VIERTES BUCH: DIE OASE

36. BEIM GENERAL

Der Nasamoner Nachbarn sind die Psyller. Diese sind vertilgt worden auf folgende Art: Der Südwind wehte und trocknete ihnen die Wasserbehälter aus, ihr Land aber, das da ganz innerhalb der Syrte liegt, hatte gar kein Wasser. Da fassten sie einen einmütigen Beschluss und zogen in den Streit wider den Südwind (ich erzähle nur, was die Libyer erzählen); und wie sie in die Sandwüste gekommen, fing der Südwind an zu wehen und verschüttete sie. Und da sie nun vertilgt sind, haben die Nasamoner ihr Land in Besitz.

Herodot

Angemessen demütig und doch auch eilig öffnete Canisades die Tür zum größten Raum des Präsidiums. Unter rot und gold gestickten, aufwendig gerahmten Koranversen saß ein 200-Kilo-Mann, der Polizeigeneral. Sein birnenförmiges Gesicht wiederholte sich in der Körperform auf erstaunliche Weise: Bauplan und Ausführung. Schmale Äuglein unter spärlichen Augenbrauen, kleine Nase und ein Mund, dessen fleischige Unterlippe von der Schwerkraft so weit herabgezogen wurde, dass eine Reihe weißer Mausezähne ständig sichtbar war. Unter seinem Hemd wölbten sich zwei stattliche Hängebrüste, der Bauch verhinderte aufrechtes Sitzen, und ein Polizeioffizier, der den General vor langer Zeit einmal unter der Dusche des Kasinos gesehen hatte, wusste zu berichten, dass man nichts gesehen habe. Dessen ungeachtet stand auf dem Schreibtisch eine Farbfotografie, die den General zusammen mit einer spindeldürren Frau und acht Birnenkindern zeigte.

Er wies Canisades schnaufend einen Stuhl an und ließ dann seine berühmte Generalschweigminute folgen. Canisades zählte innerlich mit. Sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig. Bei neunundfünfzig zog der General drei gefaltete Papiere aus einer Ablage und warf sie vor sich auf den Tisch mit einem Gesichtsausdruck, der klarmachte, dass er kein Mitglied der alle Weltregionen umspannenden Sekte der freundlich-heiteren Dicken war. Er gehörte zur anderen Kategorie.

«Und streite das gar nicht erst ab! Asiz hat sie in deinem Schreibtisch gefunden.»

Canisades stritt es nicht ab. Er erkannte die Papiere auf den ersten Blick, auch wenn er keine Ahnung hatte, worin der mit ihnen verbundene Vorwurf lag. Ein paar albern zweckentfremdete Vordrucke aus der Kolonialzeit — deshalb hatte der General ihn rufen lassen? Aber nach neunundfünfzig Sekunden schien es ihm ratsam, sofort in die Defensive zu gehen. «Ich kann das erklären, Entschuldigung. Polidorio und ich, die Formularnacht, die lange Nacht der Akten …»

«Sonderermittler des Tugendkomitees! Seid ihr wahnsinnig? Wer hat sich diesen Schwachsinn ausgedacht?»

«Wir beide», sagte Canisades. «Polidorio.»

«Und wer war noch dabei?»

«Nur Polidorio.»

«Erzähl mir keinen Mist! Es sind drei Ausweise.»

Berechtigte Frage. Wobei die richtige Antwort gelautet hätte: Es waren einmal vier.

«Es war ein Jux», versuchte Canisades es mit der schwierigen Wahrheit, «und wir haben gar nichts damit gemacht. Wir haben die den Nutten gezeigt, mehr nicht.»

«Den … Nutten. Aha.» Der General machte sich Notizen. Er hatte ein schwaches Kurzzeitgedächtnis und ertrug es nicht, wenn Gespräche sich verzweigten. Wenn ihm in einer Unterhaltung Fragen und Folgefragen kamen, schrieb er sie auf, um sie hinterher Punkt für Punkt abzuarbeiten.

«Ihr seid hier die untersten Chargen», sagte er drohend, und Canisades fuhr rasch fort: «Wirklich nur ein Scherz. Wir waren überarbeitet und müde, Sie wissen doch, die ganze lange Nacht, die Berge von Papier … und die sind da aus einer Hängeregistratur gefallen. Mit ganz viel anderem Zeug. Wir haben ja auch lauter andere Sachen gemacht. Machen müssen. Allein, um wach zu bleiben. Zwischendurch gab es noch einen Stromausfall —»

«Was für andere Sachen?» Der Körper des Generals schwappte nach vorn.

«Andere Sachen … irgendeinen Quatsch halt. Wir mussten ja bis zum Morgengrauen durchhalten und —»

«Was für andere Sachen!»

«Getrunken, Witze gemacht … Schneeballschlachten mit Papier.» Das Rennen auf den rollenden Aktenschränken ließ Canisades vorsichtshalber aus. «Und dann zufällig dieses Zeug vom Tugendkomitee. Einen IQ-Test haben wir auch gemacht. Und während der ganzen Zeit haben wir praktisch im Dunkeln gesessen, weil der Schlüssel für den Stromkasten —»

«Was für ein IQ-Test? Seit wann gibt es hier einen IQ-Test?»

«Der flog da auch rum. So ein Test, wo man die Intelligenz misst wie mit dem Lineal.»

«Ergebnis?»

«Ich 130, Polidorio 102.»

«Ergebnis! Seid ihr jetzt intelligent oder nicht?»

«Also, na ja», sagte Canisades, «so mittel. Nichts Besonderes.»

«So mittel! Weißt du, was ich mit dir und deinem mittel machen kann?»

Wütend schaute er auf den Schreibtisch vor sich. Er hatte den Faden verloren, aber bevor Canisades die nächste Nebelkerze werfen konnte, sagte der General: «Und was sind das überhaupt für bescheuerte Namen? Adolphe Aun!»

«Hat Polidorio sich ausgedacht.»

«Ist das Deutsch?»

«Keine Ahnung.»

«Und hier, Didier … und Bertrand, ist das dein Ernst? Seid ihr schwul? Seid ihr ein Schwuchtelpärchen?»

«Tut mir leid, Chef.»

«Es tut dir leid, es tut dir leid!» Mit einem Mal änderte sich der Gesichtsausdruck des Generals, und milde blickend fetzte er die Ausweise in kleine Schnipsel. «Du wirst mir jetzt einen Gefallen tun. Wirst du das?»

Also darauf lief es hinaus.

«Selbstverständlich.»

«Was weißt du von diesem Amadou? Der Mörder, der aus dem Transporter ausgebrochen ist.»

«Da kümmert sich Karimi drum.»

«Das ist mir klar. Deine Einschätzung.»

«Pfff.» Canisades dachte angestrengt nach. Es schien ihm angebracht, sich vorsichtig von seinem Kollegen zu distanzieren. «Karimi macht halt, was er immer macht. Er hat jetzt einen zweiten Bulldozer angefordert, um das Salzviertel zusammenzufahren.»

«Einschätzung!»

«Wohl mehr zu seinem Privatvergnügen. Würd ich sagen. Dieser Amadou ist doch viel zu bekloppt, um länger als fünf Minuten irgendwo unterzutauchen.»

Damit hatte Canisades offensichtlich einen Treffer gelandet, und etwas freundlicher fuhr der General fort: «Freilich ist Amadou zu bekloppt. Aber das ist genau das Problem. Weil er nämlich bekloppt ist, hat er nicht gemerkt, wie bekloppt er eigentlich ist. Von allein wäre der doch nie aus dem Transporter rausgekommen. Und er war leider auch bekloppt genug, nicht zu merken, dass er einen Helfer hatte. Mit anderen Worten, er ist nicht nur unseren Gendarmen entwischt, sondern auch unserem … seinem … wie auch immer. Wir wissen seit 48 Stunden nicht mehr, wo er ist. Amadou ist unauffindbar. Und was ich jetzt will und was Karimi nicht begreift, ist … dass Amadou auch weiterhin unauffindbar bleibt, capisce?»

Die beiden Schlitze im Gesichtsfleisch verengten sich. Canisades nickte, hielt sich den Zeigefinger an den Hinterkopf und drückte den Daumenabzug.

«Nein, nein, nein!», rief der General. «Unauffindbar im Sinne von unauffindbar. Red ich Chinesisch oder was? Karimi begreift es nicht, und du begreifst es auch nicht? Der arme Junge kann doch nichts dafür, dass er … da kann er doch nichts für. Der ist in traurigsten Verhältnissen aufgewachsen, den hat das Leben hart angefasst, der hat sich nie was zuschulden kommen lassen. Das ist doch nicht so schwer zu begreifen! Der hat ganz in Frieden in Tindirma gelebt und seine Ziegen gehütet, bis diese Hippiegammler da eingezogen sind und ihn provoziert haben. Lange hat Amadou sich das ruhig mitangesehen … aber irgendwann ist ihm dann doch der Kragen geplatzt. Wie jedem normalen Menschen. Und er hat ein bisschen überreagiert. So könnte man das formulieren. Nur dass das ein feiner Kerl ist, eigentlich. Der Amadou. Capisce?»

«Sie meinen —»

«Ich meine, der tut uns nichts. Ganz einfach. Und wir tun ihm auch nichts. Und dafür bist du jetzt zuständig.»

«Und Karimi?»

«Karimi gibt den Fall ab. Hat ihn schon abgegeben. Und ich erwarte … hast du wenigstens begriffen, was ich von dir erwarte?»

«Nichtstun.»

«Da hat sich der Intelligenztest ja doch gelohnt.»

«Muss ich dazu noch irgendwas wissen?»

«Nein.» Der General patschte seine fetten Hände zusammen. «Musst du nicht. Wobei, kann ich dir auch sagen, ist wurscht. Das hat keine besonders geheimnisvollen Gründe. Aber wie sich vor ein paar Tagen rausstellte, ist Amadou der Enkel der Putzfrau des Innenministers. Oder des Staatssekretärs im Innenministerium oder was auch immer. Geht uns nichts an. Hohes Tier … und wenn man mir eine Anweisung gibt, dann halte ich mich daran. Capisce? Nicht wie Karimi, der blöde Hund. Und deshalb brauchen wir jetzt jemand, der sich ebenfalls daran halten kann. Dann ist die Sache nämlich ganz einfach. Du nimmst dir ein paar Leute und begibst dich auf die Suche nach Amadou. Der in Wahrheit natürlich auch überhaupt nicht bekloppt ist, sondern durchtrieben wie alle diese Ziegenhirten. Und wie sucht man so einen? Man fährt ein bisschen in der Gegend rum und stürmt ein paar Häuser. Capisce? Und vor allem achtest du darauf, dass du einen Tross von Presseleuten hinter dir herschleifst. Die beiden Amis sind noch immer im Sheraton, der eine Brite auch — den kennst du, oder? Und die sollen ordentliche Aufnahmen davon machen. Und dann nimmst du mal einen fest, oder nimm gleich ein Dutzend fest, und zwar solange, bis die Presseschlampen genug haben. Und den Rest überlässt du mir. Das Einzige, worauf du achten musst, ist, dass Amadou sich nicht im Salzviertel versteckt. Weil, da ist er ja aufgewachsen. Da kennt er sich aus wie in seiner Westentasche, weshalb jeder bescheuerte Hilfspolizist wie Karimi ihn da natürlich als Erstes vermuten würde. Aber weil Amadou ein so durchtriebener Kerl ist, wie sich gerade rausgestellt hat, versteckt er sich genau da nicht, capisce?»

«Capisce.»

«Ein anderer Grund ist: Nachdem Karimi gestern mit seinen Bulldozern im Salzviertel war, hat es da schon wieder einen kleinen Aufstand gegeben. Das ist nicht gut. Sag ich mal. Da sind jetzt schon mehr Leute gestorben, als Amadou auf dem Gewissen hat. Was für dich bedeutet: Das komplette Viertel und dahinter in die Wüste rein, Richtung Tindirma, das Leere Viertel, das Salzviertel, die ganze Gegend ist tabu. Haben wir uns da verstanden?»

Canisades nickte beflissen. Er konnte sich nicht vorstellen, woher die Protektion für den schwachsinnigen Amadou auf einmal kam. Das mit der Verwandtschaft mit dem Innenminister war natürlich Unsinn. Irgendein dreckiger Ziegenhirte aus Tindirma war nicht verwandt mit dem Innenminister und auch nicht mit dessen Putzfrau. Wenn er es gewesen wäre, hätte er es schon beim ersten Verhör der Polizei ins Gesicht geschrien, anstatt sich lange mit seiner Unschuld herumzuplagen. Wahrscheinlich hatte Amadous Familie wieder irgendwo ein bisschen Geld aufgetrieben. Und das floss jetzt wohin? An Karimi anscheinend nicht. Direkt an den General? Oder tatsächlich an jemanden aus dem Innenministerium? Canisades ärgerte sich nur, dass das an ihm vorbeilief. Der übliche Dienstweg sah die Einbindung aller ermittelnden Kommissare vor, und er hatte diesen Fall als Erster gehabt. Stattdessen wurde er nun mit diesen albernen Papieren konfrontiert. Er hatte nicht wenig Lust, Amadou nebenbei einzufangen und einen Kopf kürzer zu machen. Besonders schwierig konnte das nicht sein. Wenn man es schon für nötig hielt, einem Blinden wie Karimi die Ermittlungen aus der Hand zu nehmen, saß Amadou vermutlich betrunken, nackt und schmutzige Lieder singend mitten auf der Piste nach Tindirma.

Canisades hielt den Moment für gekommen, fragend auf die Papierschnipsel zu zeigen.

«Kinderkram», sagte der General, fegte die Schnipsel in den Mülleimer und scheuchte Canisades mit einer Handbewegung hinaus. Kurz bevor der Kommissar die Tür hinter sich schließen konnte, wurde er noch einmal zurückgerufen. Der General hatte seinen Block in der Hand und tippte auf die Notiz, die er sich gemacht hatte.

«Und das funktioniert?»

«Was?»

«Mit dem Tugendkomitee. Die Nutten. Ich bin ein Familienvater, wie du weißt, und sehr fromm. Ich frage das, weil ich mal einen Onkel hatte … also funktioniert das?»

«Wie gesagt, wir waren nur einmal da. Oder ich.»

«Antworte gefälligst! Machen die kleinen Fotzen es dann umsonst oder was?»

«Vom Offizier aufwärts machen die es eh immer umsonst.»

«Was?»

«Die machen es immer umsonst.» Canisades kam zwei Schritte zurück ins Zimmer. «Das ist so üblich, wir sind doch die Polizei.»

«Wozu dann der Quatsch mit den Papieren?»

«Wie gesagt, ich hab’s nicht probiert. Aber Polidorio sagt, sie wären dann besser. Machen Sachen, die sie sonst nicht machen.»

Der General hob sich halb vom Sitz, drückte seine Faust zwischen die fetten Pobacken und sah Canisades an.

«Ja, so was in der Art.»

«Und das hier? So?»

«Ja. Auch.»

«Und so?»

«Alles. Sagt Polidorio.»

«Im Ernst?» Ungläubig den Kopf schüttelnd schaute der General Canisades an, dann ebenso ungläubig auf seinen Notizblock. «Diese kleinen Schlampen!» Dann winkte er, ohne aufzusehen, seinen Besucher abermals zur Tür hinaus, machte sich neue Notizen und strich die alten durch.

Wenig später rief ein Glaser, der gekommen war, zwei Fenster auszuwechseln, den General aus seinem Büro, und Canisades, der auf dem Flur vor den Postfächern gewartet hatte, schlich in das Büro zurück, klaubte die Schnipsel aus dem Papierkorb und steckte sie in seine Tasche. Sicher war sicher.

Anschließend rief er im Sheraton an und ließ sich mit Mr. White verbinden, dem britischen Journalisten, um ihn zu fragen, ob er Fotos von der unmittelbar bevorstehenden Verhaftung Amadous machen wolle. Und während er noch telefonierte, kam der General schon wieder vorbeigewatschelt und legte einen Notizzettel auf den Telefonapparat. Canisades hielt die Muschel des Telefonhörers zu.

«Ganz vergessen. Musst du auch noch machen», flüsterte der General. «Weil du mich ja ständig unterbrechen musstest. Aber da ist so ein Fellache, der seine zwei Söhne vermisst. Angeblich ermordet. In der Wüste. Einer erschossen, der andere erschlagen. Steht alles auf dem Zettel da. Die Straße nach Tindirma, die alte Scheune, wo sie früher immer den Schnaps gebrannt haben. Und da fährst du erst kurz vorbei. Und dann Amadou. Capisce?»

37. DIE HOHEPRIESTERIN

Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir.

Karoline von Günderrode

«Bergwerk nicht, weil es hier kein Bergwerk gibt. Landminen nicht, weil kein vernünftiger Mensch auf dieser Welt wegen zehn oder zwanzig Dollar eine Familie entführt und mit dem Tod bedroht. Und eine Festung, unter der Minen gegraben wurden, um das Unwahrscheinliche vollzumachen, scheidet auch aus», sagte Helen mit schiefem Lächeln. «Weil es keine gibt. Vorausgesetzt, dieser Typ mit den Narben hat dir keinen Mist erzählt, und das scheint ja so. Dann bleibt uns wohl nur noch die Bleistiftmine.»

«Oder die Münze. Oder das Buch.»

«Isadora Mine? Und ihr Sohn Aimable-Jean-Jacques? Nein. Glaub ich alles nicht.»

«Und wenn es nicht das Buch ist, sondern irgendwas in dem Buch Verstecktes?»

«Glaub ich trotzdem nicht», sagte Helen. «Nicht, weil ein Buch nicht wertvoll sein kann. Aber weil Bassir Mine gesagt hat. Zweiundsiebzig Stunden, dann hab ich die Mine wieder. Ein halb alphabetisierter Schwachkopf, der dir stundenlang mit einem Brieföffner in der Hand rumrührt, sagt nicht Mine, wenn er Buch meint. Der sagt Buch. Genauso mit der Münze. Der sagt Münze, wenn er eine Münze meint. Vielleicht konzentriert man sich doch besser auf diesen Cetrois.»

«Und wie, wenn man nicht weiß, wo man suchen soll?»

Achselzuckend stand Helen auf, ging zum Telefon und meldete ein Ferngespräch mit Amerika an. Während sie wartete, suchte Carl noch einmal die Gegenstände zusammen, die er in der Wüste bei sich getragen hatte, und legte alles vor sich auf den Tisch. Das leere Portemonnaie. Das zerknüllte Papiertaschentuch. Den Schlüsselbund. Den Bleistift.

Der Bleistift war sechseckig und mit einer glänzenden grünen Lackierung überzogen, an deren oberem Ende in goldenen Buchstaben 2B eingeprägt stand. Die Spitze war abgebrochen, ein feiner Holzsplitter ließ sich abzupfen.

«Vergiss es», sagte Helen.

«Eine Sekunde», sagte die Telefonistin.

Carl legte den Bleistift zurück, nahm stattdessen das Portemonnaie, untersuchte die leeren Fächer, in denen sich nur noch ein paar Sandkörner befanden, und legte es neben den Bleistift. Er faltete das Papiertaschentuch auseinander, aus dem ebenfalls Sand rieselte, betrachtete es und zerknüllte es wieder. Einige Minuten vergingen. Dann stand er auf, holte ein Brotmesser aus der Küche und begann, den Bleistift zu zerschnitzen. Kopfschüttelnd sah Helen ihm zu. Als der Stummel zu kurz wurde, presste er ihn mit dem Handballen auf den Tisch und sägte mit dem Messer so lange daran herum, bis nichts weiter übrig war als ein Haufen dünner Holzspäne und geheimnisloses Graphitgebrösel, das er nachdenklich betrachtete.

«Mach dich nicht lächerlich», sagte Helen, als sie sah, wie er eine Fingerspitze zuerst in den Graphitstaub, dann auf seine Zungenspitze tippte.

Plötzlich war die Leitung tot. Helen klopfte auf die Gabel, und nachdem die Stimme der Telefonistin sich auch nach einigen Minuten nicht zurückgemeldet hatte, stand sie auf und sagte zu Carl: «Ich muss auch noch was einkaufen. Willst du mitkommen?»

Aber Carl wollte nicht mitkommen. Den Kopf in beide Hände gestützt, saß er über den Tisch gebeugt. Erneut griff er nach dem Papiertaschentuch, versuchte, es ein zweites Mal auseinanderzufalten, ohne es völlig in Fetzen zu reißen, und hielt es gegen das Licht, als könne er irgendwelche geheimen Zeichen darauf übersehen haben.

Seufzend zog Helen die Tür hinter sich zu.

Als sie mit zwei schweren Plastiktüten voller Lebensmittel im Arm zurückkam, meinte sie von irgendwoher Stimmen zu hören. Vorsichtig setzte sie die Einkäufe ab, ging leise um das Haus herum, kniete sich hinter eine die Ecke überwuchernde Bougainvillea und schob einen blühenden Zweig beiseite, um auf die Terrasse zu spähen.

Nur ein paar Meter von ihr entfernt hockte Carl im Schneidersitz auf dem Boden und betrachtete angestrengt etwas vor seinen Unterschenkeln. Ihm gegenüber in Rückenansicht eine langhaarige, breitschultrige Frau. Oder ein langhaariger Mann? Beide hatten sie die Köpfe tief gesenkt, und eine Helen wohlbekannte Stimme sagte: «Das ist der Turm. Da kommt jetzt quer drauf der Eremit. Und hier der Wagen, der Stern … den Stern find ich immer eine sehr schöne Karte. Der Stern im Unbewussten, das erklär ich gleich, was das bedeutet. Und auf der Fünf, das ist … der Hängende Mann», sagte Michelle und entfernte rasch die Karte und ersetzte sie durch eine andere.

Carl machte ein fragendes Gesicht. Offenbar war er mit dem Tausch nicht einverstanden, und Michelle, die versuchte, dem Blick seiner kohlenschwarzen Augen standzuhalten, spürte eine Welle schmerzlicher Empathie ihren Körper durchfluten. Sie wusste, was das bedeutete. Es bedeutete, dass sie auf der Hut sein musste.

Schon als dieser bildschöne Mann dem Legen der Karten ohne Zögern zugestimmt hatte, schon als er sie mit unsicheren Bewegungen auf die Terrasse gebeten und einen Kaffee angeboten hatte, nein, um ehrlich zu sein, schon als er mit blutfleckigem Kopfverband und einer abgeknickten Zigarette im Mundwinkel ihr die Tür des Bungalows 581d geöffnet hatte, hatte die unaussprechliche Trauer in seinen Zügen sie überwältigt. Und zwar auf eine Weise überwältigt, dass Michelle Vanderbilt im selben Moment beschlossen hatte, sein Leben nicht an ihres heranzulassen. Solche Entscheidungen traf sie in Sekundenbruchteilen. Auch wenn nicht jeder es ihr zutraute und wenn sie, wie sie wusste, nach außen hin oft ganz anders wirkte: Michelle war eine sehr resolute Person. Willensstärke und Entschlussfreude hatte sie von ihrer italienischen Großmutter; von der sie auf der anderen Seite und im scheinbaren Widerspruch dazu auch das überbordende Temperament, die Spontaneität und die typisch italienische Herzlichkeit geerbt hatte. Kopfmensch und Bauchmensch in einem. Und wenn die Situation es erforderte, war Michelle eben entschieden. Und traf Entscheidungen. Und aus langer Erfahrung wusste sie auch, dass man durch den Dschungel der Komplexität am besten hindurchfand mit der Intuition. Und ihre Intuition sagte vom ersten Moment an: Vorsicht. Vorsicht angesichts eines bildschönen, leidenden Mannes mit malerischem Kopfverband und traurigen Augen, Vorsicht, Michelle Vanderbilt!

Aus einem kurzen Telefonat, das sie mit Helen direkt nach deren Besuch in der Kommune geführt hatte, wusste sie auch, wer dieser Mann war. Dies war der Mann, der eine Art Gedächtnisverlust erlitten hatte. Was bedeutete das?

Es bedeutete erstens, dass Helen mit großer Wahrscheinlichkeit und der für sie charakteristischen Wahllosigkeit eine geschlechtliche Beziehung eingegangen war, was der Mann mit dem provisorischen Namen Carl vorläufig bestritt. Vor wenigen Minuten noch bestritten hatte. Es bedeutete zweitens, dass, verglichen mit dem Schmerz, den Michelle zu tragen hatte, dem herausragenden Schmerz, kürzlich vier Freunde von sich in einem Massaker verloren zu haben, ein Amnestiker, der nichts weiter verloren hatte als seine Identität, ein vergleichsweise glücklicher Mensch sein musste. Und drittens, dass dieser vergleichsweise glückliche Mensch das Gefälle des Leidens von ihr zu ihm als einen Hebel zur Erlangung von Vorteilen (oder was auch immer) missbrauchen könnte oder würde, wenn er wollte. Und wenn sie, Michelle, es zuließe. Sie würde es aber nicht zulassen. Diese Entscheidung stand von der ersten Sekunde an fest. Und wenn eine Entscheidung feststand, dann änderte sich daran auch nichts mehr.

«Weil es sonst bedeutet, in dieser Kombination, also letztlich, wenn man es genau nimmt, mit dem Turm hier auf der Ausgangssituation und dem Tod», sagte Michelle, die eilig die restlichen Karten ausgelegt hatte und mit weit aufgerissenen Augen auf die entstandene Kombination starrte, «mit dem Tod in der nahen Zukunft … was normal ein transformatorischer Prozess ist, der Tod als Umwandlung, als Übergang … wobei wir … wenn wir, ich meine …»

Verwirrt beobachtete Michelle, wie Carl ihr den Hängenden Mann aus der Hand nahm und auf seine ursprüngliche Position zurücklegte.

«Das ist der Hängende Mann», sagte sie, «den nehm ich sonst immer raus, weil, wenn wir das so liegen lassen, wenn das hier so liegen bleibt, es könnte auch bedeuten, dass tatsächlich jemand stirbt … oder etwas … nein, jemand … weil, bei der Fragestellung, wo wir jetzt gesagt haben, worum geht es, und es geht ja um dich, nicht? Das heißt also du …»

«Und das kann man einfach rausnehmen, und dann stirbt man nicht?»

«Von Sterben hab ich nichts gesagt! Nicht unbedingt, aber Moment … ich muss nachdenken. Einen Moment, bitte. Wie ich am Anfang schon sagte: Das sind zeitliche Muster, die eher so Kraftfelder sind, und da kann man nie sagen, es ist so, oder es ist so. Nur dass die Karte hier, ich meine, der Tod … und der Narr und der Teufel und hier das Gericht, in dieser Anordnung, so wie das angeordnet ist … so was hab ich ja noch nie gesehen.»

Michelle fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen. Mit dem Gesicht eines Kindes, das kurz davor ist, loszuweinen, blickte sie auf die problematische Kombination. Aber die Karten ließen wenig Zweifel zu.

Michelle spürte es, und sie spürte, dass Carl es ebenfalls spürte.

«Aber sterben muss man doch sowieso. Da steht doch nicht, wann?»

«Das ist die nahe Zukunft, fast Gegenwart. Ich meine —»

«Und wenn ich schon gestorben bin?»

«Gehen wir noch einmal zum Anfang», sagte Michelle mit zittriger Stimme. «Ich will noch mal versuchen, das als Ganzes zu sehen. Da haben wir den Stern, den ich ja immer sehr gut finde, eine sehr gute Karte, was bedeutet, dass du am Anfang voller Hoffnung warst … und das stimmt ja auch. Du hast erzählt, wie du da aufgewacht bist in der Scheune —»

«Und wenn ich schon gestorben bin?»

Helen konnte Michelles Gesichtsausdruck von hinten nicht sehen, aber sie sah den Körper ihrer Freundin erstarren, eine Hand über den Karten, die andere am Hinterkopf, der Ellenbogen gen Himmel gereckt.

Volle zehn Sekunden vergingen. Dann hatte Michelle begriffen, worauf Carl hinauswollte. Helen unterdrückte ein Stöhnen.

«Wenn du schon gestorben bist!», rief Michelle begeistert. «Natürlich! Wenn du schon … du hast wirklich, du bist wirklich ein ganz besonderer Mensch», sagte sie und tippte aufgeregt mit dem Zeigefinger auf den Hängenden Mann, der direkt neben dem Turm lag (der fast so etwas wie eine Leiter war, eine Leiter in einer Scheune!) und gefolgt wurde vom Tod in der näheren Zukunft: Carls Gedächtnisverlust. Der Tod seiner früheren Identität.

Fassungslos schüttelte Michelle den Kopf. «Das ist manchmal Wahnsinn, wie genau die Karten Bescheid wissen! Und dass du das gespürt hast … ich sage das nicht nur, um dir zu schmeicheln. Aber ich bin da ganz offen, und ich hab das vom ersten Moment an gewusst, als du die Tür aufgemacht hast, dass du ein ganz besonderer Mensch bist. Ein ganz besonderer Mensch. Und du hast eine große Begabung für die Karten. Der Turm, der Eremit und der Wagen … hast du nicht auch von einem Wagen erzählt mit vier Männern drin? Weil, das sind die Einflüsse hier, die strahlen nach den Seiten aus. Wobei der Wagen auch nur eine Suche bedeutet, die Suche, auf der du bist … die Suche nach deiner Identität. Und der Hängende Mann, ich nehm den meistens raus, wie gesagt, aber der bedeutet als Bedeutung eigentlich nur eine Umkehrung, ein Umdenken der eigenen Situation, und dass du jetzt praktisch noch selbst dieser Hängende Mann bist, weil du da kopfüber an dieser Leiter hängst … das ist einfach nur Wahnsinn.» Ihr Zeigefinger wanderte mit neu gestärktem Selbstvertrauen nach rechts, in die Zukunft. Der Tod der Identität, der Narr, die Hohepriesterin und am Ende das Gericht. Die Karten hatten keine sehr offensichtliche Verbindung mehr, jetzt war Konzentration nötig.

Michelle konzentrierte sich und sagte: «Der Narr auf der Sieben, das ist das Selbst, wie du selbst dich siehst … und das Gericht, das ist das Ergebnis. Was bedeutet das? Das bedeutet das Ende einer Leidenszeit. Ein Neubeginn, würde ich sagen … allerdings liegt die Karte falsch rum, das kann also auch das Gegenteil bedeuten, ich meine, wenn wir sie nicht rumdrehen, und du … nein? Weil, da gibt es unterschiedliche Schulen, ich dreh das meistens rum.»

Michelle heftete einen mädchenhaft-zutraulichen Blick auf Carl, aber der schüttelte hartnäckig den Kopf.

«Also, wenn du nicht willst … na ja, so kann das Gericht auch den Anfang einer Leidenszeit bedeuten, es kann Schmerzen bedeuten, wenn das so liegen bleibt, aber es bedeutet eigentlich nur die Möglichkeit von Schmerzen, das heißt, wenn du dich falsch verhältst. Das hängt immer von dir ab. Das Tarot zeigt die Wege, und welchen du letztlich wählst, ich meine … was das genau bedeutet mit der Hohepriesterin auf der Acht und den Schmerzen …»

«Die Hohepriesterin der Schmerzen, das bin natürlich ich», sagte Helen, stieg durch die Bougainvillea auf die Terrasse und marschierte an den beiden vorbei ins Haus. Verwirrt sah Carl auf, und Michelle zog den Kopf ein wie ein Kind, das man bei Doktorspielen überrascht hat. Sie wusste, was Helen von den Karten hielt, von arkanem Wissen und Spiritualität, und gleichzeitig durchfuhr es sie wie ein Blitz: Das waren genau die Eigenschaften der Hohepriesterin, Klugheit und Umsicht — die negativ in Rationalismus und Intellektualismus umschlagen konnten. Wenn die Karte falsch herum lag. Und sie lag falsch herum.

38. KAMPF DER HÄUPTLINGE

«Anspielungen, in dem Buch sind Anspielungen», dachte ich, «ich will sofort mein Geld zurück.»

Marek Hahn

Wie sich herausstellte, hatte Michelle direkt im Anschluss an und vermutlich ausgelöst durch Helens Besuch in der Kommune beschlossen, diesem grausamen und gewalttätigen Kontinent für immer den Rücken zu kehren. Einiges Geld für ihr Flugticket nach Amerika hatte sie unter ihren Freunden zusammengekratzt; nun hoffte sie, dass Helen ihr noch etwas zuschießen würde. Im Gegensatz zu Helen hatte Michelle sich nie für materielle Dinge interessiert, und das Gepäck, das sie bei sich trug, bestand fast ausschließlich aus geistigen Gütern; dem Amulett mit dem Zahn eines Ouz, das Ed Fowler ihr zum Abschied geschenkt hatte, den Tarotkarten, ihren Lieblingsbüchern und dazu, wie sich bald herausstellte, auch einem Stapel Schundheftchen, die Michelle in ein Handtuch eingewickelt mitnahm, als sie noch am frühen Vormittag gemeinsam zum Strand aufbrachen.

Dort herrschte um diese Zeit wenig Betrieb. Ein Dunstschleier verdeckte die Sonne, Helen und Carl setzten sich auf ein großes Handtuch und diskutierten, während Michelle sich etwas abseits auf dem Bauch liegend in die bunten Geschichten vertiefte. In ihrer Haltung lag etwas, das mögliche Kritik an der Qualität ihrer Lektüre von vornherein abblocken zu wollen schien. Nachdem sie ein paar Seiten umgeblättert hatte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie Helen aufgesprungen war und zum Bungalow hochlief. Carl blieb in Gedanken verloren zurück und erwiderte Michelles freundliche Blicke fast gar nicht. Michelle versuchte, sich wieder auf ihr Heft zu konzentrieren. Langsam füllte sich der Strand. Nach etwa einer Viertelstunde kam Helen mit einem Zettel in der Hand zurück und setzte sich sehr dicht neben Carl.

«Also Folgendes. Es gibt keinen Cetrois», erklärte sie mit gedämpfter Stimme. Carl nahm Helen den Zettel aus der Hand und starrte darauf.

«Da ist nichts. Da ist niemand, der so heißt. Es gibt den Namen nicht. Ich hab in Frankreich angerufen, in Amerika, ich hab in London angerufen, Freunde in Spanien und in Kanada, ich hab alle gebeten, in ihrem Telefonbuch nachzugucken. Nicht ein einziger Treffer. Kein Cetrois. Kein Cetroix, kein Sitrois, kein Setrois … nichts.»

Mit zusammengekniffenen Augen schaute Carl auf die Liste mit den durchgestrichenen Ortsnamen: Paris, London, Sevilla, Marseille, New York, Montreal. Darunter ein Dutzend verschiedene Schreibweisen des Namens, jeweils mehrfach abgehakt.

«Wo du überall Freunde hast», murmelte er beeindruckt.

Vor allem beeindruckte ihn, wo überall auf der Welt man von diesem kleinen Ferienbungalow aus anrufen konnte und wie schnell Helen die Recherche durchgeführt hatte. Aber irgendetwas an ihrer Aufstellung irritierte ihn auch, schien ihm fehlerhaft. Nur was? Verwirrten ihn die falsch geschriebenen Namen? Oder Helens Versalienhandschrift, in die sich als einzige Minuskel das n verirrt hatte? Er dachte lange darüber nach, was es war, aber er kam nicht drauf. (Und als er drei Tage später draufkam, war es bereits zu spät.)

Während Helen sich mit einem Seufzer wieder in der Sonne ausstreckte und, einen Arm als Sonnenschutz über die Augen gelegt, vom frankophonen Kanada sprach und von ihrem Freund in Paris, studierte Michelle mit hingebungsvollem Gesichtsausdruck die Bildhintergründe. Sie hatte dieses Heft bestimmt schon zwanzigmal gelesen, aber in den Hintergründen gab es immer noch neue, wunderbare kleine Details zu entdecken. Ab und zu warf sie einen scheuen Blick nach nebenan, und als das Gespräch dort verebbt war und Carl ihren Blick wie zufällig einmal erwiderte, bot sie ihm auch eins von ihren Heftchen an. Zerstreut blätterte Carl es auf. Es hieß «Der Kampf der Häuptlinge».

Auf der ersten Seite sah man die französische Landkarte mit einer in den Boden gerammten römischen Standarte und einer großen Lupe über der Bretagne; darunter ein von vier römischen Lagern umgebenes gallisches Dorf. Es kam Carl vage bekannt vor. Auch die Personenbeschreibungen auf der nächsten Seite kamen ihm vage bekannt vor.

Während er versuchte, den Sinn der teils eiförmigen, teils runden und wolkenförmigen Sprechblasen zu verstehen, hörte er zwei Frauenstimmen hinter sich, eine bekannte und eine unbekannte. Er drehte sich nicht um. Er sah nur, dass Helen ihr Gesicht auf das Handtuch presste und die Arme um ihren Kopf schlang, wie um sich die Ohren zu verschließen.

Die unbekannte Stimme redete mit hartem deutschem Akzent von Duisburg, Kohlebergbau und Kultur, die bekannte, Michelle gehörende, steuerte Adjektive bei.

Die ersten Bildkästchen zeigten den Kontrast zwischen an die römische Zivilisation angepassten, leicht lächerlich wirkenden Galliern auf der einen und urwüchsigen, Wildschweine jagenden Prachtkerlen auf der anderen Seite. Ein Druide verlor seine Fähigkeit, Zaubertrank zu brauen, mitsamt seinem Gedächtnis durch einen Schlag auf den Kopf; und ein zweiter Druide namens Amnesix, der im Wald eine Art psychologischer Praxis betrieb und dem man die Krankengeschichte des Kollegen mit einem Hinkelstein zu erklären versuchte, verlor ebenfalls sein Gedächtnis.

«Die Wirklichkeit ist ein Spiegel», sagte Michelles Stimme, «durch den deine Hand hindurchgreift.»

Beide Druiden kannten nun nichts und niemanden wieder. Man stellte ihnen Kessel und Kräuter bereit, in der Hoffnung, sie würden sich unbewusst an ihre Zauberformeln erinnern, aber alle Tränke, die sie brauten, verursachten nur Gesichtsverfärbungen und kleinere Explosionen und ließen zuletzt einen römischen Legionär, der als Versuchskaninchen diente, wie einen Heliumballon davonfliegen. Ein dicker Gallier glaubte, den Gedächtnisverlust durch einen zweiten Schlag mit dem Hinkelstein kurieren zu können, ein Lämpchen leuchtete über seinem Kopf. Ein kleiner Gallier sprach drei wütende Ausrufezeichen.

«… nur Akasha nicht. Aber meine vier besten Freunde, und die sind jetzt in einer besseren Welt, das weiß ich positiv. Wenn man lange in der Wüste gelebt hat, wird der Blick ein anderer.»

Die überraschende Heilung bewirkte schließlich ein blassgrüner, unter blubbernden Inflektiven zusammengebrauter Trank, an zu Berge stehenden Haaren, rotierenden Augen und dampfenden Wölkchen vor den Ohren des Druiden auch für den ungeübten Leser erkennbar. Im Schlussbild ein Fest, ein Feuer und ein geknebelter Troubadour, und auch das kam Carl irgendwie vage bekannt vor. Er war verwirrt. Aber was ihn vielleicht am meisten verwirrte, war die Sekretärin des Druiden Amnesix. Sehr schlank, sehr schön und sehr blond, erschien sie Carl wie das genaue Abbild Helens. Er warf dem Original einen raschen Blick zu, dann schaute er von Helen zu Michelle, und da war noch jemand. Eine blasse, weibliche Person.

Mit der ebenfalls von ihrer italienischen Großmutter stammenden Kontaktfreude hatte Michelle wenige Minuten zuvor die Bekanntschaft dieser deutschen Urlauberin gemacht, die sich sofort als überraschend vernünftig erwies. Die Deutsche trug einen grün-gelb gestreiften Badeanzug, radebrechte Englisch und arbeitete in einem Beruf, den sie selbst als «woman for everything» bezeichnete. Michelle zeigte ihr die Tarotkarten, sie sprach über den Hirseanbau und das Klima, und die Deutsche klagte über Politik. Nicht dass sie etwas für die Israelis übrighätte, aber was dort in München geschehe, sei doch schrecklich! Natürlich könne man die Verzweiflung der Palästinenser verstehen, könne verstehen, dass sie die Juden auch und gerade im Ausland angriffen, denn was hätten sie sonst schon für Möglichkeiten, die Weltöffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen? Weshalb das ganze Attentat eben auch die Folge der internationalen Politik, des Verhaltens der Staatengemeinschaft sei — und dennoch! Es seien auch unschuldige Menschen darunter. Könne man zynischer argumentieren als ‹The games must go on›? Die beiden Frauen vergossen einige Tränen. Der Wind frischte auf. Michelle wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal so gut unterhalten hatte. Es war wohltuend, an der Schulter der Deutschen zu lehnen, die ein wenig nach Mayonnaise roch, sich seinen Gefühlen hinzugeben und dabei aufs Meer zu sehen, hinter dem irgendwo Amerika lag, das, wie Michelle soeben erfahren hatte, ebenfalls von Juden regiert wurde. Jedenfalls ökonomisch gesehen. Diese Deutsche wusste allerhand. Mit einem nachdenklich an die Unterlippe gelehnten Zeigefinger schlug Michelle vor, die Tarotkarten zum Palästinakonflikt zu befragen.

Sie sprach mit leiser Stimme, aber auf dem anderen Handtuch beachtete man die beiden Frauen ohnehin nicht. Carl hatte Helen gerade irgendeine Frage gestellt, Helen hatte aufgeregt geantwortet, und schon waren sie wieder in eine kopflose Konversation über diesen Mann namens Cetrois vertieft. Cetrois hier, Cetrois da.

«Was habt ihr eigentlich immer mit diesem Cetrois?», rief Michelle.

Sie begann, der Deutschen, die im Übrigen Jutta hieß, das Legesystem zu erklären, die Erweiterung des Keltischen Kreuzes. Sie erwähnte den altägyptischen Ursprung des Spiels, das große und das kleine Arkanum, das Prinzip und das umgekehrte Prinzip, und zwischendurch, als es nebenan kurz still geworden war, wiederholte sie ihre Frage.

«Möchtest du ein Stück Schokolade?», antwortete Helen.

Ohne ihre Jugendfreundin eines Blickes zu würdigen, legte Michelle den Hierophanten auf die Eins. Warum musste Helen sie immer wieder spüren lassen, wie wenig sie von ihren geistigen Fähigkeiten hielt? Außerdem wusste Helen genau, dass Michelle grundsätzlich keine Schokolade aß, das setzte bei ihr immer sofort an den Oberschenkeln an.

«Ich frag ja nur! Cetrois hier, Cetrois da.»

«Es gibt keinen Cetrois», sagte Helen ärgerlich.

Und die Wellen rauschten an den Strand, die Möwen schrien über ihren Köpfen. Jeden normalen Menschen hätte die herrliche Natur beruhigt und entspannt. Nicht so Helen.

«Natürlich gibt es Cetrois», sagte Michelle. Sie hielt die nächste Karte mit der Rückseite nach oben und drehte sie feierlich um. Der Magier auf der Zwei. Den Hierophanten als Ausgangssituation mit dem Magier in den Einflüssen fand Michelle nie sehr einfach zu interpretieren. Man täuschte sich hier leicht, wenn man Religiosität mit Religion verwechselte. «Ich kenne ihn», murmelte sie und legte die Mäßigkeit auf die Drei. Die Mäßigkeit neben dem Magier, das ergab erst mal überhaupt keinen Sinn jetzt. Man würde abwarten müssen. Oft stellte sich der Zusammenhang erst aus dem Zusammenhang her. Als Nächstes kamen der Eremit, der Stern, der Triumphwagen … und schließlich hob Michelle den Kopf in das entsetzliche Schweigen hinein, das sie auf einmal umgab.

Helen und Carl waren aufgesprungen und starrten sie an. Mit so viel Aufmerksamkeit hatte sie nicht gerechnet. Ruhig legte sie die restlichen Karten aus. Das Rad des Schicksals, die Liebenden, der Herrscher …

«Was!», rief Helen.

«Du kennst ihn?», rief Carl.

Was war denn das für ein Ton? Sie ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie wieder aufsah.

«Du kennst ihn?», rief Helen.

«Ja, natürlich», sagte sie achselzuckend zu Jutta, und Jutta nickte verständnisvoll. «Aber mich fragt ja immer keiner!»

Sie machte einen Schmollmund und betrachtete mit freundlich-selbstbeherrschtem Blick den freundlich-selbstbeherrschten Herrscher auf der Zehn. Würde der Herrscher Palästina Frieden bringen? Das war die Frage. Die Karte schien diese Deutung nahezulegen, aber leider nur eine halbe Sekunde lang. Dann wurde Michelle an der Schulter herumgerissen. Helen. Neben ihr Carl. Schreiend. Bis hierhin war es ein Triumph gewesen. Jetzt wurde es sofort unangenehm. Und gern hätte Michelle die Antwort auf die überaus unhöflich gestellten Fragen verweigert oder wenigstens hinausgezögert, aber wenn die Jahre in der Kommune sie eines gelehrt hatten, dann, dass ein Herumgerissenwerden an der Schulter das Ende der freundlichen Kommunikation bedeutete. Und wie hieß es so schön? Der Klügere gibt nach!

«Der Klügere gibt nach», sagte Michelle, strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr und begann, stockend und etwas ängstlich angesichts der nun direkt über ihr stehenden Helen zu berichten, dass sie diesen Cetrois kannte, ja natürlich, sie kenne ihn, und warum denn auch nicht? Also nicht direkt, aber … und woher? Ja, woher denn wohl schon, ob sie sich das nicht denken könnten. Das liege doch nahe, wo sie die letzten Jahre an nun wirklich keinem anderen Ort als der Kommune verbracht habe, und genau da und … nein! Kein Mitglied der Kommune, Himmel, Mitglied der Kommune sei der nicht gewesen … und was solle denn das? Wolle man sie bitte nicht immer an der Schulter reißen und sie einfach erzählen lassen? Sie erzähle ja bereits, und auf die eine Sekunde komme es doch nun sicher auch nicht mehr an. Sie könne auch nur erzählen, wenn man sie nicht bedränge, so sei sie, Michelle, nun eben, sie sei, wie sie sei, ein ruhiger, mit sich selbst im Reinen seiender Mensch, und wenn es nicht ruhig gehe, dann gehe es eben überhaupt nicht …

Helen scheuerte ihr eine. Es war die erste Ohrfeige, die Michelle in ihrem Leben erhalten hatte, und es blieb völlig im Dunkeln, ob sie eine therapeutische Wirkung zeigte oder nicht. Wenn man ein Aspirin nimmt und die Kopfschmerzen weggehen, weiß man ja auch nie, was die Heilung bewirkt hat. Und was sich jetzt innerhalb weniger Sekunden herausstellte, war, dass Michelle auch nicht wusste, wer dieser Cetrois war. Weder hatte sie ihn gesehen noch gesprochen … und nein, persönlich schon gar nicht. Nur habe er eben kurz nach dem Massaker die Kommune besucht. Im Auftrag einer Versicherung. Ein Versicherungsagent offenbar.

«Also, erst dachten wir Journalist, dann Detektiv oder so was. Und dann vielleicht Versicherungsvertreter. Agent. Wobei, das haben die anderen gesagt, ich hab ja, wie gesagt, grad geschlafen. Nun lass mich doch.»

Sie ließen sie nicht.

«Welche Versicherung?»

Michelle wand sich, hustete, blickte umher. Diese bohrenden Fragen. Wieder einmal reichte es nicht, etwas zu wissen. Immer musste alles genau begründet werden und belegt, die westliche Krankheit. Und so genau wusste sie es dann ja auch wieder nicht.

«Ich weiß nur, was die anderen mir erzählt haben», erklärte sie und unterstrich ihre Worte mit dramatischen Gesten. Denn es war offenbar ein dramatischer Vorgang. «Ich hab ja auch damit nichts zu tun! Nur dass es ein paar Tage nach diesem schrecklichen Überfall war. Die Polizei hatte alles durchsucht, stundenlang, und dann kam dieser Mann. Weil, Ed Fowler … Ed, Eddie, den hast du auch kennengelernt, der hatte ja eine Versicherung bei dieser englischen Firma —»

«Eine Lebensversicherung? Diebstahl?»

«Ja … nein. Auch. Er hatte irgend so eine Versicherung, frag mich nicht. Für das Materielle habe ich mich noch nie interessiert, und auch Ed hat sich nicht dafür interessiert. Das war seine Familie, die hat das für ihn gemacht. Er kommt doch aus diesem stinkreichen Elternhaus, und die wollten unbedingt, also, die hatten anscheinend eine Versicherung für ihn abgeschlossen, und woher soll ich denn wissen, was für eine?» Michelle machte eine kurze Pause, aber wirklich nur eine winzige Pause. «Jedenfalls stand ja in allen Zeitungen das mit dem Bastkoffer und dem Geld. Der goldene Koffer voller Geld. Das hatten ja alle gesehen, da standen ja tausend Leute vorm Haus, die diesen schmutzigen Amadou gesehen hatten, wie er mit dem Koffer … und du weißt, wie die Araber sind. Gold und Geschmeide! Man bringt ja keine vier Leute um wegen nichts. Dabei war das nur so ein Bastkoffer. Mein Koffer im Übrigen. Den mussten wir in der vierten Klasse mal machen, gelb mit roten Sternen drauf und so. Die sind aber später abgefallen. Und da hatte dann irgendjemand Papiergeld reingetan. Aus’m Osten. Was aber nichts wert war.»

«Und was war das wert?»

«Nur ein paar Dollar, hat Ed gesagt.»

«Das wusste aber keiner?»

«Doch. Die Polizei — am Anfang haben wir halt schon alles erzählt. Im ersten Schock. Und dann kam Ed aber drauf … jedenfalls hieß es dann Dollars. Dass da Dollars drin waren. Und Wertgegenstände. Gold.»

«Und da habt ihr dann versucht, die Versicherung zu bescheißen. Kann es sein, dass das Lloyd’s war?»

«Das weiß ich nicht, ob das Lloyd’s war. Ich hatte auch nichts damit zu tun! Ich dürfte da eigentlich gar nicht mit euch drüber reden.» Michelle richtete die vor ihr liegenden Karten am Muster des Badelakens aus. Für die palästinensische Zukunft sah es auf einmal überraschend düster aus. Sie wollte die Unterhaltung jetzt auf keinen Fall weiterführen.

«Aber gesehen hast du den nicht?»

«Nein.»

«Und woher weißt du, dass der Cetrois hieß?»

«Weil das die anderen gesagt haben, mein Gott! Die mit ihm gesprochen haben. Dass der so hieß.»

«Und der kommt da an bei euch, klopft an der Tür und stellt sich vor als Versicherungsagent Cetrois.»

«Ja … nein … nein, nicht als Versicherungsagent. Aber das haben wir uns dann gedacht, wir sind ja nicht doof! Ich meine, vorgestellt hat der sich als … ich weiß es nicht mehr genau, als Journalist oder was, hab ich vergessen. Aber das war ja klar, dass das kein Journalist war. Dass der wegen dem Geld kam. Weil der immer danach gefragt hat. Geld, Geld, Geld! Geld hier, Geld da, Geld überall! Und jetzt sagt ihr doch mal, warum interessiert ihr euch denn für den?» Michelle kämpfte mit den Tränen, und Jutta, die die ganze Zeit mitfühlend geschwiegen hatte, ergriff ihre Hand.

39. OHNE LEICHE KEIN MORD

Ich meine, natürlich bewege auch ich meine Kamera. Aber nur, wenn ich auch einen Grund dafür sehe.

Cronenberg

Ein großes Gebäude und zwei kleinere, mitten in der Wüste. Canisades suchte nach Reifenspuren, die von der Piste abzweigten, und steuerte ihnen folgend auf die Gebäude zu. Auf dem Dach einer der Baracken war Wäsche zum Trocknen ausgelegt. Die riesige Scheune lag halb verfallen, Sanddünen leckten die Wände hinauf. Ein Müllhaufen hatte zwei Vögel angezogen. Es war anzunehmen, dass das Anwesen noch vor zwanzig, dreißig Jahren auf fruchtbarem Boden gestanden hatte, von der Oase aus bewässert worden war oder von einem eigenen, nun ausgetrockneten Brunnen. Dass hier noch jemand lebte, konnte nur zwei Gründe haben. Entweder war der Besitzer verrückt, oder Schmuggler benutzten die alte Scheune als Lager. Canisades parkte den Wagen. Sofort kam ein alter Fellache auf ihn zugeschwankt. Schon physiognomisch gewann die «Verrückt»-Hypothese an Plausibilität. Halb blind, stark schielend, ein Auge trübweiß verschleiert.

«Ein Jammer, ein Jammer!», rief er sofort. «Sind Sie der Gendarm? Kein Geld dieser Welt kann mir das ersetzen. Meine Söhne! Tausende von Dollar, Tausende und Tausende, meine prächtigen Söhne, Licht meiner Augen, Sonne meines Alters! Auf meinen Armen gewiegt, die beiden, die Jungen, die Prinzen. Ich flehe Sie an, kein Geld auf Erden.»

Canisades, der nicht die Absicht gehabt hatte, irgendwas in dieser Welt mit Geld zu ersetzen, wich einen Schritt zurück.

«Mohammed Bennouna? Das ist Ihr Hof?»

Der Mann nickte malerisch. «Tot und verschollen! Schmerz in meiner aufrichtigen Brust, ich lüge nicht! Einst ein paradiesischer Garten, jetzt stinkende Wüste. Nur ein Ungläubiger … vom Himmel gefallen … und so hat er sie erschlagen, so! Mit beiden Händen.» Er schwang einen imaginären Flaschenzug über seinem Kopf. «Möge er in der tiefsten Hölle … ich fluche nicht. Die Schmerzen. Allah stellt mich vor die schwerste Prüfung, das ist gerecht. Aber mein Goldjunge, mein Silberjunge, ermordet, geschändet, verschollen …»

«Wo sind die Toten?»

«Kann man weiterleben mit diesen Gedanken? Das frage ich. Wie soll der für immer zertrümmerte Schädel meines Sohnes … unter keinen Umständen. Das Moped ist weg, meine Söhne sind weg, die Stützen meines Alters … unbezahlbar! Und der Schmerz in meiner Seele noch nicht eingerechnet.» Der Fellache fiel vor Canisades auf die Knie und umklammerte dessen Beine. Seine Alkoholfahne erklärte das nur unzureichend. Canisades versuchte es zuerst mit Rückwärtsgehen, dann mit Beschimpfungen. Auf allen vieren kroch der Alte hinter ihm her.

«Zeig mir die Toten. Du hast zwei Tote gemeldet. Und hör auf, meine Schuhe vollzusabbern.»

Der Fellache jammerte weiter, und erst, als Canisades seinen Autoschlüssel herausholte und drohte, nach Targat zurückzufahren, besann er sich. Immer noch kläglich, aber relativ umstandslos und mit großen Gesten, während er Canisades herumführte, berichtete er, was sich zugetragen hatte; oder wovon er glaubte, dass es sich zugetragen hätte. Offenbar hatte er zwei Söhne gehabt. Der Ältere einundzwanzig (Licht meiner Augen, Sonne meines Alters usw.) und mit einem schweren Gegenstand (der Alte behauptete: einem Flaschenzug) erschlagen; der Jüngere sechzehn, in die Wüste geflohen und dort ebenfalls erschlagen. Am selben Tag.

Wie der Alte zu dieser Einschätzung kam, blieb allerdings im Dunkeln, denn weder hatte er die Morde beobachtet, noch gab es, wie sich bald herausstellte, irgendwo eine Leiche oder auch nur Spuren des Verbrechens zu besichtigen. Auch der angebliche Täter, den der Alte hartnäckig einen vom Himmel gestürzten Ungläubigen nannte, schien undeutlich und nebelhaft. Einerseits meinte der Fellache, ihn genau gesehen (und mannhaft mit ihm gerungen) zu haben, andererseits konnte er nichts weiter zur Person angeben, als dass sie eben «ungläubig» und «vom Himmel gefallen» gewesen sei. Es dauerte eine Weile, bis Canisades begriffen hatte, dass sich der ganze Vorgang nicht unter freiem Himmel, sondern in der Scheune abgespielt hatte, wo der Mann folglich nicht vom Himmel gefallen, sondern wohl irgendwo heruntergesprungen war; während die Eigenschaft der Ungläubigkeit sich anscheinend aus der Tatsache ergab, dass er ein solches Verbrechen zu verüben imstande gewesen war. Aber das war es im Wesentlichen mit der Faktenlage. Mehr ließ sich den Tiraden des körperlich wie geistig umhertaumelnden Fellachen nicht entnehmen.

Nachdem Canisades zum vierten oder fünften Mal die Toten zu sehen verlangt und schließlich erneut mit dem Autoschlüssel gewinkt hatte, änderte der Alte auf einmal seine Strategie, machte ein verdutztes Gesicht und zeigte sich brüsk erstaunt über das Versagen der Polizei. Vier Tage. Vier Tage habe er gewartet! Und keine Polizei. Dann seien die Ratten gekommen, die Sonne brannte, und natürlich habe er den Toten begraben! Während der andere ja in die Wüste, wie gesagt … wo er ebenfalls erschlagen … sonst wäre er ja zurückgekommen. Der Goldsohn, der Silbersohn, Licht seines Alters.

«Aber den einen hast du begraben? Zeig mir das Grab.»

Tränen liefen dem Alten übers Gesicht. Er sackte auf der Stelle zusammen, wiederholte, was er schon zehnmal zuvor gesagt hatte, in anderen Worten, und Canisades musste nicht lange darüber nachdenken, warum der Fellache so entsetzlich faselte: Offenbar hatte er nicht nur den ersten Sohn in der Wüste aus den Augen verloren, sondern auch keine Ahnung, wo er den zweiten begraben hatte. Entweder das … oder er hatte ihn nicht begraben.

So ausdauernd sprach er von mit Geld nicht oder kaum aufzuwiegenden Schmerzen und anderem Unsinn, dass Canisades schließlich statt der Toten die Ausweise oder Geburtsurkunden beider Söhne zu sehen verlangte, denn er ahnte, dass es dergleichen nicht gab.

Mit großer Zuversicht führte der Alte Canisades in die kleinste der Baracken und zeigte ihm eine Reihe von beschriebenen und bedruckten Zetteln. Canisades entzifferte fragwürdige Briefe, Flaschenetiketten, Kochrezepte und eine Fernsehzeitschrift. Der Mann war Analphabet.

Bis auf einen schmalen Gang in der Mitte war die Baracke knietief mit Gerümpel gefüllt und stank noch schlimmer nach Alkohol als ihr Besitzer. Aus einer kleinen Kiste zog der Fellache schließlich eine Fotografie hervor und hielt sie Canisades hin: der Suq von Tindirma und eine ungeordnete Menschenmenge. Ein Händler vor einem primitiven Holzgestell, das behängt war mit Flaschen, Gläsern, Karaffen, Kanistern. Unweit des Händlers zwei kleine Kinder. Der große schwarze Daumen des Alten zitterte über den drei kleinen Gestalten hin und her. Ich. Mein Sohn. Mein anderer Sohn. Tot und verschollen.

Beide Kinder auf dem Bild trugen Mädchenkleidung, auch ihre Gesichter waren weich und mädchenhaft. Allein der Alte sah sich selbst etwas ähnlich.

«Geburtsurkunden», wiederholte Canisades.

Die Meldung der seelischen Schmerzen setzte wieder ein, doch statt amtlicher Papiere tauchte am Ende allein ein stinkender Strohsack auf, der die Schlafstatt der beiden Jungen gewesen sein sollte.

Was für den Fellachen sprach, war immerhin, dass er nach Alkohol stank und von Sünde faselte. Dass ein alter Schnapsbrenner sich grundlos die Polizei ins Haus holte, war unwahrscheinlich. Niemand holte hier freiwillig die Polizei. Die Verzweiflung des Alten war also vermutlich echt und dass zwei seiner Kinder verschwunden waren, im Bereich des Vorstellbaren. Aber mussten sie deshalb tot sein? Hatten sie überhaupt existiert? Möglicherweise, dachte Canisades beim Anblick des Fotos, waren die mädchenhaften Söhne auch schon seit Jahren verschollen oder verstorben, und nur das in Alkohol eingelegte Hirn des Alten vermeldete von Zeit zu Zeit noch einmal ihr Fortleben, Wiederauftauchen und erneutes Verschwinden. Korsakow im Endstadium.

«Wollen wir mal die Scheune besichtigen?», schlug Canisades vor, um die Sache abzukürzen. Wie erwartet sperrte sich der Alte. Auf keinen Fall wollte er die Scheune vorzeigen. Damit konnte man den Fall getrost abschließen. Es war nicht klar, ob es ein Verbrechen gegeben hatte; aber wenn es eines gegeben hatte, war es offensichtlich das, was Canisades schon von der ersten Sekunde an vermutet hatte: Einer der zwei Goldjungen hatte den anderen erschlagen und war in die Wüste geflohen. Ein großer Verlust war das nicht. Er fühlte sich zur Strafverfolgung nur in Maßen motiviert.

«Ohne Leiche kein Mord», zitierte er das Lehrbuch. «Solange du nicht weißt, wo du deinen Jungen begraben hast, gibt es keinen Jungen. Und solange du hier keine Leiche findest, rufst du gefälligst auch nicht noch mal die Polizei. Oder wir schauen doch noch mal nach, was du da oben in der Scheune zusammenbraust, klar?»

«Aber da, da hab ich ihn begraben, da!», rief der Alte und zeigte verzweifelt aus dem Fenster in die Wüste. Irgendwo da, irgendwo in der Nähe, sicher nicht weit, man könne ja suchen. Sein Finger zitterte, und vor dem Fenster huschte ein Schatten vorüber. Um den Schatten wahrzunehmen, waren die Augen des Alten allerdings zu schwach, und Canisades stand mit dem Rücken zum Fenster. Der Schatten bewegte sich auf Canisades’ Auto zu, blieb daneben stehen und duckte sich.

40. DIE UNSICHTBARE KÖNIGSBRIGADE

Manche Menschen — und ich selber gehöre zu ihnen — haben für Happy Ends nichts übrig. Wir fühlen uns hintergangen. Unglück ist das Normale. Das Verhängnis sollte nicht klemmen. Die Lawine, die in ihrem Lauf ein paar Meter über dem sich duckenden Dorf zum Stillstand kommt, benimmt sich nicht nur unnatürlich, sondern unmoralisch.

Nabokov

Amadou hatte sich zwei Tage lang im Salzviertel versteckt, dann waren die Bulldozer gekommen. Er lebte auf der Straße, er schlief am Strand, er hungerte. Nach Tindirma zurückzukehren, wo er zuletzt gewohnt und vier Menschen erschossen hatte, war das Gefährlichste und Dümmste, was er machen konnte, aber bald wusste er sich keinen anderen Rat mehr.

Er erreichte früh am Morgen die Piste und marschierte zügig voran. Doch er hatte seine Kräfte überschätzt. Die nackten Füße schmerzten, der Durst quälte ihn bei jedem Schritt. Als er in einiger Entfernung ein großes Gebäude und ein paar kleinere entdeckte, schlich er dorthin. Im ersten Moment schien das Anwesen verlassen. Einen Brunnen fand er nicht. Von Baracke zu Baracke stolpernd, entdeckte er nur einen ausgestreckt auf der Erde liegenden, alten Fellachen, der aussah wie tot. Ein Auge weiß getrübt. Doch sein Brustkorb hob und senkte sich. Amadou wagte nicht, den Mann zu berühren. Neben seinem Kopf stand ein Kanister. Eilig riss Amadou den Kanister hoch, trank zwei Schlucke und spuckte aus. Hochprozentiger Alkohol.

Hustend und röchelnd durchstöberte er die restlichen Gebäude und die Scheune, und weil er nirgends Wasser fand, versuchte er am Ende, seinen Durst aus dem Kanister zu stillen. In ganz kleinen Schlucken, schien ihm, müsse es gehen. Es ging nicht. Es brannte entsetzlich.

Er fand ein paar Fässer, eine Leiter und einen abgerissenen Flaschenzug. Über ihm eine Luke zum Dachboden. Gerade fragte er sich, wie er dort hinaufgelangen könne, da hörte er in der Ferne ein Geräusch.

Durch die Ritzen der Bretterwand hinausspähend, sah er eine sich von der Piste her nähernde Limousine, die nur wenige Meter an seinem Versteck vorüberfuhr und vor den Baracken hielt. Der Fahrer (hellgrauer Anzug, gepflegte Erscheinung) stieg aus, kurz darauf sah Amadou ihn im Gespräch mit dem Fellachen. Sie kamen sofort zur Sache. Der Alte fiel vor dem Fahrer auf die Knie, Amadou hörte das Wort «Geld». Immer wieder bestürmte der Alte den Fahrer, immer wieder war von Entschädigungen und Geld die Rede. Schließlich verschwanden sie in einer der Baracken. Nichts passierte. Die Fahrertür des Autos stand offen.

Amadou wartete kurz, dann schlich er zum Auto und kroch auf den Fahrersitz. Der Zündschlüssel war abgezogen. Er versuchte, die Verkleidung um das Zündschloss mit den Fingernägeln herunterzureißen, und hielt inne, weil er Stimmen zu hören meinte. Er sprang auf die Rückbank, duckte sich und zog einen herumliegenden Pullover über seinen Kopf. Jetzt waren die Stimmen nicht mehr zu hören. Einige Minuten kauerte er so da. Dann hob er unruhig den Kopf und begann, das Auto zu durchsuchen. Unter dem Fahrersitz zog er ein paar Gegenstände hervor. Einen Draht, einen Bleistift, eine Wasserflasche. Er trank die Wasserflasche leer, brach vorsichtig den Bleistift in zwei gleich große Hälften, schlang je ein Ende des Drahtes um je eine Bleistifthälfte und zwirbelte sie fest. Probeweise zog er an den Bleistifthälften. Es klang wie das Summen einer Gitarrensaite.

«… aber allein kann ich gar nichts machen. Und sabber mich nicht voll, Licht deiner Augen, Sonne deines Alters! Ich glaub dir ja, ich glaube dir! Und die Fachleute kriegen heute noch Bescheid, versprochen. Unsere Spezialeinheit für Verzwicktes … Kollegen von der höchsten Kompetenz, die Unsichtbaren Königsbrigaden. Die finden das Grab, ja sicher. Die finden immer alles, und dann wird das untersucht, ohne Leiche können wir ja nichts machen. Und dein anderer Sohn, das wird gründlich gecheckt, ja … natürlich bei meiner Mutter. Glaubst du, ich erzähl dir Unsinn? Du erzählst mir keinen Unsinn, ich erzähl dir keinen Unsinn, das ist die Abmachung … nein, natürlich nicht! Die heißen so, weil sie geheim sind, nicht weil sie unsichtbar sind. Man kann doch nicht unsichtbar sein! Aber du wirst sehen, die sind schnell da, und alles klärt sich auf. Und versteht sich von selbst, dass du da mit niemandem drüber sprechen darfst. Jetzt hör auf, vor mir rumzukriechen … bei Allah, bei meiner Mutter, bei was du willst! Geh weg. Herr im Himmel.»

Canisades stieg in sein Auto, startete den Motor und steuerte, ohne noch einen Blick auf den im Staub knienden Alten mit dem herausgesoffenen Hirn zu werfen, die Piste an. Der elende Gestank von hochprozentigem Alkohol hing ihm noch eine Weile im Auto nach, als hätten seine Kleider oder das Auto den Geruch in dieser kurzen Zeit schon aufgenommen, was wohl kaum möglich war. Ein Phantomgeruch. Aber er wunderte sich nicht allzu sehr. Und eine Minute später war er tot.

41. EIN GELBER MERCEDES MIT SCHWARZEN SITZEN

Ben Trane. I don’t trust him. He likes people, and you can never count on a man like that.

Robert Aldrich, Vera Cruz

Im sechsten Stock des Sheraton lag Michelle in ihrem Zimmer auf dem Hotelbett und schluchzte. Obgleich der Bungalow für drei Personen mehr als ausreichend gewesen wäre, hatte Helen darauf bestanden, sie im Hauptgebäude einzuquartieren, und Michelle, die wusste, was dies bedeutete, war im Grunde ihres Herzens erleichtert. Der Abschied von Afrika war nun auch ein Abschied von Helen, das Ende ihrer ohnehin nie wirklich existiert habenden Freundschaft. Als letzte Demütigung hatte ihre Bekannte aus Kindertagen ihr noch eine genau abgezählte Geldsumme für das Taxi zum Flughafen in die Hand gedrückt, und Michelle, der man vielleicht einiges, aber sicher nicht Sensibilität und Einfühlungsvermögen absprechen konnte, gab sich keinen Illusionen über Helens wahren Beweggrund hin: Eifersucht. Rasende Eifersucht. Helen wollte den bildhübschen, arabischen Mann für sich allein. Und sie sollte ihn haben. Michelle war nicht mehr interessiert.

Während sie langsam wieder Luft zu schöpfen begann und in die entspannte Lethargie nach einem über Stunden sich hinziehenden Weinkrampf hinüberglitt, befanden Helen und Carl sich bereits auf dem Weg nach Tindirma. Bis sie die Wüste erreicht hatten, diskutierten sie noch darüber, wer die Kommune betreten sollte, um Erkundigungen einzuholen. Dann hatte Helen sich durchgesetzt. Michelles letzte Worte gaben den Ausschlag. Fremden gegenüber sei man sehr misstrauisch, nach den jüngsten Vorfällen sowieso, und die Stimmung sei so schlecht, dass ein ziemlich arabisch aussehender Mann wie Carl vermutlich nicht einmal mehr eingelassen werde. Helen dagegen kenne man immerhin als ihre Freundin, und am besten sei es natürlich, wenn sie selbst noch einmal mitkomme, doch sie wüssten ja, dieser schreckliche Ort … nicht um alles in der Welt. Abgesehen davon, dass ihr Flug für morgen fest gebucht sei und so weiter und so fort. Es tue ihr leid. Keine zehn Pferde.

Zuletzt bat sie Helen, ihr eine Reihe von Dingen, die sie in der Kommune vergessen hatte, mitzubringen, und Helen warf den Zettel mit der Liste beim Hinausgehen mit der Bemerkung in den Papierkorb, dass sie zweieinhalb Dinge ohne weiteres auch im Kopf behalten könne.

Der Tag war so heiß wie bisher kein Tag in der Wüste. Carl schloss einmal probeweise das Seitenfenster, um den heißen Fahrtwind abzuhalten. Aber das machte es auch nicht besser. Eine Luftspiegelung ließ die Ziegelkamele aussehen, als schwebten sie über himmelblauen Seen.

«Da liegt was», sagte Carl mit Blick nach links, und Helen fragte ihn, ob er aussteigen wolle.

«Ich weiß nicht.»

Sie ließ den Wagen ausrollen.

Während Carl bis zu den Waden im Sand die Dünen hochstapfte, band Helen sich mit einem Gummiband im Mund ihren Pferdeschwanz neu. Sie sah die schwankende Gestalt den höchsten Punkt der Düne erreichen, sich eine Hand an die Stirn halten und mit den Achseln zucken. Carl war sich nicht sicher, ob er etwas sah. In sehr weiter Entfernung schwebte irgendwo ein hellgrauer Fleck in der Luft, wahrscheinlich ein Stein, der sich im Hitzeflimmern bewegte. Ringsherum endlose Wüste. Am Horizont einige dunklere Punkte, in denen Carl ohne Mühe die Scheune mit den Baracken erkannte, wo das ganze Elend begonnen hatte. Der Drang, noch einmal dort hinzugehen, wechselte ab mit dem Drang, so schnell wie möglich zum Auto zurückzulaufen. Für einen Moment glaubte Carl, das Hellgraue bewege sich nun tatsächlich … aber dann hörte er die Hupe des Pick-ups und ging zurück.

In der kleinen Straße vor der Kommune parkte Helen den Wagen, direkt vor dem großen Tor. Vom Beifahrersitz aus sah Carl, wie sie den Innenhof überquerte, an der Tür klopfte und von einer langhaarigen, jungen Frau eingelassen wurde.

Er wartete. Die Hitze im Auto wurde unerträglich, und nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, stieg er aus und kaufte ein Wasser in einem kleinen Laden ein paar Schritte entfernt, ohne das Tor zur Kommune dabei eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dann wartete er weiter. Schließlich klopfte er selbst an der Tür zur Kommune.

Niemand öffnete ihm, aber weiter oben am Haus ging eine kleine Luke auf, und eine dunkelhäutige Frau mit kurzen Haaren teilte mit, dass es noch dauere. Helen lasse ausrichten, es dauere noch. Ed habe Mittagsschlaf gehalten, und sie hätten zuvor nur diskutiert, und nun diskutierten sie im Zimmer des Ouz … und was er denn wolle. Nein, das sei unmöglich. Einlassen könne man ihn auf keinen Fall, und den Innenhof möge er bitte auch verlassen, das sei nichtöffentliches Gelände, das hätten sie nicht so gern, und überhaupt, warum sei das Tor offen? Das solle er hinter sich zuziehen.

Die Luke wurde geschlossen.

Carl wartete einige Sekunden und klopfte erneut.

«Kannst du Helen kurz holen?»

Der Schatten der Frau hinter dem Fensterglas machte abwehrende Gesten. Nichts passierte. Er rief Helens Namen, er ging im Hof herum. Schließlich setzte er sich wieder in den Honda, suchte Papier und Stift und schrieb an Helen, dass er vergeblich versucht habe, eingelassen zu werden, und sich nun ein wenig die Straßen um die Kommune herum ansehen werde. Er legte den Zettel auf den Fahrersitz, betrachtete ihn kurz und malte zur Sicherheit noch einen Pfeil dazu, um anzuzeigen, in welche Richtung er gegangen war: Schräg die kleine Gasse runter und an Brot, Orangen und Töpfen vorbei.

Auf der Straße war hitzebedingt wenig Verkehr. Es duftete nach frischen Teigwaren, es duftete nach Orangen, und der Töpfer und sein Gehilfe diskutierten die olympische Frage. Neben dem Rinnstein war ein Bettler eingeschlafen. Ein Händler spritzte Obst- und Gemüsereste mit einem Wasserschlauch vom Bürgersteig, und sein gleichmütig heiteres Gesicht nahm den Ausdruck gespielter Bösartigkeit an, sobald er den Strahl auf eine Horde kreischender Kinder in wasserfleckigen Hemden richtete. Eine schwangere Frau stand daneben, glücklich und schön wie der Abend. Ein Junge unterhielt sich mit einem unsichtbaren Hund.

An parkenden Autos entlang schritt Carl die Straße zur Moschee hinunter. Von Zeit zu Zeit sah er sich um. Er fühlte eine leichte Schwummrigkeit. Tiefverschleierte Frauen schlugen ihre Augen nieder, und die Kühlergrills der parkenden Autos blickten ihn an wie schielende Hasen, fühllose Insekten, bebrillte Intellektuelle und bürokratische Fleischfresser. Fischmäulige, chromblinkende Citroëns mit hydropneumatischer Federung glänzten neben heruntergekommenen Straßenkötern mit schweren Lackschäden. Flieder, senfgelb, pink. Carl blinzelte und fasste sich an den Kopf. Am Ende der Reihe parkte ein segelohriger Mercedes, dessen rechtes Hinterrad auf einer zerquetschten Getränkedose stand. Es war eine grüne Dose mit weißer Aufschrift: 7up. Ameisen wimmelten um das dreieckige Loch. Der Muezzin rief. Rechter Hand saßen Männer im Café und klackerten mit Dominosteinen. Linker Hand wurde Backgammon gespielt. «Und dann drehen wir den Teller um und spülen ihn von der anderen Seite, und das wiederholen wir siebenmal.»

Ein Verkäufer kreischte den Kilopreis.

«Na komm. Komm doch, komm her, schau, was ich habe, ja also schau doch, na schau-schau, na komm, komm, was hab ich denn hier, na was, was, na schau, nein, also nein, na los na, hier, ja, komm hier, ja, ja, ja, komm, ja, ja. Schau, schau.»

Ohne zu wissen, was er tat, war Carl stehen geblieben. Er spürte dem sonderbaren Gefühl in seinem Kopf nach und strich sich durch den Siebentagebart. Als er nach einer Weile aus seinen Gedanken erwachte, merkte er, dass er minutenlang auf ein Schaufenster gestarrt hatte. Er stellte den Blick scharf und sah einen dahinter herumhantierenden Mann. Es war das Schaufenster eines Barbiers.

Kurz entschlossen betrat er den Laden, setzte sich auf einen der freien Polsterstühle und bat um eine Rasur. Ein feuchtes und heißes Handtuch schlug in seinen Nacken. Der Barbier war ein kleiner, flinker Mann und redete, während er Carls Bart abschabte, wie das Klischee seines Berufsstandes.

Carl hörte nicht zu, und als er zwischendurch einmal doch zuhörte, ging es anscheinend um einen Kriminalfall. Er starrte sein Spiegelbild an, und sein Spiegelbild starrte ihn an mit einem Ausdruck der Konzentration, der an Leere grenzte. Ein Kriminalfall und seine Verwicklungen. Carl kniff die Augen zusammen und sah im Geiste die grüne Getränkedose unter dem Hinterrad des Autos, doch sah er sie nicht so, wie er sie während seines Spazierganges gesehen hatte, sondern seitenvertauscht und in der Art einer Fotografie: viereckig, verkleinert und mit leuchtenden Farben eingeklebt in das Fotoalbum seines Gedächtnisses.

Der Barbier forderte ihn auf, ruhig zu bleiben. Carl umklammerte mit beiden Händen die Lehnen des Polsterstuhles, und schließlich rief er dem Mann zu, er solle schweigen, und klatschte sich die Hände auf die Augen. Eine Getränkedose unter einem Hinterrad auf einem Foto mit leicht abgerundeten Ecken … das war kein Foto. Es konnte kein Foto sein. Ober- und Unterkante des Bildes waren nicht ganz parallel. Ein trapezförmiges Bild mit runden Ecken und der scharf umrissenen Abbildung einer Getränkedose unter einem Autoreifen. Was zum Henker war das?

«Und seitdem ist er auf der Flucht», fuhr der Barbier unbeeindruckt fort. «Und wenn du mich fragst — Kopf nach links, bitte. Wenn du mich fragst, hat der Hilfe gehabt, von ganz oben. So ein Polizeitransporter ist kein Pappkarton. Ein Freund von mir hat ihn im Leeren Viertel gesehen! Da ist er einfach über die Straße … ist gleich fertig, der Herr. Da hab ich gefragt, warum unternimmst du denn nichts, mein Freund? Und weißt du, was er sagt? Er sagt, was gehen mich die Nasrani an. Da sag ich, ich versteh dich ja, sag ich, aber was du nicht bedacht hast, da ist eine Belohnung ausgesetzt, und da sagt er, vier Nasrani, sagt er, so hoch kann keine Belohnung sein, dass ich mich da einmisch … das ist aber kein Argument, sag ich. Vier weniger sind sie auch so, da kannst du also auch die Belohnung nehmen, weil weg ist weg, und tot ist tot, sag ich, da sagt er …», sagte der Barbier und sagte nichts mehr. Das Rasiermesser in seinen Händen verharrte noch einige Sekunden lang wie versteinert über dem gepolsterten Stuhl, auf dem niemand mehr saß. Im Waschbecken klimperte ein Geldstück, und in der Türöffnung schwebte für Bruchteile von Sekunden scheinbar schwerelos das Handtuch in der Luft, das Carl sich im Hinausrennen von den Schultern geworfen hatte; bevor es zu Boden fiel.

Carl legte die ganze Strecke im Laufschritt zurück. Dabei wischte er sich den Rasierschaum mit dem Ärmel aus dem Gesicht. Er lief an der Reihe parkender Autos entlang zurück wie an einem Gedankengang, den man rückwärts verfolgt. Das Auto mit den segelohrigen Rückspiegeln stand noch immer da, und es war noch immer ein senfgelber Mercedes 280 mit schwarzen Sitzen. Ein pinker Ford davor, ein fliederfarbener Ford dahinter. Er ging um das Auto herum. Dann hockte er sich vor das Hinterrad und betrachtete die Dose 7up, durch deren Trinköffnung Ameisen ein und aus gingen. War es das jetzt? War das das Bild? Er versuchte, die Dose unter dem Reifen hervorzuziehen, was nicht gelang. Es blickte ins Innere des Wagens. Dort konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Sitze schienen aus Leder. Im Fußbereich vor dem Beifahrersitz lag eine braune Tasche, in der ein Packen Papier steckte. Das Fenster stand zwei Finger breit offen, die Tür war verschlossen. Ein gewöhnliches Auto mit gewöhnlichen Dingen darin … er kniete sich erneut vors Hinterrad und betrachtete die Aluminiumdose. Er zerrte daran.

«Was machst du da?» Hinter ihm standen zwei junge Männer. Es waren keine Polizisten. Der eine war der Händler, vor dessen Laden der Mercedes parkte.

Carl winkte ab und versank in der Betrachtung der Getränkedose. Er sah die Ameisenstraße. Er sah die Straße. Er sah das blanke Aluminium.

«Hey, Mann.» Aggressiver Ton. Sehr aggressiver Ton.

«Mich interessiert nur die Dose hier», sagte Carl und versuchte die beiden wegzuwedeln wie Fliegen.

«Du hast an der Tür von dem Auto gerüttelt.»

«Ja und?»

«Ist das dein Auto?»

«Was geht dich das an? Ist es dein Auto?»

«Nein, das ist nicht mein Auto. Aber ist das dein Auto?»

«Ja, das ist mein Auto!», sagte Carl entnervt. Die Dose bewegte sich ein wenig. Er bog eine Ecke nach oben, um sie besser greifen zu können, und rüttelte mit aller Kraft daran. Er wusste überhaupt nicht, was er damit wollte. Die Ameisen krabbelten über seine Finger.

Hinter ihm tuschelten die Männer. Dann sagte der eine: «Hey, wie redest du? Wie redest du denn mit uns?»

Carl schlenkerte eine Hand in seinem Nacken. Sie sollten verschwinden.

«Wenn es dein Auto ist, warum fährst du nicht ein paar Zentimeter vor?»

Carl spürte eine leichte Berührung im Rücken, offensichtlich ein Fußtritt, dachte eine Sekunde nach und sagte: «Gute Idee.» Demonstrativ das Schlüsselbund aus der Tasche ziehend erhob er sich, klopfte den Staub von seinen Knien und ging um das Auto herum in der Hoffnung, dass die beiden Störenfriede dann verschwinden würden.

Tatsächlich gingen sie ein paar Meter weiter, blieben dann aber wieder stehen und beobachteten ihn misstrauisch. Er stellte sich an die Fahrertür, tat, als würde er den Autoschlüssel ins Schloss stecken, und gleichzeitig, als habe er am Ende der Straße etwas höchst Interessantes entdeckt. Es funktionierte. Er sah aus den Augenwinkeln die beiden Männer langsam weiterschlendern. Der Schlüssel rutschte ins Schloss, und mit einem schmatzenden Geräusch öffnete sich die Zentralverriegelung.

42. NICHTS VON BEDEUTUNG

Alicia: My car is outside.

Devlin: Naturally.

Hitchcock, Notorious

Er brauchte einige Minuten, um sich zu beruhigen. Nachdem er auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, fiel sein Blick als Erstes in den rechten Rückspiegel, der im chromglänzenden, leicht trapezförmigen Rahmen mit abgerundeten Ecken eine zerquetschte Getränkedose unter dem Hinterrad zeigte.

Es überwältigte ihn. Er sank mit der Stirn aufs Lenkrad, und die Autohupe schreckte ihn wieder hoch. Er atmete drei-, viermal tief durch und griff nach der Aktentasche auf dem Beifahrersitz, ließ sie fallen und sackte erneut zusammen. Alle Muskelspannung war aus seinem Körper gewichen. Er fühlte sich nicht wohl. Er fühlte sich überhaupt nicht wohl. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er sofort wissen wollte, wer er war. Ob er überhaupt wissen wollte, wer er war. Einige Minuten vergingen. Durch die Windschutzscheibe betrachtete er die schmale Straße, den spärlichen Verkehr und die beiden Männer, die sich in ein nahes Café gesetzt hatten und ihn von dort aus beobachteten. Neben ihnen boxte ein Junge eine Faust in die Luft und rief: «Ouz!»

Hinter den Häusern echote es schwach.

Der Inhalt der Aktentasche war eine Enttäuschung. Der Stoß Papier, der hervorgerutscht kam, war unbeschrieben, etwa zwanzig Blatt, weiß, unliniert. Dazu ein abgegriffener Stadtplan von Targat, ein leeres Brillenetui und weiter nichts.

Carl lief um das Auto herum zum Kofferraum. Darin fanden sich ein bunter Ball und Schraubenschlüssel. Im Handschuhfach lagen zwei braune Glasampullen und unter den Sitzen eine Sonnenbrille, ein Kugelschreiber aus poliertem Metall, zwei flaschenlose Drehverschlüsse mit Coca-Cola-Emblem und eine stumpfe Rasierklinge. Außerdem ein kleiner Notizblock und ein Cardigan aus schwarzer Wolle mit leeren Taschen. Das war alles. Und nichts von alledem erlaubte auf den ersten Blick einen Rückschluss auf die Identität des Autobesitzers. Auch nicht auf den zweiten Blick. Die beiden Glasampullen waren zu neun Zehnteln gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Ein nur auf einer Ampulle undeutlich lesbarer Aufdruck ließ ein Morphiumpräparat vermuten. Der Notizblock war unbeschrieben wie der Stoß Papier. Der Kugelschreiber malte mit blauer Tinte einen Kringel auf den Notizblock. Auf dem Clip des Kugelschreibers war in Schreibschrift der Schriftzug «Szewczuk» eingestanzt. Offensichtlich die Firma.

Carl schraubte den Stift auseinander, malte mit der Mine einen weiteren Kringel auf das Papier und schraubte ihn wieder zusammen. Er faltete den Stadtplan von Targat auseinander, in dessen rechter, oberer Ecke entgegen der geographischen Ordnung Tindirma mit eingezeichnet war. Er klappte das Brillenetui auf und wieder zu und betastete es. Betastete den Ball. Ein aus verschiedenfarbigen Segmenten zusammengenähter Ball für kleine Kinder … blau, rot, gelb und ein verwaschenes Orange, das einen an die Farbe abgeschnittener Fingerkuppen erinnerte, wenn man umständehalber eine Disposition dafür hatte. Gefüllt schien der Ball mit einer Art Holzwolle oder zähem Schaumstoff. Carl drückte und knetete ihn und versuchte, einen Kern zu ertasten. Er biss in den Ball und riss ihn in Fetzen. Holzwolle, Holzwolle, noch mehr Holzwolle. Schließlich nahm er erneut die Aktentasche und dann der Reihe nach alle anderen Gegenstände in die Hand, betrachtete sie und drehte sie hin und her. Er durchsuchte abermals das Handschuhfach und schaute unter alle vier Fußmatten. Im Fußraum des Beifahrers fand er nun noch einen winzigen Bleistiftstummel und einen Einkaufszettel, auf dem untereinander die Worte Obst, Wasser, Eier und Rind standen. Er sah auf den Zettel wie auf eine Mitteilung aus einer anderen Welt und fing an zu weinen.

Mit einer schwungvollen Bewegung warf er dann das Knäuel Holzwolle aus dem Fenster, stopfte alles andere, was er gefunden hatte, in seine Taschen, schloss den Mercedes ab und ging zurück zu Helens Auto. Dort lag seine Notiz unverändert auf dem Fahrersitz, von Helen keine Spur. Das Tor zum Hof der Kommune war nun mit einem Holzgatter verschlossen. Carl rüttelte daran und spähte durch die Ritzen. Er rief Helens Namen.

Schreiend und mit einem Knüppel bewaffnet, trabte hinter ihm ein Mann die Straße hinunter. Von ferne hörte man mehr Geschrei.

Carl setzte sich in den Pick-up, strich seine vorige Botschaft aus und schrieb stattdessen an Helen, dass er zwar noch immer nicht wisse, wer er sei, dass sie aber wahrscheinlich mit zwei Autos nach Targat zurückfahren würden. Denn er habe sein eigenes Auto gefunden, einen gelben Mercedes mit schwarzen Sitzen, in Pfeilrichtung die Straße runter, und ebendort würde er jetzt auch auf sie warten, in einem Café in Sichtweite. Er schrieb, dass er sehr glücklich sei und unglücklich zugleich und inständig hoffe, ihr, Helen, sei nichts passiert. Dann hielt er inne und strich zuerst das Wort «inständig» wieder und dann den ganzen letzten Satz, da er spürte, dass er ihn weniger an Helen als an sich selbst gerichtet hatte. Er las noch einmal den ganzen Text. In winzigen Buchstaben und mehrfach um die Ecke herumgebogen bedeckten seine Zeilen kaum mehr entzifferbar das Papier. Er zog den kleinen Notizblock aus der Tasche, um alles noch einmal ins Reine zu schreiben, und als er den Block auf das Armaturenbrett legte, entdeckte er im seitlich einfallenden Sonnenlicht Einkerbungen auf dem obersten Blatt.

Mit dem Bleistiftstummel schabte er behutsam darüber, und ein Wort in weißen Druckbuchstaben wurde sichtbar: CETROIS.

Weiter nichts. Lange betrachtete Carl die Schrift und schrieb dann die sieben Buchstaben noch einmal daneben. Sie sahen exakt gleich aus. Es war seine Handschrift. Warum hatte er sich den Namen notiert? War er auch schon vor seinem Gedächtnisverlust auf der Suche nach Cetrois gewesen? Bisher war er davon ausgegangen, in dem Gesuchten so etwas wie seinen Freund zu finden, wenigstens eine Art Kumpel. Jedenfalls jemanden, der sein Schicksal teilte, von vier Idioten in weißen Dschellabahs verfolgt worden zu sein. Aber wozu schrieb man sich den Namen eines Kumpels oder eines Vertrauten — und nur den — auf einen Notizblock? Um ihn zu besuchen? Ihn anzurufen? Ihm fiel nichts wirklich Passendes ein, und je länger er auf die weißen Buchstaben starrte, desto sicherer wurde er, dass Cetrois kein Kumpel von ihm war. Jedenfalls keiner, den er gut kannte. Wahrscheinlich sogar ein gänzlich Unbekannter. Helen hatte also vermutlich recht gehabt.

In dem kleinen Straßencafé und mit Blick auf den gelben Mercedes trank Carl ein Eiswasser und wartete. Während er sich sein erstes Erwachen und die Flucht aus der Scheune noch einmal zu vergegenwärtigen versuchte und dabei, ohne es zu merken, mit einer Hand komplizierte geometrische Figuren in die Luft zeichnete, fiel ihm eine Frau am Nebentisch auf, die ihn anstarrte. Ihn anlächelte. Hatten die tastenden Bewegungen seiner Hand sie dazu veranlasst? Oder kannte sie ihn? Er senkte den Blick, und als er sie erneut ansah, lächelte sie noch immer. War das möglicherweise eine Frau aus der Kommune, die Helen ihm hinterhergeschickt hatte? Nein, so sah sie nicht aus mit ihrer gepflegten, adretten Kleidung. Außerdem schien es Carl, als habe er sie das Café aus der entgegengesetzten Richtung betreten sehen.

In den letzten Tagen hatte er sich angewöhnt, auch ganz unbekannten Leuten zuzunicken. Er lächelte zurück. Sofort stand sie auf und kam an seinen Tisch.

«Hallo», sagte sie laut und deutlich.

«Hallo», sagte er.

«Du siehst gut aus», sagte sie, als hätten sie einander lange nicht gesehen, und in ihm arbeitete es — sie kannte ihn! Auch wenn sie ihn offenbar nicht sehr gut kannte, denn bevor sie sich auf den freien Stuhl setzte, hatte sie erkennbar gezögert.

Das Bedürfnis, sich dieser Frau sofort anzuvertrauen, war ungeheuer groß. Sie hatte ein biederes, reizloses Gesicht, und nichts sprach dafür, dass von ihr irgendeine Gefahr ausging … oder? Täuschte er sich? Wenn sie eine Bekannte Adil Bassirs wäre, eine Abgesandte vielleicht, die kam, ihn an das Ultimatum zu erinnern? Aber nein, nein, das war Unsinn. Ihr Gesicht war viel zu harmlos. Und wie hätte sie ihn auch finden sollen?

Er beschloss, stumm bis zwanzig zu zählen und sich ihr dann zu offenbaren. Und wenn er sie reden ließe, würde er vielleicht auch von sich aus erschließen können (oder sie würde es ihm einfach sagen), wer er war … und wer sie war. Vielleicht ist sie meine Frau! zuckte es durch sein Hirn. Aber eine Frau, deren Mann seit Tagen verschollen war, die man gerade vergewaltigt und deren Sohn man einen Finger abzuschneiden gedroht hatte, begrüßte ihren Mann anders. Nein, sie war eine gute Bekannte, entschied Carl für sich, möglicherweise seine Geliebte. Wobei sie ihm für die Geliebte eines Gewaltverbrechers auch wieder viel zu bieder und bürgerlich erschien und auch zu unattraktiv. Allein die kräuselige Dauerwelle. Außerdem stimmte etwas mit ihrem Blick nicht. Ihr Blick war so unstet wie seiner, und als er bei zwanzig angekommen war und die Kommunikation noch immer stockte, erwog er die Möglichkeit, dass auch sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Sie lächelte, wurde wieder ernst, dann lächelte sie wieder. Dann wurde sie wieder ernst. Schließlich wurde sie rot.

«Lass mich nicht alles allein machen», sagte sie.

Oder sie war psychisch krank.

«Ich freue mich, dich zu sehen», sagte er und bemühte sich, ruhig zu bleiben, während seine Füße unter dem Tisch unkontrolliert zuckten. Der Fluchtimpuls war fast so stark wie bei seinem Erwachen auf dem Dachboden der Scheune. Sollte er nicht besser auf seinen Körper hören? Die Frau, die seine Unruhe bemerkte, warf den Kopf in den Nacken und lachte künstlich.

«Es gibt hier in der Nähe ein Hotel», sagte sie.

Carl nickte.

Da wurde sie wieder rot. Sie ist geisteskrank, dachte er, sie redet völlig zusammenhangloses Zeug … nein. Nein, es muss etwas anderes sein. Etwas so Schlichtes und Naheliegendes vermutlich, dass er nicht draufkam. Er entschied sich, das Spiel abzubrechen und sich ihr zu offenbaren. Für alles andere war es auch schon längst zu spät. Er beugte sich über den Tisch und flüsterte: «Ich weiß, es klingt verrückt. Aber ich kenne dich nicht.»

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb absolut unverändert. Hatte sie ihn nicht verstanden?

«Bist du verheiratet?», fragte sie.

«Was?»

«Ich weiß», sagte sie und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. «Ich weiß, dass das nicht normal ist. Das Hotel ist da.»

Sie stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Carl, der es gerade noch schaffte, mit zitternden Händen zwei Münzen auf den Tisch zu werfen, folgte ihr. Der Kellner fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

43. SIRENEN

Menschenbilder, so was Grausliches. Also der Mensch interessiert mich nicht, wenn ich das so hart sagen darf.

Luhmann

Der Hotelpförtner hob nicht einmal den Kopf und legte den Schlüssel mit der Nummer 7 auf den Tresen.

Es ging eine schäbige Treppe hinauf und einen schäbigen Gang entlang in ein schäbiges Zimmer. Die Frau riss sich sofort die Bluse auf. So etwas hatte Carl noch nie gesehen. Eine nackte Brust … noch eine nackte Brust … er konnte sich zumindest nicht erinnern.

Dagegen war er machtlos.

«Sprich Arabisch mit mir», sagte die Frau, als sie nebeneinanderlagen.

«Warum?»

«Sprich zu mir, du wilder Mann!»

«Was?»

«Sprich Arabisch!»

«Was soll ich denn sagen?»

«Egal.»

«Mir fällt nichts ein», flüsterte Carl auf Arabisch.

Sie nickte, schloss langsam die Augen und zog ihn auf sich. Ihr Gesicht nahm einen verzückten Ausdruck an. «Weiter», stöhnte sie, und Carl, der merkte, dass sie kein Arabisch verstand, nannte sie eine dumme Kuh, eine hässliche Alte, ein verblödetes Dauerwellen-Mädchen. Während das Zimmer rhythmisch auf und ab schwankte, fiel sein Blick auf den gelben Blazer, den er neben das Bett geworfen hatte. Er musste an die Gegenstände in den Taschen denken, besonders an den Stadtplan. Irgendwie war er nicht bei der Sache. Er kniff die Augen zu und versuchte sich vorzustellen, es sei Helen. Er steckte seinen Kopf in die Achselhöhle der Frau und wusste: Das war nicht das erste Mal. Er hatte Frau und Kind, er hatte mit seiner Frau verkehrt. Er vergaß zu atmen und schnappte nach Luft. Endlich hörten ihre Bewegungen auf.

Während die Frau duschte, lag er rücklings auf dem Bett und starrte die Zimmerdecke an. Türenschlagend kehrte die Frau zurück. Er hörte, wie sie sich abtrocknete, hörte, wie sie ihre Kleidungsstücke überstreifte. Dabei redete sie die ganze Zeit leise vor sich hin. Sie sagte, dass er ein erbarmungsloser Stecher sei, ein sehr harter Ficker, ein Tier. So ähnliche Dinge hatte sie auch die ganze Zeit über im Bett gesagt (und sie wiederholte sie vielleicht, um nicht wankelmütig vor sich selbst zu erscheinen, sie schien den Tränen nahe). Zum Abschied kam sie noch einmal auf ihn zu, legte den Zeigefinger auf seine Lippen, dann auf ihre Lippen und sagte: «Wenn wir uns zufällig noch mal begegnen: Du weißt Bescheid. Wir kennen uns nicht.»

Sie schaute ihn an, bis er nickte. Dann ging sie, und er blieb liegen und starrte weiter die Decke an. In allen vier Ecken des Zimmers waren Reste abgebröckelten Stucks erkennbar. Über der Fensterfront hatten sich mehrere, einander umschließende Ringe von Wasserrändern gebildet. Ihre kalligraphischen Umrisse sagten ihm nichts, was exakt das war, was ihm die meisten anderen Dinge und Gesichter auch sagten, und er dachte über den geheimen Sinn dieser Analogie nach. Die Augen fielen ihm zu.

Nach einer Weile hörte er Geräusche aus einem Nebenzimmer. Ein Stöhnen, als ob zwei Menschen miteinander verkehrten. Carl wollte das nicht hören und vergrub seinen Kopf in den Kissen. Das Stöhnen der beiden wurde lauter, wobei genau genommen nur die Frau zu hören war. Den Mann schuf seine Phantasie hinzu. Es konnten also auch zwei Frauen sein, die sich dort vergnügten. Oder eine Frau mit zwei Männern. Oder eine Frau allein. Die Zahl der Möglichkeiten beunruhigte ihn.

Er überlegte, dass in dem Zimmer, in dem er sich befand, vor wenigen Minuten die gleichen Geräusche zu hören gewesen waren, und auf einmal kam es ihm vor, als ob es nicht nur die gleichen, sondern dieselben Geräusche wären, das Stöhnen der verrückten Frau, das jetzt als sehr verspätetes Echo durch die Zimmerwand zu ihm drang. Wie eine Tonbandaufzeichnung, die jemand im Nebenraum von ihnen gemacht hatte und nun noch einmal zur Kontrolle abspielte, ein Echo seiner eigenen, nicht vorhandenen Leidenschaft. Er saß aufrecht im Bett, ein Ohr an der Wand. Das Stöhnen steigerte seinen Rhythmus über einige Minuten und fiel dann plötzlich eine Oktave herab wie eine Polizeisirene, die vorüberfährt, während eine zweite Stimme dumpf und kurzatmig dazwischenschnaufte. Dann wurde es wieder still.

Carl war erleichtert, die Stimme des Mannes noch gehört zu haben, die ganz erkennbar nicht seine eigene war. Er hatte während der ganzen Sache mit der Frau nur anfangs leise Arabisch gesprochen und dann still zu bleiben versucht; aus mehrfacher Verlegenheit. Erstens kannte er die Frau nicht, zumindest war er sich ziemlich sicher, sie nicht zu kennen. Zweitens verbarg er etwas vor ihr, von dem man schlecht sagen konnte, was es war, und drittens konnte er sich zwar daran erinnern, dass man beim Geschlechtsverkehr Geräusche machte, er wusste aber nicht mehr, welche das bei ihm selbst sein würden, und fürchtete, sich selbst bei erschreckend unbekannten Lauten zuhören zu müssen.

Ohne es zu wollen, döste er ein. Im Halbschlaf glaubte er, tatsächlich eine Polizeisirene vorüberfahren zu hören, sagte sich, dass sie hinter ihm her seien … und schlief weiter. Schmerzhaft pickte irgendetwas von hinten an seine Schädeldecke. Er blinzelte und sah einen Lichtfleck in Form einer Mondsichel über seine Netzhaut irren. Zuckend und pickend glitt die Sichel nach links in die Nacht. Er sah sich im Traum einen grünen Tee trinken. Er sah sich an einem grünen Tisch sitzen und ein grünes Haus betrachten, auf dem eine grüne Fahne wehte. Ein Jeep fuhr vorüber, die Getränkedose fiel ihm wieder ein … mit einem Mal sprang er aus dem Bett.

Aus den Taschen des Blazers riss er die Ampullen, den Notizblock, den Stadtplan und die anderen Gegenstände hervor. Er breitete den Plan über der Bettdecke aus, suchte mit dem Zeigefinger den Ort, an dem er sich befand, und zuckte zusammen. Das Hotel war mit einem blauen Kringel markiert. Allerdings lag der Kringel etwas unscharf über dem Viertel … es konnte auch die Kommune gemeint sein und nicht das Hotel. Oder ein anderes Haus in der Straße. Nein, sicher war die Kommune gemeint! Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Allerdings nur eine Sekunde lang. Dann entdeckte er einen zweiten Kringel einige Straßen weiter, dann sah er, dass über den gesamten Plan hinweg reihenweise Straßen und Häuser angestrichen und umkringelt waren. «Wer macht denn so was?», sagte er zu sich selbst. «Ein Postbote?»

Die meisten Markierungen lagen auf Targat. Carl zählte knapp dreißig blaue Kringel. Aber alle neuralgischen Orte, also alle Orte, die in seinem Leben in den letzten Tagen eine gewisse Rolle gespielt hatten (das Sheraton, Adil Bassirs Villa, Dr. Cockcrofts Praxis usw.), waren nicht markiert. Die Bar, in der er Risa getroffen hatte, war nicht markiert. Die Werkstatt, in die ihn die zwei Männer gelockt hatten, war nicht markiert. Helens Bungalow war nicht zu finden. Er nahm den Kugelschreiber zur Hand und malte damit einen blauen Kringel ins Niemandsland der Wüste, etwa dort, wo er die Scheune vermutete. Es war ein anderes Blau. Er trat ans Fenster, schraubte zum zweiten Mal den Kugelschreiber auf und hielt die Mine ins Licht. Chromsilbern, fünf oder sechs Millimeter im Durchmesser. Vorne ein schmales, mit einer Feder umwundenes Stück, am hinteren Ende ein blauer Plastikstöpsel, der sich nicht herausziehen ließ. Auch hier ein abgeschabter Aufdruck des Herstellers: Szewczuk. Er sah sich die Einzelteile des Kugelschreibers noch einmal genau an. Zwei Hülsen, ein gezacktes Stück Plastik, ein Teil der Druckmechanik, die Mine, den Ring und die Feder. Er drückte die Feder zwischen zwei Fingern zusammen, sie bog sich und sprang klickend gegen die Fensterscheibe.

Dahinter, ein Stockwerk tiefer, sah Carl eine Gruppe von Männern durch die Straße rennen. Ein Nachzügler folgte ihnen humpelnd. Carl steckte das Ende der Mine in den Mund und schaute ihnen nach. Ein ferner Schrei war zu hören, und mit einem Mal schrie er selbst … eine Perlenschnur feiner Blutströpfchen landete auf der Fensterscheibe.

Mit den Zähnen hatte er den blauen Plastikstöpsel gewaltsam herausgerissen und sich an der Lippe verletzt. Die Mine war zu Boden geklackert. Er hüpfte vor Schmerz auf einem Bein. Dann hob er die Mine auf, hielt sie vors Auge und versuchte in das dunkle, offene Ende zu spähen. Er drehte die Öffnung nach unten und schüttelte. Zwei längliche Metallkapseln mit abgerundeten Ecken fielen in seine Hand. Die Kapseln glichen einander vollkommen. Sie waren perfekt zylindrisch, hatten die Farbe matten Silbers und sahen schon auf den ersten Blick so anders aus als die anderen Teile des Kugelschreibers, dass Carl nicht eine Sekunde lang zweifelte, was er da gefunden hatte. Um die Mitte jedes Zylinders lief eine unscheinbare Naht. Im Bad wusch er das Blut von der Lippe, dann warf er sich die Kleider über und rannte hinaus.

44. LA CHASSE À L’OUZ

Nicht eine einzige fortschrittliche Idee begann mit einer Basis in der Masse, sonst wäre sie eben nicht fortschrittlich gewesen.

Trotzki

Das Erste, was er auf der Straße sah, war ein junger Mann mit einer geschulterten Sichel, dem andere folgten. Es wurden immer mehr. Carl versuchte, den Weg zur Kommune einzuschlagen, doch schon bald war auf der Straße kein Durchkommen mehr. Ohne erkennbaren Grund schlossen sich plötzlich vor ihm Gruppen zusammen und zerstreuten sich wieder. Junge Männer blockierten die Straße, rannten umher, hakten einander unter. War anfangs kein Ziel erkennbar, zog fernes Rufen die Menge bald in eine Richtung. Carl sah Hacken, Schaufeln und Äxte. Den Hauptstrom bildeten junge Männer in seinem Alter. Aber auch ein paar Greise waren zu sehen, kleine Kinder mit Pfeil und Bogen liefen am Rand und wurden an die Häuser gedrückt. Auf der ganzen Straße keine einzige Frau. Carl blieb stehen, versuchte ein paar Schritte gegen die Flussrichtung und wurde gestoßen, angerempelt und mitgerissen. Den Blazer, in dessen Innentasche er den Kugelschreiber gesteckt hatte, hielt er fest umklammert über dem Arm. Zur Seite hindrängend versuchte er, in kleinere Gassen auszuweichen, aber aus allen kleineren Gassen strömte ihm die Menge entgegen.

Dicht über ihm öffnete sich ein Fenster, und eine zahnlose Alte keifte die Männer an. Sofort liefen sie hin, sie spuckten, sprangen am Fenster hoch und schlugen mit Fäusten und Stöcken nach ihr, bevor es der Frau gelang, die Fensterläden zuzuzerren.

Der Strom der Hauptstraße vereinigte sich mit anderen Strömen aus Seitenstraßen und spülte alle zum Suq. Dort verlor sich die Richtung sofort. Das Zentrum der Bewegung schien erreicht und gleichzeitig leer. Man ging im Kreis herum und durcheinander. Formationen, die sich auf dem Weg gefunden hatten, lösten sich auf. Bei alldem herrschte ein sonderbarer Mangel an Begeisterung, und Carl fühlte sich an den Film erinnert, den er am Abend zuvor mit Helen im Fernsehen angeschaut hatte. Ein Tierfilm. Ein silbern blinkender Fischschwarm, der in einem Wasserblock steht und ruckt und in dessen Rucken sich von Sekunde zu Sekunde deutlicher die Ankunft der Haie mitteilt. Die Gesichter rund um ihn ausdruckslos vor Erwartung.

Dahintreibend fragte Carl sich, wo die Kinder und Jugendlichen geblieben waren; er entdeckte sie auf den Dächern rund um den Suq, wo sie mit Pfeil und Bogen standen. Er selbst versuchte, nichts mehr gegen die Bewegung zu unternehmen. Nur nicht auffallen.

Die Unruhe wurde fühlbarer, und plötzlich schien es, als habe es irgendwo eine Stockung gegeben, die sich rückwärts durch die Masse fortsetzte. Ein kurzer Stillstand, dann ein spitzer Schrei, und die Menge spritzte aus dem Zentrum fort, stürzte als Welle gegen Häuser und Mauern und spülte in die umliegenden Gassen. Carl fand sich eine Treppe am höchsten Gebäude des Suqs hinaufgedrückt und von Körpern einbetoniert.

Von seiner erhöhten Position überblickte er den in der Mitte nun fast leeren Suq. Ein paar Knüppel und eine einsame Sandale waren dort zurückgeblieben, dazu ein schmächtiger Junge mit verdrehtem Bein und aufgerissenen Augen, der einsamste Mensch auf der Welt. Auf seine Ellenbogen gestützt kroch er über die Erde und drehte dabei panisch den Kopf hin und her — bis sein Blick an einer Seitenstraße hängenblieb. Ein Raunen ging durch die Menge. Zwischen den Häusern lugte etwas hervor, das wie eine riesige, dunkle Schnauze mit zitternden Schnurrhaaren aussah.

«Ouz! Ouz! Ouz! Ouz!»

Die Schnauze glitt zentimeterweise hervor. Dichtes, buschiges Fell, hängender Unterkiefer, zwei riesige Hauzähne im Maul. Kleine, bolzendicke Beinchen baumelten an den Seiten des Tiers. Es hatte mit nichts Ähnlichkeit, was Carl je gesehen hatte. Der dreieckige Kopf würde an einen Marder erinnert haben, wenn der Marder nicht die Größe eines Fünftonners gehabt hätte. Vereinzelte Schreie — und mit blutroten Knopfaugen schwenkte das Tier in Carls Richtung. Es schien ihn zu fixieren, eine halbe Sekunde lang. Dann schoss es vom Brüllen der Menge begleitet quer über den Suq in eine ferne Seitenstraße. Männer mit hocherhobenen Äxten folgten sofort. Nur wenige Augenblicke später tauchte das Tier aus einer anderen Straße wieder auf, lief erneut über den Suq und begann sich wie rasend im Kreis zu bewegen, eine immer größere Menschenmenge hinter sich herziehend. Das Entsetzen hatte sich in Tatendrang verwandelt, der Tatendrang in Wagemut und Blutrausch. Hinter dem Feld her stolperten die Älteren, die Langsameren, ein krückenschwingendes Kind und einige begeisterte Unbewaffnete. Sobald das Tier überraschende Wendungen machte, kreischten sie aufgeregt, und als es den Rückwärtsgang einlegte, kamen einige unter die Räder.

Ein Mann mit nacktem Oberkörper stellte sich frontal in den Weg und wurde von den Hauzähnen zur Seite geschleudert. Andere schlugen Wunden in die Flanken des Monstrums und stürzten jubelnd davon, von einem Pfeilregen begleitet. Nach nur zwei Durchgängen durch den Suq war der Pelz des Ouz gespickt mit Stacheln. Die Bogenschützen warteten nicht mehr, bis das Ziel vorüberkam, sondern schossen noch lange, wenn es außer Reichweite war. Die Pfeile klirrten zu Boden, prasselten an gegenüberliegende Häuserwände oder blieben in den Rücken verwegener Angreifer stecken. In den Pausen versuchten die zu Boden Getrampelten davonzukriechen. Niemand kümmerte sich um sie.

Unweit der Treppe, auf der Carl stand, wurde das Ouz schließlich zur Strecke gebracht. Angriffswelle auf Angriffswelle brandete gegen den kaum noch zuckenden Fellhaufen, auch die Kleinsten und Schwächsten liefen nun herbei. Der riesige Kadaver sackte knirschend zur Seite und streckte einen Vorderfuß in die Luft wie einen Schornstein. Das hintere Bein lag abgerissen da, und in den eingedellten, aufgerissenen Flanken des Tieres wurden Holzlatten und Gestänge sichtbar. Unbeeindruckt prügelte die Menge weiter auf die Mechanik ein, und als das Hinterteil Feuer fing, entdeckte Carl vier in Ritualgewänder gekleidete Männer, die aus dem aufgeschlitzten Bauch des Fetischs flüchteten. Ihres eigentlichen Ziels beraubt, warf sich die wütende Menge nun auf die Priester und prügelte stellvertretend auf sie ein, bis es diesen gelang, im Gedränge ihre Gewänder abzuwerfen und unterzutauchen.

Noch immer wie gelähmt stand Carl auf der Treppe und hielt seinen Blazer umklammert. Die Männer um ihn herum bewegten sich nicht, und minutenlang konnte er beobachten, wie die Reste des Ouz inmitten der Menge wanderten. Wie ein riesiges Molekül, das von kleineren, unsichtbaren Teilchen beschossen wird, ruckte es mit brennenden Flanken über den Platz. Tritte und Schläge trieben es umher, ein Halbstarker sprang dem Kadaver in den Nacken, sein Hemd fing sofort Feuer. Schien das brennende Ungetüm anfangs noch zufällig hierhin und dorthin zu rollen, verkündete spätestens das immer lauter, immer dringlicher und schriller werdende Geschrei, dass es ein Ziel gefunden hatte. Mit Knüppeln, Stangen und Fußstößen trieben die Männer den Feuerball in eine Seitengasse auf ein hölzernes Tor zu.

Die Sicht auf das Geschehen dahinter war Carl versperrt, aber er meinte, zwischen den Rauchschwaden einen einzelnen Europäer auszumachen, der sich der heranrollenden Flammenkugel mit lächerlichen Kung-Fu-Sprüngen entgegenstellte. Was natürlich nichts half. Das Ouz wurde gegen das Tor gedrückt, das sofort aufbrach. Schnell waren Holzstapel und Müll im Innenhof der Kommune in Brand gesetzt.

Zwei Frauen versuchten, mit einem sehr grünen, sehr komischen Gartenschlauch zu löschen. Eine andere in Jeans und Batik-T-Shirt schleppte Taschen, Teppiche und schwere Kisten zu einem großen Landrover. Helen war nirgends zu sehen. In kürzester Zeit fraßen sich die Flammen bis zum Hauptgebäude. Der Landrover nahm Anlauf, das Inferno zu durchbrechen, und blieb in den Trümmern stecken. Erneut hob triumphierendes Geschrei an und verstummte erst wieder, als der Wind umschlug und das Feuer auf die Nachbarhäuser übergriff. Zwei Straßenzüge brannten komplett nieder.

Mit zitternden Knien war Carl währenddessen die sich leerende Treppe herabgekommen. Alles drängte zum Feuer hin, und er schob sich seitwärts an der Masse vorbei bis zu der kleinen Straßeneinmündung. Dort sah er erleichtert, dass unter den wenigen noch vor der Kommune parkenden Autos kein blauer Honda mehr stand.

Doch seine Erleichterung währte nicht lang. Denn als er an sich hinuntersah, musste er feststellen, dass sein Blazer fort war. Der Arm, über dem er ihn die ganze Zeit getragen hatte, war noch angewinkelt, aber leer. Er rannte zuerst zur Treppe zurück, dann erneut quer über den Suq. Ein kleiner, mit zwei Stöcken bewaffneter Junge schleppte in seiner Armbeuge etwas leuchtend Gelbes mit sich herum. Knapp vor dem Brunnen erwischte Carl ihn. Der Junge, keine zehn Jahre alt, hielt schreiend, kratzend und beißend seine Beute umklammert, boxte Carl in den Magen und versuchte, sich loszureißen. Carl schleuderte ihn gegen eine Hauswand. Er riss den Blazer hoch und durchwühlte die Taschen nach dem Kugelschreiber. Der Kugelschreiber war nicht da. Nicht in der rechten Seitentasche, nicht in der linken. Auf allen vieren versuchte der Junge davonzukriechen. Mit einem Tritt in die Seite brachte Carl ihn zu Fall. Einen Fuß auf den Hals des Jungen gestellt untersuchte er die Innentasche des Blazers, dann wieder die Seitentaschen. Um die kleine Gruppe herum drängten sich Männer mit erhobenen Knüppeln. «Er hat mich beklaut! Das Drecksbalg hat mich beklaut!», rief Carl, während er weiter nach dem sich Windenden trat. Plötzlich ertasteten seine Finger den Kugelschreiber in der rechten Seitentasche, die er schon dreimal durchsucht hatte. Im selben Moment traf ihn ein Schlag an der Schulter. Carl taumelte, stieß die wütende Menge beiseite und stürzte, den Blazer mit dem Kugelschreiber fest an seine Brust gepresst, davon.

Hinter sich hörte er Brüllen und Rufen, und in das Rufen hinein mischte sich auf einmal eine Stimme, die ganz anders klang als die anderen. Fragend und schrill. Sich umblickend erkannte Carl ein bekanntes Gesicht … er war sich nicht sicher. Sein Verfolger schien sich ebenfalls nicht sicher zu sein. An dieser Unsicherheit erkannten sie sich. Es war einer der vier Männer in weißen Dschellabahs, die Carl am Tag seines Erwachens vom Dachboden der Scheune aus gesehen hatte. Der Mann hatte ein unscheinbares Gesicht, trug auch jetzt wieder eine weiße Dschellabah und bahnte sich mit beiden Armen einen Weg durch den Mob. Und er schien nicht allein zu sein. Hinter ihm schob sich der Dicke durch die Menge. Dahinter der Kleine.

45. MOND UND STERNE

Denn er schaut hoch im Himmel thronend auf uns nieder

Und zeigt den Menschen mitleidvoll den rechten Weg;

Und seine Sternenschrift am Himmelsfirmament

Verkündet uns hienieden Glück und widriges Geschick;

Doch ach, die Menschen, erdbeladen und vom Tod

 beschwert,

Sie fragen nicht nach solcher Schrift, sie lesen’s nicht.

Pierre de Ronsard

Carls erster Gedanke war, den Weg zum Mercedes einzuschlagen. Aber selbst, wenn es ihm gelungen wäre, das Auto zu erreichen, es aufzuschließen und den Motor zu starten, in den verstopften Straßen wäre er damit doch keinen Meter vorangekommen. Er rannte, ohne nachzudenken, und als sich ihm rechter Hand eine Gasse in die Wüste auftat, sprintete er dort hinein.

Zu seinem Glück entpuppten seine Verfolger sich als schlechte Läufer. Schon auf der zweiten oder dritten Düne hatte er sie abgehängt, wie es schien.

Carl rannte, und der heiße Sand, der zwischen den Riemen seiner Sandalen hindurchdrang, verbrannte ihm die Zehen. Die Erinnerung an seine letzte Flucht stieg in ihm auf und erfüllte ihn mit Panik. Sollte er weiterrennen? Auf Umwegen zum Auto zurück? Sich wieder eingraben?

Nein, zurück zur Oase wollte er auf keinen Fall. Die Lage dort war viel zu unübersichtlich. Vielleicht später. Die Sonne stand nur noch zwei Handbreit über dem Horizont, in Kürze würde es dunkel sein, dann war er in der Wüste sicher. Bis Targat waren es zwanzig oder dreißig Kilometer. Das traute er sich zu.

Außer Atem und mit starken Seitenstichen blieb er stehen. Er sah sich um. Ringsum die Stille. Ein erster Stern blinkte auf, und er dachte an Helen. Er hoffte, nein, er war sich sicher, dass sie die Kommune verlassen hatte, bevor die Lage dort eskaliert war. Sie konnte seinen Zettel gefunden haben, auf dem er die Entdeckung seines Autos vermeldete, und sie war klug und pragmatisch genug, ihre eigene Haut zu retten und darauf zu vertrauen, dass er dasselbe tat. Mit jedem Schritt stampfte er schwerer durch den Sand. Sein Hirn warf Traumbilder aus, plötzlich sah er sich selbst in glücklicher Zukunft. Er hatte eine blonde, ungeheuer schöne amerikanische Ehefrau, zwei oder drei nebelhafte Kinder und einen interessanten Beruf. Nachbarn und Freunde schätzten ihn, er war ein wertvolles Mitglied der Gemeinschaft, und einmal wurde sein Nachbar von einer Giftschlange gebissen. Carl rettete ihm das Leben, indem er den Arm abband und die Wunde aussaugte. Dann fielen vier Männer in weißen Dschellabahs aus einem Helikopter, erschossen ihn und vergewaltigten Helen.

Wie kam ein Gehirn wie seines zu solchen Tagträumen? Aber er ging der Frage nicht weiter nach. Das Marschieren erschöpfte ihn und ließ seine Gedanken in immergleichen trostlosen Schleifen umherfahren.

Seit Dr. Cockcroft zum ersten Mal — wenn auch nur ironisch — insinuiert hatte, Helen könne seine sich verstellende Ehefrau oder Geliebte sein, wurde Carl die Hoffnung nicht los, alles würde sich früher oder später in einer heiteren Komödie blitzschneller Dialoge auflösen. Wenn der Handlungsknoten am verwickeltsten wäre, erklängen Verdi-Arien und Champagnerkorken knallten. Helen würde ihm plausible Gründe für ihr Versteckspiel offenbaren, und seine Erinnerungen träten hinter schweren Wohnzimmergardinen hervor wie Überraschungsgäste.

Fast stolperte er über die Leiche. Oder das, was davon aus dem Sand ragte. Ein unbeschuhter Fuß, eine schwarze Socke, das hellgraue Beinkleid. Carl tat einen entsetzten Schritt zurück und blickte dann zur Piste hinüber, von der aus er das Hellgrau Stunden zuvor schon gesehen hatte. Und dann zur anderen Seite. Tatsächlich, dort am Horizont war der Giebel der Scheune zu erkennen.

Mit angehaltenem Atem grub er den toten Körper ganz aus und drehte ihn mit zwei Fußtritten herum. Ein Mann schwer bestimmbaren Alters, das Gesicht mit offenen, sandblinden Augen. Als Todesursache schnitt überdeutlich ein dünner Draht in den blutverkrusteten Hals. An beiden Enden des Drahtes waren zerbrochene Bleistifthälften eingerollt. Ein Menjou-Bärtchen saß wie ein staubiger Schmetterling auf der fauligen Blüte des blau angelaufenen Gesichts.

Das konnte nur Cetrois sein! Hatten ihn die vier Männer also erwischt. Während Carl mit der Leiter vom Dachboden heruntergeturnt war. Aber wo war das Moped?

Carl ging einen kleinen Kreis in den Dünen ab, dann einen größeren und einen noch größeren. Kein Moped zu sehen. Stattdessen die parallelen Reifenspuren eines Autos, die zur Scheune führten. Er hockte sich neben die Leiche. Vielleicht war das mein Freund, dachte er. Vielleicht mein Feind. Er nahm eine Handvoll Sand und ließ sie in den Mund des Toten rieseln.

Dann durchsuchte er die Taschen des hellgrauen Anzugs, aber jemand schien ihm zuvorgekommen zu sein. Kein Schlüssel, kein Portemonnaie, kein persönlicher Gegenstand. Allein ein in Aluminiumpapier eingewickeltes altes Kaugummi und ein paar rötliche Papierschnipsel fanden sich in der rechten Hosentasche. Die Schnipsel waren mit Schreibmaschine beschrieben. Carl versuchte kurz und ergebnislos, sie in seiner Handfläche zusammenzupuzzeln, und steckte sie dann ein. Abermals durchsuchte er gründlich die Taschen, er fand noch einige Fetzen und steckte auch diese ein.

Er blieb in der Hocke neben dem Toten sitzen, blickte von Zeit zu Zeit zum Horizont und schaukelte in den Knien wie ein kleines Kind. Dann tastete er nach dem Kugelschreiber in seiner Tasche, schraubte ihn auf und zog noch einmal mit den Zähnen den blauen Plastikstöpsel aus der Mine. Er ließ die beiden Metallkapseln in seine Hand gleiten. Es schien ihm, als ob man sie an der Naht auseinanderschrauben könne. Aber ohne Werkzeug ging das nicht. Mit vier Fingern konnte Carl die kleinen Zylinder kaum greifen, und während er noch daran herumdrückte und zog, glaubte er, aus den Augenwinkeln eine Bewegung in der Wüste zu sehen. Er starrte auf den orangefarbenen Rand einer Düne, hinter der die Sonne unterging. Aber alles war ruhig. Vorsichtig stand er auf, drehte sich einmal um dreihundertsechzig Grad und sah erneut den Schatten. Jetzt war der orange Lichtrand an einer Stelle durchbrochen, auf dem Scheitelpunkt der Düne stand ein etwa mardergroßes Tier. Es rührte sich nicht.

«Aha?», sagte Carl leise und ging darauf zu. Das Tier tat einen vorsichtigen Schritt zur Seite. Auf seinem Kopf meinte Carl etwas Durchscheinendes zu erblicken. Ganz langsam ging er ein paar Schritte vor, kniete sich hin, streckte eine Hand aus und machte ein leise schnalzendes Geräusch, das er für vertrauensbildend hielt. Mit schiefgelegtem Kopf und ein wenig seitwärts kam das Ouz auf ihn zugetrottet. Es hatte zwei spitze Schneidezähne, die über die Unterlippe hingen. In dieser Miniaturform wirkte es aber nicht sehr gefährlich. Das Gebilde auf seinem Kopf entpuppte sich beim Näherkommen als ein gezacktes Stück Papier, durch das die letzten Strahlen der Sonne schienen. Carl erkannte Buchstaben darauf. Vorsichtig griff er dem Tier mit einer Hand unter den Bauch und hob es hoch. Es bewegte sich nicht, sondern fiepte nur ein wenig und schnupperte. «Ksch», sagte Carl. «Ksch.»

Der Papierstreifen war dem Tier mit einem Gummiband um den Kopf gebunden, und Carl drehte es vor seinem Gesicht herum, um lesen zu können, was dort stand: A man may be born, but in order to be born he must first die, and in order to die he must first awake … und weiter kam er nicht. Kreischend schleuderte er das Tier zu Boden, es hatte ihn gebissen. Der präzise Abdruck zweier Zahnreihen war auf seinem Handgelenk zu erkennen, dann sickerte Blut aus der Wunde. Es lief sofort bis zum Ellenbogen und tropfte in den Sand. Ohne Eile trottete das Tier davon, sah sich auf dem nächsten Dünenkamm noch einmal um und verschwand in der Dämmerung.

Der Schmerz war erstaunlich, als habe sich die Wunde sofort entzündet. Carl hockte im Sand, und daran, wie er sich mit der rechten Hand abstützte, merkte er, dass er schon lange keine Faust mehr machte. Er hatte die Metallkapseln fallen gelassen. Unter sich sah er nur grau in grau, Sand und Kiesel und dunkle Blutkleckse und sonst nichts. Mit der flachen Hand strich er über Mulden und Täler. Aus Angst, die Kapseln noch tiefer in den Sand zu treten, wagte er keinen Schritt. Er drehte den Oberkörper nach rechts und nach links. Behutsam zuerst, dann zunehmend verzweifelt seihte er den Sand in Reichweite durch seine Finger, harkte die Oberfläche mit zehn Fingern um, spürte die pulsierende Wunde an seiner Hand und konnte im abnehmenden Licht bald kaum noch die eigenen Unterarme erkennen. Die Sonne war schon tief hinter dem Horizont versunken, die nadelfeine Sichel des Mondes folgte ihr rasch. Lange blieb Carl so in seinen Fußstapfen hocken. Schließlich stützte er sich mit der gesunden Hand zwischen seinen Sandalen auf, streckte den Körper waagerecht zur Seite aus und zog mit dem Fuß einen Kreis um den Mittelpunkt, Radius eine Körperlänge. Dann stand er auf, bürstete sorgfältig Hände, Füße und Kleider ab und machte einen großen Schritt aus dem Kreis heraus. Ein paar Meter daneben legte er sich schlafen.

46. DIE ELEKTRIFIZIERUNG DES SALZVIERTELS

Art thou pale for weariness

Of climbing heaven and gazing on the earth,

Wandering companionless

Among the stars that have a different birth,

And ever changing, like a joyless eye

That finds no object worth its constancy.

Shelley

Weiß einer, wie es ist, die Nacht in der Wüste zu erleben, allein? Wer gewohnt ist, seine Nächte in einem Bett zu verbringen, in einem Haus, umgeben von anderen Häusern und Menschen, macht sich davon nur schwer eine Vorstellung. Und noch schwerer macht man sich eine Vorstellung davon, wie die Schwärze und Finsternis der Metaphysik an einem Geiste zerren kann, der in sich selbst seit Tagen nichts weiter zu erkennen vermag als ein unbeschriebenes Blatt Papier.

Als Gegensatzbegriff zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passenderes Wort wäre im Grunde Einsamkeit. War es schon tagsüber still und windstill gewesen, wuchs in der Nacht die Stille noch einmal bedrückend an. Rücklings im Sand liegend, die blutverkrustete, pulsierende Hand auf seine Brust gelegt, erblickte Carl nie gesehene Sternenmassen über sich.

Er sah das Blinken ferner Sonnen, die nichts waren als Stäubchen im All, und zu wissen, dass er selbst mit dem Rücken auf einem solchen Stäubchen lag und nur durch ein paar Körner und Kiesel, durch eine winzige Materiezusammenballung getrennt vom ewigen, schwerelosen Nichts auf der anderen Seite … die bestürzenden Größenverhältnisse kamen ihm zu Bewusstsein und mischten sich mit seiner Furcht. Furcht, dass ihm jemand gefolgt sein könne (oder beim ersten Lichtstrahl folgen werde), Furcht, dass er fliehen müsse, ohne die Kapseln zuvor wiedergefunden zu haben, Furcht, ein nächtlicher Sandsturm könne alles verwehen … und über ihm die Zumutung Tausender Galaxien, denen das alles unendlich egal war.

Satelliten zogen durch die Nacht. Ein größerer Punkt, vielleicht ein Flugzeug. Die Vorstellung von achtzig schläfrigen Körpern an Bord einer Boeing, zehn Kilometer hoch über ihm, steigerte das Gefühl des Verlassenseins bis zur Kränkung. Es wurde kalt. Carl grub sich in den Sand, und im Laufe der Nacht grub er sich immer tiefer in den Sand. Er hatte unruhige Träume, an die er sich später nicht erinnern konnte.

Der in der Nacht gezogene Kreis entpuppte sich im ersten Licht des Morgens als eine leicht eiförmige, zweifache Spirale um ein zerwühltes Zentrum. Außen um den Kreis herumgehend konnte Carl die Kapseln nirgends erspähen. Er untersuchte seine Sandalen, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht im Profil der Sohlen mit fortgeschleppt hatte, und begann schließlich an der Leeseite des Kreises, sorgfältig den Sand zu durchsieben. Er ließ ihn von der einen Hand in die andere rieseln, zweimal, dreimal, und warf ihn dann mit dem Wind hinter sich. Stunde um Stunde arbeitete er so, trug die oberste Sandschicht vor seinen Knien ab, rutschte dann ein Stück voran und siebte weiter. Die Sonne hob sich hoch und höher, und schwitzend und durstig hockte Carl in seiner kleinen Mulde. Seine Verzweiflung wuchs. Gegen Mittag hatte er über die Hälfte des Kreises abgetragen und noch immer nichts gefunden. Aus Angst, die Kapseln in einem unachtsamen Moment mit dem Sand nach hinten geworfen zu haben, siebte er ihn mittlerweile vier- oder fünfmal durch seine Hände, bevor er ihn auf den kleinen Hügel hinter sich warf. Die zunehmende Sorgfalt ließ ihn nun gleichzeitig fürchten, am Anfang nicht sorgfältig genug vorgegangen zu sein, weshalb er den fünfmal gesiebten Sand jetzt auf einen anderen Hügel warf für den Fall, dass er den weniger sorgfältig gesiebten Sand noch einmal durchsuchen müsste.

Die Sonne hatte den Zenit schon überschritten, als es zum ersten Mal silbern und metallisch zwischen den Sandkörnern aufblinkte, und während Carl noch schwitzend und verzweifelt auszurechnen versuchte, wie viele Stunden Arbeit noch vor ihm lägen, wenn er schon für die erste Kapsel über einen halben Tag gebraucht hatte, folgte die zweite schon drei, vier Handvoll Sand später wie ein diebisches Kind, das nicht mehr zu fliehen wagt, sobald man seinen kleinen Komplizen am Kragen gepackt hat.

Carl schob beide Kapseln zurück in die Mine, verschloss sie wieder mit dem blauen Plastikstopfen und dachte darüber nach, ob ein anderer Ort zur Aufbewahrung nicht sicherer wäre. In seinem Portemonnaie? In der Tasche des Blazers? Oder schluckte er sie am besten gleich hinunter? Er nahm seinen Schlüsselbund, den Notizblock und die Morphiumampullen aus den Seitentaschen, steckte sie in seine Bermudas und klipste den Kugelschreiber allein an der Innentasche des Blazers fest. Während er sich noch ernsthaft mit diesen Dingen beschäftigte, sah er plötzlich eine flirrende Gestalt durch die Wüste auf sich zukommen. Eine schmuddlig-weiße Dschellabah, es war ein sehr alter Mann.

Er kam direkt aus Richtung der Scheune und brüllte schon von weitem Unverständliches. Diesmal hielt er keinen Dreizack in der Hand, aber Carl erkannte ihn auch so, und während er noch die läuferischen Qualitäten seines Gegenübers und die Gefahr, die von ihm ausging, abzuschätzen versuchte, merkte er auch schon, dass das Erkennen nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Laut lallend stampfte der Alte die Düne hoch, nannte Carl die Unsichtbare Königsbrigade, zeigte sich höchst erfreut über ihr Erscheinen und gab hustend und keuchend seiner Hoffnung Ausdruck, die Leichen seiner beiden Söhne nun bald wieder in die väterlichen Arme schließen zu dürfen.

Er war schon fast neben Carl angelangt, als er plötzlich zusammenzuckte, «Mein Goldjunge!» rief und über der Leiche in den Sand stürzte. Er brauchte fast zehn Minuten, um seinen Irrtum zu bemerken. Nein, sein Sohn hatte nie einen hellgrauen Anzug getragen. Nur die Dschellabah. Aber wo war denn jetzt das Moped?

Das war eine Frage, die Carl ihm auch nicht beantworten konnte, und alles, was er der sich anschließenden, fast einstündigen, Suada des Alten entnehmen konnte, bevor er ihn friedlich schnarchend neben der Leiche zurückließ, war, in drei Sätzen zusammengefasst: dass der Alte offenbar zwei Söhne verloren hatte, von denen einer erschlagen worden war und der andere verschollen. Dass er sich auf der Suche nach ihren Leichen die Hilfe einer höchst geheimen Polizeibrigade erhoffte. Und nicht zu vergessen: Er suchte auch sein Moped.

Den Blazer als Schutz gegen die Hitze um den Kopf gewunden, wanderte Carl weiter Richtung Westen. Der brennende Durst, den er seit dem Erwachen gespürt hatte, steigerte sich ins Unerträgliche, sobald er die Ausläufer der Bidonvilles am Horizont auftauchen sah. In kraftlosen Schlangenlinien stürzte er zwischen den ersten Wellblechbaracken hindurch, rannte in einen schmutzigen Laden, kaufte eine Literflasche Wasser und trank sie im Stehen. Dann eine zweite. Mit der dritten, angebrochenen Flasche ging er um die Hütte herum, pinkelte erleichtert gegen die Rückwand und rief dem Ladeninhaber währenddessen zu, ob es hier irgendwo ein Telefon gebe. Tatsächlich stand in einem Bretterverschlag zwei Straßen weiter, wo jemand eine Art Café betrieb, ein schwarzes Bakelitgerät.

Carl ließ sich mit dem Sheraton verbinden. Helens Stimme meldete sich sofort. Helen! Sie war unverletzt, es ging ihr gut, und noch bevor sie Carl erklären konnte, wie und warum sie dem Inferno rechtzeitig entkommen war, schrie er schon in den Hörer, dass er die Mine gefunden habe … ja, die Mine, er habe sie in seiner Tasche, zwei winzige Kapseln in einem Kugelschreiber, er wiederhole, in einem Kugelschreiber … doch, er sei ganz sicher, dies sei die Mine, und sie müsse ihn sofort abholen, weitester Ausläufer des Salzviertels gen Osten, er wiederhole, weitester Ausläufer des Salzviertels, letztes stinkendes Café an der mittleren Straße durch die Baracken … dort warte er auf sie. An der größten Straße. Also der breitesten. Am östlichsten Punkt. Ein Bretterverschlag mit Telefon. Er hörte den eigenen Enthusiasmus und Helens Aufregung, hörte den Befehl, sich nicht von der Stelle zu rühren, sie komme sofort, und als er auflegte, stand der Wirt mit einem Teller zerkochter Suppe hinter ihm, den er hochhielt wie ein Tablett erlesener Spezereien. Das ginge aufs Haus.

Ein improvisierter Tisch aus Obstkisten stand auf der Straße, dort setzte Carl sich mit der Suppe nieder. Er legte seinen Blazer vor sich hin und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit dem Vorfall in der Scheune fühlte er sich gut, fühlte er sich auf der sicheren Seite, auch wenn er wusste, dass das, was jetzt auf ihn zukam — Übergabe der Kapseln an Adil Bassir, Verhandlung um seine Familie, Aufklärung seiner Identität — , vielleicht das Schwierigste von allem sein würde. Aber die Unsicherheit war weg. Die furchtbare Unsicherheit.

Er aß und trank, bürstete seine Kleider ab, leerte den Sand aus seinen Taschen und überprüfte noch einmal die Innentasche des Blazers. Er wusch sich unter dem Tisch die Hände mit ein wenig Trinkwasser, goss den Rest über seine geplagten Füße und schaute die Straße entlang. Sandfarbene Kinder spielten mit einem sandfarbenen Fußball zwischen sandfarbenen Hütten … Dreck und zerlumpte Gestalten, und ihm fiel ein, wie gefährlich es im Grunde war, eine weiße, blonde, ortsunkundige Frau in einem Auto hierherzubestellen. Andererseits hatte Helen sich ja schon mehr als einmal als furchtlos erwiesen; und nun war ohnehin nichts mehr zu machen. Er beobachtete einen Hund, der sich, an seinem Schwanz riechend, im Kreis drehte. Der Fußball flog scheppernd auf ein Wellblechdach. Dann kreuzte eine Schar Kinder mit schäbigen Holztafeln und zerfledderten Heften den Weg, ein Bild wie aus dem Poesiealbum, eine mit sentimentalen Versen über vergangene Lebensalter verzierte Bisterzeichnung: goldene Sonne, goldene Jugend. Ein Junge sprang einem anderen auf den Rücken und zeigte mit einer Krücke die Richtung an. Kichernde Mädchen, über Kontinente und Jahrhunderte hinübergreifend. Ein einbeiniges Kind hopste weinend und krückenlos den anderen hinterher.

«Monsieur Bekurtz, où est-il?»

Das Poesiealbum klappte zu, als ein Junge auf Carl zusprang und schreiend ein Bakschisch verlangte. Der Wirt kam heraus und peitschte den Störenfried mit einem Geschirrhandtuch davon. Er nannte die Kinder ein dreckiges Geschmeiß, das seine Gäste belästige, einen Abschaum, verschissene Brut aus dem verschissenen Salzviertel. Im Davonrennen schnitten sie Gesichter, der Wirt warf ihnen eine Handvoll Kiesel hinterher.

Carl starrte den Wirt an und sagte: «Was?»

«Ja?»

«Was haben Sie gesagt?»

«Dass sie verschwinden sollen.»

«Nein, verschissen … das verschissene Salzviertel?»

Schulterzucken, eine weitere Handvoll Kiesel, böse Augenbrauen.

Carl setzte nach: «Aber wir sind doch hier im Salzviertel?»

«Mein Herr!», rief der Wirt empört und zeigte über die Hütten seiner stolzen Heimat hinweg, und bevor er noch seiner Gekränktheit weiteren Ausdruck verleihen konnte, war Carl schon aufgesprungen und zum Telefon gerannt. Er ließ sich erneut mit dem Sheraton verbinden. Der Wirt kam ihm misstrauisch hinterher, stellte sich direkt vor ihn hin und hob nur zwischendurch einmal die Hand, um Daumen und Zeigefinger gegeneinanderzureiben. Die Telefonistin sagte: «Ich verbinde.»

Das Leere Viertel. Er war im Leeren Viertel.

«Geh ran!», sagte Carl, «geh ran!»

Anfang der fünfziger Jahre hatten Bulldozer erstmals eine breite Schneise durch die Lehmhütten und Wellblechbaracken der riesigen Slums rund um Targat gepflügt und vom Salzviertel einen kleinen Zipfel im Norden abgetrennt. Die Maßnahme war bekannt geworden als Säuberungswelle eins. Seitdem verhielten sich Salzviertel und Leeres Viertel wie verfeindete Fußballmannschaften. Man gehörte zwar immer noch irgendwie zueinander, sprach auch noch erkennbar die gleiche Sprache und lebte im gleichen Dreck, aber dank einer mehrere Kilometer breiten Schneise zwischen den Vierteln legte man nun Wert auf die Feststellung, dass man ein anderer Dreck war. Dünkel und Überlegenheitsgefühle verursachte den Bewohnern des Leeren Viertels vor allem die Tatsache, dass an ihnen vorbei eines Tages ein paar Stromleitungen und sogar ein Telefonkabel verlegt worden waren, die sie in aller Eile angezapft hatten. Das verschaffte dem Leeren Viertel schon nach kurzer Zeit einen solchen Zivilisationsvorsprung, dass es sich fast in die Legitimität zu retten vermochte und von den Säuberungswellen zwei bis vier jedenfalls ausgenommen wurde, während der schwesterliche Slum im Süden immer tiefer in seinem Elend versank.

Nachdem es einige Minuten still gewesen war, meldete sich die Stimme der Telefonistin zurück mit der Mitteilung, im Bungalow 581d hebe niemand ab.

Carl rannte hinaus. Oder versuchte es. Der Wirt hielt ihn am Arm fest. Ach ja, die Rechnung. Er holte ein paar Münzen heraus, sah sich nach seinem Blazer um, und sein Blazer war verschwunden. Er starrte den Wirt an. Der Wirt drehte die Handflächen nach oben. Zwei schwitzende Männer auf der Straße. Über den Wellblechdächern des Leeren Viertels lagen die bleischwere Mittagshitze und ein verklingender Chor aus Schulkinderstimmen. Kreischende Schulkinder, fröhliche Schulkinder, rennende Schulkinder im Besitz eines gelben Damenoberbekleidungsstücks, in das ihnen die traurige Vorsehung nichts weiter gegeben hatte als einen billigen Kugelschreiber.

Stunden um Stunden, bis tief in die Nacht, lief Carl zuerst im Leeren Viertel und dann im Salzviertel auf und ab. Er bot viel Geld für den Blazer. Man sah ihn an wie einen Verrückten, zuckte die Schultern und wusste von nichts. Von Helen, die er sonst wohin geschickt haben mochte, keine Spur. Einen östlichsten Ausläufer des Salzviertels gab es zwar, aber dort keine breite Straße, keine Baracke mit Telefon und nichts, was seiner Beschreibung entsprochen hätte. Falls Helen versucht hatte, ihn hier irgendwo zu finden, hatte sie sicher längst aufgegeben. Neben einem abendlichen Müllhaufen sank Carl zusammen. Zwei Hunde schnupperten an ihm, ein Huhn keifte ihn an. Er zog die Morphiumampullen aus den Taschen seiner Bermudas, hielt sie gegens Licht und war sich nicht sicher, ob die Dosis genügte, sich umzubringen.

47. CHÉRI

Zu den wesentlichen Bestandteilen einer Persönlichkeit gehört nach der Anschauung der Primitiven ihr Name; wenn man also den Namen einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben.

Freud

Er stolperte den Hafen entlang. Setzte sich auf einen Poller. Sah abfahrenden Schiffen hinterher. Mein Leben, dachte er. Vor ihm blieb ein Junge stehen und spuckte einen braunen Batzen Schleim in die Luft, dem er beim Zu-Boden-Fallen so interessiert hinterhersah, als habe er die Auswirkungen der Schwerkraft noch nie in dieser Deutlichkeit studiert oder ihr Ausbleiben in diesem einen speziellen Fall für möglich gehalten. Carl winkte ihn heran und fragte, ob er hier zur Schule gehe. Und wenn ja, wo genau. Der Junge lachte. Er machte eckige Gesten. Er war taubstumm.

Nein, die Mine war für immer verloren. Carl wusste das. Cetrois würde er nicht finden, und außer Helen gab es keinen Menschen, dem er vertraute. Während er sich in Richtung Sheraton quälte, erwog er, trotz seiner deutlichen Abneigung Dr. Cockcroft noch einmal in dessen Praxis zu besuchen.

Vor ihm blockierte ein Obstkarren die enge Gasse. Neben ihm pries jemand Schuhe an. Hinter sich hörte er eine heisere Stimme.

«Charly, hey.»

Er drehte sich um. Im ersten Moment sah er niemanden.

«Bleib stehen, du Trottel, du Arschloch! Hey!»

Halb verdeckt von einer Säule stand eine ausgemergelte Frau an eine Hauswand gelehnt. Ein verwüstetes Gesicht. Ihr Geschrei bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrer Bewegungslosigkeit.

«Was hast du gesagt?» Er ging ein paar Schritte zurück. Aus der Nähe erst sah er, wie jung sie war. Höchstens sechzehn. Blutige Male an den Unterarmen, Gesicht und Hals schwärenübersät.

«Arschloch hab ich gesagt.»

«Vorher.»

«Trottel! Du Trottel.» Sie stieß sich von der Wand ab.

«Du hast Charly gesagt.»

«Trottel hab ich gesagt. Arschloch, Charly, Chéri, du Kacke. Mein Liebling. Hast du was dabei?»

Sie streckte die Hand nach ihm aus, er wich zurück.

Aus ihren Gesten und ihrem Verhalten vermochte er nicht zu erkennen, ob sie eine Prostituierte, eine Geisteskranke oder schon wieder eine Nymphomanin war.

«Wir kennen uns», sagte er unsicher.

«Soll ich dir einen blasen?»

«Das war eine Frage.»

«Das war auch eine Frage.»

«Warum hast du mich Charly genannt?»

Sie schubste ihn an den Schultern von sich weg und fuhr fort, ihn zu beschimpfen.

Einige Passanten blieben stehen und lachten. Die Männer im Kaffeehaus gegenüber erhoben sich von ihren Sitzen, um besser sehen zu können. An der Kreuzung, nur einen Steinwurf entfernt, sah Carl zwei Uniformierte. Die Situation war unangenehm. Das Mädchen hörte nicht auf, ihn zu beleidigen, ihn weiter von sich fortzustoßen und gleichzeitig ihre Dienste anzubieten.

«Ich hab kein Geld.»

Sie klopfte seine Hosentaschen ab und griff ihm unter beifälligem Gejohle der Umstehenden in den Schritt. Er sprang zurück. Sie zog ihn in den nächsten Hauseingang. Einen langen Gang hinunter, in ein winziges Zimmer. Auf dem Boden lag eine Matratze ohne Bettzeug. Die Erinnerung an die biedere Frau in Tindirma erlosch sofort. Plötzlich schien aller Elan das Mädchen verlassen zu haben. Zitternd stand sie mitten im Raum.

«Kennen wir uns?», fragte Carl erneut, der sich nun fast sicher war, dass sie einander nicht kannten.

«Hast du was dabei?»

«Kennst du mich?»

«Willst du die Psychonummer?»

«Du hast Charly gesagt.»

«Ich kann auch Alphonse zu dir sagen. Oder Rashid. Herr General. Ich blas dir einen.»

Sie zerrte an seinen Hosen. Er hielt ihre Hände fest.

«Du hast was dabei!», kreischte sie in höchster Aufregung.

«Ich will nichts von dir. Ich will nur wissen, kennst du mich?»

Sie zeterte weiter. Ihr flackernder Blick, ihre verständnislos-verzweifelte Mimik … nein, sie kannte ihn nicht. Ein verwirrtes, drogensüchtiges Straßenmädchen. Carl griff nach der Türklinke, und das Mädchen schrie: «Bleib stehen, du Scheiße! Du kannst jetzt nicht abhauen! Wenn du und dein beschissener Kumpel das nicht auf die Reihe kriegen —»

«Was für ein Kumpel?»

«Willst du einen Dreier? Ich hol die Titi.»

«Was für ein Kumpel?»

«Du widerliches Schwein.»

An der Tür stehend, die Hand auf der Türklinke, stellte er weitere Fragen, vergebens. Alles, was er zu hören bekam, war eine Flut von Schimpfworten. Carl ließ die Klinke los und unternahm einen letzten Versuch. In möglichst beiläufigem Ton fragte er: «Wann hast du Cetrois zuletzt gesehen?»

«Hä?»

«Antworte einfach.»

«Soll ich dir in den Mund pissen?» Sie versuchte, einen Zeigefinger zwischen seine Lippen zu bohren.

Er machte einen Satz zurück.

«Leg dich hin, ich setz mich auf dein Gesicht und piss dir in den Mund.»

«Wann hast du ihn zuletzt gesehen?»

«Wen?»

«Cetrois.»

«Schlag mich. Du kannst mich schlagen. So fest du willst. Ich kack dir auf die Brust. Ich blas dir das Hirn raus. Ich mach, was du willst.»

«Dann antworte auf meine Frage.»

«Welche Frage?» Tränen liefen über ihr zerstörtes Kindergesicht. Jammernd sackte sie auf die Knie. «Gib mir das Zeug. Ich weiß, du hast es.»

Er steckte beide Hände in die Taschen seiner Bermudas und sagte, jedes Wort einzeln betonend: «Kennst du Cetrois?»

Sie wimmerte.

«Weißt du, wo er ist?»

«Du kranke Psychoscheiße.»

Warum antwortete sie nicht einfach? Oder wenn sie ihn nicht kannte, warum sagte sie nicht einfach, dass sie ihn nicht kannte? Er hob ihr Kinn hoch, zog eine der braunen Ampullen aus seiner Tasche und beobachtete die Reaktion des Mädchens.

«Einfache Frage, einfache Antwort. Wo. Ist. Er.»

Einen kurzen Moment lang blickte sie ihn apathisch an. Dann stürzte sie sich auf ihn. Ihr federleichter Körper prallte von seinem ab. Er hielt den Arm mit der Ampulle senkrecht in die Luft.

«Antworte.»

«Gib’s mir!» Sie hopste an seinem Arm auf und ab, fluchte wie ein Seemann, riss an seinen Kleidern. Schließlich versuchte sie, an seinem Körper hochzuklettern, den Blick zielstrebig auf die erhobene Faust gerichtet.

«Du kriegst das Zeug … auch wenn du es nicht weißt. Aber antworte. Kennst du mich?»

«Ich scheiß dir in den Mund.»

«Kennst du Cetrois?»

«Du krankes Schwein!»

«Wo ist er? Was macht er?»

Kreischend wie eine Feuerwehrsirene hing sie an seinem Hals. Mit ihren kleinen Fäusten trommelte sie auf seinen Rücken. Ihr Busen war plötzlich unter seinem Kinn, ein Geruch nach Frauenschweiß, Verzweiflung und Erbrochenem. Vielleicht lag es an diesem Geruch, vielleicht an der körperlichen Nähe, vielleicht an der Selbstverständlichkeit, mit der sie jede Kommunikation ins Leere laufen ließ, dass er auf einmal den Eindruck hatte, diese Frau stehe ihm näher, als ihm lieb sein konnte. Im furchtbarsten Fall war sie seine Geliebte aus einem früheren Leben. Fast gleichzeitig und parallel dazu hatte er den Eindruck, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Dass sie gar nichts wusste. Dass sie einfach verrückt war, eine Prostituierte mit von Drogen rausgeschossenem Hirn, die weder ihn noch einen Kumpel kannte und jeden Freier mit Charly anredete. Und um Stoff anbettelte. Vielleicht war Charly hier der Standardname für Freier? Und hatte sie überhaupt Charly gesagt? Hatte sie nicht vielleicht von Anfang an Chéri gesagt?

«Gib mir das Morphium», brüllte sie, ließ sich auf den Boden fallen und führte eine Choreographie der Selbsterniedrigung auf wie ein dreijähriges Kind.

«Du kriegst es», sagte er mit einem Blick auf die fast unleserliche Beschriftung der Ampulle. «Beantworte nur die eine Frage. Kennst du mich?»

Sie schluchzte.

«Ich hab sogar zwei davon.» Er holte die andere Ampulle aus der Tasche. «Oder wenn du mich nicht kennst — kennst du meinen Kumpel?»

«Du Schwein.»

«Wann hast du Cetrois zuletzt gesehen?»

«Du Psychoscheiße! Du Dreck!»

Psycho. Das dritte Mal. Was hatte sie immer damit? War das einfach nur ein Schimpfwort für sie, oder hatte das irgendeine Bedeutung? War sie in Behandlung? War er ihr Psychologe? Oder war er ein stadtbekannter Irrer und sie sein Opfer? Aber sooft er sie fragte, so wenig bekam er Antwort. Versuchsweise ließ er schließlich eine Ampulle fallen. Glassplitter, ein Verzweiflungsschrei. Das Mädchen stürzte sich auf den Fußboden und leckte Flüssigkeit und Glassplitter mit der Zunge auf.

«Kennst du mich jetzt?»

«Fick deine Mutter!»

«Kennst du Cetrois?»

«Gib mir die andere!»

«Wo ist er? Was macht er? Warum antwortest du nicht?»

Sie tobte und schrie, und so langsam dämmerte es ihm, dass sie gar nichts wusste. Sie kannte ihn nicht, sie kannte niemanden. Sie hatte ihn einfach auf der Straße mit irgendeinem Namen angesprochen, und er war darauf reingefallen wie der dümmste Freier der Welt. Mit einem Rest von Mitleid warf er ihr einen Geldschein hin und ging hinaus.

«Du willst wissen, was Cetrois macht?», brüllte sie ihm hinterher.

Er sah sie am Boden kauern. Sie zog Glassplitter aus ihrer Zunge und lachte, blutige Fäden zwischen den Lippen.

«Du willst wissen, was Cetrois gerade macht? Ich sag dir, was er gerade macht. Er steht in der Tür und gibt mir nicht mein Zeug. Das ich bezahlt hab! Ich hab’s bezahlt, du Schwein! Ich hab dir in den Mund gepisst, du Stück Scheiße, ich hab dich hundertmal gefickt, ich hab’s satt, deine Scheißspielchen. Es gehört mir! Es gehört mir, es gehört mir, es gehört mir, es gehört mir, es gehört mir!»

Er nahm einen Moment nichts mehr wahr. Sein Blick ging ins Unendliche. Cetrois.

Im nächsten Moment brach er unter ihrem Gewicht zusammen. Sie hatte sich auf ihn gestürzt und ihn zu Boden gerissen. Sie wälzten sich herum. Die zweite Ampulle war ihm längst entglitten. Das Mädchen merkte es nicht und biss ihm in die leere Hand. Er schlug ihr den Ellenbogen ins Gesicht und versuchte, von ihr wegzukommen. Unter seinem Rücken knackte Glas.

Die Laute, die sie von sich gab, hatten nichts Menschliches mehr. Ihn beiseiteschiebend schlappte sie mit der Zunge über den Boden und versuchte, die letzten zwischen den Ritzen der Dielen versickernden Tropfen zu erwischen. Benommen trat Carl auf den Flur.

Blick zurück: blutiges Elend.

Blick nach vorn: eine Faust in seinem Gesicht.

Er wurde ins Zimmer geschleudert und an die Wand geklatscht. Ein mächtiger, schwarzer Körper. Einen Kopf größer als er, gekleidet in bunten, westafrikanischen Fummel, Arme wie Treckerreifen. Eine Frau. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer ausgemergelten Kollegin, und doch sah man sofort die professionelle Verwandtschaft. Die Schwarze drückte ihm mit einer Hand die Kehle zu und schrie: «Was hat er dir getan, mein Liebling? Was hat er dir getan? Der böse Mann!»

Sie riss Carl an den Haaren nach unten und rammte ihm ein paarmal routiniert ihr Knie ins Gesicht. Er fühlte die Platzwunde an seinem Hinterkopf aufreißen und sackte zusammen. Die Afrikanerin ließ sich einfach auf ihn fallen, drei Zentner mindestens. Von der Seite kam das Drogenwrack, wischte sich mit dem Handrücken Blut vom Mund und schwang ein Stuhlbein durch die Luft. Das Stuhlbein traf Carl zuerst an der Schulter, dann noch mal an der Schulter, dann im Gesicht. Er versuchte, seinen Körper unter der Schwarzen herumzudrehen. Das Hemd wurde ihm über den Kopf gerissen. Warmer Eisengeschmack in seinem Mund, flinke Hände in seinen Taschen. Er verlor das Bewusstsein. In einem Straßengraben kam er zu sich. Für den zehnminütigen Fußweg zum Sheraton brauchte er fast eine Stunde.

48. OCKHAMS RASIERMESSER

I like horses, but here I’m riding on a mule.

Gerhard Bangen

Er gab keine Erklärungen ab, schlurfte einfach an Helen vorbei in den Bungalow, zog im Gehen Hemd und Bermudas aus und drehte im Bad die Dusche auf. Fast zwanzig Minuten stand er regungslos unter dem lauwarmen Wasserstrahl. Er trocknete sich auf dem Weg zum Bett mit einem Handtuch ab, ließ es zu Boden fallen und sackte der Länge nach auf die Matratze.

«Ist nicht dein Ernst?», sagte Helen. «Du hast die Mine nicht verloren?»

«Ich bin Cetrois.»

«Das ist nicht dein Ernst?»

«Nein. Ich weiß es nicht.»

Sie fragte weiter, er antwortete müde und zusammenhanglos. Er zog sich die Bettdecke über den Kopf und schlief ein.

Als er erwachte, war es stockfinster, und sein Herz raste. Ihm kam es vor, als habe er keine Sekunde geschlafen. Aber der Wecker zeigte kurz vor Mitternacht. Sein Arm tastete herum, die andere Hälfte des Bettes war leer. Ein dünnes Rechteck aus Licht umfloss das Türblatt. Im Nebenraum fand er Helen, die blonden Haare hochgesteckt, im grellen Schein der Deckenlampe. Vor ihr auf dem Tisch das Telefon und eine dampfende Tasse Kaffee. In ihren Händen ein Notizbuch, das sie rasch zuklappte, als Carl den Raum betrat. Der Fernseher lief ohne Ton.

Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber. Dann schaltete Helen den Fernseher ganz aus und wiederholte mit leiser Stimme die Frage, ob er tatsächlich die Mine gefunden und wieder verloren habe, und Carl sagte: «Ich bin nicht Cetrois.»

«Wie konntest du den Blazer einfach liegenlassen?»

«Ich kann’s nicht sein.»

«Warum bist du den Schulkindern nicht hinterher?»

«Ich bin doch hinterher! Aber die Frau war vollkommen gestört. Sie kann mich nicht kennen, sie hat den Namen einfach nachgeplappert.»

«Wie sahen die Kinder aus?»

«Und sie wollte Morphium von mir.»

«Ich hab dich was gefragt.»

«Was?»

«Wie die Kinder aussahen.»

«Wen interessiert das, wie die aussahen?»

Er redete weiter und wiederholte seine letzten Sätze, und ohne dass er es anfangs wahrnahm und ohne dass er sich erklären konnte, warum, war auf einmal ein ganz anderer Ton in Helens Stimme. Immer wieder unterbrach sie ihn, von ihrer Gelassenheit und Entspanntheit der letzten Tage war wenig übrig. Angesichts der jüngsten Verwicklungen schien das einerseits verständlich. Andererseits hatte Carl das undeutliche Gefühl, für ihre veränderte Stimmung müsse es noch andere Ursachen geben. Ihre Fragen kamen schnell und scharf, fast als sei es ein Verhör, und sie interessierte sich ausschließlich dafür, wie er die Mine gefunden und wie und unter welchen Umständen er sie wieder verloren hatte, während Carl hartnäckig versuchte, auf die Geschichte mit der Prostituierten zurückzukommen. Aus irgendwelchen Gründen hatte er angenommen, dass die Frage nach seiner Identität Helen genauso stark bewegen würde wie ihn, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Wie viele Schulkinder? Wie gekleidet? Warum er nicht im Salzviertel gewartet habe? Leeres Viertel, was für ein Leeres Viertel? Säuberungswelle? Und was für Kapseln? Zwei Kapseln mit einer Naht in der Mitte? In einer Kugelschreibermine mit dem Aufdruck «Szewczuk»? Da sei er sich ganz sicher — Szewczuk? Und was denn schon wieder für ein gelber Mercedes?

«Das interessiert mich nicht», sagte Carl erschöpft. «Mich interessiert, wer ich bin. Mich interessieren diese Kapseln nicht, mich interessiert meine angebliche Familie nicht, mich interessiert nur, wer ich bin

«Und mich interessiert, wie sich einer den Gegenstand, von dem sein Leben, seine Identität und alles abhängt, von ein paar kleinen Kindern klauen lassen kann.» Helen wirkte gereizt. Sie wurde laut, Carl wurde ebenfalls laut, und nachdem sie einige Minuten aneinander vorbeigeredet hatten, machte Helen den Vorschlag, die beiden Themen zu trennen, seine Identität und die Mine. Zwar halte sie die Mine für deutlich wichtiger … aber bitte. Und ihretwegen zuerst die Identität.

Carl antwortete nicht.

«Deine kleine Prostituierte», sagte Helen. «Fang an.»

«Fang du doch an.»

Kopfschüttelnd wandte Helen sich ab, und Carl, der wusste, dass er sich kindisch benahm, biss sich auf den Lippen herum.

Auf dem schwarzen Fernsehbildschirm saßen ihre Schattenrisse stumm nebeneinander. Nach einer Weile griff Carls Schatten nach der Hand von Helens Schatten, aber sie entzog ihm ihre Hand.

«Fang an.»

«Aber ich hab doch alles gesagt jetzt! Nur dass das nicht sein kann. Cetrois ist ja mit dem Moped in die Wüste. Ich bin nicht Cetrois. Das Mädchen irrt sich.»

«Oder die vier Männer irren sich.»

«Wie denn? Und du hast das Mädchen nicht gesehen.» Haarklein schilderte Carl noch einmal seine Begegnung mit der Drogenkranken, wobei er sich bemühte, ihre Gestörtheit möglichst plastisch herauszuarbeiten, und Helen unterbrach ihn und sagte: «Sie wollte Morphium von dir. Und du hattest welches dabei. War das Zufall?»

Keine Antwort.

«Hast du ihr gesagt, dass du was dabeihast, oder hat sie gefragt?»

«Sie hat gefragt.»

«Und wonach genau hat sie gefragt?»

«Nach … Zeug. Ob ich Zeug dabeihab. Und dann hab ich die Ampullen rausgeholt, und sie hat sie haben wollen. Und dann hat sie Morphium gesagt.»

«Du hast nicht Morphium gesagt?»

«Nein.»

«Und stand da dick drauf, dass das Morphium ist?»

«Nein. Es stand drauf, aber kaum lesbar.»

«Das hat sie aber nicht gelesen.»

«Nein. Aber was hätte es sonst sein sollen?»

«Kokain. Kosmetik. Kochsalzlösung.»

«Sie hat geraten. Kennt sich ja aus mit Drogen.»

«Wenn ich mal kurz zusammenfassen darf: Dieses Mädchen, das dich auf der Straße mit Charly anredet, will Zeug von dir. Und du hast zufällig was dabei. Daraufhin sagt sie Morphium, und es ist zufällig Morphium. Du glaubst nicht im Ernst, dass die dich nicht kennt?»

«Ich —»

«Und dass sie die ganze Zeit nur geschimpft und geflucht hat, statt auf deine Fragen zu antworten, obwohl du versprochen hast, ihr die Ampullen zu geben, wenn sie antwortet. Warum hat sie das gemacht?»

«Weil sie schwachsinnig ist.»

«Das ist eine Möglichkeit. Die andere ist, dass die Frage schwachsinnig ist. Ich meine, du fragst unaufhörlich nach deinem Namen und wie du heißt. Du wirst nicht viele Leute finden, die auf die Frage ‹Wie heiß ich denn?› umstandslos ‹Du heißt Soundso› antworten. Und dann fragst du auch noch nach Cetrois. Du fragst hundertmal, ob sie Cetrois kennt und wo er ist und wann sie ihn zuletzt gesehen hat — da würde ich auch von Psychoscheiße reden. Oder? Was würdest du sagen? … Kennst du Helen? Antworte. Kennst du Helen? Helen Gliese? Wann hast du sie zuletzt gesehen? Wo ist sie? Was macht sie gerade? Antworte, kleiner Mann.»

Carl hatte den Kopf schon seit einiger Zeit tief in seinen überkreuzten Armen vergraben, und er tauchte auch jetzt nicht wieder auf, als er stöhnend sagte: «Aber die vier Männer an der Scheune. Ich hab mich nicht verhört. Ich hab genau gehört, wie sie gesagt haben, Cetrois ist in die Wüste. Cetrois ist mit dem Moped in die Wüste. Die waren weit weg. Aber ich hab jedes Wort verstanden.»

«Dann sag noch mal, was sie genau gesagt haben.»

«Das hab ich doch schon gesagt. Dass Cetrois in die Wüste gefahren ist, dass sie viel Geld gefunden haben … und dass sie einem den Schädel mit dem Wagenheber eingeschlagen haben.»

«Einem?»

«Ja.»

«Sie haben gesagt, sie haben einem den Schädel eingeschlagen?»

«Einem Typen.»

«Einem Typen?»

«Ja.»

«Und haben sie auch gesagt, warum sie dem Typen den Schädel eingeschlagen haben?»

«Nein. Oder doch. Als der Vierte kam, haben sie gesagt, dass da dieser Typ in der Scheune war. Von dem sie wissen wollten, wo Cetrois hin ist. Er hat’s ihnen aber nicht gesagt … und dann mit dem Wagenheber.»

Helen war aufgestanden, öffnete in der Küche Schränke und Schubladen und rief Carl währenddessen weitere Fragen zu. Sie fragte nach dem alten Fellachen und wie er gekleidet gewesen war, fragte nach seinen zwei Söhnen, nach der Farbe des Bastkoffers und der Lage des Fensters auf dem Dachboden der Scheune. Nach der Größe und Form der Luke im Boden, nach der Beschaffenheit des Flaschenzugs. Nach der Höhe über dem Boden, der Anzahl der Rollen, der Länge der Kette. Dem Gewicht der Leiter.

Mit Papier und Stift kam sie zurück, schob es über den Tisch und sagte: «Zeichne mal den Grundriss auf. Die ganze Scheune und die Baracken … und genau das Fenster da oben. Und den Eingang. Und wo du gelegen hast, als du aufgewacht bist … ja. Da? Da hast du gelegen mit dem Kopf nach hier? Und hier ist dann die Lücke in der Bretterwand, wo du durchgeschaut hast nach hier?»

Helen drehte die Zeichnung um neunzig Grad, nahm Carl den Stift aus der Hand und zeichnete ein Strichmännchen an die von Carl nur mit einem Kreuz bezeichnete Stelle, wo er mit dem Holzgewehr auf dem Rücken liegend erwacht war. Sie betrachtete die Zeichnung eine Weile und fügte dann noch die Himmelsrichtungen hinzu.

«Und die vier Männer waren hier?»

Sie zeichnete vier Strichmännchen neben die Scheune. Eins davon hielt einen Bleistiftstrich in der Hand wie einen Wagenheber, eins hockte etwas abseits in einem Jeep.

«Und der Jeep kam von da, ja? Richtung Tindirma. Und sie waren hinter dir her, also kommst du vermutlich auch aus Tindirma. Egal. Aber zwischen hier und der Oase finden sie irgendwo den Geldkoffer oder das lose Geld, das sie aufhält, sodass sie nicht direkt hinter dir sind, sondern in einigem Abstand.»

«Ja und?»

«Sekunde.»

«Das ändert nichts daran, dass ich nicht Cetrois sein kann.»

«Ich glaube, ich weiß es.» Helen schaute noch eine Weile auf die Zeichnung. Dann schaute sie Carl an. «Du hast doch eine Dschellabah angehabt, oder? Über deinem karierten Anzug. Die du auf der Flucht ausgezogen hast. War die zufällig weiß?»

Er nickte.

«Die vier Männer hatten weiße Dschellabahs an. Der alte Fellache hatte eine schmuddlig-weiße Dschallabah an, der Tote unter dem Flaschenzug auch. Und lass mich raten: Der Typ auf dem Moped war nicht wesentlich anders gekleidet.»

«Das ist Spekulation. Aber egal, worauf du hinauswillst, das funktioniert nicht —»

«Sekunde. Du fliehst also vor deinen Verfolgern in die Scheune. Du bist hier, und sie sind hier, und jetzt ist die Frage, was sehen sie? Sie sehen aus großer Entfernung, wie einer mit weißer Dschellabah reinrauscht in die Scheune, und gleich darauf kommt einer auf dem Moped wieder raus. Schwarze Haare, weiße Dschellabah, wie ihr Brüder halt so ausseht. Und da denken die natürlich, dass du das bist, Cetrois.»

«Das funktioniert nicht.»

«Ich war noch nicht fertig.»

«Aber das funktioniert nicht, weil sie mir den Schädel eingeschlagen haben. Und wenn sie mir den Schädel einschlagen, wissen sie auch, dass ich das nicht gewesen sein kann auf dem Moped.»

«Und woher weißt du, dass sie dir den Schädel eingeschlagen haben?»

«Soll das ein Witz sein?»

«Sie haben gesagt, sie haben einem Typen den Schädel eingeschlagen.»

«Ja, einem Typen! Aber nicht Cetrois.»

«Davon rede ich.»

Verständnisloses Gesicht.

«Ich weiß nicht, ob du das vergessen hast», sagte Helen, «aber du warst nicht der Einzige in dieser Scheune mit eingeschlagenem Schädel.»

Sie malte ein Strichmännchen in die quadratische Bodenluke.

«Aber den hab ich erschlagen! Mit dem Flaschenzug.»

«Woher weißt du das? Du hast gesagt, sechs Meter etwa. Vier oder fünf Meter hoch war die Luke über dem Boden und dann der Flaschenzug noch mal zwei Meter über der Luke. Und die Kette läuft über mehrere Rollen. Das macht doch ein ziemliches Getöse, oder? Oder war das lautlos? Nein. Und wie schnell hat sich der Flaschenzug in Bewegung gesetzt, als du ihn mit der Leiter angestoßen hast?»

«So.» Carl senkte seine flache Hand. «Erst langsam, und dann kam der in Gang und dann so.»

«Und du glaubst, sechs Meter unter diesem in Zeitlupe auf ihn zurasselnden Flaschenzuggetöse steht ein Mensch und wartet, bis es ihm den Schädel einschlägt?» Helen malte Kettengekringel in die Luke und über den kreisrunden Kopf des Strichmännchens. «Der guckt doch hoch. Wenn da jemand steht, guckt der doch hoch. Wenn du mich fragst, gibt es nur drei Möglichkeiten, warum der nicht hochguckt. Erstens, der ist taub. Möglich. Aber unwahrscheinlich. Zweitens, der schläft. Was nach dem Krach, den du zuvor schon gemacht hast, ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich ist. Und, dritte Möglichkeit, der ist schon tot. Bewusstlos oder tot. Und zwar, weil ihm jemand vorher mit einem Wagenheber den Schädel eingeschlagen hat.»

Carl kratzte sich am Hinterkopf.

«Und schau dir überhaupt mal deine Wunde an. Weißt du, was ein Wagenheber ist? Wenn dir damit einer eins überzieht, ist dein Schädel Matsch. Was du da hast, ist eine leichte Platzwunde, da hat dich ein Wagenheber nicht mal gestreichelt.»

Sie drehte das Papier ein Stück herum und zeichnete ein weiteres Strichmännchen auf einem Moped weitab der Scheune und schrieb «Cetrois» in Anführungszeichen drüber.

Carl sagte nichts.

«Also wenn du mich fragst, ist das ganz logisch», sagte Helen. «Natürlich kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Aber wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, bevorzuge man die einfachste. Ich glaube erstens nicht, dass du die Männer falsch verstanden hast. Und zweitens glaube ich nicht, dass du das Mädchen falsch verstanden hast. Ich würde von drei Parteien ausgehen.»

Sie umkringelte der Reihe nach die Gruppen auf dem Papier. «Du bist die eine Partei. Deine Verfolger sind die zweite, und die Fellachenfamilie ist die dritte. Ein Alter mit zwei Söhnen. So weit einverstanden? Und ich geh mal davon aus, dass zum fraglichen Zeitpunkt nur die beiden Söhne in der Scheune waren. Vielleicht auch der Alte, aber mit Sicherheit die Söhne. Der Flaschenzug-Sohn und der Moped-Sohn. Und jetzt kommst du. Du bist auf der Flucht vor diesen Männern hier, und dann stürmst du mit etwas, das aussieht wie ein Sturmgewehr, in etwas, das aussieht wie eine Schwarzbrennerei. Ich nehme an, der Empfang wird nicht allzu herzlich gewesen sein. Du bist hektisch, weil deine Verfolger hinter dir her sind, die Söhne sind hektisch, weil sie Schwarzbrenner sind, und du fuchtelst mit diesem Gewehr herum, das, wie du selbst sagst, auch aus der Nähe täuschend echt aussieht. Ist es in der Scheune dunkel oder hell? Es ist dunkel. Du hast also ein AK-47 dabei, und ganz egal, was du ihnen erzählst, sie wissen, dass es Schwierigkeiten gibt. Vielleicht bittest du um Hilfe, vielleicht drohst du ihnen sogar. Und vielleicht sehen sie auch schon deine Verfolger anrücken, die sie für deine Kumpane halten, und ziehen dir prophylaktisch eins von hinten über. Mit einer leichten Platzwunde hieven sie dich auf den Dachboden … oder vielleicht bist du auch selbst auf den Boden geklettert, und sie kriegen dich erst dort zu fassen und ziehen dir da eins über, egal. Und jetzt geraten sie richtig in Panik. Einem den Schädel demoliert, drei weitere im Anmarsch. Also schnappt sich Sohn Nummer eins das Moped und rast in die Wüste. Vielleicht, um Hilfe zu holen, vielleicht auch nur, um zu fliehen. Egal. Und als deine Verfolger die Scheune erreichen, ist nur noch Sohn Nummer zwei da, den sie fragen, wo Cetrois hin ist, und der nicht antwortet. Weil er ja auch nichts weiß. Und da schlagen sie ihm mit dem Wagenheber den Schädel ein, wie sie kurz darauf stolz dem Vierten vermelden. Während du oben bewusstlos liegst und der Moped-Mann dir praktisch das Leben rettet. Denn dem jagen sie als Nächstes nach. Vermutlich erwischen sie ihn auch, hier hinten irgendwo, merken, dass es der Falsche ist, kommen zurück und suchen dich. Aber Monsieur Cetrois ist mittlerweile abgehauen, und die Bilanz für den alten Fellachen lautet: ein Sohn erschlagen, einer verschollen. Alle Rätsel gelöst.»

Helen trank den letzten Schluck Kaffee und ging in die Küche, um neuen aufzusetzen.

Verwirrt betrachtete Carl die Zeichnung, die Helen so gründlich mit Pfeilen und Kreuzen bedeckt hatte.

«Und das Holzgewehr? Warum lauf ich mit einem Holzgewehr durch die Wüste?»

«Ich würde vorschlagen, dass du dich das mal selber fragst.»

Carl versuchte, in Gedanken alles noch einmal durchzugehen. Er zählte die Strichmännchen, er nahm den Kugelschreiber in die Hand und las die Aufschrift «Sheraton». Die Sicherheit und Leichtigkeit, mit der Helen über alle seine Einwände hinweggegangen war, kränkte und verwirrte ihn. Es fiel ihm schon schwer, sich das Ganze im zeitlichen Ablauf vorzustellen. Wieso konnte Helen so mühelos diese Puzzleteile zusammensetzen? Und konnte sie das wirklich? Er fühlte sich verpflichtet, einen Fehler zu finden. Mit dem Finger auf das Strichmännchen deutend, das ihn selbst darstellte, sagte er: «Als ich bei Adil Bassir war, hat er von zwei Männern gesprochen.» Er vermied das Wort Würstchen. «Zwei Männer, ich und mein Partner.»

«Der muss ja nicht dabei gewesen sein.»

«Nein … aber bisher dachte ich immer, dass Cetrois mein Partner ist. Wenn ich Cetrois bin, wer ist dann mein Partner?»

«Ist das jetzt eine wichtige Frage?» Helen schraubte die Kaffeedose auf und suchte nach dem Dosierlöffel. «Oder können wir uns kurz der Frage zuwenden, ob es wirklich Schulkinder waren, die dir den Blazer geklaut haben?»

«Ich weiß nicht, was dich so sicher macht.»

«Und wie die aussahen.»

«Vergiss doch mal die Kinder! Was hast du immer mit diesen Kindern? Die findest du sowieso nicht wieder.»

«Ich kann dir sagen, was ich mit denen habe. Weil es nämlich meines Wissens in solchen Slums gar keine Schulen gibt.»

«Und wie bist du da überhaupt draufgekommen?», fragte Carl, ohne auf Helens Einwand einzugehen. Er hob die Zeichnung hoch und schlenkerte sie durch die Luft.

«Weil auch die Personenbeschreibung stimmt. In der Kommune. Fowler und die anderen haben ziemlich genau einen Mann wie dich beschrieben. Karierter Anzug, schlank, dreißig Jahre und eins fünfundsiebzig. Arabischer Einschlag. Wobei das auch alles war, was sie wussten. Mehr wussten sie nicht. Was du da in der Kommune gewollt hast, hast du entweder nicht gesagt, oder sie haben’s nicht begriffen. Vorgestellt haben musst du dich wohl als Journalist, aber dann hast du dich anscheinend nur nach den Wertgegenständen erkundigt, nach dem Geldkoffer und so weiter, und daraus haben sie dann den Schluss gezogen, dass du von der Versicherung bist, die sie gerade im großen Stil bescheißen wollten. Cetrois, Versicherungsmann. Oder sehr inkompetenter Journalist. Irgendwas in diese Richtung.»

49. TRÜBE GEDANKEN

Alert! Alert! Look well at the rainbow. The fish will rise very soon. Chico is in the house. Visit him. The sky is blue. Place notice in the tree. The tree is green and brown.

E. Howard Hunt

Spät in der Nacht kroch er zurück ins Bett. Helen deckte ihn eigenhändig zu, saß noch eine Weile auf dem Bettrand und betrachtete ihn mit einem Blick, der ihm, wären seine Augen nicht bereits geschlossen gewesen, wohl nicht gefallen hätte.

Die Nacht immerhin — die letzte Nacht — verbrachte er friedvoll. Früh am Morgen riss es ihn aus dem Bett. Jemand hatte ihn am Kragen gepackt und schleifte ihn in das andere Zimmer. Mit einer Stimme, die weder fragend noch aufgebracht war, sondern nur kalt und schneidend, sagte Helen: «Was ist das? Was. Ist. Das.»

Carl stand in seiner Unterhose mit dem ausgeleierten Gummiband neben ihr, vor sich zwölf kleine Papierschnipsel, locker zu drei Rechtecken zusammengepuzzelt. Er erkannte sie sofort wieder. Ein dreizehnter Schnipsel lag etwas abseits. Er war an den Rändern leicht angekokelt, bestand aber aus dem gleichen Material wie die anderen und zeigte das gleiche rötliche Muster. Dreimal Ausweispapier. Dreimal «Offizier des Tugendkomitees».

Sich darüberbeugend sagte Carl nun selbst: «Was ist das?»

«War in deinen Bermudas. Ich wollte die heute in die Wäsche geben. Und jetzt lüg mich nicht an.»

Carl rieb sich mit dem Handballen über die Brust, und ohne noch zu begreifen, warum Helen derart aufgebracht war, berichtete er schon von der Leiche in der Wüste, bei der er die Ausweise gefunden hatte. Oder die Schnipsel. Eine Leiche mit einem hellgrauen Anzug und einer Drahtschlinge um den Hals, über die er zufällig gestolpert war … da habe er das her. Aus den Taschen.

«Und was ist das?» Helen tippte mit dem Zeigefinger auf drei mit roter Schreibmaschinenschrift ausgefüllte Felder.

Carl las und stutzte: Adolphe Aun … Bertrand Bédeux … Didier Dequat.

«A, B, D!», sagte Helen laut. «Un, deux, quat!»

«Scheiße.»

«Ja, Scheiße, Monsieur Cetrois. Und jetzt erzähl mir keinen Mist, wo du die herhast. Erzähl mir überhaupt keinen Mist mehr! Das mit der Leiche kannst du dir sonst wo hinstecken. Du hast lange genug den Amnestiker gespielt, und jetzt bitte: Lüg. Mich. Nicht. An.»

Carl nahm den angekokelten Schnipsel, auf dem «Nom:» stand, legte ihn nach kurzer Betrachtung zurück auf den Tisch und wiederholte die Geschichte des Leichenfundes. Eine Drahtschlinge. Zwei Bleistifthälften … und ein Menjou-Bärtchen. Der Tote habe ein Menjou-Bärtchen gehabt.

«Bullshit», sagte Helen. «Du redest Bullshit.»

«Das glaubst du nicht ernsthaft?»

«Was?»

«Dass ich den Gedächtnisverlust nur gespielt hab.»

«Ich glaube das, was Dr. Cockcroft glaubt.»

«Woher weißt du, was Dr. Cockcroft glaubt?»

«Weil du es mir erzählt hast, mein Junge. Leidest du neuerdings wirklich an Gedächtnisverlust? Sag mir, wo du die Dinger herhast, und erzähl mir nichts von Leiche. Hattest du die die ganze Zeit? Und wer bist du? Du hattest sie die ganze Zeit dabei, oder? Du wusstest die ganze Zeit, wer du bist, und —»

«Ich kann dir die Leiche zeigen.»

«Nein.»

«Doch, ich kann —»

«Nein, kannst du nicht! Glaubst du im Ernst, ich fahr jetzt mit dir in die Wüste und such ein totes Menjou-Bärtchen? Jetzt ist Schluss. Der Ausflug ins Salzviertel hat mir gereicht. Da hab ich mir schon gedacht, dass irgendwas nicht stimmt. Dass du ein Lügner bist. Ein Lügner und ein Simulant. Guck nicht so empört. Und falls du dir nicht vorstellen kannst, wie ich die Dinge sehe, kann ich es dir auch gern sagen.»

«Helen.»

«Was sind denn die Fakten? Die Fakten sind — nein, hör mir zu. Die Fakten sind: Ich greife einen Mann an einer Tankstelle mitten in der Wüste auf, der behauptet, sein Gedächtnis verloren zu haben. Und ich glaube ihm. Ich kümmere mich um ihn. Ich nehme keinen Anstoß daran, dass er die Polizei nicht einschalten will. Ich nehme keinen Anstoß daran, dass er nicht ins Krankenhaus will und dass ein Facharzt sagt, einen solchen Gedächtnisverlust gibt es nicht.»

«Gibt es wahrscheinlich nicht.»

«Wahrscheinlich, am Arsch. Aber schön, dass du von Wahrscheinlichkeit anfängst. Darauf wollte ich auch gerade kommen. Ich kümmere mich also um diesen Mann. Ich kümmere mich um einen Mann, dessen Identität völlig im Dunkeln liegt, der behauptet, nichts weiter zu besitzen als das, was er am Leibe trägt, plus die verkokelte Ecke eines Ausweises, dessen entscheidender Rest von irgendwelchen Hippies verbrannt wurde. Wie wahrscheinlich ist das? Und kaum bei mir angekommen, wird er von einem Gangsterboss entführt. Er kriegt einen Brieföffner durch die Hand gerammt und verrät auch unter größten Schmerzen weder, dass er sein Gedächtnis verloren hat, noch, dass er einen Kumpel namens Cetrois besitzt. Oder zu besitzen glaubt. Tagelang suchen wir verzweifelt diesen Cetrois, und dann stellt sich raus, er ist es selbst. Wie wahrscheinlich ist das? Und kaum haben wir das rausgefunden, trägt unser Mann drei Ausweise in der Tasche. Drei läppisch gefälschte Ausweise, die ganz wunderbar zu seiner von Hippies verbrannten, läppischen Viertidentität passen. Und wo kommen die auf einmal her? Von einer Leiche in der Wüste, einer Leiche mit, ich zitiere, Menjou-Bärtchen, über die er zufällig mitten in den Dünen gestolpert ist, und zwar schon gestern — und ohne diesen Ausweisen irgendwie Beachtung geschenkt zu haben und ohne sie mir gegenüber zu erwähnen. Der Mann, der mir jeden Abend sein übervolles Herz ausschüttet — das hat er vergessen. Ich finde sie einfach in seiner Tasche. Wie wahrscheinlich ist das?»

«Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber —»

«Und zu guter Letzt sucht unser Mann auch noch eine Mine. Was für eine Mine? Das weiß er nicht. Aber durch einen glücklichen Zufall findet er sie plötzlich oder behauptet, sie gefunden zu haben, in einem Kugelschreiber, in einem, ich zitiere, Billigkugelschreiber, und diesen verschissenen Kugelschreiber, der die verschissene Lösung aller seiner verschissenen Probleme darstellt, lässt er sich im Leeren Viertel von einem, ich zitiere, Schuljungen klauen, während er mich mit dem Auto ins Salzviertel schickt. Dein Portemonnaie ist noch da, das Geld, das ich dir gegeben habe, ist da, der Zweitschlüssel für den Bungalow ist da, alles da. Nur der Blazer mit dem Kugelschreiber ist weg. Wie wahrscheinlich ist das? Versetz dich mal in mich rein. Wie wahrscheinlich? Ich meine, hältst du mich für bekloppt?»

Helens Stimme hatte alles Schleppende und Leiernde verloren. Ihre letzten Sätze schleuderte sie in einem Stakkato hervor, das nach Maschinengewehr klang.

Verwirrt sah Carl ihr ins Gesicht. War sie sich ihrer Sache wirklich so sicher, wie sie behauptete, oder stellte sie ihn nur auf die Probe? Er wusste es nicht. Und mal angenommen, sie hatte recht? War es möglich, dass alles stimmte, was Helen, ohne dabei gewesen zu sein, und allein durch Kombinatorik über ihn herausgefunden hatte? War es, wie Dr. Cockcroft angedeutet hatte, möglich, ein Simulant zu sein, der von seiner eigenen Simulation nichts ahnte? War es das, was sich aus diesen Papierschnipseln nun notwendig ergab?

Es fühlte sich für einige Sekunden an, als müsse er wahnsinnig werden. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was er in den letzten Tagen über sein Leben herausgefunden hatte, und es durch Nachdenken zu einem anderen, irgendwie ebenfalls konsistenten Ganzen zusammenzusetzen, aber es gelang ihm nicht. Dies war längst kein Denken mehr, es war ein Versinken im Nebel. Wie konnte Helen mit Blick auf die verstreuten Teile so klar erkennen, was sie zu erkennen glaubte, nämlich ein Bild voller Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten?

Dass er das Vertrauen der einzigen Person, die ihm nahestand, zu verlieren drohte, versetzte ihn in Panik. Er stöhnte. Er schwieg.

«Wenn das alles ist, was du zu sagen hast, dann war’s das jetzt», hörte er. «Dann ist es jetzt vorbei. Ich hab dir geholfen in allem, was ich konnte, aber einen Lügner werde ich nicht beherbergen. Wenn du mir sagen willst, was das für Ausweise sind und wie du da rangekommen bist und vor allem, wer du wirklich bist und wo die Mine ist, dann kannst du mir das jetzt sagen. Sag es mir. Das ist die letzte Gelegenheit. Wer bist du? Und was ist das für eine Scheißmine?»

In seinem Innern arbeitete es, ohne Ergebnis. Helen wischte die Papierschnipsel mit einer Armbewegung vom Tisch. «Na schön», verkündete sie ohne erkennbare Regung. «Ich gehe jetzt an den Strand. Du kannst noch warten, bis deine Wäsche aus der Hotelreinigung eintrifft, aber wenn ich zurückkomme, bist du verschwunden.»

Sie holte ihren Badeanzug und zwei Handtücher aus dem Bad, ging dann zum Telefon und ließ sich mit den USA verbinden. Auf dem Stuhl zusammengesunken versuchte Carl, das Durcheinander in seinem Kopf mit Gewalt zu durchdringen. Im Nebel erschienen die Umrisse eines weiteren ungeklärten Details. Das Holzgewehr. Ein falsches Gewehr, falsche Ausweise. Der Nebel begann, physisch zu schmerzen. Er wusste, dass er ohne Helen verloren war. Er hörte sie mit ihrer Mutter telefonieren und versuchte nun schon nicht mehr, eine Entgegnung zu finden, er versuchte nur noch, sich vorzustellen, was er zu ihrer Beruhigung sagen konnte. Er hatte in allem die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit war unwahrscheinlich. Das wusste er selbst.

«Es ist vollkommen unwahrscheinlich», begann er erneut. «Aber ich möchte dich etwas fragen. Hätte ich dich bewusst täuschen wollen, hätte ich tatsächlich die ganze Zeit von diesen Ausweisen in meiner Tasche gewusst und dich über ihre Herkunft absichtlich belügen wollen — hätte ich dann etwas so extrem Unglaubhaftes wie eine Leiche mit Menjou-Bärtchen erfunden? Mit einer Drahtschlinge um den Hals? Hätte ich dann nicht einfach etwas sehr viel Wahrscheinlicheres erfinden können?»

Helens Antwort kam prompt: «Zum Beispiel?»

Sie nahm die Hand von der Muschel des Telefonhörers, die sie einige Sekunden lang bedeckt hatte, und redete weiter.

«Nein, niemand, Mutter», sagte sie.

«Ja, gut», sagte sie.

«Dann hätte ich es heute Morgen nicht probiert», sagte sie.

Carl versuchte, sich vorzustellen, was Helens Mutter auf der anderen Seite des Ozeans wohl sagte. Dann dachte er wieder an das Holzgewehr. Er drehte und wendete es im Geiste hin und her.

«Ja … ja. Nein, ist nicht aufgetaucht und taucht auch nicht mehr auf. Ganz sicher. Ich hab mit der Firma telefoniert, sie schicken einen neuen. Drei neue wären natürlich besser … drei sind immer besser als einer, ja … sofort, wann denn sonst? Ich geh jetzt an den Strand … so wie überall … ja. Carthage ist gut. Grüß ihn von mir», sagte Helen und hängte auf.

«Wer ist Carthage?», fragte Carl.

Helen antwortete nicht.

«Wer ist Carthage?»

«Mein Hund. Und denk dran: Wenn ich wiederkomm, ist der Bungalow leer.»

Sie schulterte ihre Badesachen und ging hinaus.

Carl sammelte die Papierschnipsel vom Boden auf, legte sie mit zittrigen Fingern noch einmal zusammen und sah, was er zuvor schon gesehen hatte: lächerliche Ausweise eines lächerlichen «Tugendkomitees». Er wischte sie wieder vom Tisch, trat auf die Terrasse hinaus und sah einer bereits sehr winzigen Helen hinterher, wie sie zwischen den Pinien verschwand. Das Meer rollte in schmalen Wellen auf den Strand. Kaum war Helen verschwunden, tauchte ein Mann auf dem Weg auf und blieb zwischen den Bäumen stehen. Er war sehr weit entfernt, doch hatte Carl den undeutlichen Eindruck, als starre er ihn an. Ein, zwei Minuten, dann drehte der Mann sich um und ging den Weg zurück zum Strand.

Carl ließ sich in einen Liegestuhl sinken. Er spürte eine bleierne Müdigkeit. Irgendetwas Unbegreifliches hatte ihn zutiefst erschöpft. In seinem Kopf rasten die Gedanken nicht mehr, sie stolperten nur noch hilflos umher. Aus Angst, Helen noch weiter zu verärgern, wenn er ihrem Gebot nicht Folge leistete, drückte er sich ächzend aus dem Stuhl wieder hoch, trottete von der Terrasse den Weg hinunter zur zweiten Terrasse und kletterte dort über die Brüstung. Hangabwärts taumelnd sah er sich im Unterholz nach einem geeigneten Platz zum Schlafen um und sank im Schutze eines Rutenginsters hin. Das Licht war körnig. Er lag auf dem Bauch. Dann drehte er sich auf den Rücken. Von Zeit zu Zeit schreckte er hoch, als habe ein Gedanke ihn gestreift, aber immer wieder überwältigte ihn die Lethargie. Einen Entschluss zu fassen fühlte er sich nicht imstande. Sein Blick wanderte zu den schwankenden Baumkronen, zwischen denen der Abendhimmel stand wie violettes Glas, und er wünschte sich, er wäre tot.

50. CONTRAZOOM

Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich, zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch, was ihre Gestalt sei. Die Kräfte, die mich hindern, es zu wissen, sind zahlreich, und auch die Frage ist verworren und das menschliche Leben kurz.

Protagoras

Endlose Herden ungelenker, hölzerner Ziegen, in deren Innerem als Priester verkleidete Holzwürmer arbeiteten, staksten durch seine Träume. Mit einer Handbewegung, als müsse er die Gespenster vertreiben, setzte er sich im Morgenlicht auf.

Nachdem er eine Viertelstunde oder länger vor sich hingebrütet hatte, lief er zum Bungalow hinauf. Zwanzig oder dreißig Schritt unter der Terrasse zögerte er. Er kniete sich hinter einen Baum und weinte. Und wartete. Schließlich klopfte er an die Tür. Er drückte sein Auge von außen an den Spion, klopfte noch einmal und ging dann um das Haus herum und schaute in jedes Fenster. Die Jalousien im Schlafzimmer waren nicht herabgelassen. Das Bett war leer. Helens Koffer stand nicht mehr auf der Kommode.

Mit dem Zweitschlüssel, den er immer noch in der Tasche trug, öffnete er die Tür. Er rief Helens Namen. Ging von Zimmer zu Zimmer. Alles war ausgeräumt. Auf dem Nachttisch lag ein nicht ausgefülltes Formblatt des Hotels. Allein die chromblitzende Maschine mit der polnischen Aufschrift, die sie gemeinsam in der Werkstatt eingeladen hatten, stand noch auf der Anrichte. Und ein Korb mit Obst.

Nächst der Verzweiflung, die Carl bei seinem ersten Erwachen in der Scheune empfunden hatte, als er spürte, dass sein Gedächtnis nicht zu ihm zurückkehrte, war dies der schlimmste Moment. Und er wusste nicht einmal, ob Helen den Bungalow seinetwegen so eilig verlassen hatte. Über Reisepläne hatten sie nicht gesprochen.

An der Rezeption war der Hauptschlüssel abgegeben worden, wie ein Hotelangestellter mit einem Maximum an Verbindlichkeit mitteilte, und der Bungalow war noch für zwei Tage bezahlt. Auskünfte über die überstürzt abgereiste amerikanische Geschäftsfrau hingegen gab es nicht. Welche Geschäftsfrau? Heute Morgen? Nein, der Nachtportier sei nicht mehr im Haus.

Carl setzte sich auf die Terrasse des Bungalows, aß einen Apfel und schaute über die Pinien aufs Meer. Er öffnete den Kühlschrank. Das Gefrierfach. An der chromblitzenden Maschine las er noch einmal die Aufschrift mit den technischen Daten. Im Fernsehen lief leise grau flimmernd ein Spielfilm. Zum zweiten Mal klaubte er die Papierschnipsel aus dem Mülleimer, puzzelte sie aber nicht mehr zusammen. Er schüttelte die Bettdecke auf. Er hob die Kopfkissen hoch. Unter einem fand er einen Pullover, den er sich auf das Gesicht hielt und durch den er einige Minuten lang hindurchatmete, bevor er ihn sich überstreifte. Er schaute unter das Bett.

Dort entdeckte er Holzspäne eines zerschnitzten Bleistifts und ein rosa Gummiband, in das einige lange, blonde Haare verknotet waren.

Im Bad fand Carl eine leere Shampooflasche, und immer wieder blieb er vor der chromblitzenden Maschine stehen. Warum hatte Helen sie mit einer Mine verwechselt? Hatte sie das überhaupt? Er untersuchte den zweipoligen Einbaustecker an der Seite und sah sich nach einem Kabel um, das er zweckentfremden konnte. Das Kabel der Nachttischlampe war fest montiert, aber der Fernseher verfügte über eine Doppelader. Allerdings passte der Stecker nicht zur Maschine.

Resigniert ließ er sich aufs Sofa fallen und schaltete mit dem Fuß die Programme um. Testbild, Testbild, Spielfilm.

«Now you listen to me. I’ll only say this once. We are not sick men.»

Er biss in den Apfelstrunk, kaute einmal und spuckte den Bissen über den Fernseher.

Unter den feuchten Obstresten flimmerte Helens Gestalt über den Bildschirm. Carl schloss einen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete, war es nicht Helen. Es war nicht einmal eine Frau. Es war Bruce Lee. Mit tänzerischer Leichtigkeit trat er durch ein helles Lichtviereck in einen dunklen Raum und schlug einem durch sein Lachen als bösartig erkennbaren Mann mit der Handkante den Kehlkopf ein. So, wie Helen es gemacht hatte. Genau so.

Weitere Apfelreste aushustend und spuckend und kopfschüttelnd ging Carl über die beiden Terrassen hinunter zum Strand. Dort sonnten sich einige bleiche Europäer. Eine Sturmböe rollte ihre Handtücher auf.

Auf schwarzem Lavagestein, das dem Gelände zur einen Seite hin eine natürliche Begrenzung gab, setzte Carl sich an eine windgeschützte Stelle und starrte auf die Wellen, die ihren zeitlosen Geschäften nachgingen.

Schräg unter ihm hockten zwei Berberinnen in blauen Tüchern. Ein junges Mädchen von vielleicht zwölf Jahren und eine Greisin mit Totenkopfgesicht, Augen wie Löcher. Die Greisin hatte ein dünnes, mit schwarzer Paste bestrichenes Stöckchen in der Hand. Sie presste den Kopf des Mädchens an ihre Brust, krallte Zeige- und Mittelfinger auf ein Auge und zog den Stock durch die Lider des Mädchens. Das Mädchen öffnete blinzelnd das dick schwarz umrandete Auge.

Je länger er darüber nachdachte, desto weniger konnte Carl an Helens Vorwürfen etwas Ungerechtes finden. Sie war ihrer Logik gefolgt, und der Logik folgend hatte sie recht. Alles, was in seinem kurzen, erinnerbaren Leben geschehen war, war unwahrscheinlich. Eine geradezu beängstigende Fülle von Unwahrscheinlichkeit. Dazu seine Familie, sein Kumpel, das Holzgewehr … die polnische Maschine. Nichts ergab einen Sinn. Er versuchte, sich die Worte der Männer in der Werkstatt ins Gedächtnis zurückzurufen, und fing einen scheuen Blick des Mädchens aus dick schwarz umrandeten Augen auf. Die Greisin machte sich mit Henna an einer Hand des Mädchens zu schaffen, und Carl überlegte, was einen amerikanischen Kosmetikkonzern auf die Idee bringen konnte, eine seiner Angestellten in ein Land zu entsenden, wo man mit schwarzer und roter Paste eigentlich ausreichend bedient war. Helen würde sich sehr anstrengen müssen, wenn sie hier etwas verkaufen wollte … und plötzlich fiel ihm ein, was an ihrer Liste nicht gestimmt hatte. Er erstarrte. Helens Telefonliste. Die sie angefertigt hatte, während er am Strand zurückgeblieben war, während Michelle ihre Comics gelesen und der deutschen Touristin die Karten gelegt hatte. Als Helen zum Bungalow hinaufgegangen war, war es zwischen zehn und elf Uhr gewesen. Sie war nicht lange fortgeblieben, vielleicht eine Viertelstunde. Und in dieser Zeit hatte sie angeblich Freunde und Bekannte in Paris, London, Sevilla, Marseille, New York und Montreal angerufen und sie gebeten, den Namen Cetrois im Telefonbuch nachzuschlagen … die Namen Cetrois, Cetroix, Sitrois, Setrois. Wieso fiel ihm das jetzt erst auf?

Am Horizont, hinter dem in großer Entfernung Amerika lag, fuhr ein Dampfer. Die Zeitverschiebung nach New York betrug sechs oder sieben Stunden, was bedeutete, dass Helen dort zwischen drei und fünf Uhr nachts angerufen hatte. Unmöglich war das nicht. Aber war es wahrscheinlich? Und was waren das für Freunde? Vielleicht gab es Freaks, denen es nichts ausmachte, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden, um ihre Telefonbücher nach einer Reihe inexistenter französischer Namen zu durchsuchen. Aber Helen wirkte nicht wie jemand, der sich in seinem bürgerlichen Leben mit Freaks umgab. Und nachdem sich dieser Gedanke einmal in Carls Hirn festgesetzt hatte, fiel ihm sofort eine wahre Flut weiterer Ungereimtheiten auf.

Dass Helen seine Sachen durchsucht hatte, war noch das Geringste, er hatte ihre Sachen ja auch durchsucht. Aber wozu führte sie Handschellen, Fußschellen und dieses Ding mit sich, das wie ein Schlagstock aussah und sicher auch einer war? Wie hatte er im Ernst glauben können, sie brauche dies zu sexuellen Zwecken? Und wo lernte man als Angestellte eines amerikanischen Kosmetikkonzerns, erwachsenen Männern mit einem Schlag den Kehlkopf einzudrücken wie Bruce Lee? Sprach das nicht alles viel mehr für eine irgendwie polizeiliche Ausbildung? Je länger Carl darüber nachdachte, desto weniger Zweifel hatte er. Helen, die ihn Tag für Tag begleitet, ihn geradezu beschattet hatte — warum hatte es nie auch nur den geringsten Hinweis auf ihre berufliche Tätigkeit gegeben? Ganz zufällig war ihr Musterkoffer bei der Ausschiffung ins Meer gefallen. Bei einem Gerangel auf der Gangway. Ein Schuljunge hatte ihn ihr aus der Hand gerissen.

«Du bist ja paranoid», hörte er Helens Stimme im Hinterkopf und erinnerte sich zugleich an ihr sonderbar unverhülltes Interesse an der Mine zuletzt, ausschließlich an der Mine. Er war sich ganz sicher. Im Geiste sah er Helen schon in irgendeiner nebulösen Uniform wieder durch die Tür treten und ihm Hand- und Fußschellen anlegen … aber es gab da leider etwas, was all den schönen Hirngespinsten zuwiderlief. Und das waren die Umstände ihrer ersten Begegnung. Er war Helen an der Tankstelle in der Wüste einfach über den Weg gelaufen. Sie hatte nicht wissen können, dass er dort auftauchen würde. Und er hatte sie angesprochen, nicht umgekehrt.

Erschöpft sank er vor dem Fernseher hin. Bis zu den Spätnachrichten saß er da und rührte sich nicht. Dr. Cockcrofts Vollbartgesicht fiel ihm wieder ein. Hatte er dem Doktor gegenüber nicht genau die gleichen Zweifel gehegt? Hatte er nicht eine Flut von Einwänden gegen ihn vorgebracht und zuletzt alles Mögliche und einen Scharlatan in ihm sehen wollen, nur nicht den, der er wirklich war? Möglicherweise war er tatsächlich paranoid. Er dachte einige Minuten darüber nach, sprang dann hoch und riss alle Schubladen in der Küche auf. In der Besteckschublade fand er ein großes Messer, einen kleinen Schraubenzieher und eine Taschenlampe. Damit lief er hinaus in die Nacht und schlich auf der Serpentinenstraße hinunter bis zum nächsten baugleichen Bungalow.

Dort brannte kein Licht und hatte auch die letzten Tage, soweit er sich erinnern konnte, keins gebrannt. Die Fensterläden waren verschlossen, das Haus erkennbar unvermietet. Er leuchtete die Front und den Garten ab, überzeugte sich, dass niemand ihn beobachtete, und brach dann mit Messer und Schraubenzieher den Briefkasten auf. Er fand eine in Plastik eingeschweißte Mitteilung des Hotels an den nächsten Gast, dazu Werbezettel für Restaurants und Tauchschulen, die gleichen, die auch in Helens Briefkasten gesteckt hatten. Er fand alles Mögliche. Aber den Wurfzettel einer Psychologenpraxis fand er nicht.

Während er noch auf die Papiere in seiner Hand starrte, wurde es hell im Garten. Auf der anderen Straßenseite, ein paar Schritte den Hügel hinauf, war im Obergeschoss eines Hauses das Licht angegangen. Hinter geblümten Gardinen bewegten sich zwei schlanke Schatten aufeinander zu. Carl dachte kurz nach, marschierte mit dem Bündel Wurfsendungen in der Hand dorthin und drückte den Klingelknopf. Nach einer Weile öffnete die Tür sich einen Spaltbreit. Leise Musik war zu hören.

«Haben Sie in den letzten Tagen in Ihren Briefkasten gesehen?»

«Bitte?»

«Haben Sie in den letzten Tagen in Ihren Briefkasten gesehen?»

Die Tür öffnete sich weiter. Ein junger Mann und dann noch ein junger Mann sahen ihn ein wenig verwirrt an. Beide trugen weiße Bademäntel, und die Haare des einen waren nass. Mit ihren Blicken folgten sie Carls Handbewegungen, besonders denen der Hand, die das Messer hielt. Sie hörten sehr ernst zu und antworteten endlich ebenso ernst. Ja, sie wohnten schon länger hier, fast ein halbes Jahr, und sie hätten regelmäßig ihren Briefkasten geleert. Einer von ihnen sei Journalist und korrespondiere mit Paris … und Probleme mit der Postzustellung habe es bisher keine gegeben. Sie seien beruflich darauf angewiesen, einen Werbezettel einer Psychologenpraxis hätten sie nicht bekommen. Nein, ganz sicher. Das wäre ihnen aufgefallen. Sie könnten aber auch gern noch einmal nachschauen, wenn es ihm — wie war der Name noch? — so wichtig sei.

Mit gesenktem Kopf wartete Carl vor der Tür. Der eine verschwand im Haus, während der andere an der Tür stehen blieb und seinen sich immer wieder öffnenden Bademantel ordnete. Nachbarn seien sie also … interessant. Und eine Psychologenpraxis, tatsächlich? Hier zum Sheraton gehörig? Für Touristen? Nein, das könne er sich, er bitte um Verzeihung, kaum vorstellen. Nicht dass er Vorurteile habe, er habe sich selbst schon mehr als einmal in Behandlung begeben, in New Jersey übrigens, wenn auch nur interessehalber und nicht sogenannter tatsächlicher Probleme wegen. Aber dass es hier dergleichen gebe, erstaune ihn doch. Psychologie in Afrika, sei das nicht, als versuche man, Eskimos Kühlschränke zu verkaufen?

Angestrengt starrte Carl an ihm vorbei in das Dunkel des Hauses.

Mit einem Bündel Reklame und aufgerissenen Briefumschlägen kam der andere zur Tür zurück und bestätigte bedauernd, keinen Werbezettel erhalten zu haben.

«Aber Sie haben einen bekommen oder was? Und jetzt brauchen Sie psychologische Betreuung? Nein?»

Beide Männer fingen im selben Moment auf eine sehr eigenartige Weise zu lächeln an, und Carl, der nicht wusste, ob sie einfach nur freundlich sein oder sich über ihn lustig machen wollten, verabschiedete sich eilig.

Er warf den Schraubenzieher, das Messer und den Packen Papier, den er noch in der Hand hielt, irgendwo ins Gebüsch und irrte dann die kleinen Gassen den Hügel hinauf. Niemand hatte einen Werbezettel erhalten, es hatte also keine Zettel gegeben. Allein in Helens Bungalow war einer eingeworfen worden. In dem Briefkasten des einzigen Bungalows in dieser Stadt, in dem jemand wohnte, der wirklich Probleme hatte.

Carl hatte Schwierigkeiten, die Straße mit der Praxis wiederzufinden. Erst an der Haustür, die er nach seinem Abschied von Dr. Cockcroft mit dem eigenen Schlüssel vergeblich aufzusperren versucht hatte, erkannte er sie wieder.

In den Fenstern brannte kein Licht. Die Tür stand offen. Carl betätigte zuerst die Klingel und tastete dann nach dem Lichtschalter im Flur. Aber das Licht funktionierte nicht, in keinem der Räume. Mit der Taschenlampe durchstöberte Carl das ganze Haus. Alle Möbel waren fort. Seine Überraschung hielt sich in Grenzen. Allein im Obergeschoss stand noch der dreibeinige Tisch. Die beiden Bücher waren ebenfalls verschwunden.

Mit einem undefinierbaren Geräusch der Verzweiflung öffnete Carl das Fenster. Er stützte die Ellenbogen auf den Sims und schaute über die Straße hinaus in die Nacht. Die Sterne. Die Menschen, die Häuser, die Praxis. Dr. Cockcroft, Helen, die polnische Maschine. Die Leiche in der Wüste. Er ging ins Zimmer zurück und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Wie schon zuvor hatte er das Gefühl, dass mit Nachdenken etwas zu holen sei, aber immer, wenn er die Fäden zu verknüpfen suchte, verhedderten sie sich sofort in seinen Händen, und dann fuhr ein heftiger Windstoß durch seine Überlegungen, der nicht nur alle Verknüpfungen löste, sondern auch die Fäden selbst in luftige Fernen davonwehte. Zurück blieb nichts als lähmende Dunkelheit, und das Nachdenken darüber war etwa so angenehm, wie mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen.

In den wenigen Tagen, an die er sich erinnern konnte, hatte er mehr ungereimtes Zeug erlebt als mancher Mensch in siebzig Jahren. Und nun lief er Gefahr, dieses neue Leben abermals zu verlieren. Helen verschwunden, Dr. Cockcroft verschwunden, eine Arztpraxis hatte vielleicht niemals existiert. Die Mine gestohlen, Bassirs Ultimatum abgelaufen … und möglicherweise schnitt gerade jemand seinem Sohn den Finger ab oder vergewaltigte seine Frau.

Es fiel ihm schwer, Worte für seine Emotionen zu finden. Geschweige denn für seinen Zustand. Er wusste nicht, ob er überhaupt etwas empfand. Er drehte sich um und schlug den Kopf gegen die Wand. Halb betäubt trat er erneut ans Fenster und blickte hinaus. In dunklen Ecken standen dunkle Schatten. Einer der Schatten beobachtete ihn. Das kam ihm zumindest so vor. Immerhin. Entweder sein Verfolger oder seine Paranoia war nicht verschwunden. Er richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf sein eigenes Gesicht. Sollten sie ihn doch sehen. Sollten sie sehen, dass sie ihn sehen durften. Sollten sie sehen, dass es ihm egal war. Sollten sie ruhig kommen.

51. MARSHAL MELLOW

Zwei Vietcongs wurden während eines Fluges nach Saigon vernommen. Der erste weigerte sich, die Fragen zu beantworten, und wurde aus 3000 Fuß aus dem Flugzeug geworfen. Der zweite beantwortete die Fragen sofort, dann wurde auch er hinausgeworfen.

William Blum

Aber niemand kam, und von Müdigkeit überwältigt legte Carl sich schließlich auf den Boden und versuchte zu schlafen. Es gelang ihm nicht. Ein leise wummerndes Geräusch hielt ihn davon ab. Er schloss das Fenster, aber das Geräusch ging wie ein Herzschlag durch Decken und Wände. Es raubte ihm den letzten Nerv. Schließlich stand er auf, ging hinunter auf die Straße und sah sich um. Er machte ein paar Schritte aufs Sheraton zu, lief dann aber, einem plötzlichen Impuls folgend, den Geräuschen nach. Sie führten ihn zu einem auf der Rückseite von Dr. Cockcrofts Praxis gelegenen Gebäude, über dessen Eingang eine defekte Leuchtreklame hing. Die Wände rechts und links des Eingangs waren über und über mit Plakaten beklebt. Jimi Hendrix, Castles Made of Sand … Africa Unite. Und quer über alles hinweg in hundertfacher Ausführung das druckfrische Bild eines rechteckigen Gesichts mit ungeheuer breiter Kinnlade, um das herum drei kleinere Köpfe und verschiedene Musikinstrumente kreisten wie ein spärlicher Gedankenwirbel.

Marshal Mellow and his Skillet Lickers — Life!

Während Carl das zweifelhafte Englisch las, verstummte der pulsierende Rhythmus, und gedämpfter Jubel erscholl aus dem Innern des Gebäudes. Zwei Beduinen mit Joints in der Hand kurvten an ihm vorbei, dann drängte eine plötzlich aufgetauchte Busladung Touristen hysterisch zum Eingang und riss Carl mit sich fort. Er versuchte kurz, sich aus der Woge von Leibern herauszukämpfen, gab aber auf, als er am Kassentischchen vorbei und in eine dichte Wand aus Trockeneisschwaden gespült worden war.

Nach und nach wurden die Umrisse eines großen Saals erkennbar, den eine für die Gegend ungewöhnlich ausgeglichene Mischung aus Arabern, Amerikanern, Touristen, Halbstarken, Männern und Frauen füllte. Sogar eine Handvoll einheimischer Frauen war dabei. Ein einzelner, dünner Scheinwerfer stocherte durch den Nebel unter der Decke, in der Mitte der Bühne stand ein rechteckiger Mann mit ungeheurer Kinnlade in der Uniform eines amerikanischen Flottenadmirals (wenn Carl sich nicht täuschte), tippte mit dem Zeigefinger ans Mikrophon und begann, mit sehr sanfter Stimme eine Rede zu halten. Er redete, ohne seinen Körper oder auch nur einen Teil des Gesichts zu bewegen. Seine Hände waren um das Mikrophon gewickelt, die Kiefer zusammengepresst. Allein seine Lippen verschoben sich gegeneinander wie bei einer schlecht synchronisierten Zeichentrickfigur. Während Südstaatensingsang den Raum füllte, bestellte Carl an der Bar ein Wasser und atmete einen großen Schwall THC-geschwängerter Luft ein. Hinter sich hörte er vereinzeltes begeistertes Klatschen und spitze Schreie und dazu unentwegt die sanfte Stimme Marshal Mellows, die über Impulskontrolle, vierjährige Kinder, Belohnungsaufschub und Charakter sprach, über den Korea-Krieg, Mord und Totschlag und das Marshmallow-Experiment. Ob die Rede eine Art Propaganda war oder ein Musikstück einleiten sollte, blieb lange unklar. Einerseits schienen die Worte dunkel und unzusammenhängend, andererseits brachten sie die ersten Hippies im Parkett bereits zum Ausrasten. Ein seitlich auf die Bühne gekletterter junger Mann wurde vom Schlagzeuger über die Köpfe des Publikums in die dritte oder vierte Reihe zurückgeschleudert. Frauen kreischten.

Bass, Gitarre, Synthesizer und Schlagzeug trugen ebenfalls Uniform (niederes Rangabzeichen), und die rechtwinkligen, muskulösen Gesichter der Männer legten die Vermutung nahe, dass es sich tatsächlich um Angehörige der Streitkräfte handelte. Freilich waren die Zeiten nicht so, dass amerikanische Militärs im Ausland oder auch nur im eigenen Land — und schon gar nicht vor dieser zusammengewürfelten Hippiegemeinde — mit Begeisterungsstürmen oder auch nur zaghaftem Applaus rechnen durften, und Carl überlegte, ob nicht umgekehrt ihre kantigen Physiognomien die Musiker auf die Idee gebracht hatten, sich diese wohl ironisch zu verstehende Bühnenkleidung zuzulegen.

Das Schlagzeug machte einen kleinen Wirbel, und sofort drängte der ganze Saal nach vorn und riss Carl mit sich. Zwei Frauen standen auf den Lautsprechertürmen; sie drehten sich wie Spielfiguren. Plötzlich spürte Carl, wie sein T-Shirt hinten hochgerissen wurde. Zwei Arme fuhren um seine Taille, und weil er zu lange auf die schönen Frauen vor sich gestarrt hatte, war sein erster Gedanke: Hinter mir steht auch eine schöne Frau. Aber die Bewegung der abwärtstastenden Hände machte ihm rasch klar, dass er sich irrte. Er versuchte, sich im Gedränge umzudrehen. Ein dunkler Schatten tauchte hinter ihm hinab und befingerte ungeniert seine Hosenbeine. Mit beiden Fäusten schlug Carl nach dem Kopf, und langsam tauchte aus dem Dunkel ein schlanker, junger Mann wieder auf. Über sein strahlendes Gesicht liefen drei leuchtende, senkrechte Narben von der Stirn bis zum Kinn.

«Ich muss doch gucken, ob du keine Claymore in der Hose hast, Mann. Reg dich ab … aber offensichtlich hat dir immer noch keiner eine verkauft.»

Risa, genannt Khach-Khach. Er schlug Carl auf die Schultern, grinste noch breiter als zuvor und schien sich aufrichtig zu freuen. Im Gekreische um ihn herum verstand Carl nicht jedes Wort. Marshal Mellow war einen Schritt vom Mikrophon zurückgetreten und sah sich nach seinen Mitmusikern um.

«Soll ich dir was spendieren, Hobbyterrorist? Was machst du denn für ein … wegen der ganzen Sache? Hör zu, ich verkauf dir eine für zwei … aber erst mal das Lied … das Lied … oh, Mann. Geeshie. Mellow ist … aber Geeshie … extra mit dem Boot übergesetzt.»

Er drehte Carl an der Hüfte zur Bühne um. Seit einer Sekunde herrschte Stille im Saal. Mellow hatte jetzt eine Kippe im Mundwinkel und machte eine Art Schattenboxen am Mikrophonständer vorbei. Die Amerikaner im Publikum riefen Obszönitäten, die Araber beteiligten sich teils ängstlich, teils aufgeregt an den Anfeuerungen in der fremden Sprache. Dann krachte eine Basslinie los, und der Saal sprang auf wie ein Mann. Direkt vor Carl sackte jemand zusammen, Hände auf die Ohren gepresst. Er selbst wurde nach vorn und zur Seite gedrängt. Sein Trinkbecher rutschte ihm aus der Hand. Zwei Schwarze in bunten Schlaghosen und Batik-Oberteilen fuhrwerkten mit den Ellenbogen herum. Ein psychedelischer, schleppender Rhythmus schotterte aus den Boxen, der langsamste, schleppendste Rhythmus, den Carl jemals gehört hatte, ein wie bewusstlos über Blumenkinder, Schmetterlingswiesen und sanfte Hügellandschaften hinwegstampfender, hypnotisierter Dinosaurier. Weiß und strahlend über dem Geschehen öffnete sich ein Himmel aus Scheinwerfersonnen, und genau aus dieser Höhe kam nun die Falsettstimme Marshal Mellows nackt und federlos und krächzend heruntergeflattert, ein kleiner, prähistorischer Vogel, der sich im Nacken des Dinosauriers festkrallte und von ihm herumgeschleudert wurde. Carl fragte sich, ob man ihm etwas in sein Wasser gegossen hatte.

Er konnte weder dem Text folgen noch die Musik oder die Begeisterung der Masse nachvollziehen. Die entsetzliche Lautstärke löste nichts als Angst in ihm aus, und er versuchte, sich einen Weg aus der Menge zu bahnen. Auf seiner Schulter spürte er Risas Hand. Er schüttelte sie ab. Plötzlich ging ein Ruck durch den Saal. Ein Mädchen mit dünnen, braunen Zöpfen hatte die Bühne geentert oder war hinaufgeworfen worden. Sie trug einen knielangen Rock, ein eng anliegendes, grünes T-Shirt und offenbar keinen BH darunter. «Geeshie, Geeshie!»-Anfeuerungsrufe.

Marshal Mellow hatte aufgehört zu singen. Das Mädchen trat an den Bühnenrand und starrte eine Minute über die Köpfe des Publikums hinweg. Dann hob sie ihr T-Shirt bis zum Hals hoch, ließ es wieder fallen und verließ die Bühne. Der Saal explodierte. Der Bass überschlug sich. Carl sah zu, dass er hinauskam.

In dem dunklen Korridor vor dem Ausgang lag ein Mann am Boden. Als Carl über ihn hinwegzusteigen versuchte, krallte er sich mit beiden Händen an Carls Knöchel fest.

«Lass los.»

«Was suchst du?»

«Lass meinen Schuh los.»

«Du willst zu Geeshie? Hinten anstellen. Ich bin ihr Manager.»

Mit dem freien Fuß trat Carl nach unten. Dann lief er den Gang entlang und eine Treppe mit zwei Stufen hinauf. Er öffnete eine Tür und stand plötzlich im Getränkelager.

Der angebliche Manager hatte es mittlerweile geschafft, sich aufzurichten, und versperrte Carl mit ausgebreiteten Armen den Rückweg.

«Was suchst du?»

«Den Ausgang. Geh weg.»

«Du suchst nicht den Ausgang. Du suchst dich selbst.»

«Was willst du?»

«Was willst du

«Ich will nur raus hier.»

«Das wollen wir alle.»

Als habe eine Windböe ihn getroffen, segelte der Manager zu Boden und klammerte sich noch im Fallen erneut an Carls Bein fest. Carl ging wie eine Schere über ihn hinweg und sah in diesem Moment, dass auf der Schulter und der Brust des Jacketts, das der Mann trug, dunkle Fäden abstanden, wie auf einer Uniformjacke mit abgerissenen Rangabzeichen.

«Ihr seid nicht wirklich vom Militär, oder?»

«Komm her, mein schmucker Krieger. Ich bin der Mann, der, wie du weißt, dein Vater ist.»

Plötzlich flog eine Tür vor Carl auf. Das war der Ausgang. Die Tür schlug wieder zu. Carl hinkte darauf zu, den Manager hinter sich herschleifend, und tastete im Dunkeln nach der Klinke. Da war keine Klinke. Er hämmerte dagegen.

«Was ist das? Warum ist das zu?»

«Das ist zu, weil es zu ist», erklärte der Manager feierlich.

Im Hintergrund verstummte das Wummern, und man hörte nur noch die gedämpfte Stimme Marshal Mellows.

«Entsetzlich», sagte Carl, während er sich zu befreien versuchte.

«Goldene Worte», bestätigte der Manager. «Der dümmste, taubste Sänger, den die Welt je gesehen hat. Und ich bin weise. Ich bin Geoffrey Weise. Die Songs sind von mir. Stell mir eine Frage, Freund der Wahrheit.»

«Warum ist die Tür da zu?»

«Meine Hand wackelt. Scheiße, meine Hand wackelt.» Der Mann sah entsetzt auf seinen Ellenbogen.

«Warum ist die Tür zu?»

«Die Tür ist zu, weil die Tür zu ist. Und jetzt ist die Tür auf. Denk mal drüber nach.»

Tatsächlich hatte im selben Moment jemand beide Türflügel aufgestoßen, und Carl rannte auf die Straße hinaus, den Manager im Schlepp.

«Solang du kein Acid nimmst, weißt du nicht, wer du bist.»

«Das weiß ich auch so nicht. Lass los.»

«Nimmst du Acid?»

«Nein.»

«Davon rede ich. Lutsch das, Chéri. Lutsch es, lutsch es.»

Mit hilflos zuckenden Bewegungen, als wolle er einen Lehrfilm über Epileptiker nachspielen, zappelte der Mann über die Straße und versuchte dabei, etwas aus seiner Tasche zu angeln. Das gab Carl endlich die Gelegenheit zur Flucht.

«Du hast den Ausgang gesucht, Mann, und du hast ihn gefunden», brüllte Geoffrey Weise ihm hinterher. «Ist dir klar, wie symbolisch das ist?»

Keuchend und mit zitternden Knien blieb Carl an der nächsten Kreuzung stehen. Er sah sich um und wusste nicht, wohin, als ihn schon wieder jemand von hinten an der Schulter packte. Oder eher nicht packte, sondern ihm sanft seine Schulter massierte.

«Hey, hey, hey», sagte der strahlende Risa und hielt Carl ein Schlüsselbund vors Gesicht. «Kannst du Auto fahren, Hobbyterrorist? Ich brauch einen, der mich nach Tindirma fährt. Zehn Dollar oder Mine mit Riesenwums. Oder beides. Okay?»

52. TUAREG

Nichts in der Stimme der Zikade sagt, wie bald sie sterben wird.

Basho

Carl lehnte das Angebot zuerst ab, aber dann fiel ihm der gelbe Mercedes ein, den er in Tindirma zurückgelassen hatte, und er griff nach dem Schlüssel.

Fast den ganzen Weg durch die Wüste döste Risa mit dem Kopf ans Beifahrerfenster gelehnt. Im Licht der Scheinwerfer tauchte das Salzviertel auf, die Piste, die Ziegelkamele, die Tankstelle, Tindirma.

In den Straßen um die Kommune herum standen Brandruinen. Familien saßen bei ihren Möbeln auf der Straße und schliefen. Carl fand den Mercedes bis auf ein paar Ascheflocken auf der Windschutzscheibe unbeschadet vor, und Risa, der vergeblich versuchte, ihn zum Dank noch in ein Bordell einzuladen, drückte ihm zum Abschied zu den zehn Dollar noch weitere zehn in die Hand und sagte: «Wenn du’s dir anders überlegst. Das Leben ist kurz.»

Das Leben ist kurz. Der Satz, der nur eine Floskel war, ging Carl nicht mehr aus dem Kopf. Während der ganzen Fahrt zurück nahm er nicht einmal den Fuß vom Gaspedal. Er raste. Die Tankstelle, die Ziegelkamele, die Piste, das Salzviertel. Ein oder zwei Kilometer vor dem Suq und schon in Sichtweite des über dem Häusermeer weithin aufragenden Sheraton schoss er in eine sandige, steinige Straße hinein. Der Mercedes schleppte eine meterhohe, von der frühen Morgensonne phantastisch angestrahlte Staubwolke hinter sich her, und als die Staubwolke sich über den kleinen Handwerkerläden, den Obstständen, dem Suq und dem Dampfbad der Ville Nouvelle wieder gelegt hatte, parkte dort zwischen Dampfbad und Kriegerdenkmal ein weißes Cabrio, in dem vier Männer saßen. Ein bemerkenswert schönes Auto, es war ein Alfa Spider mit roten Ledersitzen.

Der Fahrer des Spider hatte einen Pappteller mit einem Fleischgericht auf das Armaturenbrett hinter dem Steuer gestellt und griff mit zehn Fingern zu. Er war klein, schlank und drahtig. Seine Bewegungen hatten etwas Cholerisches an sich, selbst bei einer so harmlosen Tätigkeit wie Essen. Mit beiden Händen schob er sich tropfende Fleischstückchen in den Mund. Dann — mit vollgestopften Backen und wie eine beim Grasen gestörte Kuh — hielt er plötzlich im Kauen inne, als die Staubwolke ihn einhüllte, spuckte Teile seines Essens auf das Tachometer und drehte sich, als die Sicht wieder klarer wurde, aufgeregt nach den anderen Wageninsassen um.

Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß ein stämmiger Schwarzer mit fast kahl geschorenem Schädel, der fluchend Soße von seinem Knie wischte. Hinter dem Schwarzen auf der Rückbank ein ebenso stämmiger, aber hellhäutiger Mann, der beim Anblick des Mercedes einen Arm in die Luft riss, und neben dem Hellhäutigen ein etwas älterer Weißhaariger, der nicht weniger erregt, aber etwas entschlossener als die anderen wirkte und eine Pistole durchlud. Adil Bassir.

Schwer zu sagen, warum sie dort parkten, worauf sie warteten und was sie überhaupt wollten. Vielleicht war es nur einer jener Zufälle, die man in Romanen nicht überstrapazieren sollte und die im richtigen Leben zur Erfindung des Begriffs Schicksal beigetragen haben.

Eine Sekunde später flog der Pappteller über Bord, und mit aufheulendem V6-Motor rutschte der Spider auf die Piste, driftete seitlich auf eine gegenüberliegende Wand aus Lehmziegeln zu und schoss der Staubwolke hinterher.

Der Alfa Spider hat eine Spitzengeschwindigkeit von über zweihundert Stundenkilometern, aber in den engen Gassen, auf den schlaglochübersäten Pisten und mit den dichten Staubwolken vor sich fuhr er nicht mehr als sechzig. Der Abstand zum gelben Mercedes wurde größer und verkleinerte sich wieder, Fußgänger spritzten zur Seite, und als sich zwischen den Baracken der Vororte die Staubwolke vor der Kühlerhaube des Spider plötzlich auflöste, war auch der Mercedes verschwunden.

Der Fahrer machte eine Vollbremsung, raste im Rückwärtsgang zur letzten Kreuzung zurück und drehte den Kopf ruckartig um neunzig, neunzig, zweihundertsiebzig Grad: vier ratlose Männer in einem italienischen Sportwagen voller Essensreste.

Auf einem kleinen Türmchen aus Autoreifen standen zwei Kinder. Bassir verbarg die Waffe zwischen seinen Knien und schrie: «Wo ist der lang?»

Die Kinder glotzten. Sie waren vielleicht acht und neun Jahre alt. Ihre Füße und ihre Zähne waren schwarz, die Kleidung zerschlissen. Im Gesicht des Kleineren saßen Fliegen in den Mundwinkeln, unter den Nasenlöchern, auf Augen und Stirn. Der Größere hielt einen breiigen Klumpen in der Hand, der aussah wie Gerstenbrot, das er zerkaut und wieder aus dem Mund genommen hatte. Die Haut seiner Arme schimmerte kindlich rein und schokoladenfarben, aber die Hände beider Kinder waren von Ekzemen gerötet, als würden sie regelmäßig in Säure gebadet. Aus den Hinterhöfen wehte der Gestank einer Gerberei herüber.

«Der gelbe Mercedes!», brüllte Bassir und zeigte auf die verschwundene Staubwolke. «Wo lang!»

Keine Antwort.

«Julius», sagte Bassir und gab dem Hellhäutigen die Pistole. Der sprang aus dem Wagen und stand mit einem Satz vor den Kindern.

«Wo lang!», fragte nun auch er.

Kohlenschwarze Augen, die in den Lauf der Pistole starrten.

«Der gelbe Mercedes!»

Er hielt dem Kleineren die Waffe ans Ohr. Der Junge stammelte Unverständliches. Eine Fliege flog aus seinem Augenwinkel auf, setzte sich auf den Pistolenlauf und krabbelte aufgeregt darauf herum.

Julius wiederholte seine Frage zweimal, riss dann einen Arm des Jungen in die Luft und schoss ihm durchs Ellenbogengelenk. Das Kind kippte sofort um, geräuschlos, schlackerte auf der Erde liegend mit den Beinen. Dem anderen stand der Mund offen.

«Wo lang?»

Der Größere schluchzte, gab aber ebenso wenig eine Antwort.

«Ich glaube, der versteht dich nicht», sagte der Schwarze vom Beifahrersitz aus. «Das sind Scheißtuareg.»

Er rief dem Kind eine Frage auf Tamahaq zu. Unverzüglich hob sich das zitternde Ärmchen und zeigte in einen Seitenweg hinter den Männern. Dort reihte sich Baracke an Baracke, und hinter der letzten glänzte im Sonnenlicht das gelbe, kastenförmige Heck eines parkenden Mercedes 280 SE.

53. DIE FÜNF SÄULEN

Wenn ein Hase, eine Ziege oder ein anderes Tier sich vor einem Betenden bewegen, bleibt das Gebet gültig. Die Rechtsgelehrten sind sich darüber einig, dass nur drei Wesen das Gebet ungültig machen: eine erwachsene Frau, ein schwarzer Hund und ein Esel.

Abdul-Aziz Ibn Baz

Carl, der seit einer Ewigkeit nichts Richtiges gegessen hatte, sah den kleinen Suq zur Rechten, tastete nach dem Geld in seiner Tasche und parkte den Wagen. Er war erst ein paar Meter weit zwischen den ersten Ständen hindurchspaziert und stand vor einer Auslage mit frischen Broten, als er hinter sich Geschrei hörte. Ein Schuss krachte. Über die Köpfe der Marktbesucher hinweg sah er den fast kahlen Schädel eines riesigen Schwarzen, der mit den Armbewegungen eines Freistilschwimmers auf ihn zukraulte. Hinter ihm zwei weitere Männer, die sich durch die Menge drängten. Eine hochgereckte Uzi in den Händen des Kleinen und im Gesicht des Weißhaarigen ein Lächeln. Carl wusste sofort, wer sie waren, und er musste nicht lange überlegen, was sie von ihm wollten. Das Ultimatum war abgelaufen. Er flüchtete sich in eine Traube von Menschen, in der Hoffnung, dass sie dann nicht auf ihn schießen würden. Tatsächlich schossen sie nicht, aber die Menschen stoben kreischend auseinander. Alles rannte in die Häuser. Augenblicklich war Carl mit seinen Verfolgern allein auf der Straße. Er sprintete in eine schmale Straße und sah zu spät, dass es eine Sackgasse war. Eine Tür wurde ihm vor der Nase zugeschlagen. Im selben Moment krachte der zweite Schuss.

Carl warf sich flach auf den Bauch. Lehm platzte aus einer Hauswand direkt vor ihm und spritzte ihm ins Gesicht. Eine Maschinengewehrgarbe ging über ihn hin. Er riss die Arme über den Kopf und sah sich unter seiner Achselhöhle hindurch nach seinen Verfolgern um.

Momentaufnahme: die aus der Waagerechten gekippte Straße. Der eigene Körper von der Achselhöhle abwärts. Ein verlorener Schuh lag im Bild, nicht sein eigener. Eingangs der Sackgasse hing der Körper des Kleinen in der Luft, die eingeknickten Knie knapp über der Erde, die schwerelose Uzi über hoch in die Luft geworfenen Händen, die berühmte Fotografie aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Daneben Adil Bassir, mit dem ungelenken Schwung einer Marionette gegen die nächste Hauswand geprallt. Seine rechte Gesichtshälfte drückte eine Mischung aus Entspanntheit und Überraschung aus, die linke Gesichtshälfte flog gerade als Hackfleisch davon. Der Schwarze war nicht zu sehen. Der Verfolger, der am nähesten an Carl herangekommen war, Julius, lag zwei Meter hinter ihm im Sand, die leblose Hand wie nach Carls Fuß ausgestreckt. An seinem Mund kirschrot eine Blutblase.

Unpassend zum Standbild lief die Tonspur weiter: Maschinengewehrsalve, Schüsse aus einem Kleinkaliber, Schreie. Eine Neun-Millimeter. Breites Amerikanisch. Zwei Uniformierte rissen Carl hoch und schleiften ihn zu einem grünen Jeep Wagoneer. Oder er lief ihnen hinterher, so genau nahm er das nicht mehr wahr. Er kam zu sich, während er auf das eingestanzte Karomuster einer Gummimatte zwischen seinen Füßen starrte. Die Gummimatte lag zwischen Fahrersitz und Rückbank des Jeeps. Auf dem Karomuster: Sand, Papierkügelchen, Haare und ein festgeklebter Kaugummi. Und seine eigenen Füße.

Sand und Papierkügelchen hopsten und sprangen im Rhythmus des Jeeps. Eine Hand in Carls Nacken verhinderte, dass er den Kopf hob. Die Hand gehörte einem der Uniformierten, einem Mann mit bräunlichem, fast olivfarbenem Teint und der Statur eines Kleiderschranks. Er sprach zwei Sätze Arabisch mit Carl, Hocharabisch, leicht syrischer Einschlag. Der andere Uniformierte, der Amerikanisch gesprochen hatte, saß auf dem Beifahrersitz und schien das Kommando zu haben. Vier Sterne auf den Schulterklappen: War das wirklich Militär? War das nicht einer der Musiker von Marshal Mellow? Der Bassist?

Den Fahrer konnte Carl als Einzigen nicht sehen. Er bemerkte nur zwischen den Sitzen hindurch, dass der keine Uniform trug, sondern gestreifte Hosen. Eine mädchenhaft schmale, behandschuhte Hand lag auf der Gangschaltung. Ein unbehaartes Handgelenk … in seiner Einfältigkeit glaubte Carl für eine Sekunde, es sei Helen, die gekommen war, ihn zu retten.

Der Beifahrer brüllte. Der Syrer drückte Carls Kopf tiefer nach unten, der Jeep legte sich in die Kurven.

«Alles klar?»

«Hast du ihn?»

«Bist du verletzt?»

«Hast du ihn?»

«Ich hab ihn.»

«Bei dir alles klar?»

«Ja. Und bei euch?»

«Yep.»

«Jemand hinter uns?»

«Alle tot.»

«Ich hab gesagt: Jemand hinter uns?»

«Nein.»

«Sicher?»

«Ich hab sie alle erwischt.»

«Sind Sie verletzt?»

«Wer, ich?», fragte Carl.

«Ob Sie verletzt sind?»

«Nein.»

«Da vorne rechts.»

«Wer sind Sie?»

«Da kommt eine Brücke, hinter der Brücke noch mal rechts.»

«Wer sind Sie?»

«Fahr langsamer.»

«Wohin fahren wir?»

Carl versuchte, den Kopf zu heben. Der Syrer drückte ihm die Hand fester in den Nacken und sagte einen Spruch zum Thema Sicherheit auf. Carl fügte sich, obgleich nicht so recht klar war, warum er als Einziger geduckt im Wagen saß. Fahrer und Beifahrer, das konnte er zwischen den Sitzen hindurch erkennen, saßen aufrecht, und auch der Syrer, der mit halbem Körper über ihm hing, befand sich nicht in Deckung. Offenbar war sein Leben wichtiger als ihres.

Erst jetzt, Minuten nach seiner Rettung, spürte er den kribbelnden Auflösungsprozess in seinen Knochen und wie die überstandene Todesangst seinen Körper verflüssigt hatte. Mit einem hysterischen Aufschluchzen und in einem Tonfall, der ihm selbst jämmerlich vorkam, dankte er seinen Rettern. Sie gingen nicht darauf ein.

«Da links?»

«Ja, da links, würd ich sagen.»

«Und die breite Straße da?»

«Ist falsch, glaub ich.»

«Glaubst du?»

«Neunzig Prozent.»

«Dann fahr ich links.»

«Da ist die Synagoge.»

«Das ist eine andere Synagoge.»

«Und wenn ich einfach rechts abbieg?»

«Nein.»

«Sagst du nein?»

«Würd ich auch sagen.»

«Würdest du auch sagen?»

«Wollen Sie mir nicht sagen, wer Sie sind?»

«Bleiben Sie ruhig.» Das kam von vorn.

Als Carl erneut versuchte, den Kopf zu heben, drehte der Syrer ihm einen Arm auf den Rücken. Er wehrte sich und bekam zuerst einen Schlag gegen die Rippen, dann spürte er, wie seine Hände hinter dem Rücken mit Handschellen gefesselt wurden.

«Macht er Schwierigkeiten?»

«Sekunde.»

«Schaffst du das?»

«Klar schaff ich das.»

«Wenn er Schwierigkeiten macht, die Spritze ist hinten auf der Ablage.»

«Die ist vorhin zerbrochen. Egal, er macht keine Schwierigkeiten.»

«Er soll nicht schreien.»

«Er schreit ja nicht.»

«Wenn er schreit, stopf ihm was in den Mund.»

«Was soll das?», rief Carl.

Der Syrer presste ihm ein zusammengeknülltes Taschentuch aufs Gesicht und versuchte, es ihm in den Mund zu schieben. Carl drehte den Kopf hin und her. «Ich sag ja nichts», sagte er durch die zusammengebissenen Zähne.

«Ruhig, ganz ruhig», murmelte der Fahrer mit einer Stimme, die Carl vage bekannt vorkam.

Er dachte kurz nach und sagte dann zum Fahrersitz: «Ich kenne Sie.»

«Wär ja auch komisch, wenn nicht. War ja keine anterograde Amnesie. Und jetzt bleiben Sie ruhig.»

«Sie sind das? Warum machen Sie das? Was wollen Sie?»

«Ruhig.»

«Was wollen Sie von mir?»

«Was wollen Sie von mir?», äffte der Beifahrer ihn mit alberner Stimme nach.

«Ruhig, hab ich gesagt.»

«Ich weiß nicht, was das soll?»

«Okay», sagte Dr. Cockcroft. «Stopf ihm den Mund.»

«Ich krieg das nicht rein. Er beißt die Zähne zusammen.»

«Er soll da nicht rumzappeln.»

«Aber ich krieg es nicht rein.»

«Dann lass es, solange er still ist. Sind Sie jetzt still? Oder wollen Sie weiterquatschen?» Dr. Cockcroft machte ein paar Lenkbewegungen, die Carl den Kopf hin und her schütteln ließen.

Er schwieg und konzentrierte sich auf die Geräusche draußen.

Trotz der Hitze waren alle Fenster geschlossen. Gedämpfter Verkehrslärm der Hauptstraße, vorüberziehende Musik, Schreie eines Wasserverkäufers. Pferdegetrappel. Beim Halt an einer Kreuzung das Stimmengesumm vieler Menschen, dazu besonders kräftig die Hand des Syrers im Nacken.

Irgendwann erkundigte der Syrer sich, wie lange es noch dauern werde, und der Beifahrer nuschelte etwas. Carl sah von unten sein kantiges Kinn und war nun vollkommen überzeugt davon, dass es der Bassist war.

«Ungefähr», sagte der Syrer.

«Etwa eine Stunde, um aus der Stadt zu kommen. Dann noch knapp zwei. Und wenn der Weg vor der Mine aufhört, brauchen wir vielleicht die ganze Nacht.»

«Es ist gleich Zeit für das Maghrib.»

Niemand erwiderte etwas auf diese Feststellung, und der Syrer ergänzte: «Wir müssen dann kurz halten.»

Ein paar Straßenzüge lang fuhren sie schweigend. Dann wieder der Syrer: «Wenn die Sonne untergegangen ist. Dann müssen wir kurz halten.»

«Du hast sie wohl nicht mehr alle.» Der Bassist. «Sieh zu, dass du deinen Job machst.»

«Das geht nicht.»

«Was geht nicht?»

«Dann steige ich aus.»

«Was?»

«Wenn ich nicht beten kann, steige ich aus.»

«Dann bete doch.»

«Ihr müsst anhalten.»

«Bist du irre, Mann? Mitten in der Stadt, mit einer Geisel hintendrin, die nicht mal einen Knebel im Mund hat, nur damit du Vogel beten kannst?»

«Ich kann ihm was reinstopfen.»

«Bete gefälligst im Auto.»

«Das ist nicht statthaft.»

«Natürlich ist das statthaft. Jetzt halt die Klappe.»

«Ah», sagte der Syrer mit deutlich erzwungener Selbstgewissheit. «So ist das also. Ich soll die Klappe halten.» Er kramte mit einer Hand in der Tasche und streckte den Arm nach vorn. «Dann steig ich jetzt aus. Die hundert und die zwanzig. Halt an.»

«Behalt das Scheißgeld, du kannst jetzt nicht hinschmeißen.»

«Und ob ich das kann.»

«Du kannst auf der Rückbank beten. Leier deinen Text runter, buckel da rum und nerv nicht.»

«Das funktioniert nicht. Selbst wenn ich wollte. Siehst du nicht, wo wir hinfahren?»

«Genau dahin, wo wir hinwollen.»

«Wir fahren nach Westen. Mekka ist —»

«Großer Gott, nach Westen! Dann bete halt nach Westen», blaffte der Bassist. «Die Erde ist schließlich rund.»

«Das muss ich mir nicht bieten lassen.» Angestrengte Pause. «Das ist eine Unverschämtheit.»

«Was ist eine Unverschämtheit? Dass die Erde rund ist?»

«Halt an.»

«Fahr weiter.»

Während des Wortwechsels spürte Carl den Druck der Hand in seinem Nacken schwinden. Er hob vorsichtig den Kopf und sah hinaus. Die Häuser der Ville Nouvelle. Schreiend fuhr der Bassist herum und hämmerte mit dem Griff der Waffe auf Carls Kopf.

«Mach. Deinen. Job.»

«Dann haltet an. Wenn ich nicht beten kann, steig ich aus.»

«Willst du mehr Geld?»

«Eure ganze Beschränktheit.»

«Was?»

«Ich sagte: eure ganze Beschränktheit.»

«Was ist damit?»

«Eure jüdische Wertschätzung des Geldes! Ihr denkt, mit Geld könnt ihr alles regeln! Geld, Geld, Geld.»

«Du kannst gern umsonst für uns arbeiten.»

«Ich habe noch keinen Ami getroffen, der anders war. Alles, was für euch zählt, ist der Mammon. Ihr betet nicht, ihr kennt nicht die fünf Säulen, euer Seelenheil ist —»

«Fünf Säulen, erzähl doch keinen Mist.»

«Es ist eine heilige Pflicht, und die heilige Pflicht —»

«Aber doch nicht in jeder Situation?», schaltete Dr. Cockcroft sich ein. «Ihr betet doch auch nicht im Krieg, wenn gerade ein israelischer Panzer auf euch zurollt?»

«Obwohl das einiges erklären würde», murmelte der Bassist.

«Ich habe kein Gebet versäumt, seit zwanzig Jahren. Und wir sind auch nicht im Krieg.»

«Darüber lässt sich streiten.»

«Euer Krieg vielleicht. Ich bin nur euer Angestellter. Ihr bezahlt mich — aber mit der Sache hab ich nichts zu tun.»

«Wow, mit der Sache hat er nichts zu tun!» Mit gespielter Begeisterung wandte der Bassist sich an Dr. Cockcroft. «Wir engagieren den Mann, den sie Zange nannten, und er hat mit der Sache nichts zu tun! Sein Seelenheil hat mit der Sache nichts zu tun.»

«An der nächsten Ampel steige ich aus.»

«Da ist keine Ampel mehr.»

«Ich steig trotzdem aus. Halt an.»

Eine Weile passierte nichts, dann öffnete der Syrer auf seiner Seite die Tür. Carl hörte die Fahrbahn vorbeirauschen. Ein Tumult entstand, an Carls Kleidern wurde gezerrt, und er nutzte den Moment, um erneut den Kopf zu heben und sich umzusehen. Sie fuhren auf dem sechsspurigen Boulevard der Mai-Revolution, der das Handelsministerium mit dem Zivilflughafen verband. Gerade passierten sie eine Bushaltestelle, und für den Bruchteil einer Sekunde sah Carl in die Augen einer Frau, die dort wartete und den Verkehr anstarrte. Dauerwelle, adrette Kleidung und ein biederes, reizloses Gesicht. Die Frau aus Tindirma. Er winkte ihr verzweifelt mit dem Kopf zu. Sie tat, als sehe sie ihn nicht.

Von vorn prügelte der Bassist mit dem Pistolengriff auf Carl und den Syrer ein. Dr. Cockcroft beschleunigte den Wagen. Der Syrer schloss die Tür.

«Ich bin ein gläubiger Mensch und guter Moslem —»

«Auch ein gläubiger Mensch und guter Moslem wird das Gebet wohl einmal ausfallen lassen dürfen. In zwei Stunden kannst du es nachholen.»

«Das ist gegen das Gesetz.»

«Und Leute entführen und foltern ist nicht gegen das Gesetz?»

«Ihr macht es doch auch.»

«Was machen wir auch? Was ist denn das für eine Scheißlogik?»

«Ja, ist es mit eurer Religion vereinbar?»

«Ich bin Atheist.»

«Du hast gesagt, du bist Jude.»

«Ich hab gesagt, meine Mutter war Jüdin. Aber die hat an Gott ungefähr so geglaubt wie an die Überlegenheit der arischen Pimmel. Und jetzt erklär mir mal, wie du deinen Job machen und gleichzeitig glauben kannst, dass ein vergessenes, popliges Gebet deinen Allah gegen dich aufbringt? Glaubst du, du wirst deinem Schöpfer eines Tages gegenübertreten und sagen: Hey, ich bin der Mann, den sie Zange nannten, aber was ich gemacht hab, ist verzeihlich, weil, ein atheistischer Jude und ein Scheißpsychiater mit Vollbart haben das Gleiche gemacht?»

«Ihr Amerikaner könnt das nicht verstehen. Das Gebet ist heilig. Euch ist nichts heilig.»

«Die Frage ist nicht, was uns heilig ist», sagte Dr. Cockcroft. «Die Frage ist, ob du noch zu uns gehörst.»

Lange Zeit hörte Carl nichts mehr, und er konnte nur ahnen, was über ihm mit Blicken verhandelt wurde. Schließlich die Stimme des Arztes: «Und wenn ich kurz wende? Ist das ein Kompromiss? Wir könnten da vorne abbiegen. Dann fahren wir auf der Allee ein paar Minuten nach Osten, und du kannst hier vorneraus beten, und dann wenden wir wieder. Reicht das? Hier mitten in Targat anhalten, das geht jedenfalls nicht.»

Zwanzig Sekunden, um das Gesicht zu wahren. Dann: «Ich brauche absolute Ruhe.»

«Klar, Ruhe, kein Problem!», brüllte der Bassist, und zwischen den Sitzen hindurch sah Carl, wie Dr. Cockcroft den Unterarm des Bassisten mit den Fingerspitzen berührte.

Dann blieb es lange still. Der Jeep bog rechts ab. Und noch mal rechts. Carl hörte auf die veränderten Geräusche. Dichterer Verkehr. Bauarbeiten. Hupende Mopeds.

Nach einigen Minuten die mühsam beherrschte Stimme des Bassisten: «Was ist jetzt? Fängst du langsam an oder hast du schon? Noch mehr nach Osten geht nicht.»

«Die Sonne scheint noch.»

«Was?»

Der Syrer tippte gegen das Seitenfenster. «Ein rötlicher Schein.»

«Hast du sie noch alle? Der Kompromiss war, wir wenden. Jetzt haben wir gewendet, bete gefälligst!»

«Erst wenn die Sonne untergegangen ist.»

«Was, was, was, was, was? Du hast gesagt, es ist Zeit fürs Scheißabendgebet.»

«Ich habe gesagt, gleich. Gleich ist es so weit. Wenn die Sonne untergegangen ist.»

«Die Sonne ist untergegangen, Mann!»

«Der rötliche Schein muss verschwunden sein.»

«Und die da? He, guck! Was machen die da?» Der Bassist drehte sich aufgeregt herum.

«Das sind keine Dschafariten.»

War der Ton des Bassisten bisher eine Mischung aus drohend und hysterisch gewesen, wurde er jetzt fassungslos.

«Weißt du, wo wir hier hinfahren? Glaubst du, wir machen eine Vergnügungsreise? Wenn wir noch fünf Minuten so weiterfahren, stehen wir in Targat-Ost.»

«Wo ist das Problem? Ich halt ihn doch unten.»

«Cockcroft, dreh den Scheißwagen um.»

«Ich kann hier nicht wenden.»

Carl hörte das Spannen eines Hahns.

«Bete!»

«Mach dich nicht lächerlich.» Der Syrer bekam jetzt erkennbar Oberwasser. «Man kann nicht beten, solange ein roter Schein am Himmel ist. Es ist haram.»

«Haram!»

Die ebenfalls nicht mehr ganz so ruhige Stimme Dr. Cockcrofts: «Und warum ist es haram? Die da draußen können es doch auch.»

«Es ist so.»

«Aber warum ist es so? Steht das im Koran?»

«Weiß ich nicht.»

«Du weißt nicht, ob es im Koran steht?»

«Ich weiß, dass es so ist. Das reicht.»

«Und woher weißt du es?»

«Woher, woher! Weil ich es weiß. Bei Sonnenaufgang ist es auch haram, bei Sonnenuntergang und wenn die Sonne im Zenit steht — haram.»

«Mit anderen Worten: Es steht nicht im Koran, und du weißt auch nicht, wo es herkommt.»

«Ich muss nicht wissen, wo das herkommt. Mein Vater hat so gebetet, der Vater meines Vaters hat so gebetet, der Vater meines Vaters meines Vaters hat so gebetet. Der Islam ist keine Kirche wie bei euch, wo einer sagt, wo’s langgeht.»

«Welchen Teil von ‹Wir sind Atheisten› hast du nicht verstanden?»

«Atheisten oder Christen, ist doch dasselbe. Euch ist nichts heilig. Und meine heilige Pflicht verlangt —»

«Heilige Pflicht! Du hast doch nicht mal den Koran gelesen. Kannst du überhaupt lesen? Sonne auf, Sonne unter, haram — was weißt du denn?»

«Solange die da draußen beten», versuchte Dr. Cockcroft zu beschwichtigen, «ist es doch offenbar Auslegungssache. Und in dieser Notlage, in dieser quasimilitärischen Situation und wo wir gerade auf den Truppenstützpunkt Targat-Ost zusteuern, bin ich sicher, dass eine Ausnahme —»

«Auslegungssache, genau.» Die Stimme des Syrers wurde immer ruhiger, immer höflicher, und es war ihm erkennbar daran gelegen, sein bescheidenes Englisch blasiert klingen zu lassen. «Es gibt diese Rechtsschule, und es gibt jene. Und der Dschafarit wartet, bis der rötliche Schein am Himmel verschwunden ist.»

«Und warum?»

«Das ist eine dumme Frage. Nur Nasrani stellen solche dummen Fragen. Es geht nicht um das Warum. Es geht um höhere Dinge als das Warum. Warum lässt Gott das Böse zu? Warum segeln die Wolken am Himmel? Warum ist Amerika nicht Fußballweltmeister — warum, warum, warum?»

«Wenn du es nicht weißt», sagte Dr. Cockcroft, «dann wende ich jetzt.»

«Ich weiß es», sagte Carl. Er starrte auf die Gummifußmatte zwischen seinen Füßen. Die Stille im Wagen schien ihn weder zum Sprechen noch zum Schweigen aufzufordern, also redete er weiter. «Es ist wegen der Naturreligionen. In Vorderasien, wo das herkommt. Das Gebet der Rechtgläubigen darf auf keinen Fall mit einer Anbetung der Sonne verwechselt werden.»

Der Syrer drückte seiner Bauchrednerpuppe anerkennend den Nacken. «Genau das ist der Grund.» Und wichtigtuerisch setzte er hinzu: «Und noch hundert andere Gründe.»

Der Bassist stöhnte. Dr. Cockcroft fuhr langsam weiter. Kurz darauf sah Carl, wie der Syrer sich die Latschen von den Füßen streifte. Carls Kopf wurde zur Seite gezogen und zwischen dem Beifahrersitz und den Knien des Syrers tief hinuntergedrückt. Dann verschwand die Hand des Syrers, nicht ohne vorher durch erhöhten Druck klargemacht zu haben, dass jede weitere Bewegung unerwünscht war. Carl spürte ein kurzes Geruckel über sich, dann beugten sich neunzig Kilogramm schwitzend über ihm gen Mekka.

Unter den rhythmischen Bewegungen wanderte Carls Oberkörper langsam seitwärts. Sein Mund kam vor den Türgriff zu liegen. Er reckte das Kinn.

Nach drei oder vier vergeblichen Versuchen gelang es ihm, den Plastikhebel mit den Lippen zwischen seine Zähne zu ziehen. Er wartete auf den Moment, da das Gebet beendet war und der Syrer sich wieder aufrichtete. Das Auto nahm eine scharfe Linkskurve, und Carl klinkte die Tür auf und wand sich mit Unterstützung der Fliehkraft aus dem Auto. Zwei Fäuste versuchten vergeblich, ihn zu halten. Wild mit den Füßen nach hinten tretend robbte Carl vor einem blökenden Muli über die Straße, kam trotz der Handschellen taumelnd auf die Beine und rannte irgendwohin. In die falsche Richtung. Direkt vor ihm eine zweieinhalb Meter hohe Mauer, rechts und links Häuser. Hinter ihm schon die Verfolger: quietschende Bremsen, zwei Autotüren, mindestens zwei Paar Militärstiefel, die den Sand stampften. Sie waren schon zu nah. Er hatte keine Zeit, es sich noch anders zu überlegen. Vor der Mauer stand ein ausgebranntes Autowrack, die Felgen auf Ziegelsteinen aufgebockt. Die Hände hinter dem Rücken stürzte Carl darauf zu, nahm Kofferraum und Dach als Sprungbrett und klatschte mit der Hüfte gegen die Oberkante der Mauer. Für einen Moment hingen er und sein Leben in der Schwebe, dann neigte sich sein Oberkörper mühsam nach unten, und mit dem Kopf voran stürzte er in einen riesigen Dattelhaufen hinab.

Händler sprangen auf. Verschleierte Frauen — ein Marktplatz — in der Mitte ein riesiges, graues Zelt. Carl wälzte sich in den Früchten herum und sah hoch: Niemand kam ihm nachgesprungen. Blick nach rechts, Blick nach links: endlose Mauer. Er drehte sich auf den Rücken, führte die Handschellen um sein Gesäß herum bis in die Kniekehlen und schob die Kette unter den Füßen durch. Erneuter Blick nach oben: niemand. Um ihn herum Geschrei. Eine alte Frau zerrte an seinen Kleidern, hielt anklagend eine zermatschte Dattel in der Hand und keifte. Er stieß sie beiseite und sprang davon. Sofort verdoppelte sich das Geschrei. Händler und Marktweiber in wogenden Abayas kamen auf ihn zu, da bemerkte Carl nur wenige Schritte vor sich eine Tür in der Mauer — durch die lächelnd drei Männer traten. Dr. Cockcroft vorneweg.

Kopflos stürzte Carl zwischen zwei Gewürzständen hindurch und riss die bunten Säcke um. Er klatschte gegen zwei Schafshälften, sprang über einen Haufen unreifer Kürbisse und stolperte in eine Konstruktion aus Seilen und Stangen. Über ihm brach ein riesiges Zelt zusammen. Ohrenbetäubender Lärm. Eine mit grauem Leinen bedeckte Menschenmasse wogte um ihn herum. Die kreischenden Weiber waren noch zu hören, aber nicht mehr zu sehen, und nachdem Carl sich unter der Zeltplane wieder hervorgearbeitet hatte, war das Erste, worauf sein Blick fiel, eine gezückte Pistole.

Die Pistole befand sich in der Hand eines schnurrbärtigen Polizisten. Daneben, noch halb von Zeltplane bedeckt, ein zweiter Polizist mit den Resten einer zerbrochenen Wasserpfeife in der Hand, dahinter die Marktweiber, dahinter der Syrer, der Bassist und Dr. Cockcroft. Carl war so überwältigt von seinem Glück, dass er seinen Verfolgern einen schadenfrohen Blick zuwarf.

Der Syrer flüsterte dem Bassisten etwas ins Ohr, der Bassist flüsterte Dr. Cockcroft etwas ins Ohr, und Dr. Cockcroft zog sein Portemonnaie aus der Tasche und warf es den Polizisten hin.

Während die wackeren Ordnungshüter noch den Inhalt prüften, fühlte Carl sich schon an den Handschellen herumgerissen, durch die spuckende Menge gezerrt und mit einem Tritt zurück in den Jeep befördert.

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