6 Zauberer und Freund

Zornige, blaue Augen spähten aus einem Eingang gegenüber auf Kitiara und Caven. Eine im schwachen Licht aschgraue, weite Wollrobe mit Kapuze verbarg den Rest der Frau. Kai-lid Entenaka hatte Kitiara Uth Matar unbemerkt verfolgt, seit die Kriegerin am frühen Abend mit den drei Männern die Bardenvorstellung verlassen hatte. Aber Kälte und Nässe machten Kai-lid nichts aus, denn ihre magische Robe hielt beides von ihr ab. Ihre Finger spielten mit der Seidenschnur um ihren Bauch. Natürlich hätte sie einen Lichtzauber sprechen können, um zu sehen, was das Paar da drüben im Eingang tat, doch solche Beleuchtung brauchte Kai-lid nicht. Erinnerungen an ähnliche Momente in ihrer Ehe überfielen sie. Seit dem Ende der Ehe versuchte sie solche Erinnerungen zu verdrängen, aber sie kamen ungebeten zurück, meist bei Nacht.

Sie schüttelte leicht den Kopf, um die ungerufenen Gedanken zu vertreiben. »Und der Halbelf, Hauptmann Uth Matar?« flüsterte sie in sich hinein.

Kai-lid wartete geduldig, bis der Regen nachließ und die beiden Gestalten herauskamen, wobei sie ihre Kleider zurechtzogen und das regennasse Haar mit den Fingern durchkämmten. Geschützt vom Umhang des Mannes gingen sie eng aneinandergedrängt gemeinsam in die Nacht. Die Zauberin wartete, bis sie fort waren, und überquerte dann die Straße. Ihre Finger durchsuchten die Steine und den Schmutz auf dem Boden vor dem Haus. Die Bodenziegel waren noch warm, doch sie fand keine weitere Spur von dem Paar. Gerade als sie aufgeben wollte, kullerte etwas Kleines, Hartes unter ihrer Hand hervor. Jetzt sprach sie doch einen Lichtzauber, woraufhin ein blaßgrüner Schein den Eingang beleuchtete und ihre zarten, eichenbraunen Züge zu sehen waren. Wieder suchte sie, bis sie einen dunklen Knopf fand. Wahrscheinlich war er aus Schildpatt; der Polierer hatte es nicht geschafft, die Unebenheiten des Panzers zu glätten.

Der Knopf war klein, aber wenn er Kitiara Uth Matar oder dem Mann gehörte, würde das der Zauberin reichen. Sie hielt ihn fest, während sie durch die dunklen Straßen huschte, sich in die Schatten drückte und niemandem begegnete.

In der Schwärze der Nacht hätte eine gewöhnliche Frau langsamer gehen müssen, doch Kai-lids Magie half ihr, den Weg zu beleuchten, als sie die Stadt hinter sich ließ und sich in nordöstllicher Richtung von Haven entfernte. Sie achtete nicht auf das Unterholz um sie herum. Obwohl Kai-lid keine mächtige Zauberin war, hatte sie Tricks parat, um sich notfalls in Sicherheit zu bringen. Der Regen machte ihr nichts aus, denn die Blätter hoch über ihrem Kopf bildeten ein dichtes Dach.

Der Pfad wurde steiniger und schmaler, denn je weiter sie lief, desto weniger war er ausgetreten. Er führte in den Düsterwald, wohin sich selten jemand wagte.

Die Nähe des Düsterwalds und sein erschreckender Ruf waren aus Kai-lid Entenakas Sicht ideal für ihre Einsiedlerei. Einmal pro Woche wanderte sie die zwei Meilen von ihrer Höhle nach Haven, um die Kräuter zu verkaufen, die sie sammelte, oder Sachen zu besorgen, die sie brauchte. Sie war anspruchslos.

Kai-lid führte ein ruhiges Leben am Waldrand. Für die zahlreichen Waldbewohner war sie keine Gefahr, und diese Unschuld garantierte ihrer Meinung nach ihre Sicherheit. Als sie ankam, hatten die Bewohner des dunklen Waldes sich zurückgehalten. Sie hatte gespürt, daß sie da waren, doch sie hatten sich nicht gezeigt.

Natürlich hörte sie Geschichten von den wohlmeinenden – oder einfach nur neugierigen – Bürgern von Haven, mit denen sie Handel trieb.

»Da leben Seelen von Rittern, die Hunderte von Jahren vor der Umwälzung in diesen Wäldern kämpften und starben!« hatte ihr ein Schuster geraten, als er herausgefunden hatte, wo Kai-lid wohnte. »Und Wesen, die weder tot noch lebendig sind, aber ihr Geheul kann einen in den Wahnsinn treiben. Zieh in die Stadt, Frau!«

Seine Finger waren aufgeregt über einen von Kais Sandalen geglitten, den er gerade geflickt hatte. Der Mann hatte immer mehr von den Geschöpfen des Düsterwalds erzählt. Kai-lid zweifelte nicht daran, daß an seinen Worten viel Wahres dran war. Manchmal, wenn sie den Wald betrat, um Kräuter oder andere nützliche Zauberzutaten zu sammeln, kam es ihr so vor, als ob die Bäume nicht genau da stehen würden, wo sie bei früheren Streifzügen gestanden hatten. Gelegentlich hörte sie Fetzen von wilden Liedern – wie Todesschreie der Steppenvölker –, die der Wind herantrug. Und in manchen Nächten kamen Hufschläge gerade außer Sichtweite von Kai-lids Höhle zum Stehen.

»Ich fürchte mich nicht vor den Toten. Von Lebenden habe ich Schlimmeres gesehen«, hatte sie zu dem Schuster gesagt. Ihre blauen Augen waren lila geworden, und der Zweifler war schlau genug gewesen, das Thema zu wechseln.

Kai-lid wußte, daß der Mann entsetzt gewesen wäre, wenn er erfahren hätte, daß sie sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, ihr Heim – eine Höhle aus grauem Granit in derselben Farbe wie ihre Wollrobe – mit einer Tür auszustatten. Nur ein Vorhang aus Qualinesti-Seide bedeckte die Öffnung, und dieser Vorhang war normalerweise zurückgebunden. Kai-lid liebte es, von frischer Luft umgeben zu sein. Selbst in den wenigen Fällen, wo Hagel oder Schnee das Gebiet heimsuchten, ließ sie die Wildnis ungehindert ein.

Jetzt jedoch nahm Kai-lid ein ungewöhnliches Geräusch wahr. Sie sah sich im Dunkeln um. Nichts. Sie machte ein paar Schritte, dann hörte sie es wieder – ein Klicken wie vom Öffnen und Schließen eines Kiefers. Eine Riesenameise? Es war schwer zu sagen, was an den Geschichten vom Düsterwald dran war. Zum Beispiel hieß es, daß Geistertruppen Eindringlinge fernhielten. Kai-lid jedoch kam und ging unbehelligt.

Mit einer Hand an ihren Zauberutensilien erweiterte sie ihren Lichtspruch und sah sich genauer um. Kai-lid sah nichts Auffälliges. Eine Platane, wie sie hier häufig vorkam, ragte fünfmal so hoch wie das höchste Haus von Haven in die Dunkelheit und warf im grünen Zauberlicht einen bizarren Schatten. Dort, wo die Wurzeln des Riesenbaums begannen, verriet eine Öffnung, daß die Platane hohl war, und Kai-lid wußte, hier war eine Waschbärfamilie eingezogen. Auf der feuchten Erde wuchs dichtes Farnkraut, dessen dicke Blätter sich im Wind wiegten, den Kai-lid jetzt erst bemerkte. Das Land war erfüllt vom Duft der fruchtbaren Erde, der Nässe und der Pflanzen, doch Kai-lid fand kein Anzeichen einer Gefahr.

Dann hörte sie ein neues Geräusch – ein Pochen wie von einem gewaltigen Herzen, das schnell, aber immer wieder anders schlug. Und ein Rauschen wie von tiefem Durchatmen. Wer diese Geräusche auch verursachte, er war entspannt, das war deutlich zu erkennen: Einatmen, Ausatmen, Pause… Einatmen, Ausatmen, Pause. Sie roch etwas – staubig wie Stroh, nicht unangenehm. Kai-lid bemerkte ein Rascheln, als wenn etwas sich leicht bewegte, etwas sehr Großes. Dann wieder das Klicken.

Plötzlich hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, und jetzt wußte Kai-lid, wer in den Bäumen lauerte.

Ich bin ein böses, wildes Monster und fresse dich bei lebendigem Leib.

»Laß das, Xanthar«, antwortete Kai-lid erschöpft. »Ich bin zu müde für Spielchen. Ich muß nachdenken, und zwar allein.« Das Klicken und Rascheln und Rauschen hörte auf; das Wesen war still. »Und sei bitte nicht beleidigt.«

Die Zauberin ging weiter und folgte einer Wegbiegung, bis sie vor sich auf einer Lichtung den Eingang ihrer Höhle sah. Der blaue Vorhang war immer noch zurückgebunden. Über der Spitze einer anderen, abgestorbenen Platane kreiste der Schatten eines gewaltigen Vogels, dem man die Zurückweisung an jeder gesträubten Feder ansah. Die Zauberin blieb stehen und betrachtete den Vogel liebevoll.

Schließlich ertönte, wie sie es erwartet hatte, wieder die lautlose Stimme in ihren Gedanken. Zeit für deine Lektion in Gedankenübertragung, Kai-lid Entenaka. Du kommst spät. Ich habe mir Sorgen gemacht.

Kai-lid senkte den Kopf und entschuldigte sich: »Ich war in Haven, Xanthar.«

Die Stimme in ihrem Kopf wurde schärfer. Du weißt, ich mag es nicht, daß du allein nach Haven gehst. Ich sollte dich begleiten.

»Das haben wir doch schon so oft besprochen, Xanthar«, sagte Kai-lid ruhig, ging über die Lichtung und blieb unter der Platane stehen. »Deine Magie wird nachlassen, wenn du dich zu weit vom Düsterwald entfernst. Außerdem schlafen Rieseneulen doch tagsüber, hast du das vergessen?« In ihrer Stimme schwang unterdrücktes Lachen mit.

Und du solltest nicht vergessen, daß ich mich ganz schön weit aus dem Wald wagen kann. Die paar Stunden fehlenden Schlafs bringen mich nicht um. Nach dem, was du mir erzählt hast, bist du in keiner Stadt sicher. Du könntest jemandem aus Kernen begegnen.

»Bin ich auch.«

Auf diese Antwort war die Eule nicht gefaßt. Nach einer schockierten Pause richtete sie sich zu voller Höhe auf und schlug mit ihren großen Flügeln von zwanzig Fuß Spannweite. Die tote Platane ächzte und stöhnte in der Nachtluft, und die Windstöße wehten der Zauberin die Kapuze vom Kopf, und ihr peitschten die Haare ins Gesicht. Ein Kreischen gellte über die Lichtung, und Kai-lid krümmte sich, dehnte jedoch den Lichtspruch aus, bis sie die Eule sehen konnte.

»Xanthar, sie haben mich nicht bemerkt«, sagte sie eilig. »Ich war vorsichtig.« Trotz ihrer Erschöpfung lächelte Kai-lid die Rieseneule an.

Xanthar legte schließlich seine Flügel an. Er schob seinen goldenen Schnabel, der so lang war wie Kai-lids Arm, in den hellen Flaum an seinem Hals. Sein Gesicht war braun, grau und schwarz getupft, doch der weiße Fleck über dem linken Auge ließ ihn liebenswert verwegen erscheinen, wie Kai-lid fand. Aus seinem cremefarbenen Federkleid der Brust stachen einzelne schwarze und braune Federn hervor. Auch seine Beine waren bis hinunter zu den mahagonifarbenen Schuppen auf seinen starken Füßen befiedert. Jeder Zeh war mit einer tödlichen Kralle bewehrt. Xanthars Flügel waren mahagonibraun und gingen zum Schwanz hin in Dunkelgrau über. Die Flügelspitzen waren beige. Er wandte der Zauberin seine tellergroßen Augen mit den riesigen, unermeßlich tiefen, schwarzen Pupillen zu und betrachtete sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Ärger. Seine Füße, die immer wieder den Platanenast umklammerten und sich dann lösten, verrieten seine Aufregung.

Wieso lächelst du? Das ist eine ernste Sache. Sie könnten dich suchen.

»Ich lächle, weil du der schönste Vogel bist, den ich je gesehen habe, ganz zu schweigen vom Schönsten, mit dem ich je geredet habe.«

Das klingt, als sei ich ein zahmer Papagei. Und überhaupt solltest du jetzt Gedankenübertragung üben.

Auch wenn Xanthar nörgelte, Kai-lid wußte, wie sehr er das Kompliment genoß. Faul schloß er die Lider über den orangefarbenen Augen und drehte den Kopf, damit Kai-lid die Silhouette seines Schnabels besser sehen konnte. Plötzlich spürte sie ihre Erschöpfung. Sie setzte sich auf den Aststumpf einer Platane dicht über dem Boden.

Du bist müde.

Kai-lid nickte.

Wen hast du gesehen? Sag es mir in Gedankensprache; das ist eine gute Gelegenheit zum Üben.

Kai-lid lehnte sich stöhnend an den Stamm. »Du gibst nie auf, was, Xanthar? Es ist nicht vorgesehen, daß verschiedene Arten sich telepathisch unterhalten.«

Aber ich kann es. Jedenfalls, fügte er hinzu, kann ich es mit dir.

»Du hast besondere Zauberkräfte, Xanthar, die meines Wissens kein anderer deiner Art besitzt.« Sie machte eine Pause. »Es ist so viel einfacher, wenn ich laut rede.«

Typisch Mensch. Immer noch erbost kletterte die Rieseneule vorsichtig vom obersten Zweig zu einem niedrigeren und dann zu einem noch niedrigeren, bis sie nur noch zehn Fuß über Kai-lid thronte. Xanthar beugte sich vor und betrachtete die junge Frau aus sanft leuchtenden Augen. Wen hast du in Haven gesehen?

»Einen Hauptmann von den Söldnertruppen des Valdan – Kitiara Uth Matar. Und noch einen Soldaten. Ich weiß nicht, wie er heißt, aber ich habe ihn bei der Belagerung oft mit dem Hauptmann gesehen. Heute abend war noch ein Halbelf dabei, den ich nicht kenne.«

Xanthar wetzte grimmig seinen Schnabel an seinem Sitzplatz. Ich hätte mitkommen sollen.

»Du weißt, daß das unklug ist.« Rieseneulen erzielten auf dem Markt hohe Preise. Vor Jahren hatte Xanthar seine Frau und seine letzten Jungen an Wilderer verloren. Die großen Vögel taten sich fürs ganze Leben zusammen, und seither lebte Xanthar in und um den Düsterwald ganz allein.

Was hast du jetzt vor? Als Kai-lid fragend nach oben blickte, fuhr die Rieseneule fort: Gehst du nach Haven zurück, um diese Matar und die anderen beiden zu beobachten?

»Das brauche ich nicht.« Kai-lid wußte, was Xanthar als nächstes fragen würde. Sie hielt einfach den Knopf hoch. »Ich kann sie durch Magie beobachten.«

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