12. Kapitel

Ewing erwachte. Sein Körper war steif und schmerzte an hundert Stellen, sein Kopf dröhnte. Er drehte sich im Bett um und preßte eine Hand gegen die Stirn.

Was ist geschehen?

Die Erinnerung kehrte zurück. Stöhnend kroch er aus dem Bett und starrte sich im Spiegel an. Er sah erschreckend hager aus. Dunkle Ringe umgaben seine Augen. Er machte einen schlechteren Eindruck als in dem Moment, in dem er Tage zuvor auf dem Schiff erwacht war.

Ein Umschlag lag auf dem Stuhl neben seinem Bett. Er runzelte die Stirn, hob ihn auf, befühlte ihn. Er war verschlossen und an ihn adressiert. Er öffnete ihn. Fünf Zweikredit-Scheine flatterten heraus, und mit ihnen ein Briefbogen. Er legte die Banknoten sorgfältig auf das Bett, faltete den Bogen auseinander und begann zu lesen.

„Zweittagnachmittag. An mein Selbst einer früheren Zeit — den Mann, den ich Ewing-zwei nenne, von Ewing-eins …“

Er kam beim Lesen wieder völlig zu sich. Seine erste Reaktion bildeten Ärger und Unglaube; dann begann er an seinen Fingernägeln zu knabbern, als er bestimmte Formulierungen erwog. Er besaß einen einigermaßen kenntlichen Diktatstil. Und dies war entweder eine hervorragende Kopie oder das Original.

In welchem Fall —

Er schaltete den Kommunikator ein und fragte: „Welches Datum haben wir heute, bitte?“

„Vierttag, den dreizehnten Fünftmonat.“

„Danke. Wie kann ich Zugang zu den Telestatberichten vom Zweittag, dem elften, erlangen?“

„Wir könnten Sie mit dem Archiv verbinden“, schlug der Robot vor.

„Tue das“, stimmte Ewing zu.

Er vernahm das Klicken umgeschalteter Relais, dann sagte eine neue robotische Stimme: „Archiv. Wie können wir Ihnen dienen?“

„Ich bin an dem Wortlaut einer Nachricht interessiert, die ein Ereignis behandelt, das am Zweittagnachmittag stattfand. Kurzschluß in einem Energitronmechanismus der Vorhalle des Grand Valloin Hotels.“

Fast augenblicklich antwortete der Robot: „Wir haben die Nachricht. Sollen wir sie vorlesen?“

„Ja.“

„Zweittag, 11. Fünftmonat 3806. Die Explosion einer Energitronzelle in der Halle des Grand Valloin Hotels forderte ein Menschenleben, verursachte einen auf zweihunderttausend Kredite geschätzten Sachschaden, verletzte drei Gäste und unterbrach den normalen Hotelbetrieb für nahezu zwei Stunden. Als Ursache wird ein erfolgreicher Selbstmordversuch angenommen. Kein Leichnam konnte geborgen werden, aber Zeugen erinnerten sich, daß ein schlanker Mann in Straßenkleidung wenige Augenblicke vor der Detonation die Zelle betreten hatte. Von den Gästen des Hotels wird keiner vermißt. Die Nachforschungen der Polizei haben eingesetzt.“

Der Robot hielt inne und schloß: „Das ist alles. Wünschen Sie eine Kopie? Sollen wir nach weiteren Informationen über den Gegenstand suchen?.“

„Nein“, erwiderte Ewing. „Nein, nein, danke.“ Er unterbrach die Verbindung und ließ sich schwer auf die Bettkante fallen.

Es konnte natürlich immer noch eine Täuschung sein. Aber zuviele unerklärliche Umstände und unmotivierte Handlungen waren darin eingeschlossen. Anzunehmen, daß ein früherer Ewing sich in der Zeit verdoppelt hatte, um ihn zu retten und die Nachricht zu hinterlassen, stellte die bei weitem einfachere Hypothese dar.

Ein annähernd endgültiger Beweis ließ noch auf sich warten. Ewing fand eine kleine blaue Frosterpistole auf seinem Nachttisch und studierte sie nachdenklich.

Der Mitteilung zufolge würde Myreck nach seinem Erwachen anrufen.


* * *

Eine Stunde später saß er in einem Salon der Akademie für Abstrakte Wissenschaften in einem Laxosessel und fühlte, wie die Schmerzen ihn unter Myrecks geübten Fingern verließen. Musik hüllte ihn ein, faszinierende alte Musik — Beethoven, hatte Myreck gesagt. Er schlürfte sein Getränk. Ihm schienen die zurückliegenden Ereignisse fast unglaublich: der Anruf Myrecks, die Fahrt durch Valloin, das Gebäude, das gegenüber dem Rest der Stadt um drei Mikrosekunden phasenverschoben war, und vor allem die Tatsache, daß die Mitteilung in seinem Zimmer unzweifelhaft der Wahrheit entsprach.

Er erkannte, daß seine Verantwortung, bereits vorher kolossal, noch gewachsen war. Ein Mann hatte sein Leben für ihn geopfert, und obschon in Wirklichkeit kein Leben aufgehört hatte, kam es Ewing vor, als wäre ein Teil seiner selbst gestorben, den er nie gekannt hatte.

Die Unterhaltung bewegte sich flüssig dahin. Die Erdenmenschen, kleine neugierige Männer, fragten ihn über die Klodnidrohung aus, und ob das Volk Corwins imstande sein würde, den Angriff abzuschlagen, wenn er kam. Ewing sagte ihnen die Wahrheit: daß sie es versuchen würden, aber nicht viel Hoffnung auf Erfolg bestünde.

Und dann ging Myreck auf ein neues Thema über: die Möglichkeit einer Auswanderung der Akademiemitglieder nach Corwin, wo sie zumindest sicherer sein würden als auf einer Erde, die von Sirius IV beherrscht wurde.

Ewing schien der Vorschlag zweifelhaft. Er setzte den sichtlich enttäuschten Irdischen auseinander, welche Schwierigkeiten ihrer Beförderung im Wege standen und wie wenige Schiffe Corwin besaß. Er sah den schmerzlichen Ausdruck in ihren Zügen; er konnte ihnen nicht helfen, dachte er. Die Erde hatte ihre Gegner und Corwin seine eigenen. Corwin drohte Zerstörung, der Erde bloße Besetzung. Corwin benötigte die Hilfe dringender.

Bedrückend überfiel ihn der Gedanke an sein eigenes Versagen. Er hatte nichts auf der Erde erreicht, keine mögliche Lösung für Corwins Problem gefunden. Welcher kühne Plan auch immer dem toten Ewing vorgeschwebt hatte, er vermochte sich nichts Ähnliches vorzustellen. Dieser Ewing hatte offensichtlich einen Weg gesehen, auf dem der Planet gegen die andringenden Klodni verteidigt werden konnte. Aber er hatte nichts darüber in seiner Botschaft gesagt.

Die Musikplatte endete. Myrek erhob sich, nahm sie von dem Spieler und schob sie an ihren Platz zurück. Er bemerkte: „Wir besitzen eine hervorragende Sammlung anderer alter Meister. Mozart, Bach, Vurris —“

Myreck legte Bach auf — eine Komposition, die den Titel Goldberg-Variationen trug und für ein klimperndes, nicht unangenehm klingendes Instrument mit Namen Spinett geschrieben war.

Mehrere der Gelehrten hatten sich besonders mit alter und neuer Musik befaßt und bestanden darauf, ihre Theorien vorzutragen. Der Nachmittag verging. Zuletzt, als die Diskussion wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrte, meinte Myreck: „Wir haben auch eingehend an den Theorien über die Temporalstruktur gearbeitet. Unsere Maschinen stehen im unteren Teil des Gebäudes. Falls Sie darin interessiert sind —“

„Nein!“ rief Ewing so plötzlich und rauh, daß es fast wie ein Schrei klang. Er fuhr in einem gemäßigteren Ton fort: „Ich meine — nein, danke, ich werde das ablehnen müssen. Es ist schon spät, und ich würde die Zeitmaschinen zweifellos so faszinierend finden, daß ich meinen Besuch übermäßig ausdehnen würde.“

„Aber Sie sollen so lange wie möglich bei uns bleiben“, protestierte Myreck. „Wenn Sie die Maschinen sehen wollen —“

„Nein“, wiederholte Ewing nachdrücklich. „Ich fürchte, ich muß zurückkehren.“

„Dann werden Sie in Ihr Hotel fahren.“

An diesem Punkt muß die Abweichung einsetzen, dachte Ewing, während die Irdischen ihn an die Tür begleiteten und die notwendigen Handgriffe ausführten, um in Phasengleichheit mit der Welt der Viertnacht zurückzukehren, die sich draußen erstreckte. Mein Vorgänger hat dieses Gebäude niemals verlassen. Stattdessen verdoppelte er sich in die Zeitnacht. Der Kreis ist durchbrochen.

Er bestieg den Wagen, der anzog. Er blickte zurück, auf das leere Grundstück, das nicht leer war.

„Eines Tages müssen Sie sich unsere Maschinen ansehen“, hörte er Myreck sagen.

„Ja — ja, natürlich“, erwiderte Ewing unbestimmt.

Aber morgen werde ich auf dem Rückweg nach Corwin sein, dachte er. Ich werde eure Maschinen wohl niemals sehen.

Er erkannte, daß er durch sein Handeln eine neue Kette von Ereignissen ausgelöst hatte. Er runzelte die Stirn und versuchte, die Schwierigkeiten des Problems zu durchdringen. Aber es spielt keine Rolle, dachte er. Der Schritt hatte unwiderruflich stattgefunden.

Ob zum Guten oder zum Bösen, die Zeitlinie war geändert worden.

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