst, das war’s jetzt, wenn du denkst, dass wir es mit ein bisschen Reden und Psychologie und ein paar läppischen Stromstößen bewenden lassen … denkst du das? Denkst du, wir bauen hier nur ein hübsches Theater auf mit großen Höhlen, harmlosen Apparaten und einer blonden Zigarettenreklame, die dich verbal ein bisschen bearbeitet? Ich verspreche dir, das ist nicht der Fall. Ich werde dir jetzt noch einmal ein paar Fragen stellen. Und du kannst dich wieder zieren wie eine Filmdiva. Deine Entscheidung. Aber dann —»

Mit einem Schmerzensschrei riss Carl die rechte Schulter hoch. Und die Hand war frei.

61. EIN WENIG STOCHASTIK

Was hat man denn gegen den Krieg? Etwa dass Menschen, die doch einmal sterben müssen, dabei umkommen?

Augustinus

Der Rauch hatte die Luft wie Milchglas eingetrübt. Helen lehnte den Oberkörper zurück. «Na, was ist das?», fragte sie und hustete kurz. «Das binden wir mal schön wieder fest.»

Sie band die Hand wieder fest und ließ Carl die ganze Geschichte noch einmal von Anfang an erzählen. Alles, was sie schon kannte. Und alles, was er, von Stromstößen begleitet, Cockcroft, dem Syrer und dem Bassisten ebenfalls erzählt hatte. In allen Einzelheiten. Und als er damit fertig war, sagte sie: «Und jetzt das Ganze noch einmal rückwärts, Station für Station.»

«Bist du jetzt auch unter die Psychologen gegangen?»

«Von dem Moment an, wo du die Prostituierte getroffen hast, bis zu dem Moment, wo ich dich vor der Kommune allein lass.»

«Wenn ihr immer noch nicht wisst, ob ich eine Amnesie hab oder nicht —»

«Du hast keine. Fang an.»

«Warum testest du das dann?»

«Ich teste das nicht. Fang an.»

Carl runzelte die Stirn, und nach einer Weile sagte Helen: «Ich hab es dir bereits gesagt: Du bist nicht der hellste Stern am Himmel. Damit testet man keine Amnesie. Damit testet man schlecht strukturierte Lügengebäude. Also. Deine Prostituierte.»

Er starrte Helen an. Er blickte auf ihre Knie, er blickte auf seine eigenen Knie, und dann sah er ihr wieder ins Gesicht.

Sie deutete auf den Schalter in ihrem Schoß, und Carl erzählte die ganze Sache noch einmal rückwärts. Die Prostituierte, die ihn Cetrois genannt hatte, das Morphium, der Gang ins Hafenviertel. Davor das Salzviertel, das eigentlich das Leere Viertel war. Das kleine Café. Vor dem kleinen Café die Schulkinder und der von ihnen gestohlene gelbe Blazer. Das Telefonat. Der Wirt mit dem Teller zerkochter Suppe. Davor die Wüste, der alte Fellache, die Leiche mit der Drahtschlinge um den Hals. Die Frage nach dem Moped und die Papierschnipsel in den Taschen. Die Flucht, die Verfolger in weißen Dschellabahs. Tindirma. Der Aufruhr. Der Brand der Kommune, ausgelöst durch das lastwagengroße Tier. Carl erzählte von der Massenpanik und von wo aus er alles mit angesehen hatte, er erzählte von dem schäbigen Hotel und (in aller Ausführlichkeit) von der biederen Frau im Hotel. Von der grünen Getränkedose und dem gelben Mercedes und den Gegenständen darin. Dem Ball, dem Kugelschreiber und dem Block, auf dem «CETROIS» gestanden hatte. Und ganz am Ende von dem Zettel, den er Helen auf den Fahrersitz des Pick-ups gelegt hatte.

Helen hörte sich das alles an, und als er damit fertig war und aufsah wie ein Fünftklässler am Ende der mündlichen Prüfung, wollte sie alles noch einmal vorwärts hören. Und dann noch einmal rückwärts. Dass sie dabei weder die Stimme hob noch das schwarze Kästchen benutzte, gab Carl einen Hauch von Hoffnung, ihm schien es, dass ihm geglaubt würde, wenn es ihm nur gelänge, die Details in der immergleichen oder umgekehrten Reihenfolge auf die Schnur zu fädeln.

Der einzige Kommentar, den Helen sich erlaubte, war ein spöttisches Grinsen an der Stelle mit den fröhlich lachenden Schulkindern, und je öfter Carl über diese Adjektive dahinholperte, desto sonderbarer und unwahrscheinlicher kam es ihm selbst vor, wie er den Blazer mitsamt den Kapseln einfach hatte verlieren können. Denn dass es um diese Kapseln ging, daran zweifelte er nicht mehr. Er fing an, erklärende Worte in seine Sätze einzubauen, und als er gerade zum fünften oder sechsten Mal vergeblich mit hängender Zunge dem gelben Blazer hinterherrannte, fügte er noch ein Detail hinzu, das er bisher ausgelassen hatte: das Ouz. Wie es da plötzlich in der Abenddämmerung auf der Düne gestanden und ihn gebissen hatte, mit der Papierkrone auf dem Kopf, und wie er dabei fast schon einmal unter den allerlächerlichsten Umständen die Kapseln im Sand verloren hatte … als könne die Unwahrscheinlichkeit dieses Ereignisses die Unwahrscheinlichkeit des späteren Verlusts erklären. Ein mathematisches Gesetz, ein kosmischer Zufall. Er flehte sie an, sich die Bisswunde an seinem Handgelenk anzusehen, und Helen stand auf und ging mit hinter dem Nacken gefalteten Händen einmal um Carls Stuhl herum.

«Wer hat dich ausgebildet?», fragte sie kaum hörbar, als sie hinter ihm war, und «Ist das alles, was du mir sagen willst?», nachdem sie erneut auf der Holzkiste Platz genommen hatte. «Nationalstolz, Idealismus, religiöses Dogma, der ganze Tand und Flitter, mit dem der geistig Unterbelichtete sein Weltbild möbliert und der im Erwachsenenalter erfahrungsgemäß so schwer abzuwerfen ist — ich weiß nicht, was dich reitet. Aber du solltest dir das noch einmal überlegen. Wenn ich sagte, ich stelle dir diese Fragen noch einmal, dann meinte ich das auch so. Und wenn ich außerdem sagte, es sei eine Kleinigkeit, sollte das nicht heißen, es ist nicht wichtig für uns. Es ist sehr wichtig.»

«Wichtiger als ein Menschenleben?», raffte Carl sich auf.

«Du redest jetzt von dir? Nichts ist wichtiger als ein Menschenleben.» Helen fuhr mit dem Zeigefinger an Carls bekleckertem Pullover herunter. «Auch wenn es das Leben eines Lügners ist. Das Leben eines Schmugglers. Eines Idioten und Berufsverbrechers. Jedes Leben ist unbezahlbar, einzigartig und schützenswert. Sagt der Jurist. Das Problem ist, wir sind keine Juristen. Wir stehen nicht auf dem Standpunkt, dass man das Leben nicht gegen andere Güter oder andere Leben abwägen kann. Wir sind eher so die Statistikabteilung, und Statistikabteilung bedeutet: Es besteht eine vielleicht einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, wie du sagst. Dass du nicht weißt, wer du bist. Dass du zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort warst, und das gleich mehrfach. Schulkinder, Leichen mit Drahtschlingen in der Wüste und Ausweise in der Tasche und was nicht alles. Kann alles sein. Es besteht aber auch eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. Sondern Quatsch. Dass hier ein Mann die Finger ausgestreckt hat nach etwas, was ihm nicht gehört. Und dass er es auch nicht verloren, sondern weitergegeben hat. Oder gebunkert. Neunundneunzig Prozent. Neunundneunzig Prozent, dass wir hier den Weltfrieden sichern. Neunundneunzig Prozent, dass unsere kleine Untersuchung einem friedlichen Zusammenleben ohne Atomwaffen dient. Neunundneunzig Prozent für das Fortbestehen des Staates Israel, für glückliche Kinder, grasende Kühe und den ganzen anderen Scheiß. Neunundneunzig Prozent, dass es hier nicht um ein Menschenleben geht, sondern um Millionen. Neunundneunzig Prozent für die Sache von Aufklärung und Humanismus und nur ein Prozent, dass unser peinliches Verhör einen Rückfall ins Mittelalter darstellt. Mal ehrlich», sagte Helen, hob sanft sein Kinn mit zwei Fingern an und sah ihm in die Augen. «Hundert zu eins. Oder eine Million zu eins. Wie werden wir jetzt weiter vorgehen? Was denkst du? Ich kann dir einen Tipp geben. Die Statistikabteilung agiert traditionell leidenschaftslos.»

«Du kennst mich. Du hast mich erlebt.»

«Du kennst dich ja nicht mal selbst. Sagst du.»

«Aber warum hätte ich dir das alles erzählen sollen, was ich dir erzählt hab?»

«Weil du dumm bist?», sagte Helen. «Weil du bis zuletzt keine Ahnung hattest, zu wem du ins Auto gestiegen bist? Weil du dachtest, die blonde, kaugummikauende Frau würde dir noch einmal sehr weiterhelfen? Wir wissen ja nicht mal, ob es diese Kapseln überhaupt gibt. Oder in welcher Form —»

«Du weißt es», sagte Carl. «Du weißt, dass ich nichts weiß.»

«Ich weiß es, wenn wir hier zu Ende sind. Wenn wir hier zu Ende sind und alle unsere schönen Geräte ausprobiert haben, dann werde ich es wissen. Dann glaube ich dir und entschuldige mich — mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Prozent. Aber du kannst mir auch glauben: Wenn wir hier zu Ende sind, hast du alles gesagt, was du weißt. Denn so leid es mir tut, wir sind die Guten in dieser Sache. Und du bist es nicht. Ob du das weißt oder nicht. Aber du hast deine Hände dadrin, und du hast etwas, was uns gehört. Was wir entdeckt haben. Unsere Wissenschaftler. Und deshalb sind wir die Guten: Wir haben die Bombe gebaut und Schreckliches damit angerichtet. Aber wir haben daraus gelernt. Wir sind das lernfähige System. Hiroshima hat den Krieg verkürzt, über Nagasaki kann man streiten — aber ein drittes Mal passiert das jetzt nicht. Wir werden verhindern, dass es ein drittes Mal passiert. Die Bombe in unseren Händen ist nichts weiter als ein ethisches Prinzip. Dieselbe Bombe in euren Händen, und wir steuern auf eine Katastrophe zu, mit der verglichen alles andere nur ein leichter Kopfschmerz war. Und warum sage ich dir das alles? Ich sage das nicht, weil ich denke, dass ich dich überzeugen kann. Ich sage das nicht, weil ich denke, dass du Vernunftgründen zugänglich bist. Wenn du Vernunftgründen zugänglich wärst, wärst du nicht hier. Ich sage das, weil ich dir klarmachen will, wo wir stehen.»

Sie öffnete den obersten Knopf an ihrer Bluse, wischte mit zwei Fingern Schweiß von ihrem Schlüsselbein und zündete sich die nächste Zigarette an.

62. IM TIEFSTEN GRUND

Sie kamen dort dann heran an den Eiterfluss, an den Blutfluss; für sie sollte es der Ort der Niederlage sein, wo das Herz von Xibalba ist. Nicht einmal waren sie es, die ihn durchschritten, nur auf dem Rücken der Blasrohre setzten sie über.

Popol Vuh

Die Ziege war verschwunden, das lose Ende der Kette lag am Ufer. Die Schatten der Felsformationen, die Carl noch in Erinnerung waren, schwankten im Licht. Mit hochgekrempelten Hosen zog der Syrer ihn hinter sich her bis in die Mitte des Schlammtümpels. Er fischte die Kette auf und band sie ihm mit einem Schloss um den Hals. «Das ist zu lang», sagte jemand, und der Syrer drückte Carls Nacken hinunter, bis das Gesicht fast das Wasser berührte, öffnete das Schloss und band die Kette erneut fest. Cockcroft, Helen, der Bassist und die Karbidlampe schauten vom Ufer aus zu.

Sie ermunterten ihn zu sprechen. Er schwieg.

Cockcroft ging in die Hocke, schaute Carl lange in die Augen und sagte: «Keine Idee ist so groß, dass es sich dafür zu sterben lohnt. Wir sind bisher offen zu Ihnen gewesen, und ich werde auch jetzt offen zu Ihnen sein. Existentielle Verzweiflung, das ist das vordringliche Ziel unserer Maßnahme. Sie in einen Zustand existentieller Verzweiflung zu versetzen. Und es gibt verschiedene Theorien dazu. Bis vor kurzem orientierte man sich noch an der nach Hanns Scharff benannten Annahme, zu tiefe Verzweiflung sei der Wahrheitsfindung nicht dienlich oder begünstige die Konfabulation. Diese Annahme hat sich aber nicht halten lassen, und wir nennen sie heute Käse. Andere Stimmen, und durchaus ernstzunehmende Stimmen, wiederum haben behauptet, es seien gerade die Verstockten, und hier insbesondere die Anal-Retentiven, die durch ein Übermaß an Verzweiflung noch verstockter und schließlich vollkommen versteinert würden. Aber auch dies ist widerlegt. Tiefe, existentielle Verzweiflung ist, und das ist der aktuelle Stand der Wissenschaft, der Königsweg zu …» Und so weiter und so weiter.

Carl hatte längst den Faden verloren. Es war alles Gewäsch, das hundertste Zeigen der Instrumente. Er tastete mit der Hand an der Kette hinunter, die tief im Schlamm mit einer Eisenstange ins Gestein getrieben war, und schloss die Augen.

«Bis morgen», sagte jemand. Helen. Und das war offenbar das Schlusswort gewesen. Denn mit Schritten und Stimmen zusammen schwankte das Licht nun davon, und Carl blieb allein zurück in der Finsternis. Im knietiefen Wasser herumrutschend suchte er nach einer stabilen Position. Die Länge der Kette zwischen Wasseroberfläche und Hals betrug keine fünfzehn Zentimeter. Sie war so kurz, dass er sich nicht auf den durchgestreckten Arm stützen konnte, und wenn er sich auf den Ellenbogen stützte, stand ihm das Wasser bis zum Kinn. Er versuchte ruhig zu bleiben. Er schrie.

Er stützte sich links ab, bis die Muskulatur verspannt war, dann stützte er sich rechts ab, bis die Muskulatur verspannt war. Dann wiegte er sich hin und her, bis die Kräfte schwanden. Die Kräfte schwanden rasch, und er wusste, dass er keine Stunde lang würde durchhalten können. Aber nach einer Stunde war er immer noch am Leben und wiegte sich hin und her.

Hatte er anfangs fünf oder zehn Minuten ausharren können, bevor er den Ellenbogen wechseln musste, wurden die Intervalle nun immer kürzer. Wie ein Mensch, der einen schweren Koffer durch die Stadt trägt und von einer in die andere Hand nimmt und ihn schließlich in keiner mehr halten kann. Er versuchte, die Schulter auf die Eisenstange zu legen, er versuchte, ein Kissen aus Schlamm zusammenzuschieben. Er spannte die Bauchmuskeln an, er spannte die Rückenmuskeln an, und als er merkte, worauf es hinauslief, versuchte er, sich zu ertränken. Rückwärts rollte er in die warme, glucksende Stille hinab. Der Schlamm. Der angehaltene Atem. Der Obsidian über den geschlossenen Lidern. Er sah die Wüste. Er sah eine gelbe Wolke. Er sah eine grüne Fahne. Ein Schluck übel riechender Brühe platzte in seinen Mund, und spuckend und würgend schoss er wieder hoch. Er zerrte an der Kette. Er zerrte an der Stange. Linke Seite, rechte Seite. Untertauchen. Wie bei jeder anstrengenden, eintönigen Tätigkeit konzentrierte er sich nicht darauf, was er machte, sondern wie er es machte. Er begann sich selbst Vorträge zu halten und wurde die Vorstellung nicht los, an einem Katheder stehend vor Hunderten Studenten ein Referat über das Überleben in Schlammlöchern zu halten, wenn das Schicksal (oder seine menschlichen Stellvertreter) einen dort unnachsichtig angepflockt hatte.

Folgendermaßen stütze man sich ab, sprach er, und folgendermaßen nicht. Die Gelenke A, B und C seien in diesen und jenen Winkeln anzuordnen, um bei geringstmöglicher Ermüdung maximale Ausdauerwerte zu erzielen. In logarithmisch verkürzten Intervallen habe sodann ein Wiegen und Schaukeln zu erfolgen, auf welches wiederum das modifizierte Stützen … und so weiter und so fort. Auch der letzte Student hatte sein Cahier geöffnet und schrieb mit. Man befand sich ein wenig im Orchideengarten der Physiologie, aber die Vorlesungen des Professors zum idealen Stützen waren so fesselnd, dass selbst Kollegen sie besuchten. Auch die Dauer der Vorlesung war ungewöhnlich. Sie dauerte Stunden und Tage, Wochen und Monate und viele Semester lang, und immer saß in der hintersten Reihe kaugummikauend eine blonde, großbrüstige Studentin mit eigenartiger Mimik.

In einem seiner klareren Momente fand Carl sich ab mit seinem Tod, und erst dieser Gedanke brachte ihn darauf, dass er nicht allein war in der Finsternis. Sie wussten — mussten wissen — , dass ein Mensch in seiner Lage in kürzester Zeit ertrinken und sein Wissen mit sich nehmen würde. Also war da noch jemand, der ihn beobachtete, belauschte und im Dunkeln seine schützende Hand über ihn hielt. Einer von den vieren. Carl hatte ihre Stimmen und Schritte leiser werden hören, er hatte das Licht verlöschen sehen, aber er hatte nicht darauf geachtet, ob es wirklich die Schritte vierer Personen waren, die davongegangen waren.

Er verhielt sich ganz still, und auch die Gegenseite hielt den Atem an. Doch er war sich ganz sicher. Hinter einem Grabstein aus Nacht ein blondes Lockenbündel.

Er hatte schon hin und wieder vor sich hin geredet, jetzt hob er die Stimme. Er sprach mit seinen Angehörigen, beklagte sein trauriges Schicksal, nahm Abschied von Vater und Mutter und versank mit einem theatralischen Schluchzer. Dramatisches Blubbern unter Wasser. Er schlug mit Armen und Beinen, hörte auf, mit Armen und Beinen zu schlagen, und hob lautlos den Kopf. Und atmete. Es kostete ihn ungeheuer viel Kraft, nicht zu stöhnen, nicht zu schnaufen und sich nicht zu bewegen. Sein Zittern versetzte das Wasser in leise Bewegung. Er hörte das Plätschern und das Echo des Plätscherns und das Echo des Echos. Und sonst nichts. Niemand erschien. Er wiederholte das Experiment noch einige Male und vergaß, dass es ein Experiment war. Er sprach jetzt wirklich mit seinem Vater, und sein Vater legte ihm die Hand in den Nacken und führte ihn einen langen, gekachelten Gang hinunter, in dem es nach Chlor roch. Ein weißes Frotteehandtuch lag zusammengefaltet auf der Heizung. Zwei Mädchen in blauen Badeanzügen standen am Geländer des Sprungturms und sahen ihn mit größtmöglicher Gleichgültigkeit an. Die eine ging in die achte Klasse und war die Liebe seines Lebens. Er spuckte Wasser in die Gegend, kam kurz zur Besinnung und schrie und prustete, er wisse, was sie wissen wollten. Er habe es immer gewusst, und die Kapseln aus dem Kugelschreiber seien ihm nicht gestohlen worden, er trage sie in einem hohlen Zahn bei sich, sie müssten nicht warten bis morgen.

«Bis morgen!», leierte das Echo.

63. RÄUMLICHE VORSTELLUNGEN

Und verrichte das Gebet an den beiden Tagesenden und in den Stunden der Nacht, die dem Tage näher sind. Wahrlich, die guten Taten tilgen die bösen. Das ist eine Ermahnung für die Nachdenklichen.

Sure 11, 114

Am nächsten Tag war er noch immer am Leben. Er wusste nicht, wie er es geschafft hatte, er wusste nicht, ob er sich darüber freuen solle, aber er spürte keine Erleichterung, als er die Schritte mehrerer Personen hörte. Außer Durst und Schmerz spürte er gar nichts mehr. Ein Stück Kot trieb irgendwo neben ihm im Wasser. Sein Gesicht war mit Schlamm besprenkelt und aufgequollen. Wenn es stimmte, was eine hinter einem Licht verborgene Stimme behauptete, dass sie ihn nur eine Nacht alleingelassen hatten, dann hatte sein Zeitgefühl sich um das Fünf- oder Sechsfache verlangsamt.

Unter den Lichtern sah er drei Paar Schuhe. Braune Schuhe, braune Schuhe, Frauenschuhe. Niemand mit aufgekrempelten Hosen.

«Carthage hat leider den Schlüssel mitgenommen. Aber dafür haben wir das hier.»

Cockcroft hockte sich ans Ufer. Helens Hand hielt einen Bolzenschneider. Ein riesiges, friedliches Schaf geisterte durch den Raum und knabberte Carls Rücken an.

«Ksch», sagte er.

«Und ist Ihnen jetzt eingefallen, was Sie sagen wollten? Nein? Wir wickeln nämlich gerade den Posten hier ab, und es könnte jetzt einige Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis wieder ein menschliches Wesen in diese Höhle hinabsteigt. Also, frei von der Leber weg: Wollen Sie uns noch etwas mit auf den Weg geben? Nichts? Finden Sie das komisch? Das ist bedauerlich. Sehr bedauerlich.»

Cockcroft redete, Helen redete, und dann redete wieder Cockcroft. Aber weitere Fragen zu beantworten fühlte Carl sich nur unter Wasser imstande. Einmal sagten sie, sie würden ihn nun allein lassen. Dann wieder sagten sie, sie würden ihm noch eine Chance geben. Helen legte den Bolzenschneider neben sich auf den Felsen. Er trank ein wenig schlammige Brühe. Unbeweglich saßen die Schemen da und beobachteten ihn.

«Überleg’s dir.» Helen beugte sich vor und spritzte mit dem Zeigefinger Wasser in seine Richtung.

«Ich sterbe», sagte er.

«Du stirbst nicht. Kennst du die Sache mit der Ratte, die man in ein Fass wirft? So was kann sich tagelang hinziehen.»

«Scheiß auf die Ratte. Scheiße. Scheißratte.» Er versuchte, seinerseits mit Wasser zu spritzen, konnte aber die drei Meter, die ihn von Helen trennten, nicht überbrücken.

«Du solltest wenigstens so viel Klugheit besitzen, eine letzte Unterhaltung zu einer Bemerkung zu nutzen, die nicht absolut gegenstandslos ist.»

Er dachte nach und sagte: «Ich finde dich zum Kotzen.»

Die Schemen erhoben sich. Die Lichtstrahlen der geschwenkten Lampen schoben Schattenfelsen durch den Raum. Schritte. Ziegen. Finsternis. Er wartete.

Er hatte sich gut eingeprägt, wo der Bolzenschneider liegen geblieben war. Vielleicht dreieinhalb oder vier Meter von seinem ausgestreckten Arm entfernt, auf einem flachen Felsen am Ufer.

Um sich die Hose auszuziehen, musste er immer wieder untertauchen. Mit beiden Händen schob er sie sich über die Hüfte. Seine linke Hand, an der ihn das Ouz gebissen hatte, schmerzte deutlich stärker als die rechte, durch die Bassir ihm den Brieföffner gestoßen hatte. Schlamm verklebte seine Augen. Er hoffte, dass es Schlamm war.

Er riss sich den Pullover über den Kopf und knotete einen Ärmel mit einem Hosenbein zusammen. Es war ein mühsames Gezerre, und es mochte damit zusammenhängen, dass sein Geist bereits auf Notstrom lief, oder damit, dass das räumliche Vorstellungsvermögen im Dunkeln noch einmal zusätzlich gelitten hatte, aber er brauchte eine Ewigkeit, um zu begreifen, dass der Pullover auf der Kette festhing und für seine Zwecke unbrauchbar war. Er knotete die Hose wieder los und zerrte den Pullover hin und her. Er versuchte, ihn der Länge nach zu zerreißen, aber mit seinen Fingern konnte er ihn nicht festhalten. Nebelschwaden tanzten vor seinen Augen. Er schrie, und irgendeine synästhetische Fehlverschaltung verwandelte seine Schreie in Farben. Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Also ließ er den Pullover Pullover sein und versuchte es allein mit der Hose.

Er knotete ein Hosenbein zu, füllte ein paar Handvoll Schlamm hinein und prüfte das Gewicht. Dann maß er die Länge. Er rechnete: etwa dreißig Zentimeter Kette plus eine halbe Schulterbreite plus ein ausgestreckter Arm plus die Länge der Hose, die vielleicht einen Meter fünfzig betrug. Das waren maximal drei Meter. Das würde nicht reichen.

Er schwang die Hose am einen Bein wie ein Lasso nach vorn und hörte das andere Ende im Wasser aufklatschen. Beim zweiten und dritten Versuch dasselbe. Er kam nicht einmal bis ans Ufer. Vielleicht lag es an der Wurftechnik? Auf den linken Ellenbogen gestützt, in halb liegender Position, hing die Hose beim Ausholen irgendwo hinter seiner rechten Schulter im Wasser und kam schief und spritzend heraus. Einmal schleuderte er sich selbst das Gewicht an den Kopf. Jeder Wurf kostete Kraft.

Vor dem vierten Versuch drapierte er sich den Stoff sorgfältig in zwei Schlingen über die rechte Schulter und versuchte dann, das Gewicht im zugeknoteten Hosenbein nicht zu werfen, sondern zu stoßen; was riskant war. Denn er musste mit ein und derselben versehrten Hand nicht nur das Gewicht von sich fortstoßen, sondern auch das zweite, glitschige Hosenbein festhalten. Entglitt ihm das Ende, war das sein sicherer Tod.

Er konzentrierte sich lange und drückte den Arm ins Dunkel. Sofort gab es ein Aufschlaggeräusch am Ufer, nasses Klatschen auf Fels. Er holte das Lasso ein und stieß es vier- oder fünfmal in leicht unterschiedliche Richtungen wieder davon. Immer traf er Felsen am Ufer. Aber mehr auch nicht. Er legte sich flacher ins Wasser, straffte die Kette und glaubte, sich allein durch systematisches Vorgehen aus der Misere befreien zu können. Die Serie der Aufschlaggeräusche am Ufer setzte sich in seinem Kopf zu einer rettenden Landkarte zusammen, die er nur Planquadrat für Planquadrat sorgfältig beackern musste, um irgendwann mit Sicherheit den Bolzenschneider zu treffen. Diese Momente wurden abgelöst von der Ahnung, dass der Bolzenschneider weit außerhalb seiner Reichweite lag. Dann wieder glaubte er, im Dunkeln die Orientierung verloren zu haben. Er drehte sich wie ein Minutenzeiger im Kreis und warf die Hose in alle Richtungen aus, nur um festzustellen, dass er in drei Vierteln der Fälle nicht bis zum Ufer kam.

Die Richtung, die er ursprünglich für die richtige gehalten hatte, blieb dadurch immerhin vage erkennbar. Das Ufer, auf dem Helen gestanden, zu ihm gesprochen und den Bolzenschneider abgelegt hatte, war das am wenigsten weit entfernte gewesen.

Er versuchte es weiter, aber das Geräusch eines sandgefüllten Hosenbeins, das auf ein stählernes Werkzeug fiel, blieb aus. Von Zeit zu Zeit rüttelte er an seiner Halskette, wie um in einem magischen Akt einen metallenen Klang heraufzubeschwören. Er redete vor sich hin, und auf einmal hob sich der Nebel, und er sah dunkle Bäume um den Tümpel herum. Die Bäume streckten ihre blattlosen Äste in einen grauen Himmel, Schneeflocken rieselten herab. Der Tümpel vereiste. In Gleitschuhen lief er darüber hinweg. Seine Mutter ermahnte ihn zur Vorsicht, eine junge Frau mit braunen Augen. Und dann kam der Hund. Wie ein großer, wollener Handschuh sprang das Tier an ihm hoch. Der Christbaum leuchtete auf und brannte und fiel um. Ein Arzt untersuchte ihn mit einem Holzstäbchen im Mund. Das Holzstäbchen durfte man hinterher mitnehmen. In einem Glas standen Bonbons als Dankeschön, der Lehrer verlangte eine Primzahlenzerlegung, und am Rande des Dschungels lebten sprechende Affen, die Menschen jagten, ausstopften und im Museum ausstellten. Er erinnerte sich an das Bild der Freiheitsstatue am Strand, darüber am Himmel ein zuckender Fussel auf der Kameralinse, schlangenhafte Grüße aus dem Reich der Toten. 48 Stunden ohne Schlaf.

Carl kam zu sich, weil er Wasser trank. Er hustete, spuckte Schleim und begann ein eigentümliches Tun. Sein Ellenbogen fuhr mit Schwung zurück, die Hand zur Faust geballt, dann mit gespreizten Fingern nach vorn, am Ende eine Schaufelbewegung nach oben. Immer und immer wieder. Die Zwei, die Drei … und die Siebzehn.

Er sah noch einmal die Amsel, die sich in sein nächtliches Zimmer verirrt hatte, und ein Mann mit einer goldenen Armbanduhr öffnete die Fenster und ließ sie hinaus. Der Geruch eines verbrannten Kuchens. Ein junger Mann, der sich eine Zigarette verkehrt herum in den Mund steckte und ins Gespräch vertieft ihren Filter anzündete. Der Großvater, der das Auto wusch, in verblichenen Farben für immer erstarrt, nur das Wasser aus dem Schlauch sprudelte unaufhörlich und bis in alle Ewigkeit silbern auf die Motorhaube.

Er sammelte mechanisch die klatschnasse Hose ein. Er fragte sich, was sie mit Hakim von den Bergen gemacht hatten. Vor Kälte zitternd versuchte er, den Pullover von der Eisenkette zurück über seinen Oberkörper zu streifen. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, in den nassen Klumpen hineinzukriechen und ihn sich über den Kopf zu zerren.

Die Geräusche verstummten für einen Moment, und ein Gedanke torkelte klumpfüßig auf ihn zu: Wenn man sich dieses Stück Stoff über den Kopf stülpen konnte — konnte man es dann nicht auch weiter über den Körper hinab und bis zu den Füßen herabziehen? Er wagte die Frage im Dunkeln nicht zu beantworten. Sein räumliches Denkvermögen hatte ausgesetzt.

Er sah sich selbst wie eine Comicfigur am Hals mit einem riesigen Gewicht verbunden, das die Form und Größe der Erdkugel hatte. Zu dieser Seite hin ging es nicht. Aber zur anderen? Durch wie viele der zwei bis vier Öffnungen, aus denen ein Pullover seiner Meinung nach bestand, musste der taube, aufgequollene Fleischklumpen, der er selbst war, hindurch, bis der Stoff zur Verfügung stand? Er wusste es nicht. Er konnte es nur ausprobieren.

Unter Wasser liegend schob er einen Arm am Hals entlang hoch. Das ging ganz leicht. Aber schon beim zweiten Arm gab es Probleme. Kurz vor dem Ellenbogen blieb er in der Halsöffnung stecken. So unzerreißbar der Pullover war, so unelastisch war er auch. Carl versuchte, sich wieder freizumachen, aber nun konnte er weder vor noch zurück. In seiner Zwangsjacke sank er in den Schlamm, zappelnd wie ein Fisch an Land. Er schnappte nach Luft. Er tauchte. Und auf einmal kam der andere Ellenbogen an seinem Gesicht vorbeigeschossen. Prustend wälzte er sich hoch. Beide Arme hingen ihm zusammengebunden über dem Kopf, und die Unterarme führten ein verzweifeltes Ballett auf, als versuche er, pantomimisch einen Hasen darzustellen. Er tobte. Er kippte um. Dann ruckte der Pullover auf seine Brust und nahm ihm den Atem. In einem letzten Kraftakt zerrte er sich das Kleidungsstück noch unter Wasser auf die Hüfte hinunter. Und der Rest war einfach. Mit dem Pullover in Händen blieb er eine Minute liegen und versuchte, sich zu entspannen.

Dann suchte er nach seiner Hose, um sie an den Pullover zu knoten, aber die Hose war verschwunden. Drei-, viermal kroch Carl auf den Ellenbogen um die Eisenstange herum, ohne die Hose zu finden, und als er sie endlich gefunden hatte, war das Gewicht darin verschwunden, und der Knoten hatte sich gelöst.

Er machte einen neuen Knoten und stellte fest, wie kurz sein Wurfgerät nun geworden war. Er löste den Knoten, machte ihn weiter am Rand noch einmal, aber es war immer noch zu kurz. Stöhnend tastete er von einem Ende zum anderen, und es wurde immer rätselhafter. Von der Hose schien etwas zu fehlen, und in der Mitte hing schlaff ein großer Lappen. Allein das Herumwälzen auf der Hose konnte sie doch nicht zerrissen haben?

Auf der Suche nach übersehenen Knoten, Knäueln oder Hosenbeinen ließ er den Stoff Stück für Stück durch seine Hände gleiten. Aber er konnte nichts weiter ertasten. Er glaubte, den Verstand verloren zu haben. Er trommelte auf seine blinden Augen. Und erst, als er sich den Stoff aufs Gesicht drückte und mit der Zunge darüberfuhr, spürte er, was er mit den tauben Händen schon lange nicht mehr spüren konnte, dass es kein Hosenstoff war, sondern etwas Gestricktes. Der Pullover. Er hatte die ganze Zeit seinen Pullover untersucht.

«Jetzt mal der Reihe nach», sagte er halblaut zu sich selbst, und weil der Klang seiner eigenen Stimme einen beruhigenden Eindruck auf ihn machte, den Eindruck einer übergeordneten Vernunft, die deutlich weniger angegriffen wirkte als seine eigene, setzte er sein Selbstgespräch noch lauter fort.

«Legen wir erst mal den Pullover hierhin», sagte er und legte sich den Pullover auf die Schulter. Dann tastete er die Umgebung ab. Er konnte die Hose aber noch immer nicht finden und sagte: «Kein Problem. Gar kein Problem. Wenn sie hier nicht ist, dann ist sie hier. Oder hier. Oder hier.»

Er legte sich so flach wie möglich auf den Bauch, spannte die Kette und grapschte mit beiden Händen vor sich im Schlamm herum. Er tauchte unter und machte Schwimmbewegungen.

«Jetzt nicht in Panik geraten», sagte er. Er streckte ein Bein nach vorn und kroch, den Fuß wie einen Haken herumzirkelnd, einmal ganz um die Eisenstange. Tatsächlich verfing sich ein langes Stück Stoff an seinem Knöchel, und sofort vergewisserte er sich, dass der Pullover noch auf seiner Schulter lag. Er lag noch da.

«Bestens», sagte er, «alles bestens.» Er knotete den Pullover an ein Hosenbein.

Dann maß er die Länge des Wurfgeräts und war enttäuscht. Es war kaum anderthalbmal seine Spannweite. Das Zusammenknoten verbrauchte viel zu viel Stoff. Aber er wagte auch nicht, den Knoten noch viel sparsamer anzulegen. Wenn die Stücke sich voneinander lösten und eines davonflog, war er verloren.

Bevor er den ersten Wurfversuch unternahm, legte er eine kurze, feierliche Pause ein. Dann Konzentration und die bewährte Kugelstoßtechnik: Mit dem gewohnt schlappen Geräusch klatschte der nasse Stoff auf die Felsen.

Aber er hatte die Orientierung nun völlig verloren. Den zweiten Wurfversuch setzte er neunzig Grad weiter rechts an: dasselbe nasse Klatschen. Der dritte Wurfversuch war ein Versehen, er hatte vergessen, sich weiterzudrehen. Wieder gab es ein nasses Klatschen … und diesmal vermischt mit einem leicht metallischen Klingeln. Starr vor Schreck hielt er den Wurfarm sekundenlang ins Dunkel ausgestreckt, bevor er wagte, das Lasso langsam einzuholen. Langsam, noch langsamer. Er hörte ein Scharren von Metall auf Fels. Einen Zentimeter, zwei, fünf. Dann verlor das Schleifgeräusch die metallische Komponente.

Carl füllte ein wenig mehr Schlamm als Gewicht in die Hose und warf erneut. Diesmal verfehlte er den Bolzenschneider. Aber das war kein Problem. Seine Schmerzen waren verstummt. Sonderbare, bis zum letzten Moment vom Körper zurückgehaltene Botenstoffe wurden in seinem Gehirn ausgeschüttet.

Mit neuer Kraft und Zuversicht stieß Carl das Gewicht ins Dunkel und spürte im letzten Moment, wie der Ärmel des Pullovers, den er hätte festhalten sollen, seinen klammen Fingern entglitt. Ein Augenblick der Stille. Dann hörte er am fernen Ufer einen Schwall nasser Textilien niederrauschen, begleitet von einem letzten höhnischen Klingeln.

Diesmal brauchte Carl keine zehn Sekunden, um sich zu vergewissern, dass Hose und Pullover vollkommen außerhalb seiner Reichweite lagen, weder mit Händen noch mit Füßen zu angeln, in unendlicher, dunkler Felsenferne, weiter entfernt als das Ufer, weiter entfernt als sein eigenes Leben.

Er spürte, dass er bis zu diesem Moment geglaubt hatte, unsterblich zu sein. Er schlang sich die Kette um den Hals. Er drückte das Gesicht in den Schlamm. Er schlug die Stirn gegen die Eisenstange. Mit einem Schrei tauchte er wieder auf. Er schrie den Namen, der ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. Jetzt hallte er von den Wänden wider ins Nichts.

64. AÉROPORT DE LA LIBERTÉ

Die blonden Haare geben eigentlich Gescheitheit. Geradeso wie sie wenig in das Auge hineinschicken, so bleiben sie im Gehirn mit ihren Nahrungssäften, geben ihrem Gehirn die Gescheitheit. Die Braunhaarigen und die Schwarzhaarigen und die Schwarzäugigen, die treiben das, was die Blonden ins Gehirn treiben, in die Augen und Haare hinein.

Rudolf Steiner

Man hatte ihr ein Ticket für elf Uhr besorgt. Die anderen waren schon am Abend zuvor abgereist. Helen packte ihre Sachen, nahm ein Taxi und erreichte den Flughafen im Norden Targats gegen acht. Dort erfuhr sie, dass der Flug wegen technischer Schwierigkeiten ausfalle. Zwei nicht ausgebuchte Maschinen der Air France, die wenig später nach Spanien und Südfrankreich abgingen, musste sie auslassen, da sie mit der Waffe im Gepäck auf ihre amerikanische Fluglinie angewiesen war.

Nach einigem Hin und Her (und dem Protest anderer Flugreisender, die weniger Glück hatten) wurde sie schließlich auf die Nachtmaschine umgebucht. Jetzt hatte sie noch zwölf Stunden Zeit. Sie deponierte ihr Gepäck im Schließfach und fand im Obergeschoss des Flughafengebäudes ein schönes, auf exotische Art europäisch wirkendes Café. Sie las den Herald Tribune und eine französischsprachige Zeitung, die jemand auf ihrem Tisch vergessen hatte. Es beruhigte sie, beim Durchblättern beider Zeitungen auf nichts Vertrautes zu stoßen.

Die Tasse, in der ihr Kaffee serviert wurde, war aus weißem Porzellan und hatte ein am Rand aufgedrucktes Muster aus kleinen blauen Sicheln, die sich mit Sternen abwechselten. Es war das gleiche Fabrikat, das im Küchenschrank des Bungalows 581d gestanden hatte, das gleiche Fabrikat, das sie einige Tage lang jeden Morgen auf den kleinen Frühstückstisch gestellt hatte. Zwei Gedecke. Sie blickte eine Weile ins Leere und fragte sich, wie ihr Leben in dreißig oder vierzig Jahren wohl aussähe. Ihr Leben, ihr Glück und möglicherweise ihre Erinnerung an die Jetztzeit, ihre Erinnerung an das kleine, vormoderne, halbzivilisierte, gewalttätige, schmutzige Land im Norden Afrikas, von dem sie hoffte, es in wenigen Stunden für immer verlassen zu haben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der namenlose Mann noch immer am Leben war, war nahe null. Schon bei ihrem letzten Besuch hatte er keinen guten Eindruck gemacht. Noch einmal sechsunddreißig Stunden waren seitdem vergangen, und man musste kein Pessimist sein, um vorherzusagen, dass sich die Wasseroberfläche über ihm für immer geschlossen hatte.

Der Flughafenlautsprecher rief Mr. und Mrs. Wells zum Abfertigungsschalter der Air France. Helen schaute durchs Panoramafenster und entdeckte im Gewimmel der weißen, blauen und sandfarbenen arabischen Häuser rings um den Flughafen ein Neonschild, das ihre Aufmerksamkeit fesselte.

Sie sah auf die Uhr, rief den Kellner und zahlte. Dann ging sie zu ihrem Gepäckschließfach und schaute sich über die Schulter nach Passanten um. Unauffällig nahm sie zwei schwere Gegenstände aus ihrer Reisetasche und schob sie im Innern des Schließfachs in eine Plastiktüte. Mit der Plastiktüte verließ sie das Flughafengebäude, überquerte die Straße und blieb vor dem Haus mit dem Neonschild stehen. Es war ein Autoverleih.

Der günstigste Mietwagen war ein sandfarbener R4 mit Revolverschaltung. Helen würgte ihn einige Male ab, bevor sie aus dem dichten Verkehr heraus auf die Piste nach Tindirma kam. Sie trat das Gaspedal voll durch. Der Anblick der beiden sich küssenden Ziegelkamele bedrückte sie wie der Blick in eine Kiste mit staubigen Jugenderinnerungen.

Was genau zu tun sie beabsichtigte — falls sie überhaupt etwas beabsichtigte — , wusste sie selbst noch nicht. Der Auftrag war abgeschlossen. Man hatte nichts Entscheidendes herausgefunden, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit sichergestellt, dass eine Übergabe der Pläne nicht erfolgt war. Nach Schilderung der vielfältigen Komplikationen hatte die Zentrale in der Nacht den Rückzug angeordnet, und man hatte das Problem, wie es nun hieß, in den Bergen sich selbst überlassen. Freilassen konnte man den Mann nicht.

Was also wollte sie noch? Sie parkte den Wagen an der bekannten Stelle, stieg über den Grat und sah auf der gegenüberliegenden Seite des Berges den Stolleneingang, das Windrad und die Fässer. Die Hütte sah sie nicht. Nur einen tiefschwarzen Fleck. Während sie durch das Tal ging, wehte ihr schwacher Brandgeruch entgegen.

Sie nahm die Waffe aus der Tüte, schwenkte die Trommel heraus, hielt ihren Finger in den Rahmen, schaute durch den Lauf, schob die Trommel zurück, steckte sich Waffe und Taschenlampe in den Gürtel und erstieg vorsichtig das kleine Felsplateau.

Die verkohlten Balken der Hütte waren zu einem Haufen zusammengefallen. In der Mitte rauchte es schwach. Helen sah sich um. Die einzige Erklärung, die ihr einfiel, war, dass Cockcroft und Carthage versucht hatten, Spuren zu beseitigen. Sie waren die Letzten vor Ort gewesen. Aber sehr wahrscheinlich erschien ihr das nicht. Sie spannte den Hahn.

Es war ein schwüler, wolkenverhangener Spätnachmittag, und ihr graute ein wenig vor dem Abstieg in der Dämmerung — wegen der Dämmerung. Zwar war es im Grunde gleichgültig, zu welcher Tageszeit man in stockdunkle Höhlen hinabstieg, ob am Tag, in der Dämmerung oder bei Nacht; aber die Vorstellung, dass Finsternis sich über das Land senkte, während sie im Dunkeln unter der Erde umherging, und dass sie nicht ins Licht zurückkommen würde, sondern in sternenlose Nacht, eine Nacht wie unter tiefster Erde, beunruhigte sie auf eine Weise, dass auch ein sehr viel einfältigerer Mensch als Helen sich zu fragen begonnen hätte, ob hier nicht Scham- und Schuldgefühle in harmlosen Landschaften und Lichtverhältnissen Verstecken spielten.

«Unsinn», sagte sie zu sich selbst und folgte dem künstlichen Lichtstrahl in den Stollen hinab. Ab und zu schwenkte sie die Seitenwände ab, um die Markierungen der rußigen Handflächen zu studieren, und Schritt für Schritt legte sich ihre Aufregung. Schon vor dem Eintritt in die unterste Höhle rief sie Carls Namen. Keine Antwort. Nur Dunkel und Stille und der brackige Geruch des Tümpels.

Fast das Erste, was sich im Scheinwerferkegel verfing, war ein schlammiges, verknotetes Kleiderbündel, das auf dem Bolzenschneider auf den Felsen lag, umgeben von einem Kreis von Feuchtigkeit. Helen wusste sofort, was hier versucht worden — und Versuch geblieben — war.

Fast eine Minute lang stand sie am Ufer vor dem Tümpel und hielt den Atem an. Noch einmal rief sie seinen Namen. Sie hörte das leiernde Echo ihrer Stimme, und ein Schauder lief ihr über den Rücken. Aber es war nicht der Gedanke daran, was sich unter der spiegelglatten Wasseroberfläche verbergen mochte, der ihr die Härchen auf dem Rücken aufstellte, es war der Klang ihrer eigenen Stimme. Genauer gesagt, die Erinnerung an den Abscheu vor ihrer eigenen Stimme, der sich seit ihrer Jugend sonderbar in ihr erhalten hatte. Die Fremdheit, die Verunsicherung und der kleine Gedanke: Wie viel Zeit vergangen ist. Wie jung ich einmal war. Und wie sinnlos das alles.

Warum das ausgerechnet in diesem Moment einen so starken Eindruck auf sie machte, wusste sie nicht. Und es ging auch rasch vorüber.

Lange Minuten saß sie im Auto, ohne den Zündschlüssel herumzudrehen. Sie rauchte zwei Zigaretten und betrachtete eine Fliege auf der Windschutzscheibe. Dann startete sie den Motor und schaltete das Fernlicht ein.

65. DAS WEITERE GESCHEHEN

Ach, die Unentzifferbarkeit des Vorhersehbaren!

Calvin Scott

Wenn man wollte, könnte man die Chronik der unerfreulichen Ereignisse an dieser Stelle guten Gewissens abbrechen. Viel mehr als das Berichtete hat sich nicht ereignet.

Im Sheraton wurde ein Schlüssel vermisst. Im Leeren Viertel kam ein Mann zu Reichtum, der eine günstig erworbene Espressomaschine zum Zehnfachen ihres Preises weiterverkaufen konnte. Eine junge hellhäutige Frau (normannischer Typus) und ihr dreijähriges Kind wurden mit aufgeschlitzten Kehlen in den Bergen aufgefunden. Im Rachen des Jungen entdeckte man ein Amulett in Form eines kleinen Teufelchens. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt.

Weder Spasski noch Moleskine erhielten den Nobelpreis. Ihr Ruhm ist verblasst, auch wenn der Umfang ihrer Wikipedia-Artikel das nicht vermuten lässt. Der afrikanische Einheitsstaat wurde nicht gegründet.

Der Polizeigeneral von Targat sah sich gezwungen, seine drei halb arabisch-, halb europäischstämmigen Beamten Canisades, Polidorio und Karimi durch weniger gut ausgebildete Beamten zu ersetzen. Canisades’ Leiche wurde im Niemandsland der Wüste in der Nähe einer verlassenen Schnapsbrennerei gefunden, mit einer Drahtschlinge um den Hals. Er war dort Hinweisen auf das Verschwinden zweier Fellachensöhne nachgegangen, die irgendjemand zu Unrecht in Zusammenhang mit dem Vierfachmord in einer ländlichen Kommune gebracht hatte. Als Canisades’ Mörder hängte man einen alten Schnapsbrenner, der keine Söhne, kein Alibi und, wenn man ehrlich sein wollte, auch kein Motiv hatte.

Amadou Amadou schlug sich in den Süden durch, verkaufte ein am Fahrersitz blutbekleckertes Fahrzeug auf der Straße nach Nouakchott an Nomaden und wurde zuletzt in der Gegend von Dimja gesehen, wo sich seine Spur verliert.

Karimi schied 1973 aus dem Dienst aus, nachdem er während der fünften Säuberungswelle von aufgebrachten Anwohnern des Salzviertels vom Bulldozer gezerrt und beinahe gesteinigt worden war. In einem französischen Krankenhaus, das auf Rückenmarksverletzungen spezialisiert war, ließ er sich fast zwei Jahre lang behandeln. Danach kehrte er im Rollstuhl sitzend und noch misanthropischer als zuvor an die Küste zurück. Eine angebotene Stelle im Innendienst lehnte er ab. Fast ein Jahr lang half er in der Bar seines Bruders am Ausschank und vergraulte die Gäste, bevor ihm eine kleine Rente bewilligt wurde und er sich der Kunst der Ölmalerei zuwandte.

Auf die Malerei war er mehr oder weniger zufällig bei einem seiner Ausflüge durchs Hafenviertel gekommen. In einem Schaufenster dort hatte er einen Malkasten mit Zinktuben entdeckt, die wie pralle, bunte Würste um ein Büschel Marderhaarpinsel lagen — für Touristen und ganz und gar überteuert. Unter Hinweis auf seine alten Kontakte handelte er den Preis auf ein Achtel herunter und widmete sich fortan ganz dem phantastischen Realismus.

Er konnte einige Bilder verkaufen, nahm an kleineren Ausstellungen teil, und auch eine Beteiligung an einer Gruppenausstellung im Jeu de Paume in Paris 1977 ist verbürgt. Der Katalog zur Ausstellung ist nur schwer erhältlich, aber wer sich dafür interessiert, findet noch heute ein mit Q. Karimi ’78 flott signiertes Gemälde im Polizeipräsidium von Targat. Seit mittlerweile dreißig Jahren schmückt es dort die Eingangshalle und wartet auf mit einer ansprechenden Zusammenstellung schöner Frauengesichter, grausiger Totenschädel und gespenstisch kahler Bäume, über denen Fledermäuse kreisen. Der Künstler verstarb 1979 an einer Lungenentzündung.

Polidorio schließlich war, wie wir uns erinnern, an einem Samstagmorgen des Jahres 72 mit seinem Mercedes in Richtung Tindirma aufgebrochen und galt seitdem als verschollen. Ein Foto von ihm hing eine Weile lang überall in Targat und Tindirma und nach einiger Zeit nur noch in Targat und schließlich nur noch im dortigen Polizeipräsidium. 1983 wurde er für tot erklärt, und diese Erklärung ist bis heute nicht angefochten worden.

In einem Brief schrieb Heather Gliese mir, ihre Mutter habe ein glückliches und erfülltes Leben geführt und sei rüstig, bei guter Gesundheit und wenige Tage vor ihrem zweiundsiebzigsten Geburtstag sanft entschlafen. Sie hinterlasse vier Enkel, ihre Bibliothek umfasse achttausend Bände in mehreren Sprachen, und ein immer wiederkehrender Albtraum, der sie in ihren mittleren Jahren eine Weile lang beunruhigt hatte bis hin zu einer unangenehmen Form der Schlaflosigkeit, sei zuletzt von selbst wieder verschwunden, ohne die Hilfe eines Therapeuten.

Mit einigen harmonischen Akkorden könnte man das Buch also ausklingen lassen. Ein kurzes Landschaftspanorama vielleicht noch, ein Kameraschwenk über den gezackten Schattenriss des Kangeeri-Gebirges vor abendlicher Dämmerung, in rosa und lila Dunst getauchte Täler, Schluchten voller purpurnem Schatten, ein paar Fledermäuse, ein malerisches Maultier. Ry Cooder spielt Gitarre. Von links wandert ein Windrad ins Bild.

Man könnte allerdings auch, wenn man ganz furchtlos ist und sich in der richtigen Stimmung befindet, noch einen Blick zurück auf eine nicht ganz unwesentliche Figur dieser Geschichte werfen, auf einen Mann, dessen verworrenes Schicksal uns eine Weile lang in Atem gehalten hat, einen Mann, der weder willentlich noch zufällig unter die Räder des Schicksals geriet, sondern einzig und allein durch eine falsche logische Schlussfolgerung; durch den Glauben an die Unschuld eines Schuldigen. Auf einen Mann mit Gedächtnisverlust.

Wollen wir das? Ein kurzer Blick zum Kameraassistenten, flüchtiges Schulterzucken beiderseits, und schon zoomt die Kamera die Öffnung eines Bergwerksstollens heran, die als winziger Punkt auf der gegenüberliegenden Bergflanke zu erkennen war, nun rasch größer wird, dunkler wird, bis sie die ganze Leinwand einnimmt und wir mit einer Mischung aus rasender Kamerafahrt und komplizierter Tricktechnik tief in das Innere des Berges hineinfliegen.

Hätten wir ein Nachtsichtgerät zur Verfügung, könnten wir nun grün flirrende Schattenbilder eines schlammigen Tümpels mit menschlicher Gestalt erkennen. Um den Tümpel herumfahrend zeigte das schwankende Bild uns den verkrampften Oberkörper von allen Seiten, zeigte den seit vielen Stunden schon verzweifelt mit dem Durst und dem Schlaf und dem Tod ringenden Mann. Dann ein rascher Schnitt auf das von aller Hoffnung verlassene Gesicht. Mit der bekannten Mischung aus Voyeurismus und Empathie könnten wir das Leiden dieses Menschen vorführen, könnten ihm zusehen bis zu seinem endgültigen Tod oder seiner sich aus den bisher bekannten Umständen nicht schlüssig ergebenden Rettung.

Wir könnten allerdings auch einräumen, dass wir über ein solches Nachtsichtgerät nicht verfügen. Und verfügten wir darüber, was nützte es uns in Wahrheit? Es ist dunkel in der Höhle, so dunkel, dass nicht ein Schimmer von Restlicht, der auf irgendeine technische Weise verstärkt werden könnte, in die Tiefen dieses Berges hinabdringt. Vollkommene, alles durchdringende, undurchdringliche Finsternis umgibt uns, sodass wir den Leser bitten müssen, sich das Folgende allein in seiner Phantasie vorzustellen.

66. SCHÖNE ERINNERUNGEN

The ball I threw while playing in the park


Has not yet reached the ground.

Dylan Thomas

Carl stützte sich auf den linken Ellenbogen. Er stützte sich auf den rechten Ellenbogen. Er erinnerte sich, wie er einmal hinausgeschwommen war, im frühen Morgenlicht, in den grauen Ozean hinein. Es musste der Atlantik gewesen sein oder ein anderes großes Meer. Um ihn herum war gelber Nebel, der dichter geworden war über dem Wasser, nichts als gelber Nebel, das Ufer war lange verschwunden. Er hatte nicht wirklich die Orientierung verloren, aber eine abstrakte, namenlose Angst war plötzlich in ihm aufgestiegen. Allein auf dem Meer und mit nichts Greifbarem um sich herum und nichts unter sich als bodenlosem Wasser, in einer Welt ohne Formen, eingehüllt in gelbe Watte, hatte er geglaubt, den Tod zu fühlen. Noch hörte er die brütenden Möwen am Ufer, aber was, wenn sie aufgeflogen waren? Er schwamm zurück, und als er doppelt so lange geschwommen war, wie er seiner Meinung nach zum Strand hätte brauchen dürfen, hörte er die Schreie der Möwen hinter sich. Entsetzt änderte er abermals seine Richtung. Sein Körper kühlte aus, die Muskeln erlahmten, und ihm fiel ein, dass es das Klügste wäre, auf der Stelle zu bleiben und zu warten, bis die Sonne den Nebel auflöste, um mit letzter, verbliebener Kraft den Rückweg antreten zu können. Aber in seiner Panik fühlte er sich dazu nicht imstande. Immer weiter schwamm er in der einmal eingeschlagenen Richtung fort, und als er sich schon verloren glaubte, hob sich der Nebel, und er sah, dass er die ganze Zeit parallel zum kaum einen Steinwurf entfernten Ufer geschwommen war.

Jetzt, in einer Schlammgrube in der Tiefe des Berges, begraben unter kilometerdickem Fels, schien ihm diese Erinnerung eine der heitersten seines Lebens. Er wünschte sich, noch einmal im großen Meer zu sterben, unter dem gelben Licht des gleichgültigen Himmels, von klarem Salzwasser verschluckt. Gischt spritzte ihm ins Gesicht, Telegraphenmasten huschten vorbei, beide Hände umklammerten das Steuer.

Ein Sandstrahlgebläse war auf seine Windschutzscheibe gerichtet. Er wickelte sich ein Stück Tuch um den Kopf und öffnete die Tür. Eine Eimerladung Sand flog in den Wagen, er schloss die Tür wieder.

Immer wieder kam er zur Besinnung, und dann sah er die Schatten am Ufer. Er dachte eine Weile ernsthaft darüber nach, woran man erkennen könne, ob man schon tot sei, und bemerkte, dass ein Mann neben ihm saß.

«Heiß hier», sagte er, und Carl, der keine Lust hatte, sich mit Geistern zu unterhalten, schwieg. Er betrachtete ein grünes Haus auf der anderen Straßenseite, auf dem eine grüne Fahne wehte.

«Heiß hier», wiederholte der andere.

«Ja», sagte Carl missmutig, tauchte unter und schlug mit dem Kopf gegen die Eisenstange. Es tat fast nicht mehr weh.

«Was ist los?»

«Was?»

«Wie Sie heißen!»

«Wie?»

Ängstlich schaute Carl sich um. Aber es war niemand da, nur ein kleines Mädchen, das einen Minztee vor ihm auf den Tisch stellte. Er verbrannte sich fast den Mund. Mit der Hand wedelte er über dem heißen Tee hin und her und fragte dann: «Wie heißen Sie

«Sie zuerst», sagte der Geist.

«Sie haben angefangen.»

«Was?»

«Sie haben doch angefangen.»

«Na schön», sagte der Geist und ahmte Carls Handbewegung nach.

«Herrlichkoffer.»

«Was?»

«Herrlichkoffer. Nicht so laut. Oder Lundgren. Für Sie Herrlichkoffer.»

«Für mich Herrlichkoffer.»

«Ja! Und jetzt schreiben Sie Ihren Namen hier — hier — hier.»

Der Geist schob einen Notizblock über den Tisch. War das ein Experiment? Oder wollten sie jetzt wirklich seinen Namen wissen? Er fing an zu schreiben, aber noch bevor er sieben Druckbuchstaben gemalt hatte, war der andere schon aufgesprungen und lief die Straße hinunter. «Ihr Notizblock», rief Carl dem Verrückten hinterher, aber der hörte ihn nicht. Und er hatte nicht nur Block und Kugelschreiber vergessen, er hatte auch seinen Tee nicht bezahlt. Das Mädchen fragte Carl, ob er dafür aufkäme.

Er legte Geld auf den Tisch, sie strich die Münzen von der Tischplatte in ihre kleine, schmutzige Hand, und am Ende der Straße bremste ein Chevrolet, aus dem vier Männer in weißen Dschellabahs stiegen. Zufällig sah er sie … und das nächste Bild war: Er rannte. Rannte vor den Männern davon zu seinem Auto, sah, dass der Mercedes zugeparkt war, erblickte eine weiße Dschellabah auf dem Fahrersitz und riss die Tür auf. Warf sich die Dschellabah über und versuchte, in der Menge unterzutauchen. Das Geschrei. Die Männer. Die Wüste. Fast stolperte er über einen kleinen Jungen, der bäuchlings vor ihm im Sand lag. Der Junge hob kraftlos eine Hand. Sein Gesicht war geschwollen, die Haut blätterte rissig von der Stirn. Er trug eine blaue Uniformjacke mit goldenen Tressen und hatte ein Sturmgewehr im Arm. Hosen trug er keine. An einem Knöchel hing ihm eine hellblaue Socke. Unter der Nase ein Ausrufezeichen aus getrocknetem Blut.

«A-a», sagte der Junge kaum hörbar.

«Was?» Carl drehte sich nach seinen Verfolgern um. Dann sah er wieder den Jungen an.

«A-a.»

«Was?»

Der Junge senkte den Kopf, schluckte mit zusammengekniffenen Augen und öffnete mit einem klickenden Laut den Mund.

«As-sa», stöhnte er. Er heulte.

«Ich hab kein Wasser», rief Carl, wand ihm das Gewehr aus den Händen und zeigte über seine Schulter nach hinten. «Tindirma. Da.»

Er rannte. Im Laufen warf er sich den Gewehrriemen über den Kopf und suchte den Sicherungshebel. Das Gewehr hatte keinen Sicherungshebel. Es war aus Holz.

67. DER KÖNIG VON AFRIKA

Wir erschufen den Himmel und die Erde und was zwischen beiden ist nicht zum Spiel. Hätten Wir uns einen Zeitvertreib schaffen wollen, so könnten Wir ihn wohl mit uns treiben, wenn Wir das überhaupt wollten.

Sure 21,16+17

Rhythmisch hämmerte sein Schädel gegen die Eisenstange, und mit einem Mal meinte er undeutlich, ein Nachgeben der Stange zu spüren. «Zu den Waffen, Bürger», murmelte er, riss kraftlos an der Kette und sackte seitwärts um. Drückte sich hoch, schob mit beiden Händen das Metall vor und zurück und wusste nicht, ob sich nur das aufgeweichte Fleisch an seinen Händen bewegte oder auch der Metallstift im Grund.

Wie Kinder, die einen wackligen Milchzahn im Mund spüren und ihn daraufhin so lange mit der Zunge betasten und daran herumdrücken und — schieben, bis bald nicht nur der Zahn, sondern auch die Zunge und die gesamte Mundhöhle so taub sind, dass sie beim besten Willen nicht mehr sagen könnten, ob der Milchzahn jemals lose war, so zog und zerrte Carl an der Befestigung. Er warf sich mit dem Körper dagegen, schaukelte hin und her und setzte das geistlose Pendeln unter entsetzlichen Schmerzen fort, bis seine Kräfte endgültig erlahmten. Das Ergebnis seiner Anstrengungen wagte er lange nicht zu überprüfen, aber als er schließlich den Oberkörper einmal aufrichtete, zog er die Stange ganz ohne Mühe aus dem felsigen Grund.

Er platschte auf allen vieren ans Ufer, fiel mit dem Kopf gegen einen Stein und lag lange schluchzend in der Dunkelheit.

Den schmalen Gang aus der Schlammhöhle hinaus fand er ohne Mühe: um einen großen Fels herum, dort begann der Aufstieg. Rechts und links ertastete er mit Meißelspuren bedeckte Felswände, der Weg war kaum schulterbreit. Die Halskette mit dem Eisenpfahl schleifte hinter ihm her. Alle paar Sekunden verstummte das Geräusch, wenn er innehielt, um einen Arm ins Dunkel auszustrecken. Das Bedürfnis, an Ort und Stelle zusammenzusacken und einzuschlafen, war ungeheuer groß, aber noch größer war jetzt der Wille, die Finsternis so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Wie erwartet wichen die Wände bald zurück. Er erkannte es am Hall.

Wenn er sich richtig erinnerte, befand er sich nun in einem mannshohen Korridor, von dem verschiedene Gänge abzweigten. Wie viele Gänge und welcher davon der richtige war, das wusste er nicht. Kurz entschlossen kroch er in den nächsten Gang zur Rechten, der auch prompt nach oben führte. In langen, gewundenen Schleifen ging es durch den Fels. Dann kam ein kurzes flaches Stück, dann ging es wieder hinauf. Carl spürte, wie die vom Wasser aufgeweichte Haut sich blutig abzulösen begann. Zwei- oder dreimal versuchte er, sich aufzurichten, aber die Angst vor unsichtbaren Abgründen ließ ihn immer sofort zurück auf alle viere fallen. Auch fehlte die Kraft zum Gehen. Und plötzlich versperrte eine Gerölllawine den Weg. Er tastete umher. Seine linke Hand griff in ein glitschiges, stinkendes Etwas. Er versuchte, über das Geröll hinwegzusteigen, aber es reichte bis zur Decke hinauf. Ein schrecklicher Verdacht überfiel ihn.

«Das haben sie nicht gemacht!», rief er. «Das hätten sie nicht machen müssen!» Entsetzlich langsam und taumelnd schlitterte und rutschte und robbte er den ganzen Weg in die mannshohe Höhle zurück, und er wandte sich abermals nach rechts. Er war kaum noch bei Sinnen.

Der nächste Gang führte steil in die Tiefe und der Gang dahinter ebenfalls. In beide kroch er nur wenige Meter hinein, bis das Gefälle ihn davon überzeugt hatte, dass er falsch war.

Danach führte ein Weg wieder bergauf. «Das ist der richtige, das muss er sein», sagte er und schrappte Hand vor Hand voran. Sekundenschlaf überwältigte ihn. Der Gang nahm kein Ende. Aufwärts, dann ein flaches Stück, dann wieder bergauf. Dann versperrte eine Gerölllawine seinen Weg. Mit der linken Hand griff er in ein glitschiges, stinkendes Etwas.

Er hörte sich schreien wie ein zweijähriges Kind, und als er sich ein wenig beruhigt hatte, versuchte er herauszufinden, was das Glitschige eigentlich war. Ob es etwas Verwesendes oder etwas möglicherweise noch Ess- oder Trinkbares war. Aber nach anderthalb Tagen im Schlammloch waren seine Sinne stumpf. Er konnte es nicht erkennen, und dass er überhaupt auf solche Gedanken kam, machte ihm klar, dass sein endgültiger geistiger und körperlicher Zusammenbruch unmittelbar bevorstand.

Zurück in der Höhle markierte er die Sackgasse, die er nun zweimal hinaufgekrochen war, mit einem Stein. Dann überlegte er, wie viele Gänge von der Höhle insgesamt abgingen. Waren es drei? Oder vier? Er wusste es nicht. Er konnte sich nicht erinnern. Um sicherzugehen, kroch er eine weitere schmerzhafte Runde gegen den Uhrzeigersinn. Einer, der hinabführte … noch einer, der hinabführte … dann kam schon der Markierungsstein. Also nur drei Gänge! Eine Sackgasse, ein Gang, der am Schlammtümpel endete, und einer, der in die Freiheit führte. Führen musste. Aber welcher? Der rechte? Der linke? Völlige Dunkelheit senkte sich über sein logisches Denken. Einen Raum mit drei Ausgängen, den man bei Licht gesehen hat, kann man als Gewissheit abspeichern. Drei Gänge, die man in einer nachtschwarzen Höhle ertastet, sind nichts weiter als ein gestaltloser Albtraum. Ihm kam es vor, als müsse der Gang, der nicht unmittelbar neben dem markierten Gang lag, der richtige sein. Aber dann wieder schien es ihm, als ob bei drei Ausgängen immer jeder Gang unmittelbar neben jedem anderen lag. Er hörte sich im Dunkeln keuchen. Seine Intuition verlangte hartnäckig eine Drehung nach links, weil er sich bisher immer rechtsum gewandt hatte, aber die gleiche Intuition sagte ihm auch, dass sein räumliches Denken so verworren war, dass auf die Intuition selbst kein Verlass sein konnte, und so wandte er sich abermals nach rechts.

Der Gang, auf den er so stieß, führte zehn oder fünfzehn Meter steil bergab, wurde dann flacher und verzweigte sich in Form einer Kreuzung.

Beide Seitenarme, wie Carl herausfand, waren lang und tot. Er brachte Markierungen vor den Gängen an und kroch weiter. Seine letzten Hoffnungen schwanden. Im Schlamm hatte er wenigstens noch gegen konkrete Gegner gekämpft, gegen Wasser und Metall. Hier kämpfte er mit dem Nichts. Stickige, heiße, vielarmige Finsternis, die ihn verschlang. Schon verschlungen hatte.

Rechts und links zweigten weitere Wege ab. Er fand keine Steine, mit denen er sie hätte markieren können, und ließ sie unerforscht. Irgendwann bog er in einen Gang, der ihm etwas breiter schien als die anderen. Am Rand lagen Kiesel und Steine, und er versuchte vergeblich, einige davon im Mund mitzuführen. Er hätte reichlich Gelegenheit gehabt, sie zu verwenden. Alle paar Meter gab es nun Abzweigungen. Es ging nach links und nach rechts, bergauf und bergab, und irgendwann sackte er zusammen und blieb liegen. Das Gesicht auf kühlem Fels. Ohne fremde Hilfe würde er diesem Labyrinth nie entkommen. Er hoffte, einfach wegdämmern und friedlich sterben zu können, aber die Endgültigkeit des Todes hielt den Schlaf von ihm ab. Vielleicht diesen breiten Gang noch zu Ende. Auf zerfetzten Händen, Ellenbogen und Knien schleppte er sich durch eine lange, langgezogene Kurve — und da wurde es hell.

Es war ein ganz unwirkliches, jenseitiges, körperloses Licht. Es lag auf keinem Gegenstand, es schwamm wie Nebel vor seinem Auge. Er drehte den Kopf hin und her, aber der Lichtnebel drehte sich nicht mit. Inmitten des Nebels ein Punkt. Er starrte knapp daran vorbei, und der Punkt wurde deutlicher. Mit letzter Kraft kroch er noch zwanzig, dreißig Meter darauf zu, bis er sich vergewissert hatte, dass der Schimmer stetig an Intensität zunahm und nur als mehrfache Reflexion vom fernen Ausgang her kommen konnte. Und dann brach er zusammen.

In einem einzigen, sich endlos wiederholenden Traum sah er sich aus einer Wasserflasche trinken, die Helen ihm reichte.

Als er die Augen aufschlug, lag er in völliger Finsternis. Der Lichtpunkt war verschwunden. Er blinzelte, er drehte den Kopf. Der Punkt blieb verschwunden. Aber er geriet nicht in Panik. Draußen ist die Sonne untergegangen, sagte er sich, die ganze Welt liegt im Dunkel. Und er schlief erneut ein. Sein Körper fieberte. Seine Mundhöhle war eingetrocknet und hart wie Holz. Als er schließlich das Bewusstsein zurückkehren fühlte, wagte er lange nicht zu blinzeln. Ihm war übel vor Hunger und Durst und Schmerzen und Aufregung. Aber da war der Lichtschimmer wieder, und er war deutlicher als zuvor.

Während er darauf zukroch, erschienen die ersten Konturen. Nach zwei Biegungen wurde der felsige Untergrund sichtbar, über den er sich schleppte. Carl hob sich taumelnd auf die Füße. Die Eisenstange schlug an seinen Knien hin und her. Die Luft wurde besser, die Felsen bekamen Form und Farbe, und schließlich erblickte er in gar nicht so weiter Ferne einen von Steinzacken umrahmten Ausschnitt des Himmels.

Mit einem blut- und schlammverkrusteten Arm schirmte er seine Augen gegen das blendende Licht. Auf dem schmalen Felsplateau mit der Hütte des Bergarbeiters blieb er stehen. Er atmete wie ein kleiner Vogel. Das Windrad drehte sich. Der Tag war eben angebrochen.

Lange Minuten stand Carl einfach da und schaute hinaus in die tröstlich menschenleere Welt, eine Welt violetter Bergspitzen, in rosa und lila Dunst getauchter Täler, Schluchten voller purpurnem Schatten. Eine Fledermaus schoss an Carls Schulter vorbei und hinter ihm in den Stollen hinab. Da meinte er plötzlich, ein leises Pochen zu hören. Das Geräusch war so leise, dass er sich nicht sicher war, ob es aus der Richtung der Holzhütte oder aus seiner linken Schläfe kam.

Im selben Moment meldeten sich die lebenswichtigen Fragen zurück: Wie komme ich an Trinkwasser? Wie an medizinische Versorgung? Und vor allem: Wie komme ich hier weg?

Krachend flog die Tür der Hütte auf, knallte gegen einen Stein und schlug wieder zu. Im Innern tobte jemand. Die Tür öffnete sich erneut, und Hakim von den Bergen kam herausgehüpft, nackt bis auf eine zerschlissene Unterhose, die um seine Knie schlotterte. Er sah schrecklich aus. Seine Füße waren mit einem Hanfseil zusammengebunden. Exkremente an seinen Schenkeln festgetrocknet. Um die Handgelenke trug er dicke Fesseln, die Verbindung zwischen ihnen war durchgescheuert. Ungelenk hopste er in den Morgen hinaus, die Unterhose schlackerte auf die Knöchel hinab. Unterm Arm die Winchester. Er starrte Carl an. Er schrie.

«Wir kennen uns», rief Carl und hob beschwichtigend die blutigen Hände.

«Allerdings», sagte Hakim und lud das Gewehr durch. «Scheißamerikaner!»

«Ich gehör nicht zu den andern! Ich bin keiner von denen!»

«Natürlich nicht — und ich bin der König von Afrika.»

«Ich hab dir nichts getan!»

«Du hast mir nichts getan! Nein, nur deine Frau, der stinkende Haufen Kameldung!», brüllte der Alte, legte an und schoss Carl eine Kugel zwischen die Augen.

Um Gleichgewicht bemüht, hüpfte er noch zweimal auf der Stelle, hopste dann in die Hütte zurück und machte sich von den Fußfesseln los. Gegen Mittag packte er seine Habseligkeiten, schleifte Carls Leiche in die Hütte, übergoss alles mit Benzin und warf ein brennendes Streichholz dazu. Dann stieg er mit seinem Bündel in die Ebenen hinab, Hakim III, der letzte der großen Bergarbeiter im Kangeeri-Massiv.

68. DIE MADRASA DES SALZVIERTELS

Tremblez, tyrans, et vous perfides

L’opprobre de tous les partis,

Tremblez! vos projets parricides

Vont enfin recevoir leurs prix!

Tout est soldat pour vous combattre,

S’ils tombent, nos jeunes héros,

La terre en produit de nouveaux,

Contre vous tout prêts à se battre!

La Marseillaise

Die Arme seitlich vom Körper weggestreckt wie ein Gekreuzigter, mit einem blauen Plastikkanister in der einen und einem verrosteten Schraubenschlüssel in der anderen Hand stand Jean Bekurtz auf dem Dach des Schulgebäudes, schaute gen Osten und erwartete den Aufgang der Sonne.

Jean war der Spross einer französischen Beamtenfamilie, der als junger Mann in Indochina gekämpft hatte und — wie seine Mutter dem Hausarzt der Familie anvertraute — nicht ohne leichten Schaden geblieben war.

Nach der Enthebung General Navarres blieb Jean noch einige Zeit in Fernost und begann dann ein unstetes Wanderleben, das ihn an viele Orte der Welt, nur nicht zurück nach Frankreich führte. Um 1960 herum schließlich blieb er an der nordafrikanischen Küste hängen, ein erster Vorbote der Generation, die es als ihre Hauptaufgabe empfand, die Lebensweise ihrer Eltern in Frage zu stellen.

Mit bescheidenem Gewinn verkaufte er Ledersandalen, Mützen, Sonnenöl, Badelaken, Schlüsselanhänger, T-Shirts, selbstgemachten Schmuck, Sonnenbrillen und gelegentlich Kif an Touristen. Es war kein übermäßig erfüllendes Leben, aber es wäre vermutlich noch lange so fortgegangen, wenn Jean nicht eines Tages am Strand von Targat zufällig dem charismatischen Edgar Fowler III begegnet wäre. Die beiden stolperten geradezu übereinander, und sie erkannten einander sofort. Links Siddhartha, rechts Feltrinelli, Brüder im Geiste, und an die ersten Wochen ihrer Freundschaft blieb in Jeans Kopf aus guten Gründen nicht mehr als eine sehr farbenprächtige und zugleich nebelhafte Erinnerung zurück. Gemeinsam bewohnten sie ein winziges Zimmerchen mit Meerblick (Jeans Erinnerung) bzw. Blick über Müllberge (Fowlers Erinnerung), sie begeisterten sich für italienische Filme über die sexuelle Ausbeutung der Frau durch die Gesellschaft, hantierten mit einem Chemiebaukasten für Kinder herum und lasen immer obskurere Schriftsteller, bis sie schließlich (und das Wie und Warum dieses Unternehmens liegt ebenfalls im Dunkel) auf die Idee kamen, eine Kommune in der Wüste zu gründen, die sich durch Gemüseanbau selbst finanzieren sollte.

Fowler lieferte die ideologische Generalausrichtung für das Projekt und rekrutierte im Handumdrehen eine beachtliche Zahl überaus ansehnlicher junger Frauen, während Jean im Wesentlichen die Idee mit der Landwirtschaft beisteuerte.

Als Kind der Großstadt hatte er nicht die geringste Ahnung von dem, was er zu dieser Zeit noch das Wunder des Lebens nannte, aber seine Begeisterung wirkte ansteckend. Barfuß und mit einer gelben Plastikgießkanne in der Hand sah man ihn des Morgens um bläulich-grüne Hirsekeime herumtanzen, die den harten Wüstenboden durchbrachen, und Vorträge halten über das unvergleichliche Gefühl, im Schweiße seines Angesichts die Scholle zu beackern und gerechten Lohn mit Gleichgesinnten solidarisch zu teilen. Es war Jeans überbordender, mitunter verzweifelter Enthusiasmus, der die Gemeinschaft anfangs zusammenschweißte, und es war auch Jean, der als Erster das Interesse am Gemüse wieder verlor.

Die unerträgliche Sonne über dem Kaafaahi-Felsen und der noch unerträglichere Sand! Das kleinkarierte Einpflanzen von Pflanzenkeimen, die einfach nicht wachsen wollten und mit unendlich mühsam herbeigeschlepptem Wasser besprenkelt werden mussten! Das entsprach nicht seinen Vorstellungen vom wilden Leben.

Es kam zu ersten Unstimmigkeiten mit den mittlerweile acht anderen Mitgliedern der Kommune, und schon nach wenigen Wochen war Jean das erste Mitglied, das wegen ideologischer Differenzen und nach endlosen Diskussionen über die Ausübung der freien und in seinen Augen überhaupt nicht freien Sexualität unter in Anführungszeichen erwachsenen Menschen aus der Kommune wieder ausgeschlossen werden musste, von seinem Freund Edgar Fowler persönlich exkommuniziert. Das war im Jahr 1966.

Zurück in Targat lief das alte Geschäft mit dem Trödel nur noch schleppend. Jean hatte Konkurrenz bekommen, am Strand hauste plötzlich ein Dutzend Langhaariger. Er war gezwungen, auf Opium umzustellen; drei Viertel seines Verdienstes kassierte nun die Polizei. Er konnte sich kein Zimmer mehr leisten. Er verwahrloste. Nach Dien Bien Phu war dies das schrecklichste Jahr. Er trug sich bereits mit dem Gedanken, nach Frankreich zurückzukehren, als eines schönen Tages ein mittelloser Amerikaner auf ihn zukam und seine Tagesration gegen ein Surfbrett einzutauschen versuchte.

So etwas wie dieses Brett hatte Jean noch nie gesehen. Die gedankenvolle Form, die blendende Weiße. Noch am Abend desselben Tages paddelte er bäuchlings aufs offene Meer hinaus. Ihn begeisterte die neue Perspektive, die Freiheit, die Meditation der Wellen. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete und schwarze Wolken am Horizont sah, beunruhigte ihn das nicht. Als der Wind umschlug und in einen Sturm überging, beunruhigte ihn das nicht. Als die Grundsee die Wellen aufstellte und es ihn vom Brett fegte, fand er das einige Sekunden lang ungeheuer komisch. Dann begann sein Kampf ums Überleben. Er hatte die Orientierung sofort verloren. Unter Wasser wirbelte er über die Felsen dahin und schnappte in tosender Gischt nach Luft. Schließlich warf ihn ein Brecher an Land.

In seinem vollkommen zugerauchten Hirn übertrieb er die Gefahr, in der er sich befunden hatte, maßlos, und noch während er röchelnd und hustend am Strand lag und zusah, wie das Wasser hinter ihm auch sein Brett wieder ausspuckte, es zurücklutschte und abermals ausspuckte, verdichtete der Moment sich in ihm zu einer Kugel von strahlender Helligkeit. Dies war kein Kampf gegen hinterlistige Reisfresser mehr, dies war keine Intrige einer läppischen Gemüsekommune, dies war die Allgewalt der allgewaltigen Natur, ein Augenblick großer Entschiedenheit. Das Meer hatte ihm gezeigt, wozu es imstande war, und er, Jean Bekurtz, hatte dem Meer gezeigt, dass er das akzeptieren konnte. Der schmale Grat, das große Licht. Der quer über den Himmel geschriebene Satz: Du musst dein Leben ändern. Und er änderte es.

Jeden Tag, wenn die Brandung hochging, paddelte er nun hinaus. Er brauchte etwa zwei Wochen, bis es ihm gelang, sich zum ersten Mal auf dem Brett aufzurichten und einige Meter auf einer Welle hinabzugleiten, und in den folgenden Jahren konnte jeder, der am Strand von Targat Urlaub machte, ihn bei Wind und Wetter auf einem Brett im Meer stehen sehen, die Arme seitlich an den Körper gepresst, auf dem Rücken oder vor der Brust verschränkt. Gelegentlich sang er dabei. Jean hatte aufgehört zu rauchen, und er wurde so klar im Kopf, dass klar schon nicht mehr das richtige Wort dafür war. Braungebrannte Haut überspannte seine trainierten Muskeln, Salzwasser und Sonne bleichten die Haare.

Fast drei Jahre lang ging das so, ohne dass er einen Moment des Zweifels erlebte. Er war der erste Wellenreiter, den diese Gestade zu sehen bekamen, und in Dutzenden europäischen und amerikanischen Fotoalben dieser Zeit dürfte es noch heute das Bild eines langhaarigen, apollinischen, zärtlichen jungen Mannes geben, der mit einem wahlweise juchzenden, verschreckten, großäugigen, vorlauten oder einfach nur entsetzten Zehnjährigen im strandnahen Wasser das Balancieren übt. Targat 1969.

Doch so abrupt, wie dieses Leben begonnen hatte, so rasch endete es auch wieder. In der Pension, in der Jean logierte, war ein ausgemergelter Spanier mit zwei schweren Koffern abgestiegen. Dieser Spanier hatte eine Schiffspassage gebucht und war zu schwach, sein eigenes Gepäck zu tragen. Sein Unterkiefer war krebszerfressen, am Hals wuchsen Tumore, und sein Atem roch bereits wie aus einer anderen Welt. Wie er Jean anvertraute, wollte er zum Sterben zurück in die Heimat, für medizinische Behandlung sei es bereits zu spät.

Lächelnd nahm Jean die Koffer unter einen Arm, das Surfbrett unter den anderen und trug alles zum Hafen hinunter. Zwischen den Gepäckstücken auf dem Pier sitzend, rauchend, während das Schiff am Horizont langsam an Größe gewann, erzählte dieser Spanier Jean sein Leben. Er sprach sehr leise und höflich, etwas zusammenhanglos und mit halbgeschlossenem Mund, als versuche er, nicht allzu viel Jenseits in diese Welt hinauszuatmen.

Acht Jahre lang hatte er den Posten eines Lehrers im Salzviertel innegehabt, des einzigen Lehrers dort. Wobei Posten eine Übertreibung sei. Die Zentralverwaltung kümmere sich nicht, man arbeite praktisch für Gotteslohn. Mit sichtlicher Anstrengung schilderte er verschiedene Episoden seines Pädagogendaseins. Er wischte sich den Schweiß von Gesicht und Tumoren, zeigte mit ausgestrecktem Arm die Größe der Kinder an und fügte Platituden über neugierige Augen, unverdorbene Seelen und helles Kinderlachen hinzu. Genau genommen bestand die Pointe aller seiner Erzählungen in glockenhellem Kinderlachen. Wie er sie ausgebildet, wie er ihnen Hoffnung gegeben hatte. Wie sie ihn Monsieur Soundso genannt und seine Scherze mit ihrem Lachen vergolten hatten! Diese Dankbarkeit in schmutzumrandeten Augen. Nun bliebe ihre Ausbildung für immer unvollendet.

Er ahmte die kleinen, traurigen Gesichter beim Abschied nach, hustete etwas Blut auf den Pier, und Jean hatte keine Mühe, die eigentliche Botschaft hinter der Botschaft zu erfassen. Leute wie er und der Spanier rochen einander auf zehn Meilen gegen den Wind. Er ließ sich von dem Todgeweihten die Lage der Schule und die näheren Umstände beschreiben, winkte zum Abschied noch einmal aufmunternd zum Schiff hin, und zwei Tage später hatte das Salzviertel einen neuen Lehrer.

Eine pädagogische Ausbildung besaß Jean Bekurtz so wenig wie sein Vorgänger, aber Lesen, Schreiben und Rechnen konnte ja jeder.

Der Klassenraum war ein lehmgestampftes Geviert ohne Fenster, Licht kam durch das mit Matten nur halb verhängte Dach. Tische und Stühle stammten aus den Anfängen der Kolonialzeit. Auf manchen waren noch Parolen aus dem Khan-Krieg eingeritzt. Wenn zu viele Schüler zum Unterricht erschienen, saßen sie auf mitgebrachten Kanistern oder standen einbeinig hinten an der Wand. Die Stirnseite des Raumes schmückte seit neuestem eine riesige Tafel in Form eines schwarz lackierten, an beiden Enden abgesägten Surfbretts.

Und der Spanier hatte nicht übertrieben. Die Zahl der Schüler war unüberschaubar. Auch an Feiertagen kamen reizend verwahrloste und zutrauliche Jungen, um unterhalten zu werden, und Jean zog sie auf seinen Schoß und gab ihnen Nachhilfe in griechischer Geschichte. Wenn er ein wenig Geld hatte, kaufte er den Besten gefrorenes Wasser oder eine Schokolade oder was die kleinen Herzen so begehrten. In den Pausen spielten sie mit einem alten Fußball, und wenn eins der kleinen braunen Dinger Monsieur Bekurtz umdribbelt hatte, hob er es hoch und drückte dem Strampelnden zur Strafe einen feuchten Kuss auf die Stirn. «Ihr macht mich ganz verrückt!», rief der Lehrer dann, und glockenhelles Kinderlachen antwortete ihm. Aber meistens machten sie tatsächlich Unterricht.

Die Legende vom Wissensdurst der Unterprivilegierten bewahrheitete sich nur halb. Wie überall gab es anderthalb Intelligente, fünf Mittelbegabte und einen unüberschaubaren Rest von entzückender Schlichtheit. Einige der Ältesten und Geschundensten kamen nur zum Unterricht, weil sie zu schwach zum Arbeiten waren, weil sie auf der Straße wie Hunde getreten wurden und weil in der fernen Koranschule kein Platz für Abschaum war.

Schulbücher gab es nicht. Wenn Jean die Lust am Lesen und Rechnen verging, reproduzierte er schwerfällig das Halbwissen seiner eigenen Kindheit, las aus billigen Romanen vor oder zeichnete Diagramme aus Illustrierten an die Tafel. In dem Prospekt eines franko-belgischen Molkereikonzerns fand er die schematische Zeichnung einer Kuh, er ergänzte sie aus dem Kopf um vier Mägen mit unwahrscheinlichen Funktionen und sang das Hohelied der Naturbeobachtung. Ein toter Star, der morgens auf der Schwelle zum Schulgebäude lag, wurde mit einem Taschenmesser seziert und sein Flügelprofil mit der Tragflächenform einer Boeing verglichen. Das in einer Motorsport-Zeitschrift gefundene, phantastisch komplizierte Schema eines Otto-Motors schaute wochenlang als vergröberte Kreidezeichnung auf die Schüler hinab und wurde in allen Einzelheiten demokratisch gedeutet. Je nach Stimmungslage verwandelten sich so siebzig begeisterte Kinder wochenlang in Veterinäre, Piloten und Kfz-Mechaniker. Dass keines von ihnen jemals die Chance haben würde, tatsächlich einen dieser Berufe zu ergreifen, war ein Gedanke, den Jean in langen, einsamen Nächten von sich wegschob. Er erwachte morgens mit Kopfschmerzen und hatte Mühe, seinen gestaltlos flackernden Idealismus gegen die Geister der Nacht zu verteidigen. Mit den Jahren wurde er sentimental.

Wenn er beim Anbruch des Tages auf dem Dach stand und die improvisierte Schulglocke schlug, wenn er die geliebten Wesen aus allen Richtungen auf sich zueilen sah, wenn sie schwatzend und kichernd, singend und winkend, traurig und heiter in sein Haus einzogen, wusste er, dass alle Mühe vergebens war. Ihr Schicksal auf den Müllbergen war so vorherbestimmt wie unabänderlich von Geburt an, als sei die Religion, der sie anhingen, ausnahmsweise einmal mehr als ein Märchen, und die kindlich bunte, heitere Hoffnung auf Bildung und Freiheit, die Jean in ihre kleinen Seelen einzupflanzen suchte, leuchtete so trübe wie unstetig, schwächlich und verlöschend durch eine von Aberglauben und Patriarchat vernebelte Welt. Aber sie leuchtete! Und Jean, der in seinem Leben vieles begonnen und wieder hingeworfen hatte, blieb seiner Bestimmung treu. Er war der Lehrer im Salzviertel, und er blieb es, Jahr für Jahr.

Der Unterricht begann bei Sonnenaufgang, sommers wie winters. Die erste Stunde widmete sich dem lateinischen Alphabet, eine Gewohnheit, die Jean vom Spanier übernommen hatte. A wie Aufklärung. H wie Humanismus. Wörter mit Q gab es kaum. Jean schrieb auf die Tafel, und die Schüler schrieben mit Kreiden auf Holzbrettern, die zum Schulinventar gehörten. Die Bretter waren wie sandgestrahlt und wurden nach der Stunde mit Lumpen gereinigt.

Im Frühjahr 1972, als Jean bereits zwei Jahre Lehrer im Salzviertel war, kam es zu einer kleinen Revolution auf dem Schreibsektor. Abderrahman, der Sohn des Wasserverkäufers, hatte irgendwoher einen Bleistift und schrieb aus Angeberei auf Papierschnipsel. Khalid Samadi, der der Bäcker vor Ort war und somit viel mehr als ein Wasserverkäufer, beschaffte daraufhin seinem Sohn Tarik für teuer Geld ebenfalls einen Bleistiftstummel und ein Oktavheft mit zur Hälfte unbeschriebenen Seiten. Schon wenige Wochen später schrieben nur noch die elendsten der Elenden auf Holz.

Die beste Methode, an ein Schreibgerät zu gelangen, war, den Vierstundenmarsch durch die Stadt zu unternehmen und die Touristen an der Küste zu bedrängen. «Pour l’école, pour l’école» war ein Argument, dem gegenüber sich die rätselhaften Europäer weit weniger verschlossen zeigten als einem mit leerer Magengrube hingekrächzten «J’ai faim». Das Risiko, sich in der Millionenstadt zu verlieren, von Soldaten und anderem Gesindel eingefangen oder verschleppt zu werden oder aus welchen Gründen auch immer niemals zurückzukehren, nahmen alle auf sich. Hinter dem Hafen lagen Kisten mit zermatschtem Gemüse, in der Ville Nouvelle fand man mit ein wenig Glück Arbeit für eine Stunde, und im Südosten war die Gefahr, auf vergitterte Laster geworfen zu werden, am größten. Jeder dritte Ausflug endete in der Tragödie. Wie Insekten, die auf die Lichtquelle zusteuern, taumelten die Kinder über die Müllbarriere hinweg dem Reichtum entgegen.

Einer der vier Mohammeds schrieb mit einem angespitzten Holzrohr, das er in aus Kaffeeresten selbstgemachte Tinte tunkte. Rassul besaß einen Filzstift, in den er oben ständig hineinspuckte, damit etwas grünliche Flüssigkeit unten hinauslief. König der Alphabetisierten jedoch war Aiyub.

Aiyub gehörte zu den Aussätzigen und war von überschaubarer Intelligenz. Er kannte seine Familie nicht und lebte in einem mit Pappe bedeckten Erdloch. Zum Marsch in die Stadt war er zu schwach, eine Mine hatte ihm dem linken Unterschenkel weggerissen. Er war der Letzte, der auf Holz schrieb, bevor er eines Tages mit großer Gebärde einen Kugelschreiber aus den Tiefen seiner Dschellabah zog. Der Stift war aus poliertem Metall, das so sanft und matt und edel funkelte, dass es möglicherweise sogar Silber war. Nein, sicher war es Silber! Denn auf dem Clip standen eigenartige Buchstaben, ein unaussprechliches Wort, das selbst den Lehrer in Erstaunen versetzte. Ein solches Schreibgerät hatte noch nie jemand gesehen. Man konnte die Spitze des Stiftes vorne herausschauen lassen, und durch das Betätigen einer mechanischen Vorrichtung schoss hinten der Druckknopf heraus. Wenn man einem Mitschüler diesen Stift in den Nacken hielt und gleichzeitig die Druckmechanik betätigte, konnte man ihm einen kleinen, lustigen Schmerz zufügen.

Aiyub hütete den Stift wie einen Schatz. Er hielt ihn beim Schlafengehen mit beiden Händen umklammert, vier Wochen lang, dann raffte ihn die Ruhr dahin, und sein bester Freund Buhum erbte das kostbare Stück. Buhum konnte weder lesen noch schreiben; er tauschte den Stift bei Chaid gegen ein Fußballbild von Johan Cruyff und einen Pfefferminzbonbon. Chaid verlor den Stift an Driss, weil er gewettet hatte, dass Hitler Franzose sei. Driss kannte kein größeres Verlangen, als einmal ein nacktes Mädchen beim Pinkeln zu sehen. Und so kam der Stift zu Hossam, der eine Schwester hatte.

Hossam war dumm wie ein Spundpfahl im Wasser und pulte die Mechanik auseinander. Er zog die Metallfeder in die Länge, verlor einen Teil vom Druckknopf im Sand und pikste seiner Schwester mit der leeren Hülse ins Auge. Kreischend schlug die Mutter ihm das teuflische Ding aus der Hand und setzte ihn vor die Tür. Am nächsten Tag schrieb Hossam wieder auf dem Holzbrett. Einzelteile des Schreibgeräts fand man noch lange später im Sand unter der Wellblechbaracke. Hossams kleine Schwester grub irgendwann die Mine aus und steckte sie als Rückgrat in eine wacklige Puppe aus Gras, sodass sie aufrecht sitzen konnte, ihre Lieblingspuppe.

Diese kleine Schwester hörte auf den Namen Samaya. Samaya war sieben oder acht Jahre alt und von unvergleichlicher Schönheit. Ein greiser Tuareg, der so alt war, dass er noch vom letzten König des Massina-Reiches auf den Armen gewiegt worden war, sagte, in Samayas Antlitz schauen heiße Allahs Schöpfung begreifen. Jeden Morgen war sie die Erste in der Schule. Sie besaß nur wenig mehr Verstand als ihr Bruder, aber die engelsgleiche Güte des Herzens, die das ewige Leben gewinnt. Kein böser Gedanke war in ihr, ihre Reinheit ohne Makel. Als die fünfte Säuberungswelle das Salzviertel erfasste, riss Samaya sich von der Hand ihrer flüchtenden Mutter und rannte in die Baracke zurück, in der ihre Lieblingspuppe vergessen lag. Mit der Puppe zusammen wurde sie unter einer umstürzenden Häuserwand begraben. Ein Bulldozer rollte rückwärts darüber hin. Er hob seine Schaufel hoch wie ein Priester die Bundeslade, zeigte sie den Ungläubigen und schob den ganzen Schamott den Hügel hinab.

Загрузка...