ZWEITES BUCH: DIE WÜSTE

15. TABULA RASA

Wieder zehn Tagereisen von den Garamanten kommt wieder ein Salzhügel und eine Quelle, und wohnen Menschen darum her, die heißen die Ataranten. Das sind, unseres Wissens, die einzigen Menschen ohne Namen. Nämlich alle zusammen heißen sie Ataranten, jeder einzelne aber hat keinen besonderen Namen.

Herodot

Ein Blick wie auf eine Theaterbühne, zwei dunkle Holzbretter rechts und links als improvisierte Vorhänge. Im schmalen Keil dazwischen der hohe, blaue Himmel, fast weiß, hell und schmerzend auf der Netzhaut. Unten die Wüste. In der Wüste drei Männer in weißen Dschellabahs. Im ersten Moment sind die Männer ununterscheidbar, dann werden aus ihnen ein Kleiner, ein Dicker und ein Unscheinbarer. Ihre Münder bewegen sich, die Hände flattern. Der Kleine redet auf den Dicken ein, der Dicke hält einen Bastkoffer im Arm, der im Sonnenlicht aufleuchtet. Nach einer Weile verschwindet der Unscheinbare aus dem Bild. Der Dicke schlägt sich von unten mit der flachen Hand gegen das Kinn und schürzt die Lippen. Der Kleine lacht. Er nimmt eine comichaft übertriebene Haltung ein, eine Faust vorgestreckt, die andere angewinkelt hinterm Kopf, als wolle er im nächsten Augenblick auf den Dicken losgehen. Dann geht er wirklich auf den Dicken los, und der Dicke schlägt ihn zu Boden. Der Bastkoffer fällt in den Sand, ein Schwall Papiergeld weht heraus. Der Unscheinbare stapft zurück ins Bild und redet mit den beiden. Sie bücken sich nach dem Geld. Als der Wind dreht, werden ihre Stimmen hörbar. Sie sprechen über einen Mann namens Cetrois, versichern sich gegenseitig, dass es nicht an ihnen gelegen hat. Dass sie keine Schuld trifft. Dann halten sie alle gleichzeitig inne und starren in eine Richtung. Allein die Hände des Dicken tasten wie automatisch weiter durch den Sand. Der Kleine wendet sich an den Unscheinbaren und flüstert ihm etwas zu. Der Unscheinbare hält ein imaginäres Bündel Geld hoch und steckt es in eine imaginäre Tasche. In der Ferne erklingt das Geräusch eines Dieselmotors. Eine Autotür schlägt im Off zu. Ein Vierter kommt ins Bild, ebenfalls in weißer Dschellabah. Sein Gesicht und seine Stimme unterscheiden ihn nicht wesentlich von den anderen, allein in seiner Haltung liegt mehr Entschlossenheit. Er spricht ein mit arabischen und englischen Brocken versetztes Französisch.

«Habt ihr’s?», fragt der Vierte, und der Kleine sagt, dass sie einem den Schädel eingeschlagen hätten.

«Larbi hat einem den Schädel eingeschlagen. Mit dem Wagenheber. Hat gekracht wie morsches Holz.»

«Habt ihr’s?», wiederholt der Vierte, und der Kleine wendet sich zum Dicken um, und der Dicke sagt: «Cetrois ist damit in die Wüste.»

«Ich denk, du hast ihm den Schädel eingeschlagen?»

«Nicht Cetrois.»

«Wem dann?»

«Keine Ahnung.»

«Wo ist Cetrois?»

«Der kommt nicht weit.»

«Wo er ist!» Der Vierte packt den Dicken am Kragen.

Der Dicke, der Kleine und der Unscheinbare heben gleichzeitig je einen Arm und synchronisieren sich mühsam.

«Was steht ihr dann hier rum?»

«Er ist auf’m Moped!»

«Ich denk, er war zu Fuß?»

«Ja, aber er ist da in die Scheune rein. Und dann gleich auf’m Moped wieder raus.»

«Wo ist euer Auto? Und verdammt noch mal, was ist das für ein Scheißkoffer?» Der Vierte tritt dem Dicken den Bastkoffer aus dem Arm. Das Geld wirbelt erneut davon.

«Ja, wenn ich mal ausreden dürfte!», sagt der Kleine.

Der Vierte zieht eine Pistole und richtet sie auf den Kleinen. Der macht kreischend einen Schritt seitwärts. Der Vierte gibt ihm einen so mächtigen Tritt in den Unterleib, dass er aus dem Bild fliegt.

«Man kann ja seine Spur sehen», ruft der Unscheinbare.

«Dann zeig mir die Spur!», sagt der Vierte.

Der Kleine kommt vornübergekrümmt zurück ins Bild, einen Arm über den Bauch gelegt, den anderen wie zur Abwehr erhoben.

«Wir hatten ihn ja praktisch schon», jammert er. «Wir waren ja schon dran. Ich hatte ihn schon vor der Kühlerhaube! Aber dann Cetrois in die Dünen, und in den Scheißdünen ist der Chevy eingesackt. Wir also zu Fuß hinterher und Larbi schon direkt hinter Cetrois — und wie wir über eine Düne klettern!» Er hebt die Hände auf Schulterhöhe und macht ein überraschtes Gesicht.

«Liegt da alles voller Geld!», assistiert der Dicke.

«Und ich meine: deutsches Geld!», sagt der Kleine. «Das teilen wir natürlich durch vier. Dreißig-dreißig-zehn, um mal eine Hausnummer zu sagen, ich meine, dreimal dreißig und dann … zehn. Wir können auch achtundzwanzig oder fünfundzwanzig …»

Ein Schuss kracht los, und der Kleine sackt zu Boden. Für einen Moment liegt er reglos, dann wälzt er sich herum und betrachtet erschrocken seinen unverletzten Körper.

«Wo ist Cetrois? Zeig mir die verdammte Spur!», brüllt der Vierte, der über dem Kleinen steht und mit der Pistole hinter sich auf den Horizont zeigt.

«Da! Da! Da!», ruft der Unscheinbare und rennt aus dem Bild. Der Vierte folgt ihm, der Kleine ebenfalls.

Der Dicke bückt sich nach dem Bastkoffer, und sofort kommt der Vierte zurück. Er hat die Waffe umgedreht in der Hand und hämmert mit dem Griff auf den Kopf des Dicken. Er nimmt ein Bündel Geldscheine und reibt es ihm ins Gesicht. «Weißt du, wer das ist? Das ist Goethe. Nein, weißt du natürlich nicht! Wer ist Goethe? Scheißgoethe ist Scheißostdeutscher. Das ist Scheiß-DDR-Geld, das sind keine zwanzig Dollar. Zeigt mir die verschissene Spur, und wenn wir ihn nicht kriegen — betet! Betet.»

Er geht wieder aus dem Bild, der Dicke hinterher.

Die Stimme des Kleinen aus dem Off: «Wir wussten ja nicht, dass da ’n Moped ist. Woher sollten wir wissen, dass da ’n Moped in der Scheune ist. Und was seinen Kumpel angeht —»

Die Stimme des Vierten: «Was für ’n Kumpel?»

Die Stimme des Kleinen: «Dem Larbi den Schädel eingeschlagen hat. Du hörst ja nicht zu! Cetrois ist da rein in die Scheune und eine Minute später auf’m Moped wieder raus. Wir dreihundert Meter dahinter — keine Chance. Also wir da auch rein, vielleicht gibt es ja noch ein Moped? Und dann ist da dieser Typ. Haben wir den natürlich gefragt: Wo will er hin? Wo will er hin? … Weil wir ja wussten. Und da hat er’s nicht gesagt, und dann hat Larbi ihm mit dem Wagenheber den Schädel eingeschlagen. Und wir konnten ja schlecht zu Fuß … und weil wir wussten, du kommst gleich mit dem Jeep … und uns jederzeit … keine Vorwürfe machen …»

Ihre Stimmen werden leiser. Das Öffnen und Zuschlagen von Autotüren. Unverständliches. Ein startender Motor und in den Lärm hineingebrüllt noch einmal der Satz: «Du Arsch, wenn er die Schiene funkentstört!»

Dann nichts mehr.

16. MÖGLICHKEITEN DES ERWACHENS

«Fantômas.»

«Qu’avez-vous dit?»

«J’ai dit Fantômas.»

«Et qu’est-ce que cela signifie?»

«Rien … Tout!»

Pierre Souvestre, Marcel Allain

Im selben Moment, als die Männer rechts aus dem Bild verschwanden, tauchte wie ein Schauspieler auf dem Boulevardtheater hinter dem Holzbrett links die Sonne auf. Das verklingende Geräusch des Dieselmotors zeichnete einen waagerechten Keil unter den Horizont.

Die Helligkeit. Die Stille. Er versuchte, den Kopf zu drehen, und spürte Schmerzen, die er nicht lokalisieren konnte. Als versuche eine Faust, ihm von innen die Augen aus dem Kopf zu drücken. Er blinzelte. Mit der Hand tastete er um sich herum und fand dort, wo er ein Loch in seinem Schädel zu finden erwartet hatte, eine riesige Schwellung. Getrocknetes Blut und Schleim. Sie hatten ihm den Schädel eingeschlagen. Warum? Er schloss erneut die Augen und öffnete sie wieder: immer noch dasselbe, anscheinend die Realität. Sein erster Gedanke war: Flucht. Er musste fliehen. Er wusste nicht, warum, aber sein Körper wusste es. Alles an seinem Körper wollte weg hier.

Das warf die panische Frage auf, wohin er fliehen sollte. Das wiederum warf die Frage auf, wo er sich befand. Der Blick zwischen den Brettern hindurch gab keine Auskunft. Leere Wüste. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Er wusste nicht, warum die Männer ihm den Schädel eingeschlagen hatten. Er wusste nicht, ob sie ihm überhaupt den Schädel eingeschlagen hatten. Er konnte sich nicht erinnern. Und er konnte sich auch nicht erinnern, wer der Mann war, dem sie den Schädel eingeschlagen hatten, wenn er dieser Mann war. Sein Name fiel ihm nicht ein.

Die erste Vierteldrehung um die eigene Achse war so schwierig, dass er nicht erkennen konnte, ob er Schmerzen hatte oder ob seine Muskeln versagten. Er ließ sich zurücksinken und versuchte, nur den Kopf zu heben. Schwitzend und keuchend überblickte er einen Teil des Raumes, an dessen Wand er lag. Ein Hämmerchen haute von innen unters Schädeldach und ließ im Herzschlag-Rhythmus Worte wie Dachboden, Bretterwand, Amnesie, Flaschenzug, Titrierkolben und Sandhaufen aufklappen wie Memorykarten.

Dass so schwierige Wörter wie Titrierkolben und Amnesie seinem Gedächtnis überhaupt zur Verfügung standen, beruhigte ihn ein wenig. Dass außer diesen Wörtern nichts auftauchte, was die Situation hätte erhellen können, beunruhigte ihn. Sein Name tauchte nicht auf. Er lag auch nicht mehr auf seiner Zunge, wie er eben noch geglaubt hatte. Er hob den Kopf ein Stück weiter.

Was er überblickte, war ein Dachboden von sieben oder acht Metern Breite und unbestimmter Länge. Eine Stirnseite lag in vollkommener Dunkelheit, während auf der anderen staubiges Licht durch eine fensterähnliche Öffnung hereinfiel. Gegen das Licht hoben sich Tische ab, um die herum metallene Apparate standen, Kolben und Plastikkanister. Auf den Tischen kleinere Glaskolben, auf dem Boden größere Glaskolben. Der Boden um die Tische herum sandbedeckt. Ein Laboratorium? Auf einem Dachboden in der Wüste?

Von einem Balken an der Decke hing an einer schweren Eisenkette ein Flaschenzug durch ein großes, viereckiges Loch im Boden hinab.

Er schaute sich lange um, betrachtete und benannte alle Objekte, die ihm verständlich erschienen, und versuchte, nachdem er eine Weile absichtlich nicht darüber nachgedacht hatte, noch einmal mit beiläufigem Schwung das Memorykärtchen mit der eigenen Identität umzudrehen.

Da war kein Kärtchen.

Er versuchte sich zu erinnern, an was er sich überhaupt noch erinnern konnte. Es war ja nicht so, dass er sich an gar nichts erinnerte. Er erinnerte sich an vier Männer unter einem hohen Himmel. Er erinnerte sich, wie die Männer geredet hatten, wie sie aufeinander losgegangen waren. Er erinnerte sich an einen Bastkoffer voller Geld. Und dass ein Mann, den sie Cetrois genannt hatten, auf einem Moped in die Wüste geflohen war. Mit etwas, was die anderen haben wollten. Er erinnerte sich an die grelle Sonne und den Satz: wenn er die Schiene funkentstört. Von Motorenlärm überlagerte Worte. Wenn er die Schiene … die Maschine … Christine. Wenn die Maschine funktioniert. Wenn er Christine jetzt verhört. Vier Männer in weißen Dschellabahs, ein Bastkoffer, ein Jeep.

Vergeblich bemühte er sich, das kleine Theaterstück für vier Personen in die Vergangenheit zu verlängern. Es hatte keinen Anfang und kein Ende und trieb als winzige Insel in einem Ozean aus Nichts. Wenn die Lawine eskaliert. Wenn er den Dünenhund entführt. Cetrois. Die ersten schwachen Schriftzeichen auf einem unbeschriebenen Papier.

Woran erinnerte er sich noch? Es waren nicht vier Männer, sondern am Anfang nur drei. Dumme Männer. Freuten sich, dass sie einem mit dem Wagenheber den Schädel eingeschlagen hatten, und konnten DDR-Geld nicht von richtigem Geld unterscheiden. Und ein vierter, der eine Waffe und einen Jeep hatte und nicht ganz so dumm schien. Er erinnerte sich, dass das Auto, mit dem sie davongefahren waren, einen Dieselmotor hatte. Er erinnerte sich, dass er das Zuschlagen von Autotüren gehört und mitgezählt hatte: eins, zwei, drei, vier. Vier Schläge gegen das Schädeldach. Vier Männer waren durch vier Türen in einen unsichtbaren Jeep gestiegen und davongefahren. Außer einer von ihnen hatte die Autotür zweimal zugezogen, weil sie beim ersten Mal nicht richtig geschlossen hatte. Dann waren nur drei davongefahren und einer als Wache zurückgeblieben.

Er verhielt sich still und lauschte, solange er konnte. Aber das Pochen in seinem Kopf ertrug den Stillstand nicht. Wenn ein Wächter zurückgeblieben war, wusste der ohnehin, wo er zu finden war. Es spielte keine Rolle. Er musste weg hier. Sein Körper wollte fliehen, und sein Geist wollte es auch.

17. MÖGLICHKEITEN DES ABSTIEGS

Wenn sich einer sonst normal verhält, ist er voll schuldfähig. Da kann er meinetwegen auch gar kein Gehirn haben.

Hans-Ludwig Kröber, forensischer Psychiater

Er versuchte zum zweiten Mal, aufzustehen. Jetzt gehorchten ihm seine Muskeln schon besser, und er erhob sich mit der Verwunderung eines Mannes, der mit unerträglichen Schmerzen rechnet, aber nichts weiter als das Pochen in seinem Schädel spürt. Die körperliche Lähmung, die er beim ersten Aufstehversuch empfunden hatte, entpuppte sich jetzt als Gegenstand, der ihm mit einem Riemen auf den Rücken geschnallt war. Er streifte den Riemen ab und blickte auf den Lauf eines klobigen Maschinengewehrs. Verschluss und Abzug, die unheilige Trias aus Kolben, Griffstück und Magazin: ein AK-47. So stand es zumindest in ungelenken, silbernen Buchstaben auf dem Schaft: AK-47. Aber es war kein Firmenaufdruck. Es war auch kein AK-47. Leicht und kippelnd lag das Ding in seiner Hand. Ein liebevoll und detailgetreu aus Holz geschnitztes, schwarz lackiertes Kinderspielzeug.

Er stützte sich mit allen vieren auf dem Boden ab und drückte sich in den Stand. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und machte ein paar unsichere Schritte über den Dachboden. Es war okay. Das sagte er jedenfalls zu sich selbst, während er ruhig zu atmen versuchte: Es ist okay, es ist okay, es ist okay.

Durch die fensterähnliche Öffnung an der Stirnseite spähte er hinaus. Dahinter ging es fünf oder sechs Meter in die Tiefe. Er stand im Giebelfenster einer riesigen Scheune. Unten lagen Steine. Links neben der Scheune sah er eine kleine Baracke, auf dem Dach zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Dahinter Wüste bis zum Horizont.

Keine Treppe. Keine Leiter.

Er schwitzte.

«Mein Name ist», sagte er plötzlich laut. «Mein Name ist. Mein Name ist.» Beim letzten s-Laut ließ er die Zunge an den Zähnen liegen, um einen Automatismus in Gang zu setzen, aber weder Zunge noch Lippen wussten, was sie zu tun hatten.

Irgendwie musste er nach unten gelangen. Die einzige Verbindung zum Erdgeschoss schien die etwa drei mal drei Meter große Luke zu sein, durch die der Flaschenzug nach unten hing. Das Erdgeschoss darunter lag in tiefer Finsternis. Er wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und glaubte dann, in der Tiefe unter der Luke eine Art Gang erkennen zu können. Von dem Gang zweigten zu beiden Seiten etwas hellere Streifen ab. Er nahm an, dass es kleine Stellwände waren, die den Raum in Nischen oder Stallungen unterteilten. Die Höhe der Stellwände war schwer zu schätzen, so wie auch die Entfernung zum Boden schwer zu schätzen war. Die Dunkelheit schien so etwas wie eine optische Täuschung zu bewirken, die den Erdboden näher oder ferner erscheinen ließ. Was von beidem, wusste er allerdings nicht. Aber die Vermutung lag nahe, dass es hier genauso tief hinabging wie an der Außenwand der Scheune, fünf oder sechs Meter. Mit dem Fuß schob er ein wenig Sand über den Rand der Luke, hörte eine Sekunde nichts, dann ein Prasseln in der Dunkelheit.

Vom Flaschenzug lief eine ölige Kette über große Rollen zu einem Stützbalken, wo sie an einem Nagel festgehakt war. Er machte die Kette los, ließ den schweren Flaschenzug ein wenig auf- und abfahren und hakte ihn wieder ein. An der öligen Kette fünf oder sechs Meter hinunterzuklettern, traute er sich nicht zu. Lange betrachtete er den Dachboden, die Luke und den Flaschenzug und fragte sich zum ersten Mal, wie er überhaupt hier heraufgekommen war. Mit diesem Flaschenzug? Dann musste ihn hier oben jemand losgehakt, in die Ecke geschleift und anschließend selbst wieder einen Weg nach unten gefunden haben.

Wahrscheinlich hatten sie eine Leiter gehabt und sie nachher weggezogen. Vielleicht war er auch selbst auf den Dachboden gestiegen, und sie hatten ihm hier oben den Schädel eingeschlagen. Oder: Sie hatten ihm unten den Schädel eingeschlagen, er war mit letzter Kraft auf den Dachboden geflüchtet, hatte die Leiter nachgezogen und erst dann das Bewusstsein verloren.

Er sah sich im Halbdunkel um, konnte aber keine Leiter entdecken und auch sonst nichts, was hilfreich gewesen wäre. Kein Seil. Nur Gerümpel.

«Mein Name ist», sagte er. «Mein Name ist.»

Ob es möglich war, ein Gegengewicht an der Kette zu befestigen, um selbst am Flaschenzug hängend sanft zur Erde zu gleiten? Er versuchte sich der physikalischen Gesetze zu entsinnen. Kraft mal Kraftweg, Last mal Lastweg. Aber wie lang war der Lastweg? Es gab zwei Rollen, die Kette lief von oben kommend einmal um die untere Rolle, dann in einer Schlaufe um die obere Rolle. Also dreifacher — nein, doppelter Weg. Er brauchte ein Gegengewicht, das halb so schwer war wie er selbst. Oder ein Viertel? Sein Herz raste. Nachdem er eine Minute auf die Apparatur gestarrt hatte, war er nicht einmal mehr sicher, an welchem Ende die größere Last zu hängen hatte. Und selbst wenn er die korrekte Rechnung aufmachte: Woher sollte er wissen, wie schwer ein Gewicht im Verhältnis zu ihm selbst war? Wenn er ein zu leichtes Gewicht nahm, würde er auf dem Weg nach unten zu rasch beschleunigen. War es zu schwer, würde es ihn unter den Dachbalken hochziehen.

Er begann, den Dachboden noch einmal genauer zu untersuchen. Die Apparaturen auf den Tischen, Kupferkessel und Rohre. Ein Metallbottich stand auf einem aus Ziegelsteinen aufgeschichteten Ofen. Offenbar diente der überall herumliegende Sand als Feuerschutz. Er roch an zwei Plastikflaschen, die eine klare Flüssigkeit enthielten. Der stechende Geruch hochprozentigen Alkohols.

Die Tische machten einen schweren und massiven Eindruck. Er hätte sie vorsichtig durch die Luke stoßen können in der Hoffnung, dass sie sich unten zu einem Podest stapelten. Als er sich an einem der Tische zu schaffen machte, fiel dahinter etwas um, und unter Sand, Staub und Gerümpel begraben wurden Sprossen einer Leiter sichtbar. Also doch.

Er legte die Leiter frei, maß ihre Länge (fünfeinhalb große Schritte) und kam zu dem Ergebnis, dass sie, wenn überhaupt, nur mit äußerster Not vom Dachboden bis zur Erde reichte. Keuchend hob er sie in der Mitte an und drehte sich dann langsam wie ein Sekundenzeiger zur Bodenluke herum. Mit dem hinteren Ende blieb sie an dem Stützbalken hängen, an dem die Kette des Flaschenzugs festgehakt war. Die Kette löste sich vom Nagel, und der Flaschenzug setzte sich langsam in Bewegung. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, sah er versteinert zu, wie die Apparatur gravitätisch in die Tiefe fuhr und mit einem dumpfen Laut unten aufschlug. Höhnisch rasselnd folgte die Kette, die sich über die obere Rolle abspulte und klirrend aus dem Bild verschwand. Mit etwas mehr Geistesgegenwart hätte er sie aufhalten können. Und wenn er sofort die Leiter fallen gelassen hätte. Aber jetzt, wo er die Leiter hatte, schien ihm der Abgang des Flaschenzugs verschmerzbar. Was ihm viel größere Sorgen bereitete, war der Lärm. Er rührte sich nicht und hielt den Atem an. Aber es blieb still.

Vorsichtig versuchte er die Leiter über den Rand der Luke zu schieben. Als sie zu etwas über der Hälfte über dem Abgrund hing, machten sich die Hebelgesetze bemerkbar. Er konnte das kürzere Ende nicht mehr am Boden halten und musste die Leiter zurückziehen.

Senkrecht hinablassen ging auch nicht. Dazu war die Decke zu niedrig. Nach zwei weiteren hilflosen Versuchen schien ihm die einzige Möglichkeit zu sein, die Leiter mit Schwung in den Abgrund zu schicken und zu hoffen, dass sie einigermaßen gerade unten aufkam. Sofern seine Schätzungen stimmten, durfte sie nur um ein paar Grad vom Lot abweichen, wenn sie bis zum Rand der Luke reichen sollte. Wenn sie ihn überhaupt erreichte.

Wie ein Tier im Laborversuch, das den Werkzeuggebrauch einübt, balancierte er die Leiter am Kipppunkt hin und her. Versuch und Irrtum, Geist gegen Materie — und plötzlich entwickelte die Materie ein Eigenleben. Er hatte den Schwerpunkt etwas zu weit vorgeschoben, da beschleunigte sich die Leiter und riss ihn vornüber. Verzweifelt klammerte er sich an die letzte Sprosse.

Er schlug mit ungeheurer Wucht auf den Bauch, rutschte gefährlich weit über die Kante und blieb nur hängen, weil sein rechter Fuß sich irgendwo hinten an einem Gegenstand verhakt hatte, wahrscheinlich ein Tischbein. Er bekam keine Luft mehr.

Sein rechter Arm und ein bedenklicher Teil des Oberkörpers hingen über dem Abgrund. Die rechte Hand: ein einziger Schmerz. Das Schultergelenk: ein noch größerer Schmerz. Aber mit letzter Kraft hielt er einhändig die Leiter fest, die unter ihm in der Finsternis, wie er fühlte, als riesiges Pendel langsam hin- und herschwang. Blut lief über die Finger seiner rechten Hand. Die Haut war gerissen. Er stöhnte, rutschte kopfüber noch ein paar Zentimeter weiter in den Abgrund, und das Pendel schrammte über den Erdboden und blieb stehen. Er wackelte die Leiter genau senkrecht hin.

Da stand sie jetzt. Von der obersten Spitze des Holms bis zur Unterkante des Dachbodens fehlten etwa vierzig Zentimeter. Er griff mit der linken Hand auf den Holm um, wedelte die schmerzende rechte durch die Luft und atmete tief durch.

Andererseits, wenn diese Leiter zu kurz war, was sollte er dann überhaupt mit ihr? Er konnte sie genauso gut loslassen. Es war offensichtlich nicht die Leiter, mit der er heraufgestiegen war. Es musste noch eine zweite Leiter geben, die ein anderer nach unten weggezogen hatte … Er erstarrte vor Angst. Was, wenn der andere nicht wieder nach unten geklettert war? Was, wenn er sich hier irgendwo verbarg? Er hatte nicht jeden Winkel des Dachbodens untersucht. Er sah sich verzweifelt um, rollte den Kopf hin und her und blieb mit dem Blick an dem Fenster auf der Stirnseite hängen. Und plötzlich fiel es ihm ein: dort.

Wenn er die Leiter durch das Fenster geschoben hätte, wäre sie an der Außenwand stehen geblieben. Vielleicht war er sogar dort hineingekommen. Entschlossen versuchte er, sie an der obersten Sprosse wieder zu sich hochzuziehen. Er konnte sie gerade eben anheben, und die Anstrengung presste ihm die Luft aus den Lungen. Aber beim Versuch, auf die zweite Sprosse umzugreifen, kam sein Körper ins Rutschen. Schnell stieß er die Leiter wieder auf den Boden und lag da und keuchte.

Zwei weitere Versuche blieben genauso erfolglos. Er hätte die Leiter nun fallen lassen können. Aber einen Fehler hatte er schon gemacht, er wollte keinen zweiten begehen. Er beschloss, wenigstens so lange zu warten und den Holm festzuhalten, bis ihm etwas Besseres eingefallen war.

Das Erste, was ihm in den Sinn kam, war, die Leiter irgendwie festzubinden. Er konnte vielleicht seine Dschellabah ausziehen und versuchen, sie um die oberste Sprosse zu schlingen.

Er griff sich in den Kragen und stellte fest, dass er unter der Dschellabah einen karierten Anzug trug. Das erklärte immerhin, warum er so stark schwitzte. Aber wieso trug er einen Anzug unter der Dschellabah? Während er noch überlegte, wie er das Kleidungsstück am besten im Liegen auszog, hörte er ein leises Plätschern. Das Plätschern von Wasser. Das Quietschen eines Wasserhahns. Und eine menschliche Stimme. Wie jemand, der leise mit sich selber sprach. Es kam von außerhalb der Scheune.

Gedämpfte Schritte unter dem Fenster an der Stirnseite. Plötzlich ein Klacken, und ein hauchdünner Faden Licht fiel ins Erdgeschoss. Als habe jemand eine Tür einen Zentimeter weit geöffnet. Ein kurzes Röcheln, dann Stille, dann ein Erdbeben von einem Hustenanfall. Der Hustenanfall entfernte sich wieder, und erneut plätscherte irgendwo Wasser. Er hörte Schlürfen und Röcheln. Der Wasserhahn, der beim Zudrehen quietschte.

Er konnte die Leiter jetzt nicht loslassen, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Liegen bleiben konnte er aber auch nicht. Die Verzweiflung ließ ihn handeln. Mit der linken Hand immer noch die Leiter haltend, rutschte er auf dem Bauch herum, schwang das linke Bein in den Abgrund und tastete nach der obersten Leitersprosse. Sie war überraschend nah, und er stellte den Fuß nicht dort auf, sondern gleich auf die zweite Sprosse. Dann ließ er vorsichtig den Holm los. Mit dem Fuß konnte er die Leiter durch Druck von oben gerade in der Senkrechten halten. Er schwenkte das rechte Bein ebenfalls in den Abgrund und auf die zweite Sprosse. Er hatte keinen Plan dafür, was er da tat, nur ein panisch in den Blick genommenes Ziel. Zentimeterweise schob er den Körper rückwärts, klemmte einen Fuß wie einen Haken unter die zweite Sprosse und tastete mit dem anderen nach der dritten. Als beide Füße auf der dritten Sprosse balancierten, war sein Becken schon unter der Ebene des Dachbodens.

Eine Hand am Rand der Luke, eine an der Leiter, stieg er kippelnd noch drei Sprossen hinab. Dann war Schluss. Beim nächsten Schritt abwärts musste er den Lukenrand loslassen. Nach unten waren es noch immer mehrere Meter. Er sah hinunter. Zwölf, fünfzehn Sprossen. Draußen näherte sich das Röcheln.

Er balancierte die Leiter noch einmal aus, holte tief Atem, dann löste er die Hand von der Dachbodenkante und kletterte mit affenartiger Geschwindigkeit in die Tiefe. Er schaffte vier oder fünf weitere Sprossen, indem er tölpelhaft das Gesäß herausstreckte und es ruckartig zurück an die Leiter presste, begleitet von unwirklichem Stöhnen aus eigenem Mund. Zirkusnummer: der Clown, nicht der Hochseilartist. Dann neigte die Leiter sich bedenklich, und er schaffte nur noch eine Sprosse, bevor sein Fuß ins Leere trat. Noch im Fallen schleuderte er den Holm von sich fort und krachte dann mit dem Rücken zu Boden. Nur wenige Zentimeter neben ihm schlug die Leiter auf. Staub wirbelte hoch. Flechtwände, Metallkanister, Sand, eine Kette, ein Quietschen. Licht durch ein offenes Tor. Im Tor Poseidon, der Gott des Meeres, mit rauschendem Bart und Dreizack.

Korrektur: ein Fellache mit Mistgabel.

Er hatte keine Zeit, nachzudenken, was ihm am meisten wehtat. Die Knochen schienen intakt. Er richtete sich taumelnd auf, machte ein unbeteiligtes Gesicht und tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn: Guten Tag.

Der Dreizack senkte sich.

Er meinte, im Gegenlicht ein altes, versoffenes Gesicht über dem Bart zu erkennen, und probierte es mit einem Satz, der sowohl Entschuldigung als auch Anklage sein konnte: «Ich war da oben.» Er zeigte auf den Ort des Verbrechens und fragte sich, wie er an dem Dreizack vorbeikommen sollte.

Beide Männer machten gleichzeitig einen Schritt aufeinander zu. Entweder war der Fellache blind, oder er schielte stark. Ein weißer Film überzog sein eines Auge, das andere starrte irgendwo ins Dunkel der Scheune. Dann schwenkte der Dreizack in die gleiche Richtung wie der Blick, und ein entsetzliches Röcheln, ganz anders als das zuvor, entrang sich der Kehle des Fellachen.

Sein Gegenüber drehte sich um und sah, was der Fellache sah. Neben Gerümpel und Maschinenteilen lag zwischen zwei Stellwänden im Halbdunkel ein Mann. Ein Mann in einer weißen Dschellabah, die Gliedmaßen eigenartig verrenkt. Auf seinem zerschmetterten Kopf lag der Block des Flaschenzugs mit dem gewichtigen Metallhaken. Die ölige Kette ringelte sich durch Blut und Gehirn. Der Dreizack schob sich ins Bild. Es schien nicht der richtige Moment, dem Mann etwas von Amnesie zu erzählen. Eine frische Leiche, vier bewaffnete Männer in einem Jeep, ein irr blickender Fellache mit Mistgabel: Die Situation war unübersichtlich. Er stieß die Mistgabel beiseite und rannte. Rannte durch das Scheunentor, an den Baracken vorbei, in die Wüste. Und rannte.

18. UNTER DÜNEN

Not wasteland, but a great inverted forest with all foliage underground.

Salinger

Die Richtung ergab sich aus der Lage des Scheunentors: einfach geradeaus, in direkter Linie von den Gebäuden weg. Er lief eine Düne hinauf, kam ins Straucheln, warf sich über den Kamm. Rutschte fünfzehn Meter in die Tiefe, sprintete durch das Wellental und stampfte die nächste Leeseite hinauf. Im Lee waren die Dünen steil, man versank bis zu den Knien. Die Luvseite war flach und fest. Die umgekehrte Richtung wäre einfacher gewesen, aber sie wäre auch für seinen Verfolger einfacher gewesen.

Er sah sich um: Niemand folgte ihm. Schon völlig außer Atem lief er langsamer. Schräg vor ihm tauchte in einiger Entfernung eine Reihe von Pfählen auf, vielleicht Telegraphenmasten, eine Straße. Er hielt darauf zu und hörte von irgendwoher ein Summen. Im ersten Moment war es wie das Summen in den eigenen Ohren, aber er gab sich keinen Illusionen hin. Es war das Geräusch eines sich nähernden Dieselmotors. Wahrscheinlich hatten sie Cetrois nicht erwischt, jetzt wollten sie ihn. Oder sie hatten Cetrois erwischt. Und wollten ihn auch noch.

Er rannte. Zwanzig oder dreißig Wellentäler entfernt spritzte der Jeep über eine Düne, hing mit allen vieren einen Moment in der Luft und sackte mit heulendem Motor aus dem Bild.

Geduckt bog er scharf nach links in ein sich dahinschlängelndes Wellental, nahm im Laufen einen faustgroßen Stein auf und ließ ihn wieder fallen. Was wollte er damit? Ihnen den Revolver aus der Hand werfen? Die Nachmittagssonne brannte in sein Gesicht. Er blieb stehen. Er keuchte. In seinen eigenen Fußstapfen ging er zehn Schritte zurück und drehte sich um: albern, der Unterschied war sofort zu erkennen. Das Motorengeräusch schwoll im Rhythmus der Wellentäler an und ab. In nun kopfloser Panik stürzte er eine Düne hinauf und auf der gleichen Seite wieder hinunter und betrachtete das Ergebnis. Dann rannte er kreuz und quer durch das ganze Tal und ein kleines, angrenzendes Tal, bis sie nach allen Seiten hin bedeckt waren mit Spuren.

Zwei flache Felsscheiben steckten wie in einem Toaster senkrecht nebeneinander im Sand. In ihrem Windschatten hatte sich eine tiefe Rinne gebildet. Er warf seinen Körper dort hinein, den Kopf zwischen den Felsen, und schaufelte Sand über Beine und Rumpf. Die Arme scheuerte er seitlich in den Boden. Es war nicht schwierig, von den Schrägen rutschten kleine Lawinen auf ihn herab. Zuletzt rotierte er den Kopf zwischen den Felsscheiben hin und her. Er spürte seine Kopfwunde aufbrechen, die Schmerzen waren phänomenal. Von oben fiel Sand über sein Gesicht und rieselte ihm in die Ohren. Das Geräusch des Dieselmotors verstummte. Er hörte nur noch sein eigenes Keuchen. Er hielt den Atem an und blinzelte. Von seinem Rumpf schien nichts mehr frei zu liegen. Über den Sand auf seinem Körper hinweg sah er das Wellental, die Flanke der gegenüberliegenden Düne und verräterische Spuren überall ringsum. Sein Blickwinkel war durch die Steinplatten stark eingeschränkt. Umgekehrt war sein Gesicht jetzt nur noch zu sehen, wenn man direkt vor ihm stand. Aber es war noch zu sehen.

Er holte tief Luft, schloss die Augen und rotierte den Kopf noch einmal hin und her. Eine weitere Ladung Sand rutschte von oben über seine Stirn bis zum Jochbein und stäubte als feiner Puderzucker über Augenlider, Wangen und in die Mundwinkel. Er hatte einen nur sehr ungefähren Eindruck davon, wie viel vom Gesicht jetzt noch frei lag. Wahrscheinlich das Kinn und die Nasenspitze. Aber jetzt konnte er den Kopf nicht mehr drehen. Mit einem kleinen Stoß pustete er ein paar Sandkörner aus der Nase und wartete.

Ein Nachbild der eben gesehenen Düne unter der hellen Sonne erschien auf der Innenseite seiner Lider. Die Düne hell und vom Wind mit einem Riffelmuster überzogen, das an die Windungen eines riesigen Gehirns erinnerte, die Sonne ein schwarzer Kringel mit einem hellen Loch in der Mitte. Vielleicht das Letzte, was er in seinem Leben sah. Wenn sie sein Versteck entdeckten, lautlos auf ihn zugingen und ein paar Kugeln in die Erde zwischen den Felsen schossen, würde er nicht einmal seinen Mörder gesehen haben. Das Motorengeräusch kam wieder. Näherte sich. Entfernte sich. Es klang, als ob sie wendeten. Plötzlich spürte er leichte Erschütterungen. Ein feiner Schleier aus Sand spritzte auf den Sand auf seinen Füßen. Er hörte Schreie. Anscheinend fuhren sie hochtourig im Kreis durch das Wellental, in dem er lag. Er zuckte nicht. Er versuchte, nicht zu atmen. Als alle Geräusche verstummten, wusste er nicht, ob sie davongefahren waren oder ausgestiegen, um zu Fuß nach ihm zu suchen.

Minuten der Stille vergingen.

Drei Minuten. Oder zehn. Er spürte, wie unsicher sein Zeitgefühl war, und begann, seine Herzschläge zu zählen. Das Herz schlug wild. Vor seinem inneren Auge sah er den Sand über seiner linken Brust verräterisch wie auf einer Trommel hüpfen. Hundert Schläge eine Minute. Ungefähr. Nach hundertfünfzig Schlägen meinte er, ein gedämpftes Quieken zu hören, er war sich aber nicht sicher. Der Sand in den Ohren juckte entsetzlich.

Er zählte weiter, um die Zeit zu messen, um sich zu beruhigen und sich zu konzentrieren. Hundertneunundneunzig, zweihundert. Er wurde den idiotischen Eindruck nicht los, dass das Ausatmen ein Muster im Sand unter seiner Nase erzeugte, das ihn verraten könnte.

Er zählte bis dreihundert, bis vierhundert, bis fünfhundert. Fünf Minuten. Bei dreitausendzweihundert kamen die Motorengeräusche wieder, aber sehr leise. Diesmal kamen sie ihm nicht nahe. Er zählte bis sechstausend, er zählte bis zwölftausend. Und rührte sich nicht. Das Pochen in seinem Hinterkopf wurde stärker und stärker. Sein ganzer Körper pulste. Die ganze Zeit, während er Zahl an Zahl reihte, hatte er das Gefühl, dass direkt über ihm einer mit gezückter Pistole stand und aus Bosheit wartete. Wartete, bis er die Augen aufschlug, um ihm lächelnd eine Kugel ins sandige Grab nachzuschießen. Er zählte bis fünfzehntausend. Das waren jetzt die letzten zwölftausend Herzschläge, also etwa hundertzwanzig Minuten, ohne Geräusch. Er stülpte die Unterlippe aus, pustete sich übers Gesicht und versuchte zu blinzeln. Der schmale Bildausschnitt zwischen den Felsen zeigte das Wellental von Autospuren zerwühlt und die gegenüberliegende Düne unter dem abendlich gewordenen, glasblauen Himmel. Auf dem Kamm der Düne stand etwas und starrte ihn mit zwei kleinen Knopfaugen an. Durchdringend, unbewegt, auf alberne Weise interessiert. Ein kurzbeiniges, pelziges Tier, nicht größer als ein Fennek. Es hatte gelbrötliches Fell, zwei Schneidezähne hingen über den kleinen Unterkiefer. Das Tier schaute sich um, quiekte noch einmal und trabte davon.

19. DER VIERTELBUCHSTABE

Everyone of the bastards that are out for legalizing marijuana are Jewish. What the Christ is the matter with the Jews? I suppose it is because most of them are psychiatrists.

Nixon

Kaum hatte er die Piste unter den Telegraphenmasten erreicht, sah er schon eine Staubwolke am Horizont. Er kroch hinter eine Düne, bis er sicher sein konnte, dass es nicht der Jeep war, der sich dort näherte. Es war ein weißer Cinquecento, aus dem links ein Bein heraushing. Er sprang auf, rannte zurück auf die Straße und winkte mit beiden Armen. Durch die Windschutzscheibe waren zwei Insassen zu erkennen, hellhäutige junge Männer mit langen Haaren und nackten Oberkörpern. Sie fuhren in Schlangenlinien auf ihn zu und mit einem Schlenker an ihm vorbei, kuhäugig glotzend. Und dann weiter im Schritttempo.

Er rannte dem Auto hinterher und versuchte dabei, seine Leidensgeschichte in das offene Seitenfenster zu schreien. Der Beifahrer hatte den Mund geöffnet, zog die Oberlippe bis zur Nase hoch und hielt seine Hand wie ein Ertaubter ans Ohr. Er rief: «Was? Ich hab gesagt, was? Du bist ja ein ganz starker Sprinter! Aber — was? Was für Männer? Fahr mal langsamer, er ist schon ganz außer Puste. Nicht so langsam. Jetzt komm, du musst doch wissen, was für Männer! Und dann läufst du hier einfach so rum? Er sagt, er läuft hier nicht einfach so rum … nein, er läuft hier nicht einfach so rum! Willst du ’n Schluck Bier? Soll keine Beleidigung sein, wir sind ja Christen. Aber immerhin kann er Englisch. Im Ernst, du bist der Erste, der Englisch kann. Die ganzen Kaffern — pardon my French. Aber wie stellst du dir das vor? Guck dir die Rückbank doch an. Ja, geht es nicht für uns alle um Leben und Tod? Natürlich versteh ich das. Aber du musst auch uns verstehen. Das Gesetz der Wüste. Mal angenommen, du hast ein Messer unter der Kutte? Natürlich nicht! Wer würde das denn vorher sagen, dass er ein Messer unter der Kutte hat, wenn er einem die Gurgel durchschneiden will? Aber ich sag mal, Vorsicht ist die Mutter. Und wenn jetzt einer hier so rumläuft und erzählt was von: weiß nicht, wer er ist und wo er hinwill und volle Kanüle den Schädel eingeschlagen — ich mein, was ist los, Mann? Nehm ich dir nicht ab. Nimmst du ihm das ab? Fahr doch mal langsamer. Schluck Bier?»

Sie rollten im ersten Gang neben ihm her. Einmal griff er nach der hingehaltenen Bierdose, aber sie wurde weggezogen. Schließlich blieb er erschöpft und völlig außer Atem stehen und sah dem Cinquecento nach, der leise knirschend davonglitt. Fünfzig Meter. Und dann ebenfalls stehen blieb. Der Fahrer stieg aus, machte Dehnübungen und winkte. Flirrende Hitze trennte seinen Arm vom Körper, die Füße schwebten zwanzig Zentimeter über dem Boden. Mittlerweile war auch der Beifahrer ausgestiegen. Er öffnete die Hose, pinkelte in den Sand und unterhielt sich über die Schulter hinweg mit dem Fahrer. Sie lachten. Dann winkten sie wieder.

Sein Verstand sagte ihm, dass sie ihn nur veralbern wollten. Wahrscheinlich würden sie wieder einsteigen und wegfahren, sobald er sich näherte. Aber irgendetwas ließ ihn sonderbarerweise auch denken, dass das Freunde von ihm waren.

Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war auf so befremdliche Weise aufmerksam und gleichzeitig heiter und offen, dass er das Gefühl nicht loswurde, sie müssten alte Freunde oder Bekannte sein, die den Ernst der Lage nicht begriffen. Entweder das, oder sie waren Verrückte. Aber nach Verrückten sahen sie eigentlich nicht aus. Zögerlich ging er auf die beiden zu. Die Hoffnung und der Wunsch, sie möchten seine Freunde sein, wurden so übermächtig, dass es aus ihm herausplatzte.

«Kennen wir uns? Wir kennen uns!», rief er.

«Ja», sagte der Beifahrer und streifte sich ein T-Shirt aus Knüllbatik über. «Seit eben. Aber ist das wirklich dein Ernst? Du weißt nicht, wer du bist?»

Er nickte.

«Und wie lange weißt du das schon nicht?»

«Seit ein paar Stunden.»

«Hast du kein Portemonnaie?»

Darauf war er überhaupt noch nicht gekommen. Er griff sich unter der Dschellabah an die Gesäßtasche seines Anzugs. Unfassbar. Ein Portemonnaie. Er raffte die Dschellabah hoch, um das Portemonnaie herauszuziehen, und als er wieder aufblickte, war ein Springmesser auf sein Auge gerichtet. Der Beifahrer nahm ihm das Portemonnaie aus der Hand.

«Wenn wir dir helfen und dich mitnehmen, musst du uns auch bisschen helfen. Benzin und so. Ist das okay für dich? Kleine Unkostenbeteiligung?» Er klappte das Portemonnaie auf, in dem ein Bündel Geldscheine und verschiedenfarbige Karten steckten, nahm die Scheine heraus und warf den Rest in den Sand. Sein Kumpel lächelte. Er hatte riesige Pupillen.

«Geht doch, Mann. Das sieht doch gut aus. Ich würde vorschlagen, wir fahren dann jetzt Benzin kaufen und Sachen abladen und alles. Und dann kommen wir wieder. Du wartest hier, okay? Vielleicht kannst du dich ein bisschen sauber machen in der Zwischenzeit. Du siehst ja aus wie ein Schwein.»

«Ich glaub, der hat nicht nur sein Gedächtnis verloren, Sprechen wird auch immer schwieriger.»

Sie drehten seinen Kopf mit der Messerspitze hierhin und dorthin, und dann befahl ihm der Fahrer, auf allen vieren herumzukriechen und wie ein Schwein zu grunzen. Er kroch auf allen vieren herum und grunzte wie ein Schwein. Der eine fragte, warum ihm das keine Probleme bereite, und der andere wollte wissen, ob Schweine nicht unrein seien bei den Arabern. Viel Phantasie hatten sie nicht. Sie gaben ihm noch einen Tritt in die Seite und gingen schließlich zum Auto zurück. Der Fahrer ließ den Motor an, der Beifahrer stellte seinen Fuß aufs Trittbrett, hielt Messer und Geldscheine unschlüssig in der Hand und sah sich um.

Aus Angst, sie könnten es sich doch noch mal überlegen und ihn schwerer verletzen oder gar töten, rief er: «Ihr könnt das Geld ruhig haben!»

Das war ein Fehler.

Der Beifahrer begriff es zuerst. «Wir können das Geld ruhig haben!», sagte er. Freudestrahlend kam er zurück, klaubte das Portemonnaie auf und beobachtete die Reaktion des Mannes, der am Boden kniete und sich mit einer Hand die schmerzende Seite hielt. Er zog die Papiere aus dem Portemonnaie und studierte sie mit dem begeisterten Unverständnis eines Erstklässlers, der gerade lesen gelernt hat. Ein weißes Kärtchen, ein grünes Kärtchen, ein rötliches Papier. Zwei Reihen weißer, amerikanischer Zähne und eine Menge Zahnfleisch entblößten sich. Beim Lesen erstarrte das Grinsen langsam und gefror, der Mund blieb offen stehen. Entsetzt reichte er das rötliche Papier dem Fahrer und sagte: «O mein Gott.»

Der Fahrer warf einen Blick darauf, sah sich verwirrt um und sagte dann ebenfalls: «O mein Gott.»

Und dann nach unten hin: «Das wussten wir nicht! Das tut uns leid. Wenn wir das gewusst hätten, wer Sie sind!»

«Wir hätten Sie nicht überfallen dürfen!»

«Supermann! Wir haben Supermann überfallen.»

«Du sagst es, o mein Gott. Supermann!»

«Das Superhirn mit den Superkräften!»

«Und dem Supergrunzen! Ey, Mann. Wir sind voll verloren!»

Sie fanden sich wahnsinnig komisch. Sie probierten noch eine Reihe von Witzen mit superdreckig, superdämlich und superschweinisch, und dann holte der Beifahrer ein Feuerzeug heraus und hielt es unter den Ausweis. Die Flammen wanderten bläulich und sehr langsam über das zähe Papier. Ein Rest fiel ihm aus der Hand, er schlenkerte den Arm in der Luft und pustete auf seine Fingerspitzen. Das weiße und das grüne Kärtchen brannten besser. Dann erging erneut der Befehl, auf allen vieren herumzukriechen und gen Mekka zu grunzen. Endlich stiegen sie in das Auto und fuhren davon.

Mit einem Sprung hechtete er nach dem letzten, glimmenden Fetzen rötlichen Ausweispapiers, ein winziges Stück, vom dem zitternd Aschefetzen abfielen. Er hielt es zwischen den Fingernägeln von Daumen und Zeigefinger, und als sei in der Willkür des Zufalls doch etwas wie Logik und Bosheit enthalten, war es das Stück Papier, auf dem «Nom:» stand.

Name, Doppelpunkt und ein Viertelbuchstabe, ein Schnörkel nur noch. Die letzte Glut fraß gerade den Schnörkel. Der Buchstabe war nach oben und links hin gerundet, ein C also oder ein O. Tiefrote Tinte auf rötlichem Papier. Er blickte zum Horizont, wo sich die Staubwolke über der Piste legte. Dann wieder auf seine rußigen Fingerkuppen. Der Schnörkel hatte sich in Asche verwandelt. Aber er hatte ihn gesehen. Er wusste nun, dass sein Name mit einem C oder O begann. Oder mit einem S. S war auch möglich. Ob es sein Vor- oder Nachname war, wusste er nicht.

Er lief weiter auf der Piste. Lange Zeit kam kein Auto mehr. Er zog die Dschellabah aus, betrachtete die dünne Blutspur auf dem Rücken und vergrub das Kleidungsstück im Sand. Als die nächste Staubwolke am Horizont aufpilzte, versteckte er sich zu spät. Hupend fuhr ein dunkler Mercedes vorüber. Danach ging er vorsichtshalber in einigem Abstand parallel zur Piste durch die Dünen. Das war anstrengend, aber die Angst brachte ihn um. Auf jeder Düne hielt er Ausschau. Seine Wunde pochte, und er wickelte sich sein Unterhemd um den Kopf. Den weiteren Inhalt seiner Anzugtaschen hatte er längst untersucht: Im Jackett hatte sich ein Bund mit sieben Schlüsseln gefunden, vier Sicherheitsschlüssel, zwei normale, ein Autoschlüssel. Dazu ein gebrauchtes Papiertaschentuch und in der Innentasche des Jacketts ein grüner Bleistift mit abgebrochener Spitze.

Im Gehen rief er sich Namen mit den Anfangsbuchstaben C, O und S ins Gedächtnis und wunderte sich, dass das so einfach war. Dutzende Namen fielen ihm ohne Mühe ein, ohne dass mit einem einzigen eine Erinnerung verknüpft gewesen wäre. Claude, Charles, Stéphane. Cambon, Carré, Serrault. Ogier. Sassard. Sainclair. Condorcet. Ozouf. Olivier. Die Namen wurden ihm wie von unsichtbarer Hand auf einem unsichtbaren Tablett gereicht. Vielleicht waren es Namen, die jeder kannte, ohne Person dazu. Oder er hatte zu jedem Namen eine Person gekannt, und deshalb lösten sie alle das Gleiche bei ihm aus: nichts. Er fragte sich, woher er überhaupt wusste, dass es so etwas wie Gedächtnisverlust gab? In welchem Leben hatte er das gelernt?

Dann fiel ihm das Q ein.

Aus der nächsten Staubwolke am Horizont erklang das Geräusch eines Dieselmotors. Er warf sich bäuchlings in den Sand. Quineau, Quenton. Schlumberger. Quatremère. Chevalier. Die Reihe von Namen riss überhaupt nicht ab.

Als Nächstes fiel ihm noch das G ein, und er bekam einen Tobsuchtsanfall. Er kniete sich hin und zeichnete mit dem Finger das Alphabet in den Sand, um sicherzustellen, dass er keinen weiteren Buchstaben übersehen hatte. C, G, O, Q und S. Das war alles. Er taumelte voran. Wenn er die Schienen demoliert, wenn der Lawinenhund sich rührt, wenn man die Bienen exportiert … Heiß brannte die Sonne über der Sahara.

20. IM LAND DES OUZ

Weibliche Neunen halten sich häufig für Zweien.

Ewald Berkers

Helen hielt das Telefon minutenlang an ihr Ohr, ohne ein Wort zu sagen. Als auf der Gegenseite nur noch Schluchzen zu hören war, fragte sie: «Soll ich trotzdem kommen?»

Gegen Mittag fand sie den Autoverleih, den der Rezeptionist des Sheraton ihr beschrieben hatte. Das war jedenfalls das Wort gewesen, das er gebraucht hatte: Autoverleih. Man hätte auch Schrottplatz sagen können. Ein Ochsenkarren und ein rostiger Honda-Pick-up waren die einzigen Fahrzeuge auf dem Hof, um den herum sich abgeschliffene Karosserien stapelten.

In einem Bretterverschlag saß ein Dreizehnjähriger zusammengesunken vor einer Schischa. Die Anwesenheit der blonden Frau belebte ihn augenblicklich. Er sprang auf, machte ausladende Gesten und redete mit einem merkwürdig altertümlichen Akzent auf sie ein. Was er mitzuteilen hatte, war weniger erfreulich. Der Honda war kaputt, den Ochsenkarren (inklusive Ochsen und Fahrer) wollte Helen nicht mieten, und die Frage, wann wieder ein Wagen zur Verfügung stehe oder wie viele Wagen der Verleih überhaupt besitze, konnte der Junge nur mit einem Kopfwiegen beantworten. Helen erkundigte sich, ob es in der Nähe noch einen anderen Autoverleih gebe, und erfuhr, am Flughafen würden Limousinen vermietet. Die Wahrscheinlichkeit, dort ohne Reservierung ein Fahrzeug zu bekommen, sei jedoch gleich null.

«Und was fehlt dem da?» Helen zeigte aus dem Fenster.

Bedächtiges Kopfwiegen, gepaart mit Augenbrauenhochziehen. Der Junge führte Helen hinaus, setzte sich in den Pick-up und drehte den Zündschlüssel. Unter der Motorhaube des Honda klickte es.

«Mechaniker kommt. Wahrscheinlich. Zwei Wochen.»

Helen unternahm einen zweiten Versuch, herauszufinden, wie viele Wagen der Verleih besaß, erhielt so wenig Antwort wie zuvor und fragte stattdessen nach Werkzeug. Unter seinem Tisch hatte der Junge ein Set verbogener Schraubenschlüssel, Zange, Hammer, Bürsten. Helen schleppte alles zum Honda. Eine Weile zwang sich der Junge, bedächtig kopfwiegend danebenzustehen, schließlich ertrug er den Anblick nicht mehr und ging zurück in seine Bretterbude. Eine Frau. Eine blonde Frau! Das würde er niemandem erzählen können. Er suchte Holzkohle, Nakhla und Streichhölzer zusammen, entzündete die Schischa erneut und blies den Rauch aus dem kleinen Fenster über den Hof.

Hin und wieder hörte er amerikanische Flüche hinter der hochgeklappten Kühlerhaube hervordringen, er hörte Hammerschläge auf Metall, das leise Klicken des Magnetschalters in der Mittagshitze und, als die Kohle in seiner Schischa bereits verglühte, ein Motorengeräusch. Kurz danach trat die mit Öl und Dreck verschmierte Frau in die Bretterbude. Sie warf das Werkzeug auf den Tisch, nahm ihr Portemonnaie heraus und sagte mit einer an Blasiertheit nicht zu überbietenden Stimme: «Ich brauch ihn eine Woche. Wie viel?»

Soweit Helen wusste, gab es einen kurzen, unsicheren und einen langen, sicheren Weg auf die Piste nach Tindirma. Sie hatte Zeit. Kilometerweit fuhr sie die Hauptstraße nach Norden bis an den Fuß der Berge, wo die Stadt ausdünnte und ein einsames Straßenschild die Abzweigung anzeigte. Ein paar hundert Meter ging es durch trockene Vegetation. Auf Sanddünen mit Salzpflanzen folgten Sanddünen ohne Salzpflanzen, und den Eingang zur Wüste markierte eine riesige, geometrische Skulptur zweier aus Ziegeln gemauerter Kamele, deren Mäuler sich hoch oben in der Luft über der Piste berührten.

Auch wenn man vorher nie eine Wüste gesehen hatte, wurde es schnell langweilig. Es war die Zeit der größten Mittagshitze, und Helen begegnete keinem einzigen Fahrzeug. Hier und da lagen Autowracks im Sand versunken wie verendete Insekten, heruntergefressen bis auf das Metall, die Türen gespreizt wie Flügel.

Nach zwei Stunden erreichte sie eine Tankstelle mit einer einzigen Zapfsäule. Kurz dahinter lag die Oase Tindirma.

Helen unternahm genau zwei Versuche, in der Oase aus dem Auto zu steigen. Obgleich sie Jeans und ein langärmliges T-Shirt trug, löste sie beide Male eine Stampede aus. Männer, Jungen und Greise kamen mit nach vorn gestreckten Armen auf sie zugerannt. Im Wagen hatte sie irgendwo ein Kopftuch, sie mochte es aber in der Mittagshitze nicht aufsetzen. Nahm auch an, dass es die Situation nicht wirklich entschärfen würde. Ihren Plan, sich im Ort auf eigene Faust umzusehen, gab sie vorerst auf.

Die kleine Straße mit der Kommune war vom Suq aus nicht schwer zu finden. Helen erkannte das Türschild von der telefonischen Beschreibung her und fuhr mit dem Honda auf den Hof. Ein Fusselbärtiger in gebatiktem Einteiler öffnete die Tür. Er wiederholte den Namen Helen Gliese, sah ihr zwanzig Sekunden lang in die Augen und schob die Kinnlade hin und her, bevor er sie einließ.

Das Haus hatte man im gleichen Plüsch- und Polsterstil eingerichtet wie normale arabische Wohnhäuser, und das Erste, was Helen ins Auge stach, waren die Zettel. Überall Zettel. Hinter ihr verriegelte der Fusselbart die Tür mit vier Schlössern, und im selben Moment kam mit einem Schrei Michelle die Treppe zum Innenhof herabgestürzt. Sie flog Helen um den Hals und hörte nicht auf zu schluchzen. Mit auf dem Rücken verschränkten Armen stand der Fusselbart daneben und betrachtete die Begrüßung der beiden Frauen wie einen komplizierten Autounfall. Er schwieg, Michelle schluchzte, und über Michelles Schulter hinweg las Helen die Aufschrift auf einem der Zettel, der dort neben der Garderobe hing: Der Beobachter ist der Beobachtete.

Michelle stemmte ihre Jugendfreundin auf Armlänge von sich weg, besah sie mit glasigem Blick und riss sie schluchzend wieder an sich. Vor Aufregung konnte sie lange nichts sagen, und als sie wieder etwas sagen konnte, sagte sie: «Asthmaspray.» Sie lief erneut die Treppen hoch. Der Fusselbart holte seine Hände hinterm Rücken hervor, zog sie umständlich und langsam bis in die Achselhöhlen hoch, ging in eine Dehnübung über und sagte: «Ist kein Asthma. Ist psychisch.»

Er führte Helen an der mit fünf oder sechs Kommunarden besetzten Küche vorbei einen langen, dunklen Flur hinunter, an dessen Ende eine mit rotem Polster bezogene Sitzbank stand. «Da pflanz dich hin.»

Einige Minuten lang stand Helen allein im Halbdunkel. Schließlich setzte sie sich. Leise Stimmen waren zu hören, eine Wasserleitung, eine Pendeluhr. Sie versuchte die Zettel zu lesen, die sie von ihrem Platz aus entziffern konnte. Neben der Sitzbank stand: Alles ist gut, nur nicht überall, nur nicht immer, nur nicht für alle. Darüber: Turtles can tell more about roads than hares. Und an der Deckenlampe klebten gleich mehrere Zettel, von denen Helen nur einen entziffern konnte: Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.

Vermutlich hatten diese kleinen Zettel auch schon vor dem Massaker an ihren Plätzen gehangen (und das Erste, was einem nach einem solchen Ereignis einfällt, ist sicher nicht das Umdekorieren der Wohnung).

Drei Frauen mit langen, glatten Haaren streckten nacheinander ihre Köpfe aus der Küche und zogen sie wieder zurück. Ein Mann lief weinend durch den Flur. Dann tauchte der Fusselbart wieder auf und sagte: «Wir müssen reden.»

Helen rührte sich nicht.

Er öffnete eine schwarz lackierte Tür am Ende des Ganges und schaute sich über die Schulter um. «Jetzt!», sagte er.

Er hatte einen schottischen Akzent, und daraus und aus seinem Gehabe schloss Helen, dass es sich um Edgar Fowler handelte, Ed Fowler III, das inoffizielle Oberhaupt der kleinen Kommune. Sie wartete noch eine Weile, ob Michelle wieder auftauchen würde, und folgte ihm dann in den Nebenraum.

Das Zimmer war rundum mit Decken, Tüchern und blaugrauen Matratzen ausgelegt. Es roch. In der Mitte war eine kleine Fläche frei geräumt, auf der ein Laufstall für Kinder stand. Plastikwürfel, bunte Bälle und Stoffpuppen lagen darin herum, aber statt eines Kindes hockte unbeweglich inmitten des Laufstalls ein Tier mit sandfarbenem, leicht rötlichem Fell. Man hätte es für ein Stofftier halten können, wenn nicht seine Schnurrhaare gezittert hätten. Zwei Schneidezähne hingen über einen winzigen Unterkiefer, und zwischen den Ohren trug es eine Art Krone aus weißem Papier, die mit einem Gummiband an seinem Kopf festgebunden war. Es sah aus, als hätte es das Gummiband mit der Hinterpfote mühelos vom Kopf streifen können, wenn ihm danach gewesen wäre. Aber anscheinend war ihm nicht danach.

Das Tier spazierte behäbig einmal in seinem Laufstall herum, schnupperte an seiner Flanke und starrte dann Helen mit kleinen, schwarzen Knopfaugen an. Obgleich es viel kleiner war als der Zwischenraum der Gitterstäbe, verließ es den Käfig nicht.

Fowler nahm im Schneidersitz auf einer Matratze Platz und wartete, bis Helen sich ihm gegenüber niedergelassen hatte. Er bedachte sie mit einem Blick, der vielleicht tief und feurig sein sollte und eine umgekehrte Wirkung auf Helen nicht verfehlte. Helen beobachtete das Tier. Das Tier gähnte.

«Das ist Gurdjieff. Er versteht alles, was du sagst.»

«Das da?»

«‹Das da› ist ein Ouz.»

«Und wenn ich Französisch spreche?»

«Versteht Gott dich, wenn du betest?»

«Ich bete nicht.»

«Sophismus.»

«Worüber wolltest du reden?»

«Wir reden ja schon.»

«Ach ja?»

«Du bist Jüdin. Sagt Michelle.»

«Eigentlich nicht.»

«Immer auf Konfrontation.»

«Das ist für dich schon Konfrontation? Worüber wolltest du reden?»

«Versteh mich nicht falsch. Ich werte nicht. Ich konstatiere nur. Und was ich konstatiere, ist: Negativismus. Spitzfindigkeit. Konfrontation.»

Helen seufzte und sah wieder zu dem Tier. Es war dem raschen Wortwechsel mit Blicken gefolgt wie einem Tennismatch, aufmerksam, ernst und konzentriert.

«Schau mich an», sagte Fowler mit bedrohlicher Schärfe.

Helen sah ihn an, und Fowler schwieg. Er bewegte die Zunge im geschlossenen Mund und schloss dann langsam, meditativ die Augen.

«Du bist nicht umsonst hierhergekommen», flüsterte er. «Und auch nicht aus dem Grund, aus dem du glaubst. Du hast von den vier Morden gehört. Du bist hier, um deine Schaulust zu befriedigen. Du bist hier, weil —»

«Ich bin Michelles älteste Freundin.»

«Du kannst antworten, wenn ich fertig bin!» Er riss wütend die Augen auf und ließ viel Zeit verstreichen, bevor er sie wieder schloss und mit seiner Rede fortfuhr. «Ich habe gesagt: Du bist nicht umsonst gekommen. Was du gehört hast, hat etwas in dir ausgelöst. Es hat dich tiefer getroffen, als du weißt. Du willst Michelle besuchen. Sagst du. Du wirst sie nicht finden. Wie — du wirst sie nicht finden? Du hast sie doch eben gesehen? Bleib sitzen. Die Wüste verändert dich. Der Nomade. Wenn einer lange hier gelebt hat, wird sein Blick ein anderer. Der Wüstenbewohner ist ruhig, er ist das Zentrum. Er geht nicht auf die Dinge zu, die Dinge gehen auf ihn zu. Das ist die Kälte, die du spürst. Es ist keine Kälte. Es ist Wärme. Allumfassende Energie. Der Anfang der Freiheit.» Fowler griff blind nach Helens linker Brust und knetete sie teilnahmslos. «Was bedeutet Freiheit? Aha. Freiheit bedeutet nicht, tun und lassen zu können, was man will. Freiheit bedeutet, das Richtige zu tun.»

Er öffnete einen kurzen Moment lang die Augen und blinzelte, wie um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen. Diesen Moment nutzte Helen, um ihm ins Gesicht zu schlagen. Fowler zog seine Hand langsam und majestätisch zurück. Er lächelte würdevoll. Keineswegs gekränkt. Eine Frage der Menschenkenntnis. Er hatte vorausgesehen, was passieren würde, und er war noch immer Herr der Situation. Milde und verständnisvoll blickte er Helen an, und Helen wurde den Eindruck nicht los, dass das Ouz sie auf genau die gleiche Weise ansah.

«Du hast deine Emotionen unter Kontrolle. Immer unter Kontrolle gehabt. Dadurch werden sie unkontrollierbar. Du wunderst dich, woher ich das weiß. Du bist ein steiler Zahn. Das hast du oft gehört. Steiler Zahn, steiler Zahn. Von schwachen Männern. Männern, die dich nicht interessierten. Tief im Innern weißt du: Dir ist etwas anderes bestimmt. Du bist der typische Fünfer, an der Grenze zur Sechs. Wobei ich mit Sechs jetzt das Dienende meine. Du bist nicht offen. Bleib sitzen.»

Fowler streckte abermals seine Hand aus, und Helen stand auf und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und zeigte mit dem Kinn zum Laufstall hin: «Was hat die Ratte da eigentlich auf dem Kopf?»

Fowler überhörte das Wort Ratte und winkte kaum merklich ab, Gleichmut und Nachsicht unter halbgeschlossenen Lidern. Er konnte niemanden verurteilen, aber es blieb doch ein Rest von Herablassung in seiner Geste. Er hatte die Kraft und die Gabe, die Menschen zu erkennen, aber nicht die Kraft, seine Position zu verbergen. Daran musste er noch arbeiten. Er war der klassische Neuner, wie er im Buche stand.

Erst als Helen ein paar Schritte auf den Käfig zu machte, sprang er auf.

«Nicht anfassen!»

«Warum?»

«Du bist noch nicht so weit.»

Auf dem Flur wartete Michelle mit Asthmaspray und Taschentuch. Ihrer demonstrativen Unbefangenheit nach zu urteilen hatte sie gelauscht.

«Willst du mir nicht mal dein Zimmer zeigen?», fragte Helen. «Falls du ein Zimmer hast. Oder das Haus.»

21. MAISPFLANZEN

In jeglicher Form des Angriffs ist eine Annäherung an den Gegner von hinten erforderlich.

Dicta Boelcke

Die Anwesenheit der alten Schulfreundin in den Räumlichkeiten der Kommune zwang Michelle, die bunten Farben, die Sinnsprüche, die Hausaltäre, Blumengestecke und Batikbilder noch einmal mit anderen Augen zu sehen, und ließ, während sie Helen herumführte, eine Fülle längst vergessener Vorstellungen in ihr wiederauferstehen.

Sie entschuldigte sich unaufhörlich für den Schmutz und die Unordnung, verteilte mit flüchtigen Handbewegungen Haufen Räucherstäbchenasche über die Erde und schob mit dem Fuß einen Wust von Zetteln unter ein Bett, auf denen am Vorabend jemand mit vielen Symbolen, Pfeilen und Zickzacklinien die geheime Botschaft des Weißen Albums entschlüsselt hatte. Die Gottheiten nannte sie schöne Schnitzereien, die Karten einen Zeitvertreib und den Bücherstapel mit den Pentagrammen das Überbleibsel eines vor langer Zeit abgewanderten Mitgliedes.

«Ich freue mich so, dass du da bist», sagte sie zum Schluss.

Helen sah Michelle stirnrunzelnd an, und Michelle fing an zu weinen.

Sie hatte sich im Grunde nicht verändert. Etwas leicht Verträumtes, Unklares war ihr immer eigen gewesen, Freundlichkeit und Güte. Aber es waren Wesenszüge, die auf nichts hinausliefen. Michelle traf keine Entscheidungen. Weder ihr Elternhaus noch eine solide Bildung oder die Jahre in der Kommune hatten daran etwas ändern können. Heiter und planlos übernahm sie fremde Ansichten, mischte sie mit Einfalt und Herzensgüte und besaß nun das zweifelhafte Glück, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der dies eher als Reiz denn als Problem empfunden wurde. «Michelle ist etwas Besonderes», lautete das hinter ihrem Rücken am häufigsten gesprochene Verdikt, wenn sie sich für handfeste, diesseitige Interessen wieder einmal als zu ungeschickt oder zu gleichgültig erwiesen hatte.

Spannungen blieben so nicht aus, und Michelle löste das Problem für sich, indem sie in der Kommune mit umso größerer Hingabe den beiden Tätigkeiten nachging, die keine Durchsetzungskraft erforderten und für die sie das größte Talent besaß. Erstens Landwirtschaft: Allein Michelle war es zu verdanken, dass die Felder der Kommune überhaupt noch einen messbaren Ertrag abwarfen. Und zweitens: war etwas komplizierter.

Zweitens nämlich hatte Jean Bekurtz, ein alteingesessener, mittlerweile wieder untergetauchter (oder in der Wüste verschollener) Kommunarde von einer seiner Reisen ein Tarotspiel mitgebracht, den Nachdruck einer oberitalienischen Ausgabe aus dem 16. Jahrhundert, kolorierte Holzstiche, zweiundzwanzig Stück, die großen Arkana. Bekurtz selbst glaubte nicht an das Wirken schicksalhafter Mächte, oder jedenfalls nicht mehr, als ihm zu seiner eigenen Unterhaltung eine Zeitlang angezeigt erschien. Er hatte zwei Bücher zum Thema mitgekauft, fand sie aber anstrengend zu lesen und verlor bald das Interesse. Einzig der Eindruck, den die Holzstiche bei einer Vorführung auf das Neumitglied Michelle machten, gab ihm noch einmal zu denken: Wie Michelle vom ersten Moment an eher abgestoßen als begeistert wirkte, wie sie dennoch nach den Karten griff, wie sie lange überlegte und Fragen zu Positionen stellte, zeigte Bekurtz mehr als deutlich, dass er nicht der richtige Mann für die Chartomantik war. Er brachte ihr bei, was er wusste, und überließ ihr das Handwerkszeug ohne Neid.

Michelle fand die Bücher nicht anstrengend. Sie verschlang sie. Und als sie sie verschlungen hatte, verschlang sie sie noch einmal. Nicht eine Sekunde lang hatte sie den Eindruck, verborgenes Geheimwissen in sich aufzunehmen, unerklärliche, von Adept zu Adept über Jahrhunderte weitergereichte Weisheit, sondern es war im Gegenteil, als sei ihr jedes Wort, jeder Satz bekannt, als habe alles dies in ihrem eigenen Kopf lange vorher existiert, ja fast, als habe sie die Bücher selber geschrieben.

Auch andere Mitglieder der Kommune interessierten sich für das Tarot, aber niemand drang so mühelos und rasch in seine Geheimnisse ein, niemand legte die Karten mit so glücklicher Hand, niemand deutete sie so richtig und tief aus ihrem Innern wie Michelle. Wenn sie das Blatt aufnahm und sorgfältig mischte, wenn sie einen Moment die Augen schloss, bevor sie mit dem Daumen die oberste Karte ein wenig nach vorne schob und den Kartenstapel wie eine Sonde über den feingeknüpften Teppich hielt, wenn ihre Augenlider zu zucken begannen unter der Konzentration auf höheres Wesen und Wirken, musste auch der größte Zweifler verstummen.

Bald kam dieser und jener und fragte um Rat. Allein Fowler meldete Bedenken an diesem Treiben an, aber seine Einwände verdankten sich (relativ durchschaubar für alle) weniger der Kontaktaufnahme zum Übersinnlichen als der Gefährdung seines Machtanspruches.

Es dauerte nicht lange, und Michelle begleitete alle wichtigen Entscheidungen der Kommune mit den Karten. Während ihre Argumente in Diskussionen oft ungehört blieben, wurden ihre Orakel eine Richtschnur des Handelns. Anfangs nur zu wichtigsten, überpersönlichen Dingen befragt, gab es bald nichts mehr, wozu die Karten die Auskunft verweigerten. Alles, was entschieden werden konnte, wurde durch die Karten mitentschieden, und niemand, auch Fowler nicht, konnte behaupten, dass sich auch nur eine dieser Entscheidungen im Nachhinein als Fehler erwiesen hätte. Sie gaben Auskünfte über Kleines und Großes, über Zukunft, Charakter und Entwicklung, über das Wetter und die Fruchtfolge ebenso wie über die Aufnahme neuer Mitglieder, die Farbe, in der ein Zimmer zu streichen sei, oder den Aufenthaltsort eines verlorenen Haustürschlüssels.

Michelles Talent war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Doch es war mehr als ein Talent, es war auch eine große Last. Schon als das Spiel ihr zum ersten Mal vorgeführt worden war, hatte sich gezeigt, dass manche der Bilder eine solche Suggestion auf sie ausübten, dass Suggestion ein zu kleines Wort war.

Der Mond war ein solches Bild; aber schlimmer als der Mond war der Gehängte. Michelle hatte eine Katzenhaarallergie, und die Symptome, die der Anblick des Gehängten in ihr auslöste — ein gefolterter Knabenkörper, der vor dem Hintergrund einer herbstlichen Landschaft mit Bergen und dem Planeten Neptun mit einem Bein kopfüber an einer Stange hing — , glichen denen der Allergie vollkommen. In der ersten Zeit hatte sie den Gehängten deshalb gern aus dem Stapel genommen und versteckt, doch nachdem Bekurtz sich einmal öffentlich darüber verwundert gezeigt hatte, dass das Deck nur noch aus einundzwanzig Karten bestand, entwickelte Michelle eine Mischtechnik, bei der sie den Gehängten unsichtbar unter den Stapel schob und dafür sorgte, dass er dort auch blieb.

Die Folge dieses Vorgehens, das Michelle selbst als unlauter empfand, waren gewisse Ungenauigkeiten in ihren Deutungen, winzige, sich aufsummierende Fehler, die zu der einen oder anderen Ungereimtheit und eines Tages in die Katastrophe führten. Denn allein mit dieser Mischtechnik war es zu erklären, dass sie die schrecklichen Gefahren, die ihrer Gemeinschaft drohten, die Absichten Amadous, den Überfall, den Raub, den Vierfachmord nicht ganz richtig vorhergeahnt und stattdessen nur undeutlich von großen Umwälzungen gesprochen hatte (die sich in der Kombination der restlichen Karten überdeutlich genug abzeichneten). Seither war Michelle ein Nervenbündel. Von geheimen Schuldgefühlen geplagt, wurde sie dünnhäutig und reizbar.

Was sich lindernd auf ihre Psyche auswirkte, war allein die Tatsache, dass sie mit den vier Toten nicht in engster Verbindung gestanden hatte. Das dämpfte ihren Schmerz ein wenig, wenn auch nur im Geheimen. Denn umgekehrt war es nicht ohne Reiz, untröstlich und Teil eines großen Leidens zu sein, für immer vom Leben gezeichnet. Fast wie ein Orden auf der Brust.

Michelle war froh, als sie mit Helen endlich hinter dem Haus anlangte, wo ein kleines Maisfeld in sattem Grün stand. Jenseits aller ideologischen Vorbehalte waren dies solide Pflanzen, respektable Pflanzen, für die man sich nicht zu schämen brauchte.

«Und was machst du eigentlich hier — in Targat?», fragte sie.

«Arbeit.»

«Echt? Ich dachte — echt? Was denn?»

«Für einen Konzern», sagte Helen. «Kosmetik. Nur dass bei der Ausschiffung mein Musterkoffer mit allen Unterlagen —»

«Du arbeitest für einen Kosmetikkonzern? Als Vertreterin?»

«Nein, nicht Vertreterin. So ähnlich. Ich soll hier was aufbauen.»

«Für einen amerikanischen Konzern? Du arbeitest für einen amerikanischen Kosmetikkonzern?»

«Ich seh mich nur um.»

«Im Ernst?», rief Michelle.

Sie konnte sich kaum beruhigen. Ihre über alles bewunderte Jugendfreundin Helen, die gefürchtete Helen Gliese mit ihrer schneidenden Intelligenz, die zynische Helen, die hochmütige Helen — ein kleines Rädchen im bürgerlich-kapitalistischen Verwertungszusammenhang!

Ihr Gesichtsausdruck wechselte von einer Sekunde auf die andere vollkommen. Es lag Michelle fern, auf jemanden herabzuschauen, aber ihr Erstaunen war grenzenlos und echt. Wieder einmal bewahrheitete sich die schmucklose Allmacht der großen Zerstörerin Zeit: Was wird aus dem Menschen und seinen Träumen und Hoffnungen? Was aus dem strahlenden Stern, dem intellektuellen Star der Matarazzo Junior High, dem von Jungen umlagerten, blonden und hochbrüstigen Mädchen?

Unwillkürlich sah sie sich selbst daneben. Michelle hatte — und es war ihr nie zuvor so bewusst geworden — den Sprung ins Unbekannte gewagt. Die kleine Michelle, die im Grunde immer nur geduldete, von Helen nie für voll genommene Michelle Vanderbilt, sie hatte dem bürgerlichen Sicherheitsdenken Lebewohl gesagt und ihre Ideale verwirklicht. Sie hatte eine Kommune in Afrika mitbegründet, hatte die Scholle mit Händen aufgebrochen und ihr Dasein in eine Suche verwandelt. Sie hatte die höchsten Höhen durchmessen und war doch durch tragische Umstände vom Leben für immer gezeichnet. Vier Menschen waren neben ihr erschossen worden! Und in tiefstem Dunkel war ihre Seele gewachsen. Wie sonderbar nahm sich dagegen nun die Jugendfreundin aus, wie sie da stand vor einem Feld herrlicher, selbstgesäter Maispflanzen, in ihrer etwas unpraktischen, modischen Kleidung — Angestellte eines Kosmetikkonzerns! Die Ironie des Schicksals.

Helen übersah das bis zum Rand mit Triumph gefüllte Gesicht Michelles und blickte auf ein kleines, vertrocknetes Maispflänzchen am Rande des Feldes, das sich aus dem großen Kreislauf des Lebens und der alldurchdringenden Energie verabschiedet zu haben schien. Am Fuß der Pflanze befand sich ein Nest wimmelnder, weißlicher Maden in der Erde, das von Ameisen attackiert wurde. Kleine, weiße Kugeln schwammen auf dem schwarzen, wimmelnden Strom einem verschlingenden Erdloch zu. Michelle, von ihrer eigenen Genugtuung beschämt, folgte Helens Blick.

«Ja, so ist das!», rief sie überschwänglich. «Traurig, oder? Die weißen Dinger kriechen hier überall rum. Manchmal hab ich die Ameisen weggemacht mit dem Finger, um zu helfen, aber — es hilft ja nichts. Das ist die Natur. Es ist so, wie es ist. Und es ist gut so. Die Maden und all die anderen kleinen Tiere und wir Menschen auch, wir sind letztlich nur Teil eines größeren Ganzen, eines gemeinsamen Projekts.»

«Ich vermute, wenn man sie befragen könnte, würden deine Thesen im Lager der Ameisen mehr Zustimmung erhalten als bei den Maden.»

«Die meisten Menschen denken nicht darüber nach, die sehen nur einen Teil. Doch solang du das nicht hast, dieses Yin und Yang … es gehört alles zusammen, Leben und Sterben, ob dir das bewusst ist oder nicht. Und ich stell mich da nicht drüber. Alles ist eins. Alles ist sinnvoll.»

«Auschwitz», sagte Helen.

Doch so leicht konnte man Michelle nicht aus dem Konzept bringen. «Auschwitz», sagte Michelle ernst. «Ich weiß, wie du das meinst, und ich verstehe das. Ich verstehe das natürlich besonders bei dir und deiner Familie. Und natürlich war es falsch, was die Deutschen gemacht haben. Da gibt es keine Diskussionen: Das war falsch!» Sie schaute einen Moment bedeutungsvoll. «So wie es auch falsch ist, die Juden mit diesen Maden zu vergleichen, wie du es eben — unbewusst, nehme ich an, oder unabsichtlich — getan hast. Obwohl du ja selbst … aber was ich sagen will: Palästina. Was ihr, ich meine, was die Israelis den Palästinensern antun, das ist ja auch nichts anderes als Auschwitz — nein, warte, ich sag das noch zu Ende — im Grunde ist es schlimmer, weil ihr aus der eigenen Geschichte nichts gelernt habt, wie so viele aus der eigenen Geschichte nichts lernen, aber hier eben besonders tragisch, weil Juden, genauso wie Palästinenser, beide unter dem Einfluss des Merkur stehend — ich meine, was die ungeheuren Verbrechen betrifft, die da begangen werden, die Verbrechen an palästinensischen Frauen und Kindern, an unschuldigen Menschen, an Säuglingen, die unerträglichen Verbrechen», sagte Michelle und sah mit zusammengekrampften Augenbrauen auf das Massaker zu Füßen der Maispflanze, «diese unerträglichen Verbrechen», sagte sie und kämpfte mit den Tränen, «es ist furchtbar, furchtbar, furchtbar.»

«Findest du», sagte Helen und schubste mit der Fußspitze eine Ladung Sand über das Nest, was Maden und Ameisen gleichermaßen verwirrte. Auch sie schienen dem Einfluss des Merkur ungünstig ausgeliefert.

22. EINE TANKSTELLE IN DER WÜSTE

Gas Station Attendant: Yes ma’am, what can I do for you today?

Varla: Just your job, squirrel. Fill it up!

Faster, Pussycat! Kill! Kill!

Aber zum Bleiben konnte Michelle ihre Freundin nicht überreden. Sie wusste, dass Helen auf Szenen dieser Art allergisch reagierte, und versuchte beim Abschied, ihr hysterisches Schluchzen und ihre Hochstimmung zuvor zu einem Gemütszustand zusammenzuerklären, einem durch höchste Anspannung, Leiden und Freude verursachten Gemütszustand. Allein Helen benahm sich, wie sie sich immer benommen hatte in solchen Situationen: kalt. Was wusste sie vom Leben? Würde sie je etwas wissen?

«Ich würd dich gern noch mal wiedersehen», sagte Michelle, und zwei weitere Sätze gingen im Schniefen unter. Gewaltsam löste Helen sich aus der Umarmung ihrer Freundin, ihr Blick fiel dabei auf einen Zettel, der an der Innenseite der Haustür hing: Wo immer du hingehst, wartet dein Schicksal.

«Jetzt werd nicht sentimental», murmelte sie.

«Leute wie dich haben wir hier gefressen!», rief eine Stimme aus der Küche.

Michelle protestierte weinerlich, aber vom nun folgenden Streit in der Kommune bekam Helen schon nichts mehr mit. Sie hatte genug erfahren, ihre Mission war erfüllt.

Sie stieg in ihr Auto, atmete durch und fuhr, so schnell sie konnte, durch die Wüste zurück in Richtung ihres Schicksals, von dem sie zu diesem Zeitpunkt noch annahm, dass es die Hotelbar sein würde.

An einer Tankstelle, die knapp hinter Tindirma in der Wüste lag, kaufte sie zwei Liter Wasser, sie kramte ein paar Münzen aus ihrem Portemonnaie und sah einem verdreckten Achtjährigen dabei zu, wie er ihre Windschutzscheibe mit braunem Seifenschaum einschmierte. Der Tankwart pumpte Benzin hoch.

Er nahm einen Zwanzig-Dollar-Schein von Helen, und während er damit in seinem Schuppen verschwand, um Wechselgeld zu holen, fuhr ein weißer VW-Bus mit deutschem Kennzeichen langsam in die Tankstelle ein und blieb auf der anderen Seite der Zapfsäule mit laufendem Motor stehen. Gelbe Vorhänge an den Fenstern, ein junges Pärchen. Sehr jung.

Der Fahrer warf einen kurzen Blick auf Helen und wandte sich sofort ab, als sie seinen Blick erwiderte. Mit beiden Händen hielt er fest das Lenkrad umklammert. Seine Freundin hatte eine Landkarte auf dem Armaturenbrett ausgebreitet. Sie war die deutlich Agilere von beiden, redete laut, gestikulierte mit einem Wurstbrot und drückte vom Beifahrersitz aus die Hupe, um den Tankwart zu rufen. Inzwischen hatte der Achtjährige auch Seiten- und Heckfenster an Helens Auto zugeschmiert. Sie stieg aus und zündete sich eine Zigarette an.

Um die Tankstelle herum lag überall Müll. Von einer Düne herab und durch den Müll hindurch kam ein arabisch aussehender Mann auf das Tankstellengebäude zugestakst. Sein Gesicht war wie versteinert, die Augen blutunterlaufen. Als er den Müll hinter sich gelassen hatte, versank er für ein paar Schritte knietief im weichen Sand, und als der Boden unter seinen Füßen wieder fester wurde, lief er Schlangenlinien. Es waren weder sehr betrunkene noch gedankenverlorene Schlangenlinien. Sie erinnerten Helen an die Laborratten in Princeton, die im Experiment auf eine Belohnung zusteuerten, von der sie aus langer Erfahrung wussten, dass sie mit Stromschlägen abgesichert war. Der Mann taumelte hinter den VW-Bus, umkreiste unentschlossen den Honda und kam plötzlich zielstrebig auf Helen zu. «Hilfe, Hilfe», sagte er in heiserem Englisch und stützte sich auf der Motorhaube ab. Er trug einen mit Sand und schwarzer, klebriger Flüssigkeit verschmierten Anzug. In der Ersten Welt wäre er als harmloser Landstreicher durchgegangen, mitten in der Sahara wirkte er ein wenig bedrohlicher.

Helen holte eine kleine Münze aus der Tasche und hielt sie ihm hin. Er sah die Münze nicht. Von seinem Ärmel war ein wenig Dreck auf der Kühlerhaube des Honda kleben geblieben, und er beugte sich vor, um das Auto mit dem Zipfel seines Jacketts sauber zu wischen.

«Lassen Sie das. Nehmen Sie das.»

«Was?»

«Lassen Sie das, bitte.»

Er nickte, richtete sich auf und wiederholte: «Hilfe, Hilfe.»

«Was wollen Sie?»

«Nehmen Sie mich mit.»

«Wohin?»

«Irgendwohin.»

«Tut mir leid.»

Der Mann lehnte die noch einmal hingehaltene Münze mit schmerzverzerrtem Gesicht ab, und als er dabei ein wenig den Kopf drehte, sah Helen die große, mit Blut und Sand verkrustete Wunde an seinem Hinterkopf. Seine Augen suchten den Horizont ab. Das deutsche Pärchen im VW-Bus, das die Szene die ganze Zeit beobachtet hatte, war unruhig geworden. Der Fahrer schüttelte den Kopf und machte durchs Seitenfenster hindurch abwehrende Handbewegungen mit beiden Händen. Die Beifahrerin las mit zerfurchter Stirn die Gebrauchsanleitung auf einer CS-Gas-Dose.

Der Tankwart erschien wieder, drückte Helen wortlos das Wechselgeld in die Hand und machte sich dann am Tankdeckel des VW-Busses zu schaffen.

«Was ist los?», fragte Helen den Verletzten.

«Ich weiß es nicht.»

«Sie wissen nicht, was los ist?»

«Ich muss weg hier. Bitte.»

«Glauben Sie an Schicksal oder so was?»

«Nein.»

«Das ist ja schon mal was.» Sie sah den Mann eine Weile nachdenklich an. Dann öffnete sie ihm die Beifahrertür.

Jetzt hielt das Pärchen im VW-Bus es nicht länger aus. Der Junge kurbelte das Fenster runter. «Achtung, Achtung!», rief er in schlechtem Englisch. «Nicht Europa hier! Kein Trampen.»

«Gefahr, Gefahr!», assistierte seine Freundin.

«Gefahr, Gefahr», sagte Helen. «Geht euch einen Scheiß an.» Und zum Mann: «Na los.»

Sie stieg in den Honda. Er wischte sich einmal symbolisch mit den Händen über die sandverkrusteten Hosenbeine, sprang dann schnell auf den Beifahrersitz, schlug die Tür hinter sich zu und starrte durch die Windschutzscheibe wie ein Häschen, bis Helen den Motor anließ.

«Sie müssen keine Angst haben», sagte er, nachdem sie ein paar Minuten auf der Piste fuhren.

Helen zog an ihrer Zigarette und warf ihm erneut einen langen Blick zu. Ihr Beifahrer war einen halben Kopf kleiner als sie und saß mit zitternden Ärmchen neben ihr. Sie hielt ihren eigenen, muskulösen Arm neben seinen und machte eine Faust.

«Ich sag ja nur», sagte der Mann.

«Ich fahr nach Targat. Da bring ich Sie ins Krankenhaus.»

«Ich will nicht ins Krankenhaus.»

«Dann zum Arzt.»

«Nicht zum Arzt!»

«Wieso nicht?»

Es kam lange keine Antwort. Schließlich sagte er unsicher: «Ich weiß nicht», und Helen ging vom Gas und ließ den Wagen ausrollen.

«Nein!», rief der Mann sofort. «Bitte! Bitte!»

«Du weißt nicht, wo du hinwillst. Du weißt nicht, warum du wo hinwillst. Du musst zum Arzt und willst nicht — und weißt nicht, warum. Na komm. Was weißt du denn?»

Dafür, dass er nicht viel wusste, dauerte seine Erzählung ganz schön lang. Immer wieder musste Helen nachfragen. Der Mann sprach stockend und mühsam. Manche Worte wollten nicht heraus, sein Oberkörper zuckte. Aber er ergänzte und korrigierte bereitwillig seine Angaben, ärgerte sich über Ungenauigkeiten, die ihm unterliefen, tippte sich aufgeregt an die Stirn und sprudelte am Ende immer mehr und mehr Details hervor. Dachboden, Geldkoffer, Poseidon. Nichts von dem, was er erzählte, ergab einen Sinn, und nicht zuletzt dieser Umstand überzeugte Helen schließlich davon, dass ihr sonderbarer Beifahrer die Wahrheit sagte. Oder es wenigstens versuchte.

Nur ein einziges Detail ließ er aus. Bei aller Gelassenheit und Souveränität, die die amerikanische Touristin hinterm Steuerrad ausstrahlte, war ein mit dem Flaschenzug erschlagener Mann vielleicht eine Spur zu viel für einen nachmittäglichen Ausflug durch die Wüste. Ausführlich und möglichst wörtlich dagegen versuchte er, das Gespräch der vier Männer wiederzugeben, das er belauscht hatte, ihre unverständlichen Reden, ihren unverständlichen Zorn, den unverständlichen letzten Satz.

«Wenn er Pauline informiert, wenn er die Bienen exportiert, wenn die Maschine funktioniert … ich weiß es nicht.»

«Wenn er die Mine jetzt zerstört», sagte Helen und schnipste die Kippe aus dem Fenster.

Vor ihnen tauchten die beiden Kamele auf, die sich über der Straße in der Luft küssten. Geruch von Holzfeuern und Schiffsdiesel wehte von Targat herüber. Im Westen war der Himmel rot und schwarz.

23. MERCUROCHROM

Wenn ein Dieb ergriffen wird beim Einbruch und wird dabei geschlagen, dass er stirbt, so liegt keine Blutschuld vor. War aber schon die Sonne aufgegangen, so liegt Blutschuld vor.

2. Mose 22, 1–2

Das von einer Jalousie in Streifen geschnittene Licht des Mondes lag auf einem Doppelbett, parallele Schlangen aus Licht. Ein zweites Fenster stand offen, Meeresrauschen und der Geruch von Salz und Jod. Das Geräusch gleichmäßiger Atemzüge. Er wälzte sich herum und sah ein paar Handbreit von sich entfernt ein Büschel blonder Haare.

Vier Tabletten hatte er geschluckt, das wusste er, die restlichen Tabletten lagen neben ihm auf dem Nachttisch vor einem Glas Wasser. Das wusste er auch. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Es war finster. In komplizierten Labyrinthen kämpfte er darum, einen Blick durch ein Fernglas werfen zu dürfen. Er sah in die Mündung einer kleinkalibrigen Waffe, und ein Mann mit Dreizack stürmte auf ihn zu. Er blickte in sein eigenes Gesicht und hörte einen Dieselmotor. 581d. Aufmerksam verfolgte er, wie die spiegelbildliche Frau ihm einen Verband anlegte. Ein Fläschchen Mercurochrom in ihrer Hand. Wie sie ihn unter der Dusche festhielt. Wie er nicht stehen konnte.

Mit beiden Händen umklammerte er das Waschbecken, während sie die Wunde desinfizierte. Er hörte sich schreien vor Schmerz, ein roter Tropfen auf weißem Porzellan. Wie sie ihn beruhigte. Wie sie ihn an den Schultern vor sich herschob und mit der Handkante eine Linie auf dem Bettlaken zog: Deine Hälfte. Meine Hälfte. Hier stell ich noch Tabletten hin. Hast du das gesehen? Nimm die Hände runter. Atme.

Die parallelen Schlangen aus Licht wanderten vom Bett hinab auf den Fußboden und glitten über die Wand. Immer wieder im Verlauf der Nacht öffnete er die Augen und sah die Schlangen mal einen halben Meter weitergewandert, mal an derselben Stelle wie zuvor, ohne dass sein Zeitgefühl sich in derselben Weise fortbewegte. Schließlich stand er auf und schlich im Dunkeln zur Toilette. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass beide Hälften des Doppelbetts leer waren, aber das beunruhigte ihn nicht sonderlich. Das Badezimmer lag voller Sand. Hinter dem größten Sandhaufen war ein tiefes Loch in die Erde gegraben, das von einem Tier mit zwei Köpfen bewacht wurde. Ein Kopf vorne, einer hinten. Einer tot, einer lebendig. Mit einem Strohhalm saugte der lebende Kopf Flüssigkeit aus dem Loch, ein entsetzlich blubberndes Geräusch. Telegraphenmasten setzten sich in Bewegung, senkrechte gelbe und blaue Gitterstäbe flogen vorüber. Immer wieder versuchte er, dem Käfig der Stäbe zu entkommen, immer wieder schlossen sie ihn ein, bevor langsam und beruhigend das Gefühl einer gelb und blau gestreiften Tapete hinzuströmte. Das war kein Albtraum. Oder nur der Albtraum der Realität. Ein Touristenbungalow am frühen Morgen.

Er hatte Angst, sich im Bett herumzudrehen, Angst vor Unerwartetem, und als er sich herumdrehte, sah er eine Küche. Vor der Küchenspüle eine nackte Frau. Sie kochte Kaffee. Das Blubbern ging in ein Zischen über.

Mit einem Gesicht, als starre er in die Sonne, sagte er: «Wir kennen uns von gestern.»

«Richtig», antwortete die nackte Frau. Sie hatte präzise lackierte Fingernägel. Mit Daumen und Zeigefinger schlenkerte sie einen Kaffeefilter ins Spülbecken.

«Du heißt Helen», sagte er unsicher.

«Ja. Und wenn du nicht mehr weißt, wer du bist, mach dir keine Sorgen. Wusstest du gestern auch schon nicht. Milch oder Zucker?»

Aber er wollte weder Milch noch Zucker. Er wollte nicht frühstücken. Sobald er nur daran dachte, wurde ihm übel, und er schloss die Augen. Als er das nächste Mal erwachte, lag das Zimmer im Halbdunkel. Ein Schatten saß auf seiner Bettkante und tupfte ihm mit einem nassen Waschlappen das Gesicht ab. Aus einer Porzellanschüssel dampfte es, auf der Straße verloren sich Stimmen, die Frau schnipste eine Pille in seinen Mund. Sie trug jetzt ein weißes Kleid mit durchbrochenen Ärmeln.

Einmal sah er sie mit einer Badetasche über der Schulter und im Bikini den Bungalow verlassen. Einmal hörte er sie mit der CIA telefonieren. Einmal hatte sie zwei Köpfe. Mit zwei klobigen Styroportabletts kam sie vom Hotel zurück. Beide Tabletts waren mit Alufolie umwickelt, und als sie die Folie abmachte, dampfte das Essen, als komme es gerade aus dem Ofen. Er konnte nichts essen.

«Was hab ich dir erzählt?», fragte er.

«Weißt du das nicht mehr, oder bist du dir nur nicht sicher?»

«Nicht sicher.»

«Du bist auf einem Dachboden in einem Haus in der Wüste aufgewacht. Du hast eine Platzwunde am Kopf, wahrscheinlich hat dir jemand den Schädel eingeschlagen. Du willst weder zur Polizei noch ins Krankenhaus. Ich bin Helen. Ich hab dich mitgenommen. Das hier ist mein Bungalow.»

Er sah die Frau an und stöhnte. Ein Gesicht wie aus amerikanischen Modezeitschriften. Es fiel ihm schwer, ihren Blick auszuhalten. Er zog sich die Bettdecke über den Kopf.

«Warum will ich nicht zur Polizei?», fragte er mit gedämpfter Stimme.

«Du hältst dich für einen Kapitalverbrecher.»

Er hatte es also erzählt.

«Angeblich hast du jemanden mit einem Flaschenzug erschlagen. Was ich bezweifle.»

Er fragte nicht, warum sie das bezweifelte. Er blieb unter der Decke, und die Bilder kamen zurück. Das Tier mit dem blubbernden Strohhalm. Er hörte die Frau telefonieren und von Kosmetikartikeln sprechen. Sie ging einkaufen, brachte ihm Getränke, saß auf dem Bettrand und war wieder verschwunden, eine freundliche Halluzination. Dann lag er in der Dunkelheit und hörte kein Geräusch. Kein Meeresrauschen. Keine Atemzüge. Die Panik kam und ging in Schüben. Er schlief.

24. SCHWALBEN

Parsons: The art of fighting without fighting? Show me some of it.

Lee: Later.

Enter the Dragon

Als er die Augen aufschlug, dämmerte es. Neben ihm eine zerwühlte Bettdecke, er war allein. Ein Nachttisch voller Gläschen und Fläschchen. Zwei Bilder an der Wand. Sein Körper fühlte sich noch immer schwach an. Er spürte Schweiß auf dem Rücken und auf der Stirn, aber es war eine eher abflutende Wärme, das beruhigend schlappe Gefühl der Rekonvaleszenz. Nur ein leichter Schmerz am Hinterkopf noch. Er versuchte aufzustehen und tappte ein paar Schritte vom Bett weg. Hinter der Küche war noch ein Raum.

«Helen?»

Teller und Besteck lagen auf dem Tisch, die Terrassentür stand offen.

Er trat zögerlich in die Morgenluft hinaus, stützte sich auf die steinerne Brüstung und sah über Himmel und Meer. Kupferfarbene Pinien standen den weiten Hang hinunter. Das Meer lag in leichtem Nebel, und die Dünung schob lange parallele Linien auf den Strand. Rechts führten Steinstufen von der Terrasse auf eine zweite, tiefer gelegene Terrasse, von der aus sich ein ockerbrauner Pfad zum Wasser hinunterschlängelte. Auf dieser zweiten Terrasse stand Helen. Den Blick aufs Meer gerichtet, breitbeinig, die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, das platinblonde Haar zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Mehrere Sekunden lang verharrte sie still, dann schoben ihre Arme mit langsamen Bewegungen die Luft beiseite. Langsam schwenkte ein Arm nach vorn, langsam beugten sich die Knie, und der Oberkörper machte eine langsame Drehung nach links. Die Hände kreisten, als würden sie durch schweren Honig gezogen. Ein schwebender Schritt zur Seite, die sich seitwärts verschiebende Körperachse, ein Kung-Fu-Film in extremer Zeitlupe.

Er schaute zur Sicherheit zum Himmel, an dem zwei Schwalben in normaler Geschwindigkeit dahinflogen. Es war nicht sein Hirn. Sie bewegte sich wirklich langsam. Etwas entspannter lehnte er sich auf die Brüstung und betrachtete nicht ohne Rührung die unsportliche Gymnastik.

Helen trug weiße Turnschuhe und eine hellblaue Trainingshose. Der Gummizug der Hose schnitt tief in ihr Fleisch und ließ an der Taille einen kleinen Wulst nackter Haut hervortreten. Ein ärmelloses T-Shirt mit einem Rückgrat aus Schweiß klebte auf ihrem Oberkörper. Er spürte ein sonderbares Gefühl für diese Frau in sich aufsteigen, ein, wie er sich sagte, möglicherweise unangebrachtes und irregeleitetes Gefühl. Sie war es gewesen, die ihn gerettet hatte, sie hatte ihm ein Dach über dem Kopf gegeben und ihn gepflegt, sie war sein Rettungsanker in einer hoffnungslos versunkenen Welt. Es war nicht Dankbarkeit. Es war etwas anderes. Es schnürte ihm die Kehle zu.

Als sie eine Weile stillstand, ging er lautlos die Treppe hinunter und umarmte sie von hinten. Die Wärme, die Feuchtigkeit. Er legte seinen Kopf in ihre verschwitzte Nackenbeuge, spürte ihren Puls an seiner Wange und sah zum Horizont.

Sie erstarrte.

«Tut mir leid», sagte er.

«Schon gut», sagte Helen, befreite sich aus seiner Umarmung und stieg die Treppen hinauf.

25. SCHWIMMEN

Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche.

Hiob 2,8

Obgleich er sich noch schwach auf den Beinen fühlte, schloss er sich ihr an, als sie zum Strand ging. Sie hatten gefrühstückt, aber er hatte nicht mehr als einen halben Apfel gegessen.

Die nicht sehr hoch stehende Sonne färbte den Weg zwischen den Bäumen zum Meer hinunter orange. In einer kleineren Gruppe von Europäern saßen barbusige Frauen, und es mochte dem Einfluss der Gruppe, der Autorität der Hotelanlage oder geheimen Sicherheitsdiensten zu verdanken sein, dass höchstens zwei oder drei verirrte Dschellabahs in den Baumkronen hingen. Helen breitete zwei Decken in den Sand. Er fiel auf den Rücken wie ein Käfer, blieb liegen und wehrte die angebotene Sonnenmilch stumm ab. Die Müdigkeit kehrte sofort zurück.

«Und es ist auch nichts wiedergekommen?»

«Nein.»

«Du kannst dich aber erinnern, was für ein Meer das da ist?»

«Ja.»

«Und auch, wie der Ort hier heißt und in welchem Land wir uns befinden?»

«Ja.»

«Dein Englisch ist ganz ordentlich. Französisch kann ich nicht beurteilen. Kannst du Arabisch?»

«Ja.»

«In welcher Sprache denkst du?»

«Französisch.»

«Kannst du schwimmen?»

Während Helen mit schwebenden Schritten über den Strand und ins Wasser ging, schob er die Handtücher unter seinem Kopf zusammen, um ihr im Liegen nachschauen zu können. Die Sonne stand fast genau über ihr. Gleißendes Licht löste ihre Konturen im Gegenlicht auf, ihre Taille schrumpfte auf nichts zusammen.

Er wusste, dass er schwimmen konnte. Aber er wusste nicht, woher er es konnte. Er wusste nicht einmal, woher er es wusste. Er konnte kraulen und brustschwimmen. Die Worte und Bewegungen standen ihm im Geiste sofort zur Verfügung.

Einmal drehte Helen sich um und strich mit einer reizend affektierten Geste die Haare hinter ihre Ohren. Eine kleine Welle spritzte an ihr hoch, sie lächelte ein wenig undurchschaubar, und er fragte sich, ob ein menschliches Gehirn ein Bild, so bezaubernd wie dieses, jemals vergessen könnte; ob er es schon vergessen hatte.

Während er noch zurücklächelte, spürte er tief aus seinem Innern einen Gedanken sich emporarbeiten, einen Gedanken, der, wie er jetzt deutlich fühlte, schon länger im Dunkel hin und her bewegt worden war: Was, wenn er sie tatsächlich von früher kannte? Wenn sie ihn kannte? Wenn sie ihm nur Theater vorspielte? Er sprang auf, lief den Strand hinunter, lief zurück und stolperte über zwei Badegäste. Helen bemerkte ihn erst, als er bis zu den Oberschenkeln im Wasser stand und schrie. Er kannte niemanden. Niemand kannte ihn. Er kannte sich selbst nicht. Er war verloren.

«Langsam atmen. Langsam. Dir fehlt nichts. Das geht gleich wieder.» Helen schob ihn an den Schultern auf den Strand, drückte ihn auf die Decken nieder und hielt eine Weile seinen Arm fest.

«Ruhig.»

«Ich muss was machen.»

«Was willst du machen? Nicht die Luft anhalten.»

«Ich kann hier nicht sitzen.»

«Dann geh zum Arzt.»

«Kann ich nicht.»

«Nehmen wir mal an, du bist kein Schwerverbrecher.»

«Irgendeine Scheiße hab ich am Hacken.»

«Aber du bist kein Mörder.»

«Woher willst du das wissen?»

«Der Flaschenzug hat sich aus Versehen gelöst. Hast du selbst gesagt.»

«Und das andere?»

«Welches andere?»

«Dass ich mit diesen Leuten zu tun hab. Wahrscheinlich bin ich einer von denen.»

«Du bist paranoid. Und ein Schwerverbrecher bist du nicht.»

«Woher willst du das wissen?»

«Ich hab dich drei Tage und drei Nächte erlebt. Besonders die Nächte. Du bist kein Verbrecher. Wenn du es genau wissen willst: Du bist ein Häschen. Du kannst keiner Fliege was tun. Das ist jetzt so, und das war schätzungsweise auch vorher so. Die Grundzüge der Persönlichkeit ändern sich durch eine Amnesie nicht.»

«Woher weißt du das?»

«Weiß ich halt.»

Er sah sie lange zweifelnd an, und schließlich stand sie auf, packte die Handtücher zusammen und nickte ihm zu. Es war auch nicht Liebe. Es war irgendwas Schlimmeres.

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