Ewing verließ das Grand-Valloin-Hotel am folgenden Nachmittag. Es war nur gut, dachte er, daß die Direktion ihm eine freie Wochenmiete gewährt hatte; andernfalls hätte er durch die Entführung niemals seine Rechnung begleichen können. Sie betrug über hundert Kredite, und er besaß nichts als die zehn seines toten Retters.
Er schlenderte durch die kostbar eingerichtete Halle, vorbei an dem Lichtbrunnen, den Laxosesseln, vorbei an den Energitronzellen, an denen Robots mit Reparaturarbeiten beschäftigt waren. Bei Tagesende würde nichts mehr darauf hindeuten, daß hier ein Mann vor drei Tagen gewaltsam den Tod gefunden hatte.
Er kam an mehreren Siriern vorüber, aber er empfand keine Unruhe. Soweit es Rollun Firnik und die anderen betraf, war der Corwinit Baird Ewing am vergangenen Zweittag unter Folter gestorben. Jede Ähnlichkeit mit ihm verkörperte bloßen Zufall. Er ging durch die Gruppe von Siriern und trat hinaus auf die Straße.
Ewing bestieg die Limousine, die das Hotel benutzte, um seine Gäste zum und vom nahen Raumhafen zu befördern, und warf einen letzten Blick auf das Grand Valloin Hotel. Er fühlte sich müde und ein wenig traurig bei dem Gedanken, die Erde zu verlassen; so vieles erinnerte hier an vergangenen Glanz.
Er grübelte einen Augenblick über das Paradoxon der Zeitreise nach. Offensichtlich war die irdische Maschine imstande, Materie zu schaffen, wo zuvor keine existiert hatte. Irgendwoher hatte sie die verschiedenen Ewingkörper gezogen, von denen mindestens zwei, möglicherweise mehr, gleichzeitig existiert hatten.
„Raumhafen“, gab eine Robotstimme bekannt.
Ewing folgte dem Strom in die Abflughalle. Er bemerkte nur wenige Erdenmenschen; lediglich eine Anzahl Sirier und einige wenige der nonhumanoiden Fremden verließen die Erde. Er stellte sich an eine Schlange an, die sich langsam auf einen Robotangestellten zuschob.
Als Ewing an der, Reihe war, wies er seine Papiere vor. Der Robot überflog sie schnell.
„Ihre Papiere sind in Ordnung. Ihr Schiff ist im Hangar 107-B untergebracht worden. Unterzeichnen Sie dies bitte.“
Es war eine Einverständniserklärung, die dem Raumhafenpersonal gestattet, sein Schiff aus dem Trockendock zu holen, es abflugbereit zu machen, seine Habseligkeiten an Bord zu bringen und das Schiff auf das Startfeld zu schaffen. Ewing las das Formular schnell durch, unterschrieb und gab es zurück.
„Bitte begeben Sie sich in den Warteraum Y und bleiben Sie dort, bis Ihr Name aufgerufen wird. Ihr Schiff wird in nicht ganz einer Stunde bereitstehen.“
Ewing befeuchtete seine Lippen. „Heißt das, daß ich über Lautsprecheranlage verständigt werde?“
„Ja.“
Die Vorstellung, daß sein Name so vielen Siriern in den Ohren widerhallen würde, gefiel ihm nicht. Er versetzte: „Ich — würde es vorziehen, nicht bei meinem Namen genannt zu werden. Kann irgendein Kode benutzt werden?“
Der Robot zögerte. „Haben Sie einen besonderen Grund.“
„Ja.“ Ewings Stimme klang bestimmt. „Höre zu: laß mich unter dem Namen — Blade rufen. Mr. Blade. In Ordnung?“
Unschlüssig erklärte der Robot: „Es ist gegen die Vorschriften.“
„Verbieten die Bestimmungen den Gebrauch eines Pseudonyms?“
„Nein, aber —“
„Wenn die Bestimmungen nichts darüber aussagen, wie kann es dann vorschriftswidrig sein? Es bleibt also bei Blade.“
Es war leicht, Robots zu verwirren. Das glatte Metallgesicht hätte sich wahrscheinlich ratlos verzogen, wäre das möglich gewesen. Endlich stimmte der Robot zu; Ewing grinste ihn an und bahnte sich einen Weg zum Warteraum Y.
Der Raum, dessen glitzernde, sternenübersäte Decke dreißig Meter über ihm aufragte, von glühenden Adern organischen Berylliums durchzogen, erinnerte eher an ein majestätisches Gewölbe. Freischwebende Lichtblasen, die in zwanzig Meter Höhe hingen, lieferten den größten Teil der Beleuchtung. Am einen Ende des Raumes war ein hohes Lautsprechergitter errichtet; am anderen zeigte ein quadratischer Schirm von neun Meter Seitenlänge wechselnde kaleidoskopische Lichtmuster für gelangweilte Wartende.
Ewing starrte teilnahmslos auf die wirbelnden Lichtformen. Allmählich sank sein Kopf vornüber; er stützte ihn müde in die Hände.
„Mr. Blade bitte zum Abflugschalter. Mr. Blade bitte zum Abflugschalter. Mr. Blade …“
Schwach erinnerte sich Ewing, daß er es war, der gerufen wurde. Er drückte sich von seinem Sitz hoch.
Er folgte einer Reihe heller violetter Lichter im Zentrum des Warteraums, wandte sich nach links und strebte auf den Abflugschalter M.
„Ich bin Blade“, sagte er. Er zeigte seinen Ausweis vor. Der Robot prüfte ihn.
„Ihren Papieren nach lautet Ihr Name Baird Ewing“, verkündete der Robot nach einiger Zeit.
Ewing seufzte erschöpft. „Überprüfe deine Gedächtnisbänke. Sicher, mein Name ist Ewing — aber ich hatte abgemacht, daß ich unter Blade aufgerufen würde. Erinnerst du dich?“
Die optischen Linsen des Robots drehten sich aufgeregt, während der mechanische Verstand seine Gedächtnisbänke durchging. Nach einer scheinbar endlosen Wartezeit erklärte der Robot: „Ihre Angabe ist korrekt. Sie sind Baird Ewing, Pseudonym Blade. Ihr Schiff wartet in Startareal 11.“
Erleichtert nahm Ewing die ovale Ausweismarke entgegen und suchte die Startbahn auf. Hier übergab er die Marke einem wartenden Robot, der ihn über das breite Feld zu seinem Schiff brachte.
Das Schiff roch leicht muffig nach einer Woche der Lagerung. Ewing sah sich um. Alles schien in Ordnung zu sein. Er konnte starten.
Aber zuerst eine Nachricht.
Er betätigte die Kontakte an dem subätherischen Generator. Sein erster Funkspruch war noch nicht in Corwin angelangt; eine weitere Woche würde vergehen, bevor er die Empfänger auf seiner Heimatwelt erreichte. Die Ankündigung des Endes meiner Reise würde der Ankunftsmeldung nur wenige Tage nachfolgen, dachte er unglücklich.
Ein Lämpchen leuchtete auf. Er blickte in das Aufnahmegitter. „Hier spricht Baird Ewing. Dies ist mein zweiter und letzter Bericht. Ich kehre nach Corwin zurück. Die Mission war ein völliger Fehlschlag — ich wiederhole, völliger Fehlschlag. Die Erde ist nicht in der Lage, uns zu helfen. Ihr droht Beherrschung durch Einwohner terrestrischer Abstammung von Sirius IV, und kulturell steht sie tiefer als wir. Es tut mir leid, diese schlechte Nachricht übermitteln zu müssen. Keine weiteren Meldungen folgen. Ende.“
Er starrte nachdenklich einen Moment lang auf die erlöschenden Lichter des Generators, dann schüttelte er den Kopf und erhob sich. Er aktivierte den Innersystem-Kommunikator, verlangte und erhielt den Zentralturm des Raumhafens.
„Hier spricht Baird Ewing, im Einmannschiff auf Startareal 11. Ich beabsichtige, in fünfzehn Minuten unter automatischer Kontrolle zu starten. Kann ich eine Zeitangabe haben?“
Die robotische Stimme antwortete: „Es ist jetzt 16.58 und 13 Sekunden.“
„Gut. Habe ich Starterlaubnis für 17.13 und 13?“
„Starterlaubnis gewährt“, sagte der Robot.
Ewing flüsterte die Daten in den Autopiloten und legte den Hauptschalter um. In vierzehn Minuten würde das Schiff sich von der Erde erheben, ob er zu diesem Zeitpunkt in dem schützenden Tank lag oder nicht.
Er streifte seine Kleider ab, verstaute sie und drehte den Hahn auf, der die Nährlösung einließ. Der Autopilot tickte. Elf Minuten bis zum Start.
Er kletterte in den Tank. Der Kommunikator schrillte, als er gerade im Begriff stand, die Fußhebel zu treten. Er blickte irritiert hoch.
„Baird Ewing, bitte melden Sie sich — Baird Ewing, bitte melden —“
Es war die Zentralkontrolle. Ewing sah auf die Uhr. Acht Minuten. Wenn er zur Startzeit immer noch im Schiff umherlief, würde nichts anderes als eine Pfütze von ihm übrigbleiben.
Mürrisch stieg er aus dem Tank und bestätigte den Ruf. „Ewing. Was ist los?“
„Ein dringendes Gespräch aus dem Zentralgebäude, Mr. Ewing. Der Anrufer sagt, er müßte Sie erreichen, bevor Sie starten.“
Ewing überlegte. Verfolgte Firnik ihn? Oder Byra Clork? Nein. Sie hatten „ihn“ am Zweittag sterben sehen. Myreck? Vielleicht. Wer sonst konnte es sein? Er entgegnete: „Gut. Geben Sie das Gespräch durch.“
Eine neue Stimme fragte „Spreche ich mit Ewing?“
„Ja. Wer sind Sie?“
„Das spielt im Augenblick keine Rolle. Können Sie umgehend ins Zentralgebäude kommen?“
Die Stimme klang vertraut. Ewing zog ärgerlich die Brauen zusammen. „Nein, das kann ich nicht! Mein Autopilot ist eingeschaltet, und ich starte in sieben Minuten. Wenn Sie mir nicht sagen können, wer Sie sind, fürchte ich, daß ich mich nicht damit abgeben kann, meine Flugpläne zu ändern.“
Ewing hörte einen Seufzer. „Ich könnte Ihnen sagen, wer ich bin. Sie würden mir nicht glauben, das ist alles. Aber Sie dürfen nicht abfliegen. Kommen Sie ins Zentralgebäude.“
„Nein.“
„Ich warne Sie“, sagte die Stimme. „Ich kann Schritte unternehmen, um Sie am Start zu hindern — aber das würde sich für uns beide schädigend auswirken. Können Sie mir nicht vertrauen?“
„Ich verlasse das Schiff nicht auf anonyme Warnungen hin“, entgegnete Ewing scharf. „Sagen Sie mir, wer Sie sind. Andernfalls unterbreche ich die Verbindung und trete in den Kälteschlaf ein.“
Noch sechs Minuten.
„Gut“, kam die zögernde Antwort. „Ich werde es Ihnen sagen. Mein Name lautet Baird Ewing. Ich bin Sie. Werden Sie jetzt das Schiff verlassen?“