»Erstaunlich, was ein Bad und saubere Kleider aus einem Mann machen können«, stellte Kitiara am nächsten Tag fest, während sie und der Halbelf über den Markt von Haven schlenderten, der vor Menschen nur so wimmelte. »Halbelf, du hast wenig Ähnlichkeit mit dem schleimigen Ding, das ich aus dem Treibsand gezogen habe. Paladin hat dich kaum erkannt – nachdem wir ihn endlich wiedergefunden hatten.«
Tanis lächelte. »Die Pferde futtern Hafer im Mietstall und könnten einen Tag Pause vertragen. Wir können den Schatz des Irrlichts ausgeben und in Ruhe den sonnigen Tag genießen.« Er legte den Kopf schief. »Darf ich Euch zum Frühstück einladen, Kitiara Uth Matar.«
Kitiara willigte mit vornehmem Nicken ein. Sie hatten bereits in ihrem Zimmer in den »Sieben Zentauren« gegessen, doch jetzt, gegen Mittag, meldeten sich ihre Mägen schon wieder. »Das muß daran liegen, daß wir uns wochenlang von diesen furchtbaren elfischen eisernen Rationen ernährt haben«, meinte sie dazu und blieb stehen, um die Auslage eines Marktstands zu bewundern – auf Blechen brutzelte duftendes Wildbret mit Zwiebeln und Eiern. »Ich würde alles essen, außer noch mehr Quith-Pa von den Elfen. Trockenfrüchte, puh!« Sie wollte schon einen Teller von dem gebratenen Fleisch bestellen, als ihr Blick auf ein Tablett mit Cremeschnitten fiel, die mit Erdbeerzuckerguß überzogen waren. Wie hypnotisiert hielt sie inne. »Immer diese Entscheidungen«, murmelte sie glücklich.
»Wir nehmen einen Teller Fleisch und zwei von diesen Zuckerkuchen«, sagte Tanis dem Verkäufer, während Kitiara noch schwankte. »Damit du dem Mann nicht alles vollsabberst«, meinte er zu der Kämpferin, die seinen Spott gutgelaunt hinnahm.
Eine Zeitlang aßen sie schweigend, während der Halbelf und die Söldnerin durch die bevölkerten Gassen schlenderten. Kitiara in ihrem kurzen, geschlitzten, schwarzen Lederrock mit der weiten Bluse aus eierschalenfarbenem Leinen zog viele bewundernde Blicke von Passanten auf sich, die sie unbekümmert hinnahm. Tanis hingegen trug eine schlotternde, geraffte, dunkelbraune Hose und ein passendes Baumwollhemd dazu. Beides hatte er sich von dem beleibten Wirt in den »Sieben Zentauren« geliehen. Das Hemd bauschte sich auf, wenn der schlanke Halbelf sich bewegte.
Kitiara musterte ihn wieder. »Wir müssen neue Kleider für dich finden, Halbelf, denn deine Ledersachen sind hin. Ich kenne dich nur in der Kleidung der Steppenvölker; die steht dir besser als die Sachen dieser fetten Stadtmenschen.«
Da er größer war als Kitiara, hatte Tanis den besseren Überblick und schob ihr zur Antwort eine Hand unter den Arm, um sie durch die Menge zu ziehen. »Ich weiß auch genau, wo«, sagte er.
Vor einem großen Wagen, der auf der Rückseite offen war, über dem Fahrersitz jedoch ein muschelartiges Verdeck hatte, blieb der Halbelf stehen. Der Wagen war so kopflastig, daß er von vier Maultieren gezogen werden mußte, wie Kitiara feststellte. Auf dem bändergeschmückten Gefährt stand ein Hügelzwerg, dessen rostroter Bart sich bis zu seiner Gürtelschnalle hinunter lockte. Er trug waldgrüne Kleider und abgestoßene, braune Lederstiefel, die er wahrscheinlich schon Jahrzehnte an den Füßen hatte.
Tanis und Kitiara warteten, während der Zwerg noch eine Kundin bediente, eine laute Frau, die sich nicht zwischen einem Haarschmuck aus Perlen und Platin und einem Perlmuttkamm entscheiden konnte. »Wie alt schätzt du diesen Zwerg?« fragte Kitiara beiläufig.
Tanis überlegte. »Flint ist fast hundertfünfzig, und dieser Zwerg da sieht jünger aus als Flint. Ich würde sagen, er dürfte um die hundert sein. Etwa zehn Jahre älter als ich.«
Kitiara brauste auf. »Ich gebe mich mit einem Mann ab, der schon uralt war, als ich zur Welt gekommen bin?«
Als Tanis nickte und murmelte: »Nach Menschenjahren schon, ja«, schnaubte sie.
»Macht dir das was aus?« fragte er.
Kitiara lachte. »Nein«, gab sie zu. »Schließlich wollen wir doch nicht heiraten oder so.«
Die Frau entschied sich für den Kamm und den Haarschmuck, und der Zwerg, dem der Wagen gehörte, kam gemächlich zu Tanis und Kitiara herübergeschlendert. »Was wollt ihr denn?« raunzte er den Halbelfen und die Kämpferin an.
Kitiara schien sich über die Unhöflichkeit des Zwergs zu ärgern, aber Tanis, der Flints unwirsche Art gewöhnt war, lächelte nur. Barschheit war unter Hügelzwergen keine Seltenheit. »Wir suchen Kleidung für mich und einen Dolch für die Dame«, sagte der Halbelf.
Der Zwerg musterte betont Tanis’ schlecht sitzende Sachen. »Wollt also nicht mehr den fahrenden Sänger mimen, was?«
Kitiara wurde wütend, doch Tanis legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. Die sicherste Art, einen Hügelzwerg zu ärgern – zumindest galt das für Flint Feuerschmied –, war, sein Schelten zu ignorieren.
»Handelt Ihr mit dem Volk aus den Ebenen?« fragte der Halbelf.
»Ich handle mit jedem«, sagte der Zwerg mürrisch, »und alle versuchen mich zu übervorteilen. Die Menschen aus den Ebenen, die Gnome, sogar andere Zwerge. Man könnte meinen, ich hätte Geld wie Heu, so versuchen sie mich zu betrügen.«
»Ich brauche eine Lederhose und ein Lederhemd«, warf Tanis ein.
»Mit Fransen, was?« jammerte der Zwerg. »Alle Welt will Fransen. Verdammter Plunder. Wozu in ganz Ansalon sollen Fransen gut sein, frage ich Euch?«
Tanis lächelte freundlich, während Kitiara kochte. Ihre Brauen waren über den funkelnden Augen zusammengezogen. »Fransen wären schön«, sagte Tanis, »müssen aber nicht sein«, der Halbelf machte eine vielsagende Pause, »wenn Ihr nichts mit Fransen habt.«
Der Zwerg plusterte sich auf. »Klar hab’ ich was! Was denkst du eigentlich, was für’n billigen Laden ich hier führ’, Halbelf?«
Kitiara zog ihren Arm von Tanis weg und zeigte auf den Zwerg. Ihre Stimme bebte. »Hör mal, alter Zwerg, sollen wir unser Geld lieber woanders ausgeben?«
Der Zwerg drehte sich langsam um, um Kitiara vom Wagen herunter anzustarren. Seine Augen waren genauso grün wie seine Hosen und sein Hemd. »Heiße Sonnus Eisenmühle, nicht ›alter Zwerg‹, junge Dame. Bist du der Feger, der ’n Dolch braucht?«
Mit einem Blick über Kitiaras Kopf wandte sich der Zwerg an die Menschenmenge als Ganzes, »’n Schwert reicht dem Mädchen nicht; neeee, sie braucht auch noch ’nen Dolch. Wie wär’s dazu mit Streitkolben und Pike?« Er sah auf seine schäumende Kundin herab. »Mit was für Leuten gibst du dich denn ab? Oder«, er beugte sich vor und flüsterte, »wird’s hin und wieder ’n bißchen brenzlig in der Spinnstube?«
Tanis beugte sich zu Kitiara vor. »Das macht ihm einen Heidenspaß«, flüsterte er.
Kitiara blickte von Tanis zu Sonnus Eisenmühle und runzelte die Stirn. »Ich brauche einen Dolch«, sagte sie schließlich. »Meinen alten habe ich im Treibsand verloren.«
Der Zwerg riß die Augen auf. »Huch? Treibsand?« Dann faßte er sich wieder und kehrte zu seiner griesgrämigen Art zurück. »Bestimmt willst du auch einen Haufen Edelsteine und Perlmutt und all so’n Zeug. Völlig überflüssig. Der Zierat kann eine Waffe völlig aus dem Gleichgewicht bringen.«
»Hör mal«, fauchte sie, »hast du jetzt einen Dolch für mich oder nicht?«
»Klar hab’ ich ’n Dolch!« sagte der Zwerg, der zu einer Truhe stapfte, sie öffnete und dem Halbelfen ein gefaltetes Lederpaket zuwarf. »Hab’ auch Scheiden, aber ich seh’ schon, daß unter deinem kurzen Röckchen da eine rausguckt.«
Tanis fing das Lederbündel auf. Es war ein kompletter Anzug in der Machart der Steppenvölker – feinstes, weiches Hirschleder, braun wie polierte Eiche, mit Fransen am Rückenteil. Die Säume waren mit Holzperlen bestickt. »Kann ich ihn in deiner Bude anprobieren?« fragte der Halbelf, der auf die schildkrötenartige Kabine auf dem vorderen Teil des Wagens deutete.
»Klar. Wolltest du deine Sachen etwa hier vor allen… He! Hast du ›Bude‹ gesagt?« erzürnte sich der Zwerg. Als Tanis auf den Wagen sprang, schenkte ihm Sonnus Eisenmühle seinen grimmigsten Blick. Der Halbelf zuckte nur mit den Schultern und ging zu dem Unterstand. Der Zwerg schnappte sich eine Schale mit Dolchen, nahm ein paar Seidenschals herunter, die darauf gefallen waren, und wandte sich wieder Kitiara zu. »›Bude‹, hat er gesagt«, knurrte Eisenmühle vor sich hin. »Damit werden die Ledersachen doppelt so teuer.«
Während Tanis sich in dem dunklen, vollgestopften Raum umzog, hörte er eine neue, flötende Stimme, die sich mit Sonnus Eisenmühles Gegrummel vermischte.
»Hübsche Dolche, Sonnus! Ich hab’ mal ein mit Edelsteinen besetztes Schwert gefunden, ein Glück, denn gerade als ich überlegte, wem ich es wohl zurückbringen sollte, tauchte der Besitzer auf, und der hat sich mächtig aufgeregt, daß er es verloren hatte. Ich wußte, daß er froh war, daß ich es gefunden hatte, auch wenn er zu aufgeregt war, um sich zu freuen, ehrlich. Ich glaube, er hatte sich schon die Haare gerauft. Ich – «
»Raus hier, du verflixter Kender!« brüllte der Zwerg. »Und wenn du auch nur noch eine Sache aus diesem Wagen klaust, dann… dann verkauf ich dich den Minotauren als Ziegenfutter!«
»Klauen?« Die zarte Stimme triefte von verletztem Stolz. »Ich klaue nicht, Sonnus. Ich kann doch nichts dafür, daß alle Welt Sachen verliert, und daß ausgerechnet ich der glückliche Fin-«
»Das reicht!« donnerte der Zwerg. »Raus!«
Tanis hörte einen dumpfen Aufprall, der von einem Kender stammen konnte, der gegen eine Wagenwand prallte. Als der Halbelf Sonnus Eisenmühles Hemd über den Kopf zog, hörte er als nächstes Kitiaras ungerührte Stimme: »Was willst du für diesen Dolch, Zwerg?«
Der Zwerg sagte seinen Preis. Kitiara handelte ihn herunter, und sie einigten sich gerade, als Tanis aus Eisenmühles Unterstand auftauchte. »Ich nehme die Sachen«, sagte er zu dem Zwerg, während er sich noch über den guten Sitz freute, »wenn der Preis stimmt.«
»Hm…« Der Zwerg strich seinen dicken Bart. »Mir scheint, so einen Anzug gibt es kein zweites Mal westlich der Que-Shu, wo ich ihn herhab, und wenig hat er mich auch nicht gekostet… Daß er so selten ist, erhöht doch wohl den Preis.«
»Bis darauf, daß westlich der Que-Shu höchstens der Halbelf ihn nehmen würde«, kommentierte Kitiara, die in dem Lederbeutel herumfingerte, in den sie das Geld aus dem Schatz des Irrlichts gesteckt hatten. »Sei froh, daß du ihn loswirst, Zwerg. Vielleicht sollten wir uns woanders umsehen, Tanis.« Tanis nickte.
Sonnus Eisenmühle runzelte finster die Stirn. »Fünf Stahlmünzen«, meinte er.
»Drei«, sagten Kitiara und Tanis gleichzeitig.
»Vier.«
»Abgemacht!«
Kitiara bezahlte Sonnus Eisenmühle und steckte ihren neuen Dolch, dessen Griff mit Tigeraugen besetzt war, in ihre Scheide. Als sie und Tanis sich wieder unter die Menschen mischten, hörten sie, wie der Zwergenhändler einen Kunden mit den Worten empfing: »Und was wollt Ihr hier?«
Kitiara streifte eine Kenderin. Die Frau ging ihr bis zum Bauch und hatte das für ihre Rasse typische lange, braune Haar zu einem Knoten hochgebunden. »Das ist die, die vorhin versucht hat, den Zwerg auszurauben«, meinte die Kämpferin zu Tanis.
»Ausrauben?« empörte sich die Kenderin. »Ich stehle nicht. Ich habe ein schier unglaubliches Glück, Sachen zu finden. Meint ihr nicht, daß manchen Leuten das Glück einfach angeboren ist? Ich finde, schon. Meinen Schwestern geht es genauso wie mir. Aber ich…« Mit unschuldigen, braunen Rehaugen redete sie weiter, obwohl sich drei Halbwüchsige zwischen Kitiara und die Kenderin gedrängt hatten. Die kindhafte Frau geriet aus dem Blickfeld, und ihre lispelnde Stimme ging in dem Stimmengewirr auf dem Marktplatz verloren.
Tanis und Kitiara schlüpften zwischen den Käufern hindurch. Der Lärm war regelrecht ohrenbetäubend. Ein Teppichhändler stritt sich mit einem Mann, der Lederschuhe verkaufte; jeder beschuldigte den anderen, daß er seine Waren auf dem Platz des anderen ausbreiten würde. Dutzende von Verkäufern versuchten einander zu übertönen, um die Menge lautstark von den Vorzügen ihrer Waren zu überzeugen.
Ein Illusionist unterhielt die Menge. Ein Jongleur balancierte eine Flasche auf dem Kopf und schleuderte gleichzeitig flammende Keulen heraus. Eine verschleierte Seherin bot jedem, der genug Geld hatte – und leichtgläubig genug war –, einen Blick in die Zukunft an. Ein Gnom verkaufte Zimbeln und äolische Harfen, flache Kästen mit Saiten, die nicht mit den Fingern, sondern vom Wind gespielt wurden. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, saßen auf einem grasbewachsenen Hügel, wo sie ihre dreisaitigen, dreieckigen Lauten stimmten.
Es wurden Schals, Parfüm und schöne Kleider angeboten, die Kitiara alle übersah. Doch bei Schwertern, Rüstungen und Sattelzeug blieb sie bewundernd stehen.
»Ich würde meinen Brüdern gern etwas mitbringen«, sagte Kitiara. »Eine Waffe für Caramon – er ist ein Krieger wie ich. Und ein paar Seidenschals für Raistlin, denke ich. Die kann er für bestimmte Zaubersprüche gut gebrauchen.«
»Vielleicht finde ich etwas für Flint«, schloß sich Tanis an. »Am liebsten hätte er natürlich Bier, aber ich weiß nicht recht, ob ich wirklich ein Fäßchen Havenbier von hier nach Solace schleppen will.«
»Ist nicht bald Zeit zum Mittagessen?« fragte Kitiara, deren Aufmerksamkeit sich auf einen Mann richtete, der laut rufend einen Kessel Suppe umrührte, die nach Salbei, Basilikum und Lorbeerblättern duftete.
Tanis folgte ihr gehorsam zu einer freien Bank neben dem Suppenverkäufer. »Du hältst den Platz frei«, sagte er zu ihr. »Ich bezahle; ich habe noch ein bißchen Geld.«
»Wir sollten die Beute von dem Irrlicht aufteilen«, murmelte Kitiara.
Tanis nickte. »Nach dem Essen.«
Kurze Zeit später kehrte er mit einem Holztablett zurück, auf dem zwei dampfende Suppenschalen und dicke Scheiben Weißbrot lagen, die mit geröstetem Sesam bestreut waren. Eine Weile aßen sie schweigend und genossen das leckere Brot und die scharfe Suppe. Tanis wischte sorgfältig die Sesamkörnchen von der Stickerei auf seinem neuen Hemd ab, woraufhin Kitiara mit der Hand an die Hüfte fuhr, wo ihre Scheide… leer war.
»Tanis! Mein Dolch ist weg! Die Kenderin!«
Der Halbelf sprang auf. Kitiara ebenfalls. Dann liefen sie in gegensätzliche Richtungen auseinander.
Tanis drängelte sich, so schnell er konnte, durch die überfüllten Gassen, blickte nach rechts und links, entdeckte jedoch keine Spur von der braunäugigen Kenderin. Er kehrte zu Sonnus Eisenmühles Wagen zurück. Der Zwerg hockte hinten auf dem Fuhrwerk und ließ die kurzen Beine herunterbaumeln. Er hielt einen Krug und futterte ein belegtes Brötchen, wobei er geflissentlich mehrere mögliche Kunden übersah. Tanis roch Fisch, Knoblauch und Bier, als er näher kam. Er fragte nach der Kenderin. Dreimal mußte er die Frage stellen, jedesmal lauter, bis der Zwerg sich dazu bequemte, ihn anzusehen und zu antworten.
»Beim letzten Mal, wo ich diese diebische Elster gesehen habe, ging sie in diese Richtung«, zeigte Eisenmühle. »Paß auf deinen Geldbeutel auf, Halbelf. Tröpfelchen Torhopser ist eine ganz Schnelle.« Nach einer kurzen Pause fügte er grantig hinzu: »Aber Tröpfelchen ist nicht schlimmer als der Rest von dem ganzen Lumpengesindel, mit dem ich mich abgeben muß. Kender sind wenigstens nicht absichtlich Lumpen.«
Eisenmühle sah woanders hin. Ganz offensichtlich war die Unterhaltung für ihn beendet. Einen Augenblick später betrachtete er wirklich verwundert, wie sich Tanis neben ihm auf den Wagen schwang und auf die Zehenspitzen stellte, um in der Menschenmenge nach der Kenderin Ausschau zu halten.
Vom Wagen aus konnte man auch nicht viel mehr sehen als von unten. Zelte und Fahnen verdeckten weitgehend die Sicht auf das, was sich auf den Wegen dazwischen abspielte. Tanis’ schnelle Augen entdeckten immerhin Kitiara, die sich durch die Leute drängte und wütend jeden beiseite schob, der ihr in die Quere kam. Tanis hoffte um Tröpfelchens willen, daß er sie vor Kitiara fand.
Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Am Ende von Eisenmühles Gasse schrie jemand auf, und die Menschen drehten sich neugierig um. Tanis reagierte sofort. Er sprang vom Wagen und kämpfte sich zum Mittelpunkt der Aufregung vor.
Kitiara hatte ihren Dolch zurück, dessen glitzernde Klinge jetzt an Tröpfelchens Hals saß. Kitiara hatte der Kleinen den linken Arm um die Brust geschlungen; ihre Rechte hielt den Dolch. »Ich sollte deinem erbärmlichen Leben hier und jetzt ein Ende setzen, und keiner könnte mich daran hindern, Kender!« rief Kitiara. Ein paar Händler klatschten Beifall.
»Ich hab’ dich gerade gesucht!« quiekte Tröpfelchen. »Ich habe deinen Dolch gefunden…«
»… in der Scheide an meinem Bein, du Diebin!«
Tröpfelchen Torhopser keuchte zwar, doch sie dachte kurz über Kitiaras Worte nach. Dann fuhr sie achselzuckend fort: »Tja, den Platz fand ich halt ziemlich gefährlich zum Tragen. Es könnte doch schließlich ein Taschendieb – « Ihr Satz endete mit einem Gurgeln, als Kitiara mit ihrem linken Arm fester zudrückte.
»Hör mir zu, Kender.«
Tröpfelchen nickte schwach. Ihr Gesicht lief bereits rot an.
»Komm nie wieder in meine Nähe.« Kitiaras Stimme flüsterte beinahe. Die gebannten Passanten mußten näher herankommen, um ihre Worte zu verstehen. »Nie. Verstanden?« Die Kenderaugen wurden glasig, während die Kleine sich loszureißen versuchte.
Tanis wollte einschreiten. »Kit?«
Kitiara sah auf und zwinkerte dem Halbelfen zu. Dann redete sie weiter zu Tröpfelchen. »Ehrlich gesagt, solltest du Haven verlassen – und zwar jetzt. Verstanden?«
»Kit!« unterbrach Tanis. »Sie kann kaum atmen!«
Kitiara lockerte ihren Griff etwas und zog den Dolch ein Stückchen zurück. »Verstanden?« wiederholte sie.
Tröpfelchen Torhopser nickte. »Morgen früh«, krächzte sie. »Gleich nach dem Früh-«
»Heute! Heute nachmittag.«
»Aber…«
Kitiara bewegte ihren Dolch. Die Kenderin nickte. »Na gut. Ich wollte sowieso weiter, weil…«
Die Kriegerin ließ los, und Tröpfelchen Torhopser verschwand mit wippendem Haarknoten in der Menge. Der Menschenauflauf löste sich auf, als die Leute feststellten, daß der Zwischenfall vorbei war.
»Findest du nicht, daß du ein bißchen grob warst?« fragte Tanis.
»Die überlegt es sich zweimal, bevor sie wieder klaut.«
»Macht sie nicht«, stellte der Halbelf fest. »Kender stehlen nicht, jedenfalls sehen sie das nicht so. Sie haben keine Angst und kein richtiges Verständnis für Privatbesitz – nur die Neugier von Fünfjährigen.«
Die Kriegerin antwortete nicht. Sie polierte ihren neuen Dolch mit dem Hemdsaum.»Wie hast du den Kerl kennengelernt, Flint Feuerschmied, meine ich?« fragte Kitiara am selben Abend.
Sie hatten in den »Sieben Zentauren« zu Abend gegessen und saßen jetzt auf einer der Bänke, die in Reihen im Hof des »Maskierten Drachen« standen, eines der größten Wirtshäuser in Haven. Vor ihnen bauten fahrende Sänger eine kleine Bühne auf. Ohne auf die Wolken zu achten, die sich über ihnen zusammenzogen, zündeten die Knechte des Wirts Fackeln an, die in regelmäßigen Abständen an der Wand hingen. Langsam trafen die ersten Gäste ein.
»Flint ist nach Qualinesti gekommen, als ich noch ein Kind war«, sagte Tanis. »Wir wurden Freunde, und als er ging, ging auch ich. Wir leben schon jahrelang in Solace.«
Das war natürlich nicht die ganze Geschichte. Der Zwerg, ein Außenseiter im Elfenreich, hatte sich mit dem einsamen Halbelfen angefreundet, hatte ihm über eine Schmach nach der anderen hinweggeholfen und war für Tanis oft wirklich der einzige Freund in Qualinost gewesen. Als Flint dann später beschloß, die Stadt der Qualinesti lieber zu verlassen, begleitete der nahezu erwachsene Tanis ihn ohne großes Bedauern. Im Gegensatz zu dem Zwerg hatte der Halbelf die Elfenstadt jedoch seitdem immer wieder mal besucht.
Kitiara schien das allerdings gar nicht so genau wissen zu wollen. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf zwei Sänger. Die Frau, ein zartes Wesen mit schulterlangen, blonden Haaren und großen blauen Augen, stellte sich vorn in die Mitte der Bühne, während ihr Begleiter, ein ebenso schlanker Mann mit dunklen Haaren und offenem Lächeln, Fackeln in die freistehenden Halter an der rechten und linken Ecke der Plattform steckte.
Der Mann trat zurück und warf einen kritischen Blick auf die Frau. »Das Licht ist zu schwach«, sagte er zu ihr. Er stellte die Fackeln näher heran, trat wieder zurück und kam dann zur Bühne.
»Besser?« fragte sie.
Er nickte und erwiderte: »Perfekt. Die Beleuchtung und auch die Sängerin.« Dann sprang er auf die Plattform, um sie zu küssen. Die drei Kinder der beiden, zwei Mädchen und ein kleiner Junge, saßen im Schneidersitz hinten auf der Bühne. Sie stöhnten, als sich ihre Eltern umarmten. Das Paar trennte sich und grinste die Kinder unbekümmert an.
Kitiara verdrehte die Augen. »Wie süß«, war ihr schnippischer Kommentar.
Tanis stellte fest, daß es dasselbe Paar war, das am Morgen schon auf dem Markt von Haven geprobt hatte. Mit den Kindern im Schlepptau verschwanden sie hinter der Bühne. Anschließend brachten die fünf alle möglichen Instrumente herbei, die sie vorsichtig auf die Bühne legten. Tanis erkannte eines als Zimbal, ein Saiteninstrument, das man sich in den Schoß legt und das bei den Damen am Hof von Qualinesti beliebt war. Der Mann kam mit zwei dreieckigen Lauten in der Hand zurück. Es gab auch ein Klavichord, ein länglicher Kasten mit Tasten, den der Mann vor einer Bank auf einen Ständer legte. Die Frau stellte eine hohe Trommel hinten auf die Bühne. Dann half ihr Mann ihr dabei, eine Schlitztrommel, einen durch einen schmalen Schlitz ausgehöhlten, polierten Baumstumpf, daneben zu rollen. Die ältere Tochter der beiden hängte einen Gong an einen Ständer neben den Trommeln. Die jüngere Tochter ließ sich hinplumpsen und übte Triller auf einer Querflöte, während ihr Bruder Blockflöte spielte. Tanis sah gebannt zu.
»Du guckst auf die Bühne, als wenn du auch gern da oben stehen würdest«, neckte ihn Kitiara.
Tanis deutete mit dem Kopf auf die Familie. »Musik. Das ist ein Unterschied zwischen Elfen und Menschen.«
Als Kitiara die Augenbrauen hochzog, fuhr der Halbelf fort: »In Qualinost geht man davon aus, daß jedes Kind ein Instrument lernt. Bei Sonnenuntergang versammeln sich die Elfen oft einfach im Himmelssaal und machen Musik.«
»Und?« fragte Kitiara. »Menschen mögen auch Musik.« Tanis runzelte die Stirn. »Aber Menschen sehen darin etwas, was nur Musikanten machen. Ich kenne nicht viele Menschen, die selbst Musik machen. Sie kommen zu Orten wie diesem.« Er machte eine umfassende Geste. Der Hof füllte sich allmählich. Sie hatten sich ans Ende einer Bank gesetzt – Kitiara war nicht gern mitten in einer Menge gefangen –, so daß die Zuschauer sich auf dem Weg zu den letzten freien Plätzen immer wieder an ihnen vorbeischoben.
»Was spielst denn du, Halbelf?« fragte Kitiara.
»Psalter, Zither…«
»Und das ist?«
»Der Psalter ist eine Art Zimbal«, erläuterte Tanis. »Die Zither ist wie eine Laute. Ich habe auch andere Instrumente ausprobiert, aber ich beherrsche sie nicht besonders gut, auch wenn ich Spaß daran habe. Flint schickt mich zum Üben nach draußen.« Er sah Kitiara an. »Spielst du ein Instrument, Kit?«
Sie verzog die Oberlippe. »Mein Instrument ist das Schwert. Aber ich kann es so singen lassen, daß alles, was diese armselige Truppe spielen kann, nichts ist.« Sie wies auf die Bühne, wo die Familie leise eine flotte, sich aber endlos wiederholende Melodie anstimmte, mit der sie sich einsangen. »Und mein Schwert ist viel wirksamer gegen Hobgoblins.«
Kitiaras Ausführungen wurden von der Frau unterbrochen, die von der Bühne aus das Publikum begrüßte. Ihre Stimme war rauchig und leise. Sie sah zu ihrem Mann zurück, der bei den Trommeln und dem Gong wartete, und zu den Kindern, die mit Flöten und Klavichord bereitstanden. Dann blickte sie wieder die Zuschauer an und begann zu singen.»Ein schönes Mädchen in Daltigod
das weinte einst für sich allein,
verschmäht von seinem Liebsten…«Ihre Stimme war so frisch wie der Frühling, und der behäbige Mann neben Tanis erschauerte. »Das schöne Mädchen von Daltigod«, sagte der Mann gedämpft. »Mein Lieblingslied.«
Das Publikum kam zur Ruhe. Die Dämmerung war abendlicher Dunkelheit gewichen. Über dem Hof stand hoch oben Solinari, und Lunitari, der rote Mond, ging bald auf. Die Fackeln zwangen die Aufmerksamkeit auf die Bühne, doch der Halbelf konnte erkennen, wie einige Zuschauer durch Bogentüren in die Taverne gingen und mit schäumenden Bierkrügen zurückkehrten. Auch Kit hatte das offensichtlich bemerkt. »Möchtest du ein Bier?« fragte sie.
Kaum hatte Tanis genickt, da war die Kriegerin auch schon auf dem Weg in die Taverne nebenan. Plötzlich versperrte ihr ein muskulöser Mann mit schwarzen Haaren, schwarzen Augen und einem entschlossenen Gesichtsausdruck den Weg. Er trug glänzende schwarze Hosen und Stiefel, ein weißes Hemd und einen roten Umhang. Selbstbewußt baute er sich vor Kit auf. »Kitiara Uth Matar!« sagte der Mann ruhig.
»Caven Mackid!« erwiderte sie kühl. Sie stellte Tanis den Mann nicht vor, obwohl dieser sich schweigend erhoben hatte und zu ihnen kam. Neben den Halbelfen stellte sich ein schlanker Junge mit smaragdgrünen Augen, der neugierig zusah.
Caven sah weder nach rechts noch nach links. »Du hältst wohl nicht viel von geraden Wegen, Frau«, sagte er. »Ich habe eine Woche gebraucht, um deine Spur zu finden, und mehr als einen Monat, um dich hier aufzuspüren.« Caven schien Tanis jetzt erst zu bemerken. »Glücklicherweise«, meinte er etwas lauter zu dem Halbelfen, »ist Kitiara die Sorte Frau, die man nicht vergißt, wenn man sie einmal gesehen hat. Wie du bestimmt schon bemerkt hast.« Caven sah wieder Kitiara an. »Ein argwöhnischer Mann könnte meinen, du wolltest ihm aus dem Weg gehen, mein Schatz«, sagte er.
Kitiara richtete sich auf, reichte Caven Mackid aber dennoch nur bis zur Schulter. »Ich bin immer noch deine Vorgesetzte, Soldat. Nimm dich in acht.« Ihr Ton war neckisch, aber in ihren Augen stand keine Wärme.
Das Lied der Barden ging weiter, doch zahlreiche Zuschauer, die spürten, daß sich hier vielleicht ein größeres Schauspiel anbahnte, starrten statt dessen Kitiara und Caven an.
Bei Kitiaras Worten ließ Caven die Hände sinken. Alle Freundlichkeit wich aus seinem Gesicht. Mit einem seltsamen Funkeln in den Augen starrte der große Mann Kitiara an – Ärger, aber noch etwas anderes. Hier lag etwas in der Luft, das der Halbelf nicht greifen konnte, aber er hatte genügend Erfahrung mit Frauen, um zu erkennen, daß Kitiara für diesen Mann einmal mehr gewesen war als seine Vorgesetzte.
»Ich glaube, du hast noch etwas von mir, Hauptmann Uth Matar«, sagte Mackid einschmeichelnd. »Einen Geldbeutel vielleicht? Zweifellos ein Versehen deinerseits, unsere privaten Sachen haben sich da schon ein Weilchen vermischt, wenn ich mich recht erinnere.«
Der schlanke Bursche kicherte. »Kann man wohl sagen«, meinte er mit einem Blick auf Tanis.
»Und wenn ich mich recht erinnere«, fuhr Caven Mackid fort, ohne auf den Jungen zu achten, »bist du ziemlich überstürzt aufgebrochen, mein Schatz – so schnell, daß du nicht einmal eine Nachricht hinterlassen konntest. Bestimmt auf der Flucht vor Ogern. Aber ich gehe doch davon aus, daß du mein Geld sicher aufbewahrt hast und es jetzt dabeihast.«
Der Halbwüchsige beugte sich zu Tanis hin. »Ist abgehauen, als er auf der Jagd war, und hat fast alle seine Ersparnisse mitgehen lassen«, flüsterte er. »Wenn sie einfach nur abgehauen wäre. Das hätte ihm bestimmt nicht viel ausgemacht. Aber beklaut zu werden, das hat Caven gewurmt.«
»Wod!« wies Caven den Jungen nachsichtig zurecht. »Gute Knappen halten vor Fremden den Mund.«
Hinter Kitiara beendeten die fahrenden Sänger die Ballade und begannen einen lebhaften Volkstanz. Die Kriegerin nahm endlich den Halbelfen zur Kenntnis. »Tanis, das ist Caven Mackid, einer meiner Untergebenen bei meinem letzten Einsatz.«
Caven lächelte Tanis beinahe freundlich an, doch seine Worte richteten sich an Kit. »Ein Halbelf, Kitiara? Etwas tief gesunken, nicht wahr?« Sein Knappe lachte wieder höhnisch, doch der Mann brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Dann sah Caven Kitiara in die Augen. Seine nächsten Worte waren ein Befehl: »Mein Geld. Jetzt.«
Unbemerkt von den vieren, zog sich seitwärts eine Frau mit dunkelbrauner Haut vorsichtig in die Schatten eines Eingangs zurück. Eine weiche, taubengraue Wollrobe betonte ihre dunklen Gesichtszüge, die so braun waren wie polierte Eiche. Der Blick ihrer blauen Augen mit den überraschend dunklen Pupillen war starr. Ihr glattes, blauschwarzes Haar floß ihr über die Schultern, über die verknitterte Kapuze ihrer Robe und den Rücken.
»Kitiara Uth Matar«, sagte sie leise zu sich selbst. »Und dieser Soldat mit den dunklen Haaren… den kenne ich auch.«
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie weiter wortlos aus dem Schatten heraus zu, während ihre schlanken Finger mit den Seidenbeuteln spielten, die an ihrem Gürtel hingen.