Dritter Teil Die Geometer

Eins

Das ist die Decke.

Es ist oben, also muss es die Decke sein. Ungleichmäßig, braun-grau, ungewohnt ... fremd.

Ich drehte den Kopf.

Ein winziger Raum. Alles war ungleichmäßig, faltig, zusammengequetscht. Der Boden, die Wände, die Decke. Sogar das Bett, auf dem ich lag, schien höckerig zu sein. Die Beleuchtung kam von trüben glasartigen Körpern, die wahllos in den Wänden verteilt waren und ein orangefarbenes unangenehmes Licht spendeten.

Wo bin ich?

Und wichtiger noch: Wer bin ich?

In meinem Kopf herrschte Leere. In meinem Körper Mattigkeit. Ich musste aufstehen ...

Etwas verhinderte das. Als ich den Kopf etwas hob, entdeckte ich ein breites Band aus festem Stoff, das sich erst über meine Oberschenkel, dann über meine Brust zog und meinen Körper ans Bett fesselte. Das Bett war tatsächlich uneben, eher ein flacheres Podest, das aus dem Boden wuchs.

Wie bin ich hierhergekommen?

Und wer bin ich?

Ich erinnerte mich an nichts ...

Panik stieg in mir auf. Ich sah mich in dem Raum um, in dem ich lag, und alles, was ich erblickte, vermochte ich zu benennen. Wände, Boden, Decke, Bett, Licht, Band ... Viel war es nicht. Ein paar Bezeichnungen, die durch meinen leeren Schädel waberten, als ob ... als ob was? Etwas war da irgendwo passiert ... aber ich erinnerte mich nicht, was und wo.

Eine winzige Welt, sie ließe sich mit Schritten ausmessen, falls es mir gelänge, mich zu befreien. Sechs mal sechs Schritt würde ich schätzen. Ich stemmte meinen Unterkörper mit den Füßen hoch und versuchte, mich unter dem Band herauszuwinden. Das spannte sich jedoch sofort fester und schnürte mich noch enger ans Bett. Ohne einen Ton von mir zu geben, kämpfte ich weiter, es gelang mir sogar, ein wenig unter dem Band herauszukriechen, doch dann zog es so fest an, dass mir die Luft wegblieb. Gierig nach Atem ringend, gab ich auf. Nach einer Weile lockerte sich das Band wieder.

Verstanden. Ein Gefängnis.

Was ist ein Gefängnis? Ein Ort, um jemanden von seiner Umwelt zu isolieren. Folglich gab es sie, diese Welt. Folglich bestand sie nicht nur aus diesen grauen Wänden.

Ein erster Erfolg. Etwas entschlüpfte meinem Gedächtnis, arbeitete sich aus ihm heraus. Scheu zwar, unsicher -aber trotzdem. Wände, Boden, Decke, Bett, orangefarbenes Licht - das war mein Gefängnis. Dann gab es noch mich. Arme, Beine, ein leerer Kopf ... Dann gab es Bewegungen: aufstehen, herauskriechen, losgehen. Dann gab es Zahlen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...

All das ließ sich aussprechen. Mit meiner Stimme. Laut.

»Wer bin ich?«, fragte ich die Decke. Meine trockenen Lippen bewegten sich mit Mühe, meine Stimme hörte ich kaum, dennoch bescherte mir dieser Versuch prompt etliche neue Begriffe. Lippen, Zunge, Kehle, Atmung, Luft, Stimme.

Wenn ich nur von hier weg könnte! Wenn ich mehr sehen könnte! Dann würde ich mich erinnern, mit Sicherheit würde ich mich an alles erinnern. Wer ich war und wie ich hierhergekommen war.

Ein Knirschen. Ich drehte den Kopf. In der Wand ging eine Luke auf. Eine Luke - das ist etwas, durch das man hereinkommt. Sie war nicht sehr groß, ich müsste mich bücken, um durchzugehen.

Durch die Luke kam ein Wesen in die Zelle. Ein vierbeiniges, armloses Wesen, mit einem langen spitzen Maul, schwarzem Fell und einem Schwanz. An seinem Hals schwabbelte ein Klumpen, der aussah wie ein bösartiger Auswuchs. Das Äußere des Wesens stieß mich ab und beunruhigte mich. Etwas extrem Unangenehmes verknüpfte sich mit diesem Wesen ... Nein, nicht mit diesem einen Wesen, mit vielen von ihnen. Und es gab viele von ihnen, das wusste ich. Ich erinnerte mich nicht, aber ich wusste es ...

Ob auch ich ...

Ich riss den Kopf hoch und belinste meinen Körper. Nein, soweit ich es erkennen konnte, sah er völlig anders aus. Und normalerweise bewegte ich mich nicht auf allen vieren.

»Wie fühlst du dich?«, fragte das Wesen.

Seine Stimme war wie Musik. Einfach deshalb, weil sie die Stille vertrieb.

»Angespannt und verzweifelt«, antwortete ich. »Wer bist du?«

»Ich bin Alari. Das ist nicht mein persönlicher Name, sondern die Bezeichnung meiner Rasse.«

Seine Stimme kam anscheinend nicht aus seinem Mund, sondern aus dem Auswuchs am Hals. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihm um einen Stimmsack oder Resonator.

»Warum darf ich mich nicht bewegen?«

»Du bist aggressiv«, erklärte mir der Alari. »Du hast großen Schaden angerichtet.«

Schaden?

Ein Feuer ... ja, jetzt erinnere ich mich an ein Feuer. In der Dunkelheit, dort, wo es nie Feuer gab und nicht geben konnte, lodert eine Flamme auf. Scherben treiben mir entgegen, ich weiche aus, fliege davon ...

Ich kann also fliegen?

... fliege davon, fliege durch das Dunkel und die Kälte, aber ich habe zu viel Kraft vergeudet, um diesen Schaden anzurichten, die Flamme zu entzünden, die Metall verbrennt, etwas zieht mich zurück ...

»Wer bin ich?«

Der Alari knirschte mit den Kiefern. »Spiel nicht den Dummkopf! Du weißt genau, wer du bist! Und es wäre an uns, dir diese Frage zu stellen!«

»Wisst ihr wirklich nicht, wer ich bin?«, hakte ich völlig ungläubig nach.

Das Wesen trat einen Schritt zurück. Es reckte die Schnauze hoch zur Decke. »Eine unvorhergesehene Schwierigkeit ...«, murmelte es.

»Lasst mich frei«, bat ich. »Bitte. Ich werde mich erkenntlich zeigen. Ich werde euch keinen weiteren Schaden zufügen.«

»Nein. Du bist gefährlich.«

»Dann werde ich weiter hier liegen?«

»Ja.«

»Lange?«

»Sehr lange.«

Angst erwachte in mir.

Nur das nicht!

Ich konnte mich einfach an nichts erinnern, und ich würde nicht wieder ich selbst werden, solange ich in dieser winzigen Zelle vegetierte, ans Bett geschnürt, hilflos und unbeweglich.

Ich wand mich abermals. Sofort spannte sich das Band fester um mich und verhinderte jede weitere Bewegung.

»Ich habe Durst ...«, sagte ich, sobald ich wieder zu Atem gelangt war.

»Trinken ist erlaubt.«

Das Wesen verschwand in der Luke. Ich wartete, denn die Luke blieb offen, doch es war nichts zu sehen, nur ein kurzer, halbdunkler Tunnel. Nach einer Weile kehrte der Alari zurück.

Wie sich dabei zeigte, konnte er auch auf zwei Beinen gehen. In den Vorderpfoten trug er jetzt ein kleines Metallgefäß.

»Das ist Flüssignahrung. Sie stillt Hunger und Durst.«

Gierig trank ich einen Schluck aus dem an meine Lippen geführten Gefäß. Das Zeug schmeckte widerlich. Salzig-süß, eine dunkle, zähe Flüssigkeit, mit Klumpen drin ...

Aber ich musste zu Kräften kommen. Um mich zu befreien, brauchte ich Kraft.

»Danke«, sagte ich, nachdem ich alles ausgetrunken hatte.

»Du wirst gefesselt liegen bleiben und nachdenken«, teilte mir der Alari mit. »Wenn du Stoffwechselprodukte ausscheiden musst, informiere uns. Wenn du mitteilen willst, wer du bist, informiere uns.«

»Ich weiß nicht, wer ich bin«, gestand ich verzweifelt. »Und wenn ich weiter hier rumliegen muss, wird es mir erst recht nicht einfallen.«

»Du musst warten«, entgegnete der Alari. »Wir ergreifen unsere Maßnahmen. Wir haben Experten hinzugezogen. Sie werden herausfinden, wer du bist.«

Experten - das klang gut. Experten werden mit jeder Situation fertig. Sie machen keinen Fehler, denn es ist ihre Pflicht, keine Fehler zu machen, das weiß ich. Trotzdem durfte ich nur auf mich selbst vertrauen.

Denn das ... das ist meine Pflicht.

Wie unangenehm es ist, wenn man seine Pflicht nicht erfüllen kann!

»Wenn dich das Licht stört, teile uns das mit«, sagte der Alari.

»Es ist ... orange ...«

»Was für ein Licht bevorzugst du denn?«

»Weißes. Gelbes.«

»Gut.«

Das Wesen verließ mich. Kurz danach nahm die Beleuchtung tatsächlich eine fahl-weiße Farbe an.

Ich musste nachdenken!

Wer bin ich und was mache ich im Gefängnis? Wer sind diese Alari? Warum rufen sie eine solche Antipathie in mir hervor? Was soll ich tun? Worin besteht meine Pflicht?

Leere. Mein Kopf war wie leergefegt, kein einziger Gedanke, keine Erinnerung fand sich in ihm. Nein, ich durfte nicht weiter grübeln, ich musste mit Begriffen operieren, um Hypothesen zu entwickeln. Nur standen mir zu wenig Begriffe zur Verfügung. Wände, Boden, Decke ... eins, zwei, drei ... Alari, Experten, ich ...

Wer bin ich?

Die Zeit zog sich endlos dahin. Einmal kam ich auf das Angebot des schwarzen Wesens zurück und bat die desinteressierten Wände um Hilfe. Daraufhin kam sehr schnell ein Alari, nicht der schwarze, sondern ein Wesen mit hellerem Fell, einer anderen Stimmfärbung und etwas größer. In den Vorderpfoten hielt er ein Behältnis aus weißem Metall. Ein Ding wie in einem Krankenhaus.

Krankenhaus - das ist ein Ort, an dem man geheilt wird ...

Danach blieb ich wieder allein zurück. Das kurzfristig gelockerte Band presste mich erneut aufs Bett.

Ich musste mich an etwas klammern. Jeder Fetzen meiner Erinnerung würde mir helfen.

Der Schaden?

Dunkelheit, Feuer, Flug ...

Gefangenschaft.

Als ich versucht hatte zu entkommen, hatten sie mich in ihre Gewalt gebracht. Ein seltsames, zischendes Gemurmel, eine Meute winziger Wesen ... von Alari ...

Und dann war ich im Gefängnis gelandet.

Ein Kampf: Ich hatte mich auf dem Boden gewunden, umdrängt von fauchenden und kratzenden Wesen. Krallen hatten sich mir in die Haut gebohrt ...

Ich hob den Kopf, betrachtete meine Haut an den Stellen, wo sie nicht von dem Band bedeckt war. Genau. Wunden. Fast verheilte Kratzer, aber auch tiefere Wunden, die jedoch bereits eine kaum erkennbare Membran überzog. Hatte jemand meine Wunden versorgt?

Ich befand mich in Gefangenschaft. Ringsum gab es nur Nicht-Freunde. Ich hatte mit ihnen gekämpft, aber verloren. Dann hatten sie etwas mit mir gemacht - und ich hatte mein Gedächtnis verloren. Das war schlecht, sehr schlecht. Ich wusste, irgendwo warteten meine Freunde. Irgendwo existierte meine Welt.

Und meine Pflicht bestand darin zurückzukehren.

Es verging viel Zeit. Zweimal brachte man mir Essen, einmal wurde ich mit einem feuchten Schwamm gereinigt, wobei das Band nacheinander an den beiden Stellen gelockert wurde. Dabei bekam ich mit, dass ich völlig nackt war und mein Körper fast überall Wunden aufwies.

Egal.

Ich sog jeden neuen Begriff auf, jedes gehörte Wort. Ich reihte sie aneinander, suchte Wurzeln und Verbindungen. Wasser - gab es manchmal viel davon? Ja. Das war dann das Meer. Essen - sah das immer so aus? Nein. Es konnte auch anders aussehen und besser schmecken. Diese Wesen, diese Alari - waren das diejenigen, zu denen ich zurückkehren musste? Nein ... höchstwahrscheinlich nicht.

Zurück musste ich zu Wesen wie mir ...

Ich schlief, ich glaube lange, denn als ich das Geräusch der sich öffnenden Luke vernahm, wachte ich sofort auf und fühlte mich frisch und munter.

Es kam wieder dieser erste Alari. Aber diesmal nicht allein.

Ihm folgten zusammengekauert weitere Wesen durch den Tunnel.

Wesen, die mir ähnelten!

Menschen!

Der Alari sagte ihnen etwas, aber ich verstand die Worte nicht. Es war eine fremde Sprache. Im Moment genügte mir jedoch sowieso, dass ich meine Artgenossen sah.

Der erste war ein hochgewachsener Mann. Er war in mittleren Jahren. Sein Gesicht wirkte streng und entschlossen. Der nächste war ein dicker, grauhaariger Alter. Als letzte folgte eine junge Frau, deren Haare zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden waren.

So viel neue Begriffe!

Alter und Geschlecht. Wir leben und altern. Wir verändern uns mit dem Alter. Es gibt Männer, und es gibt Frauen.

Begriffe wie Steine, die auf den Boden einer Schlucht fallen und die klaffende Spalte füllen. Doch wie viele waren nötig? Wie viele solcher Steine?

Das spielte keine Rolle. Momentan freute mich allein die Tatsache, dass Wesen existierten, die mir ähnelten. An wie viel Neues würde ich mich jetzt erinnern!

Männer und Frauen, Alte, Erwachsene und Kinder ... In meinem Gedächtnis tauchten keine Gesichter auf, klangen keine Sätze oder Gefühle nach. Dennoch wusste ich jetzt, dass es sie gab.

Der Alari redete immer noch mit den Neuankömmlingen. Sie antworteten einsilbig und schauten mich an. Ich lächelte ihnen zu, freute mich über die Begegnung. Sie alle wirkten nett. Der Alte - unwillkürlich keimte ein Gefühl des Respekts in mir auf. Der Mann - fraglos ein erfahrener Mensch, der schon viel erlebt hatte, ein guter Freund, professionell in seinem Beruf. Die Frau - sie war attraktiv, so schön wie die einzige Frau auf der Welt nur sein kann ...

»Verstehst du ihre Sprache?«, fragte mich der Alari plötzlich.

»Nein.« Ich schluckte einen Kloß in meinem Hals hinunter. »Wissen sie, wer ich bin?«

Das bepelzte Wesen ließ sich nicht zu einer Antwort herab.

Dafür kam die Frau zu mir und strich mir mit der Hand über die Stirn. Mein ganzer Körper streckte sich dieser mitfühlenden Zärtlichkeit entgegen. Umgehend presste mich das verfluchte Band nach unten.

Die Menschen bemerkten das anscheinend. Sofort redeten sie alle zugleich auf den Alari ein. Protestierend und aufgeregt. Der Alari knurrte nur finster. Aber am Ende war ihre Beschwerde wohl zu energisch - das kleine schwarze Wesen stieß ein paar Zischlaute aus, und das Band glitt von meinem Körper. Es verschwand, schlängelte sich irgendwo in die Unterseite des Betts hinein. Ich war frei!

Ich setzte die Füße auf den Boden, genoss den Widerstand, den ich da spürte. Mir schwindelte leicht, trotzdem wollte ich mir diese wundervolle Gelegenheit nicht entgehen lassen und ein paar Schritte gehen.

»Bleib beim Bett!«, befahl der Alari.

Schon gut, wird gemacht ...

Ich ging an meinem Bett entlang. Es war in der Tat höckerig und ungleichmäßig. Nach einer Weile setzte ich mich wieder darauf.

Die Menschen sahen mich irgendwie befremdet an. Vor allem die Frau. Unvermittelt blickte sie woanders an.

Was hatte ich falsch gemacht?

Der Mann zog seine Jacke aus und hielt sie mir wortlos hin. Da ging mir plötzlich auf, dass es sich nicht gehörte, nackt herumzuspazieren. Verdammt!

Rasch warf ich mir die Jacke über den Schoß.

»Keine Bewegung!«, befahl der Alari. Er kam zu mir, schnappte sich die Jacke und tastete mit den Vorderpfoten flink die Taschen ab. Obwohl sich nichts in ihnen befand, kontrollierte er noch das Futter und die Nähte. Erst danach gab er sie mir zurück. Ich bedeckte meine Blöße gleich wieder. »Gebt mir meine Sachen zurück«, verlangte ich.

»Nein.«

»Dann weigere ich mich, mit euch zu reden und auf eure Fragen zu antworten.«

Nach einer kurzen Pause fragte der Alari die Menschen etwas. Offenbar rieten sie ihm, auf die Bitte einzugehen.

Ein zweiter Alari tauchte auf, sehr schnell. Er brachte mir Shorts aus funkelndem silbrigen Stoff. Die Frau drehte sich um, ich zog schnell die Hosen an und wollte dem Mann schon seine Jacke zurückgeben, doch der schüttelte den Kopf. Das sollte bestimmt heißen, dass ich die Jacke behalten durfte. Ich zog sie an, knöpfte sie bis oben zu, genau wie es ihr früherer Besitzer getan hatte.

»Wo sind meine anderen Sachen?«, fragte ich den Alari.

»Was für andere Sachen?«

Es kam wie eine Erleuchtung über mich. Mit einem Blick auf die Menschen begann ich meine Aufzählung: »Schuhe, Socken, lange Hosen, Hemd, Pullover, Unterhemd, Unterhosen, Rock und Brustband.«

Die Spitze der schmalen Schnauze des Alari zitterte. »Ziehst du das alles auf einmal an?«

»Ich weiß nicht.« Ich dachte nach. »Nein. Ein Brustband ist ein Teil der weiblichen Garderobe.«

»Du hattest nur das an.« Der Alari deutete mit der Pfote auf meine Shorts. »Bist du jetzt zufrieden? Kooperierst du jetzt?«

»Ja«, antwortete ich.

»Du bist eines Verbrechens angeklagt. Du hast unsere Schiffe zerstört.«

Schiffe!

Sterne und Planeten!

Das All.

Ich war geflogen, wirklich geflogen. Aber nicht selbst, sondern in einem Schiff.

»Ich erinnere mich nicht«, versicherte ich. »Ich erinnere mich nicht.«

»Wie heißt dein Planet?«

Ich kniff sogar die Augen zusammen, als ich mich zu erinnern versuchte. Ich wollte den Namen unbedingt in meinem Gedächtnis ausfindig machen. Nicht für die Alari, sondern für mich selbst ...

»Ich weiß es nicht.«

»Diese Wesen ...« Der Alari nickte in Richtung der Menschen. »... sind das deine Artgenossen?«

»Vielleicht ...«

»Ihr Planet heißt Erde. Sagt dir das etwas?«

»Erde - das ist die weiche Schicht des Bodens.«

»Antworte auf die Frage.«

Erde, wiederholte ich in Gedanken, Erde.

»Nein.«

»Jetzt fängt die Ruhezeit an. Aber wir kommen wieder und setzen die Unterredung fort«, kündigte der Alari an. »In meiner Abwesenheit darfst du dich uneingeschränkt im Raum bewegen.«

Wie großzügig!

»Und wie heißt dieser Planet? Wo befinden wir uns?«

»Das ist ein Schiff«, antwortete der Alari nach kurzem Zögern. »Schluss jetzt. Ich muss jetzt nachdenken.«

Er teilte den Menschen etwas in einer mir fremden Sprache mit, daraufhin verließen sie den Raum, wobei sie offen ihr Bedauern bekundeten und mir mitleidige Blicke zuwarfen.

Folglich hatten sie hier nicht viel zu sagen.

Auch für sie war der Alari ein Nicht-Freund. Das bedrückte mich. Denn Nicht-Freunde mussten doch zu Freunden werden.


Ich war mir sicher, beobachtet zu werden. Deshalb dauerte es ziemlich lange, den Raum auszukundschaften. Ich schlenderte hin und her, blieb immer wieder stehen, um mir die Beine zu massieren, und hockte mich ab und an hin. Sollten sie doch denken, ich wollte mich lockern. Nebenbei bemerkt, schadete die Bewegung ja tatsächlich nichts.

Ich befand mich auf einem Schiff, einem großen Schiff offensichtlich. Mein Schiff war kleiner. Vielleicht lag es irgendwo in der Nähe.

Meine Chancen standen natürlich schlecht. Trotzdem musste ich sie nutzen.

Worüber verfügte ich, von meinem eigenen Körper abgesehen?

Shorts und eine Jacke. Die Shorts nützten mir gar nichts, bestenfalls konnte ich sie in Streifen reißen, ein Seil knüpfen und mich aufhängen. Die Jacke ... fester, dunkelblauer Stoff, ein weiches Futter, Embleme mit mir unbekannten Symbolen und Zeichen in einer fremden Sprache. Mit Knöpfen, außerdem mit winzigen Metallstücken, die sich an beiden Seiten unter den Knöpfen entlangzogen. Gehörten die auch zum Verschluss? Es sah so aus ... Aber wie funktionierte er? Anscheinend handelte es sich um eine Uniform. Das half mir auch nicht weiter ... Halt. Ich drehte das Ende der Schnur, die unten durch die Jacke gezogen war, zwischen den Fingern. Links und rechts saßen kleine Metallringe auf der Schnur. Aha, damit zog man sie in der Taille zusammen. Und das half mir weiter!

Ich ging nach wie vor in der Zelle umher, wobei ich den kleinen Knoten an der Schnur lockerte. Schließlich gelang es mir, ihn aufzuknüpfen und die Schnur am anderen Ende der Jacke nach und nach herauszuziehen. Das dauerte rund zehn Minuten, die Jacke widersetzte sich meinen Bemühungen, ich musste sie wieder zurechtzupfen und dabei darauf achten, alles so zu bewerkstelligen, dass mein potenzieller Beobachter es nicht mitbekam. Irgendwann waren meine Bemühungen von Erfolg gekrönt. Ich hatte die Schnur ganz herausgezogen. Verborgen in meiner Faust lag fast ein Meter festen Seils.

Bestens geeignet, um jemanden zu erwürgen.

Ich zweifelte nicht daran, dass ich mit den Alari auch mit bloßen Händen fertig werden würde. Den Spuren an meinem Körper nach zu urteilen, hatte ich einen solchen Kampf schon einmal überstanden und den Zottelwesen keine geringen Verluste beigebracht. Sie dürften guten Grund haben, jetzt derart übervorsichtig aufzutreten.

Es blieb die Luke.

Ich selbst konnte sie nicht öffnen. Folglich musste ich die Alari um besagte Gefälligkeit bitten. Dieser Alari, der erste, der mit dem schwarzen Fell, hatte eine »Ruhezeit« erwähnt. Ob sie aus diesem Anlass vielleicht ein paar Wachen abgezogen hatten? Vielleicht passte jetzt nur noch ein Wesen auf mich auf?

Als ich mich auf den glatten Boden der Hypothesen vorwagte, büßte ich meine Sicherheit sofort ein. Wenn sie mich wirklich für dermaßen gefährlich hielten, dann musste ich mehrere Bewacher haben. Aber hatte es nicht auch einen Kampf im All gegeben? Dieser »große Schaden«. Ein Teil der Wesen könnte also durchaus mit der Reparatur des Schiffs beschäftigt sein ... Wie viele von ihnen sich wohl insgesamt an Bord befanden? Zwei? Sechs? Zehn? Hundert?

Meine Entschlossenheit schmolz mit jeder Sekunde. Deshalb zögerte ich nicht länger.

»Ich muss meine Ausscheidungsprodukte loswerden!«, teilte ich der Decke mit. »Bringt einen Topf!«

Meinen Bedürfnissen schenkten sie eigentlich Aufmerksamkeit. Die letzten Male war umgehend ein grauer Alari aufgetaucht, ich hatte mal gerade bis zwanzig gezählt.

Zehn ... zwölf ... achtzehn ... zwanzig ...

Sie waren wirklich ausgesprochen pünktlich.

Die Luke öffnete sich, ein Alari mit dem Nachttopf in den Pfoten betrat die Zelle. Unverzüglich schleuderte ich ihn zu Boden und schlang ihm die Schnur um den Hals. Der Topf fiel scheppernd auf den Boden.

»Wer bewacht die Zelle?«, schrie ich und zog die Schnur kurz zusammen. Einen Fuß stemmte ich gegen die Luke, für alle Fälle, damit er nicht auf die Idee kam zu verschwinden.

»Ich ...«, antwortete der Alari mit normaler, keineswegs erstickter Stimme. Ob ich nicht fest genug gezogen hatte? Ich zerrte noch einmal - und das Wesen, das ich mit dem Knie zu Boden presste, keuchte auf. »Nein ...«, brachte es in unverminderter Lautstärke hervor.

Dieses ekelhafte Ding an seinem Hals, aus dem die Laute kamen, hing offenbar nicht von der Atmung ab.

Ich lockerte den Druck ein wenig. »Wer noch?«, fragte ich.

Schweigen. Gut, das ist auch eine Antwort. Und sie gefiel mir.

»Wo ist mein Schiff?«

»Du kommst hier nicht weg«, verkündete der Alari zwischen zwei Krämpfen. »Lass mich los und geh an deinen Platz zurück. Ich habe dir ein Gefäß gebracht.«

Unwillkürlich musste ich lachen. Danach stand mir nun wirklich nicht der Sinn, mein Nicht-Freund.

»Antworte!«

»Nein ...«

Die unerschütterliche Stimme des Alari passte nicht zu den Krämpfen seines Körpers. Verzweifelt dachte ich nach. Noch einmal würde sich mir eine solche Gelegenheit nicht bieten, das stand fest. Dieser Alari würde mir nichts sagen. Folglich musste ich mich auf gut Glück durchschlagen ...

Plötzlich vernahm ich einen Schmatzlaut. Der Auswuchs am Hals des Alari zuckte, teilte sich in zwei Hälften, floss unter der Schnur durch und fiel zu Boden. Sein Inneres zeigte eine rosa-weiße Farbe, wie ausgeblutetes Fleisch. Die Stücke erzitterten und streckten sich zueinander hin.

Was war das nun schon wieder für eine biologische Ausgeburt! Ein Dolmetscher, ein Translator! Oder noch schlimmer: ein Symbiont!

Ich schnappte mir das Metallgefäß, schlug mehrmals auf die Brocken aus Protoplasma ein und verschmierte sie über dem Boden. Das Wesen stellte seine Fähigkeit, sich zu teilen, durchaus unter Beweis, doch jede Lebensform hat ihre Grenzen. Aber bitte sehr, du kannst ja mal versuchen, dich aus dem Matsch am Boden wieder zusammenzusetzen!

Das rosa Gel wabbelte, veränderte nach und nach seine Farbe, verschmolz beinahe mit dem Boden, versuchte aber nicht länger, sich neu zu formen.

Ich wandte mich dem Alari zu - gerade noch rechtzeitig. Er nutzte den Umstand, dass ich die Schnur nur noch mit einer Hand hielt und der Druck deshalb nachgelassen hatte, und schlug mit seiner Vorderpfote auf mich ein. Die scharfen Krallen rissen mir die Jacke auf, Schmerz versengte meine Schulter. Mich fröstelte bei dem Gedanken, was mit meinem Arm passiert wäre, wenn er nackt gewesen wäre.

Ich fasste die Schnur wieder mit beiden Händen und zog sie fest zusammen. Der Alari stieß Laute aus, es klang wie ein Rascheln. Wir hatten keine Möglichkeit mehr, uns miteinander zu verständigen.

Folglich hatte der Alari auch keine Möglichkeit mehr, mein Freund zu werden.

Ich zog die Schnur mit aller Kraft zusammen. »Zieh an der Schnur ...«, flüsterte ich.

So werden Probleme gelöst.

Der Körper des Alari erschlaffte.

Ich zog die Schnur ab, nahm sie in die linke Hand und stieß den Körper mit dem Fuß weg. Das Wesen wirkte tot oder sterbend, genau wie sein widerlicher Symbiont. Mitleid mit dem Alari empfand ich keins, Hass übrigens ebenso wenig. Diejenigen, die an keinem Friedensprozess teilnehmen wollen, sterben halt manchmal. Aber vielleicht würde er ja auch wieder zu sich kommen, mein glückloser geschwänzelter Gefängniswächter.

Ich nahm den Nachttopf in die rechte Hand. Das Metall, aus dem er gefertigt war, wog kaum etwas, war aber dennoch solide. Besser als nichts.

Mit der Schnur in der einen und dem Topf in der anderen Hand brach ich aus meinem Gefängnis aus.


Der Tunnel zog sich zehn Schritt in die Länge. Es wäre bequemer gewesen, ihn auf allen vieren zu durchkriechen, aber das hätte mich meine Kampfbereitschaft gekostet. Deshalb musste ich gekrümmt rennen.

Irgendwann teilte sich der Tunnel. Ich bog nach links, einfach weil der Tunnel hier kürzer war und sich bald verbreiterte.

Der Raum, in den ich gelangte, war etwas größer als meine Zelle, diente aber genau dem gegenteiligen Zweck: Hier war die Wache untergebracht. Eine Wand nahm ein riesiger Bildschirm ein, auf dem grelle, in die Augen schneidende Farben flackerten. Wahrscheinlich unterschied sich mein Sehvermögen von dem der Alari, so dass ich auf diesem Bildschirm weder meine Zelle noch die Leiche des erwürgten Aufpassers zu erkennen vermochte. Neben einem hermetisch abgeschlossenen Fass standen zwei weitere Nachttöpfe auf dem Boden, dazu ein Behältnis mit dem Zeug, das sie mir zu essen gaben.

Immerhin konnte ich mich hier zu voller Größe aufrichten.

Mitten im Zimmer stand ein »Bett«, das dem glich, an das ich geschnallt gewesen war. Auf ihm lag reglos ein Alari, der dem Getöteten glich wie ein Ei dem anderen. Wie unvorsichtig sie waren! Und wie vorteilhaft das für mich war!

Mich lautlos auf nackten Füßen vorwärtsbewegend, trat ich an den Alari heran und presste ihm die Schnur quer über den Hals. Er zuckte nur einmal, denn ich hatte kein Risiko eingehen wollen. Als das Wesen verstummte, fiel von ihm ‚ebenfalls ein Klumpen Protoplasma ab, und ich wiederholte die Prozedur von vorhin.

Unvermeidliche Verluste. Bei der Waldrodung fallen immer kleine Holzpartikel an. Wenn ich es nicht schaffte zu fliehen, würden die Verluste nur noch dramatischer ausfallen. Dann müsste es heißen: Bei einem Waldbrand ...

Ich durchsuchte das ganze Zimmer, fand jedoch nichts, was mir helfen konnte. Einen zweiten Nachttopf brauchte ich nicht, und dieses Zeug essen, das direkt neben dem Behälter für die Exkremente stand, das wollte ich nicht.

Also zurück. In den Tunnel rechter Hand.

Hier musste ich ziemlich lange gehen. Das fremde Schiff erwies sich in der Tat als riesig. Das heißt, falls man mich nicht angelogen hatte und ich mich wirklich im All befand, auf einem Schiff ...

Mit jedem Moment begriff ich besser, dass meine Flucht der reine Wahnsinn war: Ständig würde ich auf verschlossene Luken stoßen - die ich nicht würde öffnen können. Es würde von Alari wimmeln - und mit allen auf einmal könnte selbst ich es nicht aufnehmen.

Inzwischen gab es jedoch keinen Weg zurück.

Als ich die nächste Luke in der Wand entdeckte, vermochte ich schon keinen klaren Gedanken mehr zu fassen. Sollte ich weitergehen oder die verschlossene Luke aufbrechen? Spielte das überhaupt eine Rolle? In einem Labyrinth existiert kein sicherer Weg, da bieten sich einem nur Möglichkeiten.

Eventuell bekam ich die Luke ja auch gar nicht auf. Zumindest diese Möglichkeit würde ich gleich ausschließen.

Ich legte die Hand auf die Luke. Ich zog sie zu mir, nach links, nach rechts, nach oben und nach unten. Nichts rührte sich.

Daraufhin klopfte ich einfach an.

Ebenfalls nichts.

Ich stand vor der Luke, die womöglich in die Freiheit führte. Wütend knallte ich mit dem Topf gegen sie. Ein bulleriger Ton entstand. Dann ging ich weiter durch den Tunnel.

Bis ich hörte, wie hinter mir die Luke geöffnet wurde.

Nein, wenn ich jetzt über die Alari herfallen würde, käme ich nicht ungeschoren davon. Insofern wäre es reinste Zeitverschwendung.

Aber dann ragte in der geöffneten Luke gar kein Alari auf, sondern der Mann, der mir die Jacke geschenkt hatte.


Wir konnten einander nicht verstehen.

In dem Raum, in den mich der Mann gebracht hatte, standen mehrere Betten und Stühle - voller Vergnügen erinnerte ich mich daran, dass zum Sitzen spezielle Möbelstücke entwickelt worden waren. Der Raum selbst war größer als meine Zelle, auf dem Boden lagen verschiedene Sachen ... Diese Menschen waren keine Gefangenen, sondern Gäste, wenn auch nicht gerade sonderlich geschätzte. Alles hier wirkte richtig, normal.

Aber sie konnten mich nicht verstehen.

Sie sprachen alle mit mir, der Mann, die Frau und der Alte. Anscheinend in unterschiedlichen Sprachen. Sie wollten mich unbedingt verstehen ... genau wie ich sie. Doch die unbekannten Laute lösten keinerlei Echo in meinem Gehirn aus. Leider.

Waren wir einander also auch fremd? Obwohl wir uns so ähnlich sahen?

Der Alte fasste mich beim Arm und zeigte auf die Schnur. Ich spannte die Schnur und machte eine Bewegung, als zöge ich sie jemandem um den Hals.

Sie verstanden und redeten aufgeregt miteinander. Ich wartete. Selbst wenn wir aus unterschiedlichen Welten waren - wir ähnelten uns einfach zu sehr, um Nicht-Freunde zu sein. Der Mann hatte mir sogar seine Jacke gegeben, die Frau hatte mein Gesicht mit dem größtmöglichen zärtlichen Mitleid berührt, das sie sich in Anwesenheit des Alari herausnehmen durfte.

Ich brauchte Hilfe. Ohne Hilfe wäre ich verloren.

Aber würden sie dieses Risiko eingehen?

Sie verstummten. Der Mann trat an mich heran. Schweigend zog er seine Schuhe aus und reichte sie mir. Dann zog er seine Hose aus ...

Freunde ...

Während ich mich anzog, knüpfte er ein längliches Paket von seinem Gürtel. Ich nahm auch das an mich. Es enthielt ein langes Messer.

Freunde.

Die Hosen waren mir etwas zu eng, und mit dem Verschluss kam ich nicht zurecht. Der Mann half mir, mich anzuziehen. Jetzt konnte man mich für ihn halten. Darauf hoffte ich jedenfalls.

»Ich danke euch«, sagte ich. Selbst wenn sie meine Worte nicht verstanden, würden sie doch den Ton erfassen. »Danke.«

Schließlich gab mir der Mann noch eine Pistole. Eine seltsame Konstruktion, ein dicker Griff, ein breites Bodenstück, ein kurzer Lauf, der in eine Halbkugel von rubinroter Farbe mündete. Der Mann entsicherte sie und legte sie mir mit größter Vorsicht in die Hand. Er zeigte auf den Abzug.

»Ihr werdet Probleme bekommen«, bemerkte ich.

In der Zwischenzeit hatte der Alte aus einer prall gefüllten Tasche ein Blatt Papier herausgeholt und einen komischen, primitiven Stift. Anscheinend handelte es sich dabei um ein Stück Graphit, das in eine Holzummantelung eingelassen war. Er zeichnete eine Skizze. Eine einfache und klar verständliche Skizze.

Ein Kreis - das war meine Zelle. Die Linien, die von ihr wegführten - das waren die Tunnel zum Zimmer der Wache und in diesen Raum. Eine verzweigte Linie - das war der weitere Weg.

Wenn der Maßstab stimmte, war es nicht sehr weit bis zu einem großen Raum. Und anscheinend musste ich dorthin.

»Ich habe nichts, was ich euch zum Dank geben könnte«, sagte ich. »Aber wenn ich hier rauskomme ...«

Der Alte gab mir das Blatt und küsste mich auf die Stirn. Fast als segne er mich.

»Die Waffe ist nicht nötig«, meinte ich. »Die Alari würden wissen, woher sie kommt.«

Offenbar hatten die drei darüber auch schon nachgedacht. Der Mann fasste mich an der Hand und führte sie rasch an sein Gesicht. Fragend sah er mich an.

»Ich will das nicht«, sagte ich. »Ich habe dich verstanden, aber ich will das nicht!«

Sie warteten. Schließlich holte ich aus und schlug mit aller Kraft zu. Der Mann schwankte und presste beide Hände gegen das Gesicht.

Ob die Alari nun glauben würden, ich hätte ihm die Waffe gewaltsam abgenommen?

»Ich danke euch«, flüsterte ich. »Danke. Wir werden Freunde werden.«


Die ersten drei Wendungen des Tunnels brachte ich ohne Probleme hinter mich. Dann erweiterte sich der Tunnel und mündete in einen dunklen Saal. Ich verlangsamte den Schritt.

Es war sehr leise. Eine trügerische Stille. Eine nichtmenschliche Stille.

Ich hob die Waffe, die ich geschenkt bekommen hatte. Ich hätte sie gern zunächst ausprobiert, wusste aber nicht, wie viel Munition sie überhaupt enthielt. Immerhin hatte ich ja noch das Messer, die Schnur und den Nachttopf. Ein reiches Arsenal ...

Der Saal war rhombisch und kaum beleuchtet, nur hier und da funkelten in den Wänden transparente Glaskörper. Außerdem wimmelte es in ihm von Alari. Nachtschwarze und fast weiße Wesen, die auf dem Boden lagen, vor einer Erhebung von sonderbarer Form. Gerade Linien akzeptieren diese Wesen anscheinend nicht. Die Erhebung erinnerte vage an eine Tribüne, aber auf ihr befand sich niemand.

Was taten sie?

Die letzten Minuten hatten mich mit unzähligen neuen Begriffen bereichert, so dass ich etliche Hypothesen formulieren konnte: Gebet. Erholung. Arbeit.

Doch was spielte es schon für eine Rolle? Ich musste den Saal durchqueren, was auch immer in ihm vor sich ging.

Die geschenkte Pistole würde wohl kaum über einen großen Energievorrat verfügen. Außerdem würde Alarm ausgelöst, sobald ich den ersten Schuss abgab. Ich nahm die Waffe in die linke Hand, mit der rechten packte ich den Metalltopf fester. Ein Ende der Schnur knotete ich an seinen Henkel, das andere an mein Handgelenk. Schwer seufzend betrat ich den Saal.

Meine ganze Hoffnung gründete darauf, dass für die Alari alle Menschen gleich aussahen. Ich trug die Sachen des Experten, der kein Gefangener war. Vielleicht würde ich ja durchkommen.

Die ersten zehn Schritt ging ich völlig ruhig. Ich sprang sogar über einen Alari, der mir im Weg lag.

Dann fingen sie an, sich zu rühren und sich in meine Richtung zu drehen. Drei Dutzend spitzer Gesichter glotzten mich an. Eins ließ sich vom andern nicht unterscheiden, nur ihre Farbe variierte, von Schwarz bis Weiß. Mich konnten sie bestimmt genauso wenig von dem Experten unterscheiden. Sie konnten es einfach nicht! Ich trug die Kleidung des Mannes. Ich ging langsam meinen Weg ... Ich brachte den Nachttopf raus ...

Durch die Reihen der Alari rann ein Nuscheln. Es war leise - was mich nur umso mehr erschreckte.

Vielleicht durfte der Experte gar nicht hier sein. Vielleicht wunderte sie die Pistole oder der Topf. Oder sie konnten unsere Gesichter bestens unterscheiden.

Ein kleiner schwarzer Alari sprang auf mich zu. Ich hatte damit gerechnet und reagierte entsprechend - ich richtete die Hand mit der Pistole auf ihn und betätigte den Abzug.

Ein feiner weißer Strahl flammte auf. Eine Laserwaffe ... Der Alari, der im Sprung von der Lichtnadel aufgespießt wurde, kreischte los. Sein Brustfell fing Feuer, er krampfte sich zusammen, streifte kurz meine Hand und fiel zu Boden.

Die Alari schrien und sprangen wild umher. Als ich den Abzug noch einmal drückte, vibrierte die Pistole nur, spuckte behäbig einen kleinen Keramikzylinder aus und drehte in ihrem Innern etwas herum.

Was war das schon wieder? Eine Handfeuerwaffe, die ein paar Sekunden brauchte, um nachzuladen?!

Ich schleuderte die Pistole zusammen mit der Hoffnung, die Reihen der Nicht-Freunde problemlos zu passieren, fort. Dann zog ich das Messer und stürmte vorwärts.

Die Alari fielen geschlossen über mich her.

Im Zweikampf waren sie mir natürlich weit unterlegen. Sie zeigten sich verzweifelt kühn und schnell, waren jedoch viel schwächer als ich. Ich rannte, teilte mit dem Nachttopf Schläge aus, bis deren dumpfes Echo zu einem gleichmäßigen Heulen verschmolz. Wenn das Metallgefäß schwerer gewesen wäre, wären die Alari nicht mit dem Leben davongekommen. Aber so flitzten die halb benommenen Wesen nur zur Seite, schüttelten die Köpfe, um wieder zu sich zu kommen, und warfen sich erneut auf mich.

Ein großer, hellgrauer Alari sprang mich an, grub in Brusthöhe seine Zähne in meine Jacke und hämmerte mit seinen langen Vorderpfoten auf mein Gesicht ein. Meine Augen traf er zum Glück nicht, aus meinen Wangen strömte jedoch Blut. Ich stieß ihm mit dem Messer in die Seite, worauf der Alari von mir abfiel, unversehens seines Kampfeseifers beraubt. Die anderen spornte das nur an. Sie hingen schon zum dritten Mal an mir. Mich rettete, dass ihre Attacken immer gleich ausfielen - sich in Brusthöhe verbeißen und mit den Pfoten auf meinen Hals oder mein Gesicht einhämmern. Die Jacke schützte meinen Körper, aber mein Gesicht verwandelte sich in eine einzige Wunde, und Blut lief mir in die Augen.

»Euch zeig ich’s!«, schrie ich, während ich mit dem Topf auf die zotteligen Köpfe eindrosch. Ich kannte ihre Schwachstelle bereits, nämlich die schwarze Nasenspitze. Nach einem Schlag darauf wichen sie viel schneller zurück und wagten sich anschließend nicht mehr an mich heran. »Auseinander!«

Nein, sie verstanden mich nicht. Aber ihr Selbsterhaltungsinstinkt funktionierte, so dass sie mir den Weg freigaben. Zu viele Alari wimmerten schon vor Schmerz in den Ecken, zu viele krümmten sich bereits in Lachen dunklen Bluts auf dem Boden.

Ich rannte aus dem Saal, eine Meute wütender und verletzter Alari zurücklassend. Sie wagten es nicht, mir nachzusetzen - obwohl der Korridor ihnen bei ihrer Körpergröße einen Vorteil gegeben hätte. Dennoch wagten sie nicht, die Verfolgung aufzunehmen. In dem schmalen Gang wäre alles auf Zweikämpfe hinausgelaufen - und da hätten sie nicht die geringste Chance gehabt.

Andererseits hatte ich jetzt meinen Hauptvorteil eingebüßt, das Überraschungsmoment. Inzwischen war meine Flucht bekannt, nun konnten sie Maßnahmen ergreifen. Sie brauchten nur die Luken zu schließen, und ich säße in der Falle ...

Ich rannte weiter, so schnell ich konnte, stolperte immer wieder, hielt aber nicht an. Der Skizze zufolge führte dieser Gang zu einem großen Raum. Was ich dort vorfinden würde - darüber wollte ich jetzt lieber nicht nachdenken.

Der Tunnel wurde wieder breiter. Ich gelangte in einen riesigen Saal, in dem es ebenfalls diese transparenten Glaskörper in den Wänden gab und die Decke nicht plan war. Nur war er noch größer als alle anderen Räume. Wenn sich mein Schiff nicht hier befand, dann war alles aus ... Die Halle war fast leer, nur am Eingang zum Tunnel standen zwei Alari, die bei meinem Auftauchen erstarrten.

»Hallo!«, schrie ich und zog ihnen meinen dienstbaren Nachttopf über die Schädel. Die Wesen stießen unverständliche Laute aus und flohen vor mir. Anscheinend waren es irgendwelche Techniker, die normalerweise nicht kämpften.

Das erlaubte es mir, kurz durchzuatmen. Ich sah mich um. In den Wänden klafften die Öffnungen anderer Tunnel, aus denen jeden Moment die wütenden Bewohner des Schiffs auftauchen konnten. Und ich wollte nicht noch einmal in die engen Gänge kriechen.

Ganz hinten in der Ecke des Saals stand ein kleines, linsenförmiges Schiff aus mattem grauen Metall. Irgendwas an ihm kam mir bekannt vor, und meine Füße trugen mich von selbst in diese Richtung.

Nur wie wollte ich das Schiff steuern? Ich wusste ja noch nicht mal, wie ich hineinkommen sollte!

Trotzdem eilte ich auf die Metalllinse zu. Das war meine einzige Chance.

Da vollführten die Alari einen absolut überraschenden und effektiven Schlag: Genau in dem Moment, als ich die Mitte des Saals erreichte, verschwand der Boden unter meinen Füßen.

Die Schwerelosigkeit!

Natürlich war die Gravitation im Schiff künstlich! Und jetzt hatten die Alari sie eben abgeschaltet. Ungelenk mit den Beinen strampelnd, glitt ich durch die Luft.

Wie idiotisch!

Ich hing einen Meter überm Boden und schwebte langsam zur Decke. Aus den Tunneln schössen die Alari heraus. Sie beeinträchtigte die Schwerelosigkeit nicht, und so bewegten sie sich langsam, aber sicher, indem sie ihre Krallen in den rauen Fußboden gruben. Was für ein Albtraum! Ich hing völlig hilflos in der Luft, während diese Monster gemächlich auf mich zusteuerten ...

»Nein!«, schrie ich. Ich krümmte mich und reichte fast bis an den Boden. Meine Finger glitten über die Platten, ohne Halt zu finden.

Das Messer!

Ich rammte das Messer in den Boden. Verzweifelt und fast sicher, dass es zerbrechen oder abfedern und ich gegen die Decke geschleudert werden würde. Aber der Stahl drang durch den Belag, das Messer blieb stecken. Ich reckte mich zum Boden hinunter und schaute über die Schulter zurück.

Die Alari rückten vor. Ich bewegte die Klinge hin und her, zog sie heraus und stieß sie etwas weiter vorn wieder in den Boden. Erneut machte ich mich lang. Purpurrote Bällchen stiegen in die Luft auf, Bluttropfen, die aus meinem zerkratzten Gesicht perlten. So bewegte ich mich auf das Schiff zu.

Die Alari hinter mir kreischten los, als sie begriffen, dass ihr Opfer floh.

Diese wahnsinnige Jagd dauerte nicht lang, kam mir aber ewig vor. Als mich nur noch rund zehn Schritte vom Schiff trennten, vibrierte sein Körper und öffnete sich, und zwar genau wie die Blüte einer Blume. Die Alari waren mir dicht auf den Fersen. Nachdem ich das Messer erneut in den Boden gehauen hatte, zog ich es so heraus, dass ich mich gleichzeitig daran abstieß und meinen Flug Richtung Schiff lenkte. Trudelnd flog ich weiter.

Die Alari sprangen hinter mir her.

Ich hatte die Flugbahn schlecht berechnet. Es trug mich nach oben, und ich begriff, dass ich über das Schiff hinausschießen, keinen Halt an ihm finden und gegen die Wand knallen würde. Das wäre mein Ende.

Aber genau in dem Augenblick, als ich über die offene Kabine segelte, zog mich etwas sanft an Bord. Alles war so, wie es sein sollte, auch die Schwerkraft war wieder da. Nicht in der ganzen Halle, sondern nur in meinem Schiff. Mit einem Aufschrei fiel ich direkt in den breiten, weichen Sitz vor dem geschwungenen Pult. Die Kuppel über dem Cockpit schloss sich langsam.

Dann gab es einen Stoß - und ein Alari plumpste in den Nachbarsitz. Quiekend stürzte er sich auf mich. Ich zog ihm mit dem Nachttopf eins über und warf das Wesen, während es den Kopf noch hin und her drehte, um sich von dem Schlag zu erholen, durch die sich schließende Kuppel hinaus. Ein paar weitere Alari stürmten noch zum Schiff, in dem vergeblichen Versuch hineinzuschlüpfen. Ich ließ das Gefäß über mir kreisen, mein verdienstvoller Nachttopf rutschte von der Schnur und flog seinen Erbauern entgegen. Mir tat es sogar leid um diesen überraschend nützlichen Gegenstand.

Die Kuppel schloss sich endgültig und schirmte mich zur Halle hin ab. Das Innere des Schiffs wurde unverzüglich in mattes, weißes Licht getaucht. Ich atmete geräuschvoll durch und lehnte mich auf dem Sitz zurück. Was auch immer geschehen sein mochte - das hier war mein Schiff. Sonst hätte es mich nicht eingelassen und vor den Feinden beschützt. Fürs Erste war ich in Sicherheit.

Zwei

Meine Flucht, die Begegnung mit den Experten, der Kampf - all das hatte mich ungeheuer bereichert. Wie viel neue Begriffe ich jetzt kannte: Waffe, Schwerelosigkeit, Gravitation, Wunde und Blut. Mein Bewusstsein saugte diese Wörter auf und verlieh ihnen Sinn.

Das Schiff dagegen - mein Schiff - löste in meinem Gedächtnis nichts aus!

Gab es womöglich nicht von ungefähr zwei Sitze im Cockpit? War ich vielleicht gar nicht der Pilot? War mein Gefährte, der das Schiff fliegen konnte, gestorben?

Entsetzt betrachtete ich das zickzackförmige Pult. Die unzähligen bunten Lämpchen. Sie saßen zu dicht beieinander und waren viel zu klein - anscheinend brauchte man nur einen flüchtigen Blick auf sie zu werfen, musste sie jedoch nicht im Einzelnen wahrnehmen. Dann gab es noch zwei ovale Bildschirme.

Und vor jedem Sitz zwei Vertiefungen im Pult, zwei Trichter, die mit einer öligen, silbrigen Flüssigkeit gefüllt waren.

Ganz ruhig ... Das Schiff musste sich steuern lassen. Betriebslämpchen und Bildschirme - das sind Systeme zur Informationsausgabe. Wo konnte Information eingegeben werden?

Ich streckte die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen die silbrige Flüssigkeit. Es fühlte sich wie Gel an, wie eine kolloidale Masse. Elastisch und gleichzeitig unter der Hand nachgebend ...

Ich steckte die Finger in den Trichter. Meine Hände schienen in weiche Handschuhe zu gleiten.

Ich begrüße dich an Bord, Kapitän ...

»Wer bist du?«, schrie ich. Laut, obwohl die Stimme nur in meinem Kopf zu hören gewesen war. In ihr hatten nicht mehr Gefühle gelegen als in einer Seite mit mathematischen Gleichungen. Und trotzdem - es war eine lebendige Stimme.

Dein Bordpartner. Das Schiff ist bereit zum Start. Die Energieressourcen sind wiederhergestellt.

»Ich erinnere mich an nichts mehr«, flüsterte ich. »Mit mir stimmt etwas nicht ... mit meinem Gedächtnis ...«

Die möglichen Gründe einer Amnesie sind ein Verhör unter Anwendung einer destruktiven Mentalkopie, ein hysterischer Schock oder eine Psychoblockade.

»Wer bist du?«

Dein Bordpartner. Ein künstliches System zur Steuerung des Schiffs.

»Und wer bin ich?«

Auf diese Frage antwortete der Computer komischerweise nicht sofort.

Der Kapitän des Schiffs, Nik Rimer. Pilot einer Gruppe der Fernaufklärung. Progressor dritter Klasse. Regressor erster Klasse. Ritter des Ordens des Ruhms dritten Rangs.

Ausgestattet mit dem Recht der freien Suche sowie dem Recht, wichtige Entscheidungen zu treffen.

»Nik Rimer? Das bin ich?«

Ja.

Ich brauchte also nicht laut zu sprechen, damit das Schiff mich hörte. Nik Rimer ...

Der Name löste nicht das geringste Echo in meinem Bewusstsein aus. Leere. Finsternis.

Du hast alle persönlichen Erinnerungen verloren. Du brauchst die Hilfe von Ärzten.

»Ich möchte nach Hause«, flüsterte ich. »Nach Hause. Dort ... dort gibt es Licht.«

Als tauche aus der Leere etwas auf, presste Sehnsucht mein Herz kurz zusammen. Zu Hause - das ist Licht. Wärme und Ruhe. Sicherheit. Dort gab es nicht diese gebleckten Zähne der alarischen Nicht-Freunde. Dort würde man mir helfen.

Soll ich den Start vorbereiten?

»Ja!«

Die Vorbereitung ist abgeschlossen. Einschätzung der Situation: Wir befinden uns an Bord des Schiffs einer unbekannten, aggressiv gesonnenen Zivilisation. Ich bitte um vollständige Verschmelzung, damit ich die aktiven Handlungen vornehmen kann.

»Ja ...«

Mir wurde schwarz vor Augen. Im nächsten Moment stand ich mitten in einer riesigen fremden Halle, umgeben von Alari.

Nein, das war ich nicht! Das war das Schiff. Wir waren eine Einheit geworden. Ich blickte in alle Richtungen gleichzeitig. Ich spürte den Schlag, als die Schwerkraft zurückkehrte. Ich wusste, wie sich die Luft im Schiff prozentual zusammensetzte. Ich spürte die Energieströme in den Wänden und die Dicke dieser Wände ...

Für den Eintritt in den freien Raum sind aktive Handlungen nötig.

Welche Waffen haben wir?, formulierte ich in Gedanken eine Frage.

An Bord gibt es keine Waffen.

Das überraschte mich. Schließlich erinnerte ich mich doch an die Dunkelheit des Alls, die durch Lichtexplosionen durchbrochen worden war ...

Möglich ist eine nicht-standardgemäße Anwendung des Relativitätsschilds, der Meteoritenabwehrkanonen, der seismischen Sonden, der Reparaturlaser, der Fernfunkanlage ...

Tu alles, was nötig ist!, gab ich einen mentalen Befehl. Die Alari um mich herum standen nämlich durchaus nicht tatenlos da, sondern schleppten verschiedene Gegenstände heran, bereiteten einen Sturm vor. Tu alles, damit wir nach Hause kommen!

Zu Befehl. Das Verteidigungsfeld ist aktiviert.

Der Ring der Nicht-Freunde um uns brach auf, zerfiel.

Ich bringe den Antimeteoritenschild in Position.

Unmerklich veränderte sich etwas. Als ob Ich-das-Schiff die fest verschränkten Hände nach oben riss ... und die kuppelförmige Decke der Halle unter dem Schlag einen Riss bekam, an dieser Stelle zu Staub zerfiel ... und in einer kurzen blendenden Explosion verbrannte.

Start.

Im Luftstrom, der durch den Riss schoss, stiegen wir auf. Hindernisse gab es keine, das fremde Schiff verfügte anscheinend nicht über die entsprechende Ausrüstung, um innerhalb des eigenen Raumschiffs gegen uns zu kämpfen.

Ich selbst hatte gar keine Waffe.

Wie komisch das klingt, nicht-standardgemäße Anwendung ... Sicher, mit dem Schild kann man den kosmischen Staub in Geschwindigkeiten, die der Lichtgeschwindigkeit nahekommen, verdampfen. Oder ein Schiff der Nicht-Freunde zerstören.

Wir schoben uns durch den Riss in der Decke, als in der Halle irgendein Feld aktiviert wurde, dessen fahles Leuchten ich sehen konnte. Das stellte keinen Angriff oder den Versuch, uns aufzuhalten, dar. Die Alari hielten vielmehr die wegströmende Luft auf. In einer Wolke silbriger Kristalle gefrierenden Sauerstoffs und von Dämpfen entfernten wir uns von ihnen.

Oho!

Das Schiff, in dem ich gefangen gehalten worden war, erwies sich als riesige Scheibe. Und es war nicht allein im Kosmos, überall funkelten fremde Schiffe. Kleine Kugeln, die uns in Vierergruppen entgegenkamen, aber auch noch ein paar gigantische Scheiben. Sobald ich eines dieser Schiffe im Auge behielt und beobachtete, wie es größer wurde, registrierte ich förmlich jede seiner Bewegungen und wohl auch einzelne Details in seinem Innern ...

Es folgen ein Ablenkungsmanöver und der Abflug. Ich setze seismische Sonden aus.

In dem Schiff - in mir - öffneten sich die Schießscharten, und sechs kleine Kegel schossen den fremden Schiffen entgegen. Diese wichen zur Seite aus, als kennten sie das Manöver bereits.

Sechs Feuerbälle loderten im All auf. Ich sah, wie die Ströme der Strahlung im Raum zerflossen, wie die fremden Schiffe sich mit ihren Verteidigungsschilden gegen die Explosionen zu schützen versuchten.

Subatomare Sprengkörper von mittlerer Sprengkraft. Sie werden zur Sondierung der Bodenschichten auf unbewohnten Planeten eingesetzt und zur Überwindung unvorhergesehener Situationen.

Wir glitten durch die lodernden Flammen. Die Nicht-Freunde blieben hinter uns zurück.

Wir gehen auf Überlichtgeschwindigkeit ...


Als ich in der Kabine wieder zu mir kam, steckten meine Hände nach wie vor in der silbrigen Flüssigkeit. Dennoch fühlte ich mich nicht länger als das Schiff.

Es tut gut, nicht alle Seiten gleichzeitig sehen zu müssen!

Du hast das Bewusstsein verloren. Hat sich dein Zustand jetzt verbessert?

»Ja«, flüsterte ich. »Wo sind wir?«

Im Außer-Raum. Wir bewegen uns auf Die Heimat zu.

»Ist es weit?«

Das Schiff zögerte mit der Antwort. Das Ausmaß deiner Verletzungen ist sehr groß.

»Anzunehmen. Ich erinnere mich an nichts mehr. Nicht einmal mehr an meinen Namen.«

Du bist Nik Rimer. Pilot der Fernaufklärung.

»Mir geht es nicht gut«, gestand ich. »Ich erinnere mich wirklich an rein gar nichts mehr.«

Die Situation trägt bedenkliche Züge. Ich bin verpflichtet, dich selbstständig nach Der Heimat zu bringen. Wenn du andere Anweisungen erteilst, habe ich das Recht, den Gehorsam zu verweigern.

»Aber ich will doch gar nichts anderes!« Wut auf das gehorsame und treue und zugleich so dumme Schiff packte mich. »Ich habe doch genau das befohlen!«

Die Warnung bezüglich der temporären Einschränkung deiner Rechte ist erfolgt.

»Bring mich endlich nach Hause!«

Ich zog die Hände aus der schmatzenden Flüssigkeit und schaute mich in der Kabine um. Sollte das wirklich der Ort meiner Arbeit-für-Die-Heimat sein? Wie konnte ich weiter von Nutzen sein, wenn ich mein Gedächtnis nicht zurückerlangte?

Nein, man würde mir helfen. Bestimmt würde man das. Schließlich hatte ich viel geleistet - mit meiner Gedächtnislücke, ohne Waffe, als ich mich aus der Gefangenschaft befreit hatte -, und jetzt war ich auf dem Weg nach Hause, brachte wertvolle Informationen mit. Selbst wenn ich mich kaum an etwas erinnerte, würde das Schiff gewiss alle wichtigen Daten gespeichert haben.

Außerdem besaß ich materielle Trophäen. Genauer gesagt Geschenke. Ein Messer, eine Jacke, Schuhe, eine Hose ... Anzeichen einer fremden Kultur, die unserer Welt so ähnlich ist ...

Ich steckte die linke Hand in den Trichter am Pult. Nur eine Hand, als würde ich mich selbst daran erinnern, dass ich keinen vollständigen Kontakt herstellen wollte.

»Wie lange dauert der Flug?«

Etwa vier Stunden.

»Wie lang ist das?«

Hast du das Zeitgefühl verloren?

»Ja!«

Ich stelle die Information auf dem Bildschirm dar.

Beide Monitore leuchteten auf. Auf dem, der sich gegenüber dem freien Sitz befand, war nur graue Dunkelheit zu sehen. Aber auf dem vor mir prangte ein quadratisches Zifferblatt, unterteilt in zehn Sektoren. Über das Zifferblatt kroch ein Zeiger, zwei weitere verharrten reglos in ihrer Position.

Ein Tag - das ist die Phase, in der sich Die Heimat einmal um die eigene Achse dreht. Ein Tag besteht aus zehn Stunden. Eine Stunde aus hundert Minuten. Eine Minute aus hundert Sekunden. Eine vollständige Drehung des grünen Zeigers dauert hundert Sekunden. Eine vollständige Drehung des blauen Zeigers hundert Minuten. Eine vollständige Drehung des roten zehn Stunden.

Wie einfach und natürlich das war! Anders konnte es ja gar nicht sein. Aber selbst das hatte ich vergessen!

Ich zog die Hand aus dem Trichter und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Nein, ich würde nicht wieder normal werden. Niemals mehr. Ich war krank, unvollkommen, ein Krüppel, nur noch des Mitleids meiner Gefährten würdig. Selbst wenn ich nach Hause käme, würde ich die mir bekannten Gesichter nicht erkennen. Ich würde meine Welt neu entdecken müssen. Mir einen neuen Platz im Leben suchen müssen.

Vielleicht in ein paar Jahren ... ein Jahr - das ist der Zeitraum, in dem Die Heimat um Das Mütterchen kreist ... immerhin, an etwas erinnerte ich mich ja doch noch ... in ein paar Jahren würde ich gelernt haben, normal zu sein. Genauer gesagt, es würde so wirken. Denn stets würde ich mich an diesen Moment erinnern, an dem ich das Zifferblatt gesehen habe und es mir komisch und dumm vorkam, dass ein Tag zehn Stunden hat, eine Stunde hundert Minuten ...

Ich steckte die Hand in den Trichter.

»Mein Gedächtnis und mein Wahrnehmungsvermögen sind ernsthaft gestört«, sagte ich. »Es ist richtig, dass du meine Befehle nicht befolgst, Bordpartner. Ich muss auf die Hilfe der Spezialisten warten.«

Eine tapfere und weise Entscheidung.

»Ich möchte mich an so viel wie möglich erinnern, Bordpartner. Teil mir mit, warum ich in den Kosmos aufgebrochen bin.«

Du gehörst zur Fernaufklärung.

»Die Wesen, die uns beide gefangen gehalten haben -sind die auf Der Heimat bekannt?«

Dazu liegen keine Daten vor. Deshalb nehme ich an, dass sie es nicht sind.

»Wie bin ich in Gefangenschaft geraten?«

Wir sind auf ihre kleinen Schiffe gestoßen. Du hast beschlossen, Kontakt aufzunehmen, indem du eines der Schiffe kaperst und nach Heimat bringst, damit dort freundschaftliche Beziehungen hergestellt werden können.

»War das ... eine richtige Entscheidung?«

Ja. Die empfohlene Prozedur zur Herstellung des ersten Kontakts sieht vor, einen einzelnen Vertreter der fremden Rasse in seine Gewalt zu bringen.

»Warum sind wir dann in Gefangenschaft geraten?«

Es sind neue Schiffe aufgetaucht. Sie besaßen große Feuerkraft. Fluchtbedingungen waren nicht gegeben. Unsere Energie war verbraucht. Wir wurden von dem größten Schiff des fremden Geschwaders geschluckt.

»Und weiter?«

Du hast die Verschmelzung unterbrochen und bist ausgestiegen, um einen Friedensprozess einzuleiten. Doch man hat dich angegriffen. Du hast das Bewusstsein verloren. Eine nicht-standardgemäße Anwendung der Bordmittel hätte zu deinem Tod geführt.

»Und dann?«

Es ist nichts passiert. Da keine Daten über deinen Tod vorlagen, habe ich weiter funktioniert. Sieben ganze Tage und viereinhalb Stunden bist du fort gewesen.

»Haben sie versucht, in dich einzudringen?«

Nein.

»Also besitzen die Nicht-Freunde keine Informationen über Die Heimat? Es besteht keine Gefahr?«

Höchstwahrscheinlich nicht.

»Ich werde warten«, versicherte ich. »Zu Hause wird man mir helfen. Bestimmt.«

Ruh dich aus. Du brauchst Ruhe für die Regeneration deines Organismus.

Ich berührte mein Gesicht. Die Wunden bluteten schon nicht mehr, sondern hatten sich geschlossen, ohne dass ich es gemerkt hätte. Dafür hatte ich gewaltigen Hunger.

Essen findet sich im Container zwischen den Sitzen. Ich öffne ihn.

Ein ovaler Behälter zwischen den beiden Sitzen öffnete seine Blütenblätter - ebenso, wie sich die Schutzhülle des Schiffs geöffnet hatte. Sein Inneres barg mehrere zylindrische Container. Ich befolgte die Anweisungen meines Bordpartners und öffnete einen, indem ich von der Oberseite eine hermetisierende Folie abriss.

Der Zylinder enthielt eine dicke, klumpige Flüssigkeit. Sowohl Essen als auch Trinken ... Freilich, es schmeckte besser als jener Dreck, den mir die Alari vorgesetzt hatten.

Ich aß etwas und versenkte den leeren Container in einer Luke, die mir mein Bordpartner ebenfalls geöffnet hatte. Zu gern hätte ich mich selbst mit allen Gerätschaften vertraut gemacht, schließlich war ich noch vor siebeneinhalb Tagen ein richtiger Pilot gewesen ...

»Wie habe ich dich früher genannt, Bordpartner?«

Partner. Einfach Partner. Das ist die übliche Form.

»Ich werde mich regenerieren, Partner«, versprach ich. »Alles wird wieder gut.«

Ja. Jetzt ruh dich aus. Das ist ein ärztlicher Rat.

»Erzähl mir von Der Heimat. Ich erinnere mich an nichts.«

Das wird nicht empfohlen. Deine Behandlung nehmen die Spezialisten vor. Schlaf.

»Ich kann jetzt nicht schlafen«, beklagte ich mich. »Wirklich nicht.«

Ich werde dir helfen. Schließ die Augen und sei entspannt-wachsam. Lass die Hand im Trichter.

Ich gab mir alle Mühe einzuschlafen. Wie versprochen, hielt ich die Hand in die warme, elastische Flüssigkeit getaucht und ließ mir das wenige durch den Kopf gehen, das ich wusste. Wie ein Baby, das mit bunten Rasseln spielt - dem wenigen, das es in der ihm zugänglichen Welt gibt. All, Schiffe, Heimat, Alari, die Experten, die mir so ähnelten, Bordpartner ...

»Ich kann nicht einschlafen, Partner«, sagte ich und schlug die Augen auf.

Du bist gerade aufgewacht. Wir nähern uns dem System.

»Was?«

Der Bildschirm.

Die größte Rassel der Welt - das Sonnensystem - funkelte vor mir. Das warme gelbe Feuer Des Mütterchens, halb verdeckt von der Scheibe Der Heimat.

»Zuhause ...«, flüsterte ich. »Mein Zuhause ...«

Nein, ich erinnerte mich an nichts. Bis auf das Gefühl, dass ich das schon einmal erlebt hatte: Diesen Blick auf den näher kommenden Planeten. Die wachsende Vorfreude auf die Begegnungen, die Ruhe, die Sicherheit. Licht, das nicht verlischt.

Ich schluckte und beugte mich zum Monitor vor. Alles würde gut werden! Man würde mir helfen, ich würde mich an alles erinnern, am Ende über meine Ängste lachen, über meine Flucht ... Die dämlichen aggressiven Alari würden unsere Freunde werden - so war es schließlich immer gewesen. Wir würden gemeinsam über die Fehler bei unserer ersten Begegnung lachen.

Das Komitee für Fernaufklärung ist informiert. Wir setzen beim Haupterholungszentrum auf Der Heimat auf Man holt dich dort ab, Nik.

»Vielen, vielen Dank, Partner!«, sagte ich. »Wir werden wieder zusammen fliegen!«

Er antwortete nicht gleich.

Möglich, aber unwahrscheinlich. Sehr zweifelhaft. Es besteht nur die geringe Chance, dass ich an einen anderen Piloten angepasst werde. Werde gesund und viel Erfolg bei der Arbeit, Nik.

Die Scheibe Der Heimat verwandelte sich erst in eine Halbkugel, dann in eine Kugel. Ich sah einen Kreis, vor dem fast keine Wolken hingen, und freute mich, dass ich meinen Kontinent so leicht erkannt hatte. Die Perspektive verschob sich nicht, Gravitationsänderungen traten ebenfalls nicht auf, es war fast, als ob das Schiff sich immer noch mit derselben Geschwindigkeit, noch immer auf demselben Kurs fortbewegte. Vermutlich kontrollierte es aber einfach die inneren Schwerkraftfelder sehr gut.

»Die Heimat ...«, sagte ich. »Heimat, ich bin zurück!«


Nachdem ich wieder aufgewacht war, dauerte es weniger als eine Stunde bis zur Landung. Anfangs wirkte das Bild auf dem Schirm leicht trüb, dann verwandelte sich der trübe Schleier in einen Flammenvorhang. Wir durchdrangen die Atmosphäre. Was würde nun geschehen?

Ob mir ein Blick auf einst vertraute Gesichter genügen würde, damit die Barriere einstürzte, damit sich über den Abgrund in meinem Bewusstsein eine solide Brücke spannte? Vielleicht ...

Der Feuersturm rund um das Schiff legte sich. Wir flogen, zwar noch in großer Höhe, dicht am Rand der Atmosphäre, waren aber bereits zu Hause. Weit unten spannten sich weiße Ketten von Agrarwolken, aus denen Ackerland berieselt wurde, gab es durchbrochene Streifen von Schmuckwolken, die die Augen erfreuten, und dunkle, dräuende Romantische-Stimmungs-Wolken.

Ja doch, ich erkannte Die Heimat wieder! Wenn auch nicht alles auf einmal!

Allen Schwierigkeiten zum Trotz waren wir zurückgekehrt, noch dazu als Sieger!

Halte dich bereit, Nik. Erfolg und Gesundheit.

Wir gingen jäh tiefer. Es war nicht einmal ein freier Fall, sondern ein Flug hinab mit großer Beschleunigung. Ich zog die Hand aus dem Trichter und klammerte mich am Sessel fest. Mir wurde ein wenig bange.

Als sei ich schon einmal abgestürzt, vor langer Zeit, ohne jede Hoffnung auf Rettung, in der Wirklichkeit oder in der Phantasie, egal, es ist beides fast gleichermaßen schrecklich ...

Nachdem das Schiff die Wolken durchstoßen hatte, verminderte es sein Tempo ein wenig. Auf dem Bildschirm sah ich eine Stadt, weiße Erhebungen von Häusern und einen perfekt geraden, einen sehr-gut-begradigten Fluss. Schade nur, dass der Bildschirm so klein war, sehr schade sogar ...

Der Schiffskörper wurde durchsichtig. Mich umgaben kaum noch zu erkennende Wände - und auch die dienten gewiss zu meinem psychologischen Wohlbefinden. Ich schrie auf, presste mich in den Sitz, in den einzigen Gegenstand, der noch sichtbar war.

Was bedeutete das? Hörte mich das Schiff ständig? War der Trichter vielleicht gar nicht nötig?

Das ist so Tradition.

Die Stadt lag etwas abseits, zwanzig bis dreißig Kiloschritt. Nur mit Mühe löste ich meinen Blick von ihr -dermaßen schön war sie. Ich sah nach unten, auf ein riesiges, gleichmäßiges Feld, das mit grünem Gras bewachsen war und auf dem unzählige silbrige Linsen standen. Wir flogen bereits so tief, dass ich die Figuren von Menschen erkennen konnte, die mit zurückgelegtem Kopf dastanden.

Ich wurde erwartet.

Das Schiff landete auf dem Gras, etwa zehn Schritte von den Menschen entfernt. So sanft, dass ich das Aufsetzen nicht einmal bemerkte. Warum hätte ich es allerdings auch spüren sollen - in einem Feld mit künstlicher Schwerkraft?

Die Kuppel über mir öffnete sich. Der Bildschirm erlosch.

Ich zögerte noch, bevor ich ausstieg, blieb sitzen, das warme Licht Des Mütterchens genießend. Hatte ich nicht genau davon geträumt?

Ob ich mich vom Schiff verabschieden sollte?

Hm, nehmen wir an, dass sämtliche Wünsche bereits ausgesprochen sind ...

Ich erhob mich und kletterte zum gewölbten Dach des Schiffs hinaus. Ich betrachtete die Menschen und lächelte unsicher.

»Nik!«, rief mich jemand. »Willkommen zu Hause, Nik!«

Leb wohl.

Drei

Es waren vier. Vorneweg ein großgewachsener, hagerer Alter mit Geheimratsecken in einem zerknitterten weißen Anzug. Er sah mich nachdenklich und ohne zu lächeln an. Er schaute sehr ernst drein, worauf ich den Blick rasch abwendete.

Dafür lächelten die drei anderen, einladend und erfreut. Zwei junge dunkelhaarige Männer in meinem Alter, die sich ähnelten und wahrscheinlich Brüder waren. Beide trugen silbrige Shorts und weite Hemden - aber keine Schuhe. Der ältere hatte ein buntes Tuch um den Hals gebunden. Etwas abseits von den beiden stand eine junge Frau, die im Unterschied zu den zweien einen kurzen Igelhaarschnitt hatte, einen langen, engen Rock und ein kaum die Brust bedeckendes Band trug. Ihr Lächeln wirkte verlegen und ratlos.

»Nik!«, sprach mich der Mann mit dem Tuch um den Hals tadelnd an. »Was ist denn mit dir?«

Ich sprang hinunter ins Gras, das weich unter meinen Füßen federte, und ging zu ihnen. »Guten Tag«, sagte ich.

Diese Worte hatten sie nicht erwartet. Bis auf die Frau jedenfalls nicht, doch in ihrem Gesicht regte sich nichts. Der Alte dagegen schüttelte den Kopf, die beiden anderen wechselten irritierte Blicke.

»Nik, Nik ...«, sagte der Alte und trat dicht an mich heran. Er schaute mir in die Augen. »Erkennst du mich denn nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. Wer war er? Mein Großvater? Mein Vater?

»Niki, das ist doch dein Ausbilder«, soufflierte die Frau halblaut. »Dein Ausbilder!«

»Ich erinnere mich an nichts.« Ich spürte, wie Tränen in meine Augen traten. »Entschuldigt. Ich erkenne niemanden.«

»Hattest du Kontakt mit Fremden?«, fragte der Alte streng.

»Ja.«

Der Alte fasste mich am Kinn und betrachtete mit äußerster Aufmerksamkeit mein Gesicht. »Wir sind zu sorglos«, meinte er seufzend. »Zu offen. Dabei hat uns der Kosmos schon oft genug eine Lektion erteilt, eine strenge Lektion ... In deinem Gesicht sind Spuren von Wunden, mein Junge.«

»Ich habe gekämpft.«

»Du warst immer impulsiv und unbesonnen ...« Der Alte tätschelte meine Wange. »Das habe ich nicht vergessen ... verzeih mir, Nik. Alles wird wieder ins Lot kommen. Die Hauptsache ist, dass du zurückgekehrt bist. Ich bin dein Ausbilder, Nik. Ich heiße Fed.«

Mit einem Mal wechselte er in einen verschwörerischen Flüsterton: »In deiner Kindheit habt ihr, du und die anderen, mich ›Feder‹ genannt. Ihr glaubtet, ich wüsste das nicht ...«

»Daran erinnere ich mich auch nicht mehr«, antwortete ich mit leiser Stimme.

»Alles wird wieder gut werden, mein Junge ...«, versicherte der Alte noch einmal.

Er fasste mich beim Arm und brachte mich zu den geduldig wartenden jungen Leuten. Mir war klar, dass ich sie besser Freunde hätte nennen sollen, aber ihre Gesichter weckten nichts in meinem Innern.

»Das sind deine Freunde«, sagte der Ausbilder. »Han.«

Der Mann ohne Tuch um den Hals breitete die Arme aus. Entschuldigend, als sei er dafür verantwortlich, dass wir uns neuerlich kennenlernen mussten.

»Nik«, stellte ich mich automatisch vor. Dann streckte ich die Hand aus - worauf alle begriffsstutzig auf den offenen Handteller starrten.

Etwas Seltsames ging mit mir vor ...

Unbeholfen wiederholte ich Hans Geste und breitete die Arme aus.

»Tag«, nannte der andere Mann seinen Namen. »Taggi.«

»Nik. Aber du erinnerst dich ja daran ...«

Die anderen lachten. Ein wenig gezwungen, aber erleichtert, fast wie am Bett eines Kranken, der mit einem Mal die Kraft zu scherzen in sich entdeckt.

»Ich bin Katti«, sagte die Frau. Nach kurzem Zögern fragte sie: »Erinnerst du dich auch an mich nicht?«

Wie gern hätte ich mich an sie erinnert!

Ich betrachtete Katti, ihr schmales, zartes Gesicht, die kurz geschnittenen braunen Haare, den zerbrechlichen Körper. Ihr Anblick war weitaus angenehmer als der der anderen. Sogar angenehmer als der jener Frau der fremden Menschen, die auf dem alarischen Schiff zurückgeblieben war ...

»Ich erinnere mich nicht«, gestand ich. »Aber ich glaube, dass ich dich gekannt habe. Verzeih.«

»Macht nichts, Niki.« Sie machte eine aufmunternde Kopfbewegung, dennoch legte sich Kummer in ihre Augen. »Das kommt alles wieder.«

Der Alte hüstelte. »Rimer.«

»Ja?«, reagierte ich.

»Man hat uns erlaubt, dich abzuholen. Das Komitee der Fernaufklärung erwartet jedoch einen detaillierten Bericht, weshalb ich mich daran erinnern musste, wie du früher warst ... und mich jetzt auf meine Pflichten besinnen muss. Ist mit deinem Schiff alles in Ordnung?«

»Ihm geht es viel besser als mir.«

»Wenigstens etwas. Es hat uns bereits derart umfangreiche neue Informationen zukommen lassen, dass alle Dienste vollauf beschäftigt sind. Han! Untersuch das Schiff! Bring es in die Box und nimm es vollständig auseinander! Versichere dich, dass keine Artefakte eingeschmuggelt wurden! Kontrolliere, ob jemand in das Bewusstsein des Bordpartners eingedrungen ist! Gründlich! Wenn alles in Ordnung ist, wird das Schiff eingeschmolzen. Und alle Messgeräte, die mit ihm Kontakt hatten, ebenfalls.«

»In Ordnung, Ausbilder. Wird erledigt.« Han lächelte und setzte sich in Bewegung.

Ich war völlig konfus und wusste nicht, was ich überhaupt sagen sollte.

Daran hatte mein Bordpartner also gedacht, als er behauptet hatte, die Chance einer Wiederbegegnung sei äußerst gering!

»Wir sehen uns heute Abend«, bemerkte Han, als er an mir vorbeiging. Aus irgendeinem Grund hatte ich erwartet, er würde mir auf die Schulter klopfen oder mich sonst irgendwie berühren. Aber das tat er nicht.

»Bist du verwirrt?«, fragte Fed. Er hatte mich nicht einen Moment aus den Augen gelassen. Offenbar vermochte er gut in meinem Gesicht zu lesen.

»Es ist alles neu, Ausbilder«, antwortete ich. »Irgendwie ... ganz ungewohnt.«

»Deine Kleidung, Nik - woher kommt die?«

»Es ist ein Geschenk einer fremden Rasse, die uns ähnelt. Es waren drei Personen: ein junger Mann, eine junge Frau und ein Alter. Sie haben mir bei der Flucht geholfen und mir eine Waffe sowie diese Kleidung gegeben.«

»Das Schiff hat uns darüber nichts mitgeteilt.«

»Es wusste nichts davon.«

»Gehen wir. Nik, Kinder ...«

Wir entfernten uns vom Schiff. Die Kuppel hatte sich bereits über dem ins Cockpit eingestiegenen Han geschlossen, jetzt flog das Schiff langsam und nicht sehr hoch über das Feld dahin. Ich sah ihm nach, dann zog ich mir die Jacke aus und warf sie mir über den Arm. Es war heiß, über dem Landefeld prangte ein wolkenloser Himmel, und Das Mütterchen leuchtete überall. Der Alte ging uns voran, vertieft in seine Gedanken, wir drei folgten ihm.

»Sind sie uns wirklich ähnlich?«, fragte Tag.

Ihn interessierte das sehr. Er brannte förmlich vor Neugier. Katti schien mein Zustand zu beunruhigen, was Fed umtrieb, ließ sich nicht abschätzen. Tag jedoch interessierte sich vor allem für die Neuigkeiten über die fremden Menschen.

»Ja. Sie sind uns ziemlich ähnlich.«

»Auf dem Niveau der Physiologie und Anatomie sind Unterschiede ja nicht so ungewöhnlich«, meinte Tag seufzend. »Aber was das Genom angeht ... Interessant ist das natürlich. Das ist also ihre Kleidung? Darf ich mal?«

»Klar.« Ich hielt ihm die Jacke hin. Tag wirbelte sie in den Händen herum und deutete mit einer komisch wirkenden Geste an, er wolle sie sich über die Schultern werfen. Schließlich steckte er einen Finger in die Risse an der Brust, die die Zähne der Alari hinterlassen hatten.

»Ziemlich unbequem«, urteilte er. »Schwer, nicht reißfest, aus einzelnen Stoffteilen zusammengesetzt. Lauter Nähte. Solche Sachen trugen unsere Urahnen. Wie hast du sie so zugerichtet?«

»Ich wurde angegriffen.«

Tag schnalzte mit der Zunge und zupfte das Tuch um seinen Hals zurecht. »Ist dir nicht warm in diesem Zeug, Nik?«

»Doch«, sagte ich.

Wir gelangten zu einer flachen weißen Plattform. Im ersten Moment glaubte ich, sie stünde im Gras, dann bemerkte ich jedoch, dass zwischen der Erde und dem Boden der Plattform ein schmaler Spalt klaffte. Alle kletterten auf die Plattform. Der Alte hockte sich auf sie, Katti nahm eine halb liegende Position ein, Tag schlug die Beine unter. Ich setzte mich ebenfalls auf die Plattform.

»Jetzt fahren wir zu Tag und bringen in Erfahrung, was mit dir passiert ist.« Fed sah mich streng an. »Hast du Angst?«

»Wovor?«, fragte ich ratlos.

»Davor, dass man dich, wenn alles in Ordnung ist, zum Umschmelzen schickt!«, bemerkte Tag lachend. Fed lächelte, selbst auf Kattis Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.

»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, womit ich rechnen soll«, gab ich zu. »Es hat mich verblüfft, von der Umschmelzung des Schiffs zu hören. Ich erinnere mich wirklich an nichts mehr.«

Das Lächeln verschwand vom Gesicht des Alten. »Nik, alles wird gut werden.«

Diese Beschwörungsformel war ich allmählich leid ...

»Du glaubst mir doch?«

»Wahrscheinlich schon.«

Fed seufzte. »Ein Ausbilder, dem man erklärt, man glaube ihm wahrscheinlich schon, sollte sich fortan damit befassen, den Strand von Abfällen zu säubern ... Aber ich nehme es dir nicht übel, Nik. Du bist ein besonderer Fall. Glaube mir.«

Die Plattform setzte sich in Bewegung - vermutlich weil ihr jemand einen mentalen Befehl erteilt hatte. Sehr schnell erreichten wir eine beachtliche Geschwindigkeit, aber irgendein Feld schwächte den Luftstrom zu einem leichten, angenehmen Wind ab.

»Han überprüft dein Schiff«, erklärte Fed. »Er ist ein sehr guter Spezialist für intelligente Systeme, du hast dich auf diesem Feld nie mit ihm messen können ...«

Ich hüllte mich in Schweigen.

»Und Tag überprüft dich. Er ist auf die nicht-menschlichen Lebensformen spezialisiert.«

Den Sinn dieser Aussage erfasste ich nicht auf Anhieb. »Ausbilder ...«

»Nik, ich bin mir so gut wie sicher, dass du du bist. Ich kenne dich, seit du sechs Jahre alt warst. Aber du musst die Situation begreifen. Wir befinden uns jetzt hier, in einem fremden Raum. Dass Das Mütterchen nach wie vor über Der Heimat und den Planeten der Freunde scheint, ändert nichts an dieser Tatsache. Wir leben in einer fremden Welt. Und wie diese ist ... besser als unsere bisherige oder grausamer ... lässt sich nicht einschätzen. Wir Menschen müssen uns davon überzeugen, dass du kein Fremder bist. Es ist fast eine Woche vergangen, seit du zu deinem Erkundungsflug aufgebrochen bist. Neun Tage! Du warst in Gefangenschaft! Und wer aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist, wissen wir noch nicht.«

»Das ist Nik, Ausbilder!«, mischte sich Katti ein. »Das kann ich reinen Gewissens sagen! Als Ärztin und ... als Freundin.«

»Auch ich bin dessen ja fast sicher«, beteuerte Fed. »Aber eben nur fast.«

Mir war, als habe man eiskaltes Wasser über mich gegossen.

Nach Hause zu kommen und zu erfahren, dass man dich verdächtigt, ein Fremder zu sein! Ein Regressor der Nicht-Freunde!

Ich legte mich auf den Rücken und betrachtete die gleichmäßigen Wolkenstreifen. Das Licht Mütterchens ließ mich blinzeln. Die fliegende Plattform vibrierte leicht unter mir.

»Verzage nicht, Rimer«, mahnte mich der Ausbilder streng. »Verzage nicht!«

»Niki, sollte ich herausfinden, dass du ein Fremder bist, wäre ich bereit, meine ganze Sammlung zu fressen!«, tröstete mich auch Tag. Er saß da, kaute auf einem Grashalm, den er unterwegs herausgerissen hatte, und wirkte völlig ruhig.

»Und was sammelst du?«, fragte ich.

»Mineralien aus anderen Welten. Die sind wahrscheinlich nicht gerade lecker ... Du selbst hast mir auch schon welche mitgebracht.«

Seufzend durchforstete ich die leeren Speicher meines Gedächtnisses. Und begeistert bemerkte ich, dass Tags Worte etwas in mir auslösten!

»Daran erinnere ich mich! Ich glaube, ich erinnere mich!«

»Siehst du«, meinte Katti und seufzte erleichtert. »Alles kommt zurück ... alles wird wieder wie früher.«

»Ich nehme an, du leidest an einer Psychoblockade«, sagte Fed. »Du bist verhört und gefoltert worden. Dein Selbstschutz hat deshalb dein Gedächtnis abgeschaltet. Das ist sehr gut. Ich habe nie wirklich daran geglaubt, aber jetzt ... Nik, mein Junge, erzähl mir alles, woran du dich erinnerst.«

»Als ich zu mir gekommen bin, lag ich auf einem Podest«, fing ich an. »Zunächst habe ich die Decke gesehen und erfasst, was das ist. Dann habe ich meinen Kopf gedreht und die Wände angesehen. So ging es weiter ... brockenweise. Nach und nach setzte sich daraus ein Bild zusammen ...«

Als ich meine Erzählung beendete, befand ich mich bereits in Tags Untersuchungszimmer, das in einem der oberen Stockwerke eines riesigen pyramidenförmigen Gebäudes lag. Ich saß unter einer weißen, leise summenden Metallglocke. Durch die durchsichtigen Wände des Raums konnte ich die Stadt erkennen. Parks, schmale Gehsteige, über die Autobahnen fahrende Autos ...

»Dann zeigte sich, dass wir uns bereits Der Heimat näherten«, sagte ich. Ich rieb mir den Unterarm, in den ich einige Spritzen bekommen hatte. Übrigens nicht nur dahin ... »Wir landeten ohne Probleme ... Das ist alles, glaube ich.«

Meine Stimme hallte dumpf unter dem halbkugelförmigen Diagnoseapparat. Anscheinend trennte mich momentan irgendein Feld vom Raum. Vielleicht sollte es Nebengeräusche absorbieren oder mich vor schädlichen Folgen durch die Strahlung der Apparate schützen. Vielleicht sollte es mich aber auch an Ort und Stelle festhalten, falls ein Verrat aufgedeckt wurde.

Dabei wusste ich doch, dass ich kein Regressor einer fremden Zivilisation war!

Tag und Katti saßen abseits hinter dem Pult. Fed hatte mir gegenüber auf einem niedrigen Stuhl Platz genommen. Während meines Berichts hatte er mich ein paar Mal unterbrochen und gebeten, etwas zu präzisieren oder ausführlicher darzustellen. Meist hatte er jedoch einfach nur genickt.

Das Labor, in dem die fremden Lebensformen untersucht wurden, sah seltsam aus. Es gab zahlreiche Apparate, hinter den Glastüren der Schränke standen verschiedene, nicht allzu sympathische Substanzen in flachen Gefäßen. Doch so richtig das ganze Ambiente war, lag auf dem Boden des biologischen Laboratoriums doch ein weicher Teppich mit abstraktem Muster, hingen an den Wänden Bilder in schmalen Holzrahmen, meist Meeresansichten. Etwas hinter dem Hauptdiagnosepult, dort, wohin jetzt die Daten meines unglückseligen Organismus strömten, stand ein hoher Tisch, auf dem sich Tassen, Teller und durchsichtige Boxen mit Essen stapelten. Mich erinnerte das eher an die Einrichtung einer Wohnung.

Aber wie wollte ich das in meiner Situation überhaupt wissen?

Katti erhob sich hinter dem Pult und ging so zur Seite, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich verkrampfte mich. Sie ging dorthin, wohin die Analysen meines Bluts und der Gewebeproben, die man mir am Unterschenkel und Unterarm entnommen hatte, verschwunden waren. Gut, ich war mir sicher, ich selbst zu sein, aber wenn nun ...

Was, wenn ihnen ein Fehler unterlaufen war? Nein, einen Fehler würde es nicht geben. Sowohl Tag wie auch Katti waren Spezialisten. Sie wollten mir nur Gutes.

Als Katti zurückkehrte, entnahm ich ihrem Gesicht alles. Ich entspannte mich und versuchte sogar, es mir auf dem harten Stuhl bequemer zu machen. Katti reichte Fed das Blatt Papier und gab mir ein beruhigendes Handzeichen. »Willkommen zu Hause, Niki! Hab noch etwas Geduld!«

»Noch fünf Minuten, Niki«, mischte sich Tag vom Pult aus ein.

Ich war ich! Ich war ich!

Der Ausbilder studierte konzentriert das Blatt. Er faltete es sorgsam zusammen, steckte es in die Tasche und sah Katti an. »Danke, Mädchen ... danke. Tag, beeil dich!«

Er erhob sich und kam auf mich zu. Ich ahnte eher, als dass ich es hörte, wie sich das uns trennende Kraftfeld auflöste.

Also hatten sie Angst vor mir gehabt ...

»Niki ...« Der Alte griff nach meiner Hand. »Wenn du wüsstest, welche Angst ich ausgestanden habe. Ich habe befürchtet, dich gebe es nicht mehr und vor mir stünde eine Kopie. Eine Attrappe.«

»Kommen Sie unter dem Detektor hervor, Fed!«, verlangte Tag in scharfem Ton. »Sie stören die Aufzeichnung!«

Anscheinend konnte man einen Ausbilder getrost anfahren, sofern es um die Arbeit ging.

Ich musste noch rund fünf Minuten sitzen bleiben. Auf Befehl von Tag entspannte ich mich, versuchte krampfhaft, mich an etwas zu erinnern, und assoziierte frei auf seine Stichwörter: Freiheit - Opfer, Liebe - Verantwortung, Heimat - Arbeit ...

Doch die grundlegenden Zweifel waren bereits ausgeräumt.

»Komm raus, Niki. Du kannst dich wieder anziehen.«

Da Tags Stimme nicht allzu freudig klang, wurde ich wieder nervös. Geschwind schlüpfte ich in meine Shorts -die geschenkten Sachen und das Messer waren sonstwo abgeblieben. An ihrer Stelle hatte ich ein weißes, kurzärmliges Hemd aus festem weichen Stoff bekommen. Schuhe trug man hier offensichtlich nicht.

Fed war ebenfalls angespannt.

»Nik, dein Gedächtnis ist nicht blockiert ... wie wir angenommen hatten ...« Tag druckste und wandte den Blick ab. Es fiel ihm schwer, diese Worte auszusprechen. »Es ist ... gelöscht worden. Komplett. Eine psychische Blockade wirkt nicht ... so verstümmelnd.«

»Was heißt das? Komplett?« Bockige Streitlust packte mich. »Ich gehe, spreche und denke doch! Ich bin doch nicht in ein kräftiges Baby zurückverwandelt!«

»Ich habe mich unklar ausgedrückt ... Deine Erinnerungen sind gelöscht worden. Dein persönliches Gedächtnis. Das, was du gesehen hast, das, was du empfunden hast. Dein ganzes Leben.«

»Wozu?!« Es war Katti, die diesen Schrei ausstieß.

»Anscheinend funktioniert der Prozess der Mentalkopie bei den Fremden auf diese Weise. Sie haben alle Informationen abgezogen! Damit haben sie dein Gedächtnis eben doch ausgeweidet.« Endlich blickte mich Tag wieder an. In seinen Augen stand Qual. »Sie haben dir alles genommen ... auch unsere Freundschaft ...«

Ich trat an ihn heran und griff nach seiner Hand. »Aber ich bin doch trotzdem ich?«, flüsterte ich. »Tag, wenn wir einmal Freunde gewesen sind, werden wir es auch wieder werden.«

»Gibt es denn gar keine Hoffnung?«, fragte der Ausbilder hinter mir.

»Nein.« Tag zog unbeholfen seine Hand weg. »Bestimmte assoziative Verbindungen sind noch erhalten, Ausbilder. Mitunter wird sich Niki an etwas erinnern ... Nein, eher wird er es neu kennenlernen, aber er wird sich daran erinnern, dass es schon einmal dagewesen ist. Ich glaube, dass er nach wie vor ein normaler Mensch ist« - Tag lächelte mir schief zu -, »aber er wird sich nie wieder an sein früheres Ich erinnern können.«

Fed stand da, den Blick zu Boden gerichtet. Wie ein Mann, der etwas sucht, das ihm viel bedeutet, der jedoch zu dem Schluss gekommen ist, dass es unweigerlich verloren ist ...

Nein, das war ein dummer Gedanke! So durfte ich nicht denken. Das ist ein falscher Vergleich. Überhaupt sind alle Vergleiche falsch ...

»Nik, wir lassen dich nicht im Stich«, versicherte der Ausbilder schließlich. »Du bist zurückgekommen. Das ist das Wichtigste. Und wir sind deine Freunde. Deine besten Freunde.«

Unten warteten zwei Transportmittel vor dem Gebäude auf uns. Geschlossene und mit Rädern, nicht eine von diesen fliegenden Plattformen, die uns vom Flugfeld hergebracht hatte.

»Ich muss dem Komitee Bericht erstatten«, sagte Fed. »Wahrscheinlich muss die Situation von einem Spezialisten kommentiert werden ... Übernimmst du das, Katti?«

Die Frau wandte den Blick von mir ab. »In Ordnung, Ausbilder.«

»Tag, du kümmerst dich um Niki.«

»Selbstverständlich, Ausbilder!« Tag nahm diese Aufforderung sogar ein wenig übel. »Ich werde mir alle Mühe geben, damit du dich wenigstens an etwas erinnerst, Nik!«

Der Ausbilder und Katti fuhren in einem Auto davon. Ich sah durch die transparente Verkleidung hindurch, wie Fed die Hand in einen Trichter steckte. Daraufhin erbebte das Gefährt.

»Die Feder hat der Wind verweht ...«, bemerkte Tag. »Das hast du als Kind immer gesagt. Dann konnten wir mit unserem Unfug loslegen, denn die Feder war weg, nicht wahr?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich an gar nichts. Weder an den Ausbilder noch an Katti ... Tag, war ich mit ihr zusammen?«

»Ihr wolltet heiraten«, bestätigte Tag. »Wir alle kannten uns doch schon von Kind an, nicht wahr? Und du bist immer ...«

»Spar dir bitte dieses nicht wahr«, bat ich. »Das ist doch sinnlos.«

»Entschuldige«, sagte Tag niedergeschlagen. »Verzeih einem alten Idioten.«

Das Gebäude, in dem er arbeitete, war sehr hoch, vielleicht sogar eines der höchsten in der ganzen Stadt. Mindestens hundert, hundertfünfzig Hektoschritt. Ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte, an der Spitze der Pyramide die Fenster auszumachen, durch die ich auf die Stadt geschaut hatte.

»Du bist also ein Spezialist für fremde Lebensformen?«

»Ja. Wir haben alle unterschiedliche Berufe. Du bist Kosmonaut geworden ... Davon haben wir alle geträumt, weißt du noch ... Entschuldige. Aber nur du bist zur Fernaufklärung gegangen. Han ist Ingenieur geworden. Ich Biologe.«

»Katti ist Ärztin«, fuhr ich fort. »Wer noch?«

»Was meinst du damit?«

»Zu unserer Gruppe gehörten doch vier.«

»Stimmt, vier, wenn du Katti nicht mitzählst. Sie war in einer anderen Gruppe, in einer Frauengruppe«, sagte Tag bedächtig. »Zu uns gehörte noch Inka.«

»Und wo ist er?«

»Er ist gestorben ... Vor zwei Jahren ... dort ... nicht einmal seine Asche ist nach Der Heimat zurückgekommen ...« Tag machte eine unbestimmte Handbewegung und verstummte kurz. »Lass uns zu mir gehen ... nein, besser zu dir.«

»Glaubst du, das hilft mir?«

»Du hast da vier Jahre gewohnt. Wenn dein Geist auch alles vergessen hat, dein Körper muss sich erinnern.«

Wir stiegen ins Auto. Ich hinten, Tag vorn, wo sich das Steuerterminal befand. Ich wäre gern durch die abendlichen Straßen spaziert, aber mit einem Arzt fängt man lieber keinen Streit an. Und Tag war im Moment mein Arzt.

»Weißt du, deine Situation hat auch gewisse Vorteile«, sagte er, nachdem er beiläufig die Hand in den Trichter des Terminals gesteckt und das Gefährt auf diese Weise in Bewegung gesetzt hatte. »Du verfügst über einen ganz frischen Blick. Der noch durch nichts getrübt ist. Du siehst die Welt wie ein Kind, das zum ersten Mal das Internat verlässt.«

»Sind wir in einem Internat aufgewachsen?«

»Klar.« Tag wunderte sich ein wenig über die Frage. »Welche Varianten sollte es sonst geben?«

»Mir würden einige einfallen. Zum Beispiel könnte ein Kind von seinen Eltern aufgezogen werden.«

»Wie im Steinzeitalter.« Tag schüttelte den Kopf. »Du hast Ideen. Meinst du wirklich, ein Nicht-Spezialist sollte sich mit der Erziehung befassen? Und sogar wenn die Eltern selbst Ausbilder sind ... Das wäre doch nicht ethisch.«

»Wenn es gute Eltern sind ...«

»Ein Kind braucht keine guten Eltern«, fiel mir Tag ins Wort. »Es braucht einen guten Ausbilder.«

Ich hüllte mich in Schweigen. Mir war schleierhaft, welche Vorteile ein ungetrübter Blick auf die Welt bot -Nachteile brachte er jedenfalls genug mit sich. Ich würde Dummheiten von mir geben, mit kluger Miene behaupten, Feuer brenne nicht und Wasser fließe bergauf. Daraufhin würde man mir erklären, warum ich mit diesen Aussagen unrecht habe, ich würde mich wundern ...

»Ich brauche Bücher«, sagte ich, zum Fenster rausschauend. »Viele Bücher, Tag. Vor allem über Geschichte. Ein Lehrbuch der Umgangsformen. Philosophie ...«

Wir fuhren über die Autostraße dahin. Viel Verkehr gab es nicht, sicherlich war ich nicht der Einzige, der abends gern spazieren ging. In den Fußgängerzonen, auf den Plätzen vor den Gebäuden und an den zahlreichen Springbrunnen drängten sich Menschen. Die mir völlig fremd waren, jedenfalls noch ...

»Die wirst du bekommen«, versicherte Tag. »Du wirst alles bekommen. Mach dir keine Gedanken, Niki. Wir helfen dir. Was ist das Wichtigste im Leben?«

»Arbeit, Freunde und Liebe«, antwortete ich.

»Siehst du!« Tag lächelte zufrieden. »Deine Arbeit hast du bewältigt! Obwohl du in Gefangenschaft geraten bist, hast du sie bewältigt. Jetzt hast du deine Freunde an deiner Seite. Und die Liebe wird auch zurückkehren.«

»Meinst du?«

Diesmal zog er es vor, nicht zu antworten.

»Katti ist sehr nett«, tastete ich mich vor. »Aber ... ich erinnere mich an nichts. Sie wird doch unwillkürlich erwarten, dass ich mich genau wie früher verhalte, und das wird nicht der Fall sein, was sie wiederum enttäuscht ... Hatte ich wenigstens ein paar dämliche Angewohnheiten, Tag?«

»Also ... ein paar. Du bist hitzköpfig. Du stürzt dich bedenkenlos in ein Abenteuer. Aber das hängt von deinem Charakter ab, und dein Temperament dürfte sich ja wohl kaum grundlegend geändert haben. Wollen wir etwas essen, Niki?«

»Ja.« Plötzlich fiel mir auf, wie hungrig ich war.

»In der Nähe gibt es ein nettes Restaurant ...«

Er steckte abermals die Hand in den Trichter.

»Warum ist eigentlich der direkte Kontakt mit dieser Brühe nötig, Tag?«, wollte ich wissen. »Die Kommunikation mit dem Steuerungssystem könnte doch auch von weitem erfolgen, oder?«

»Das ist keine Brühe, sondern ein kolloidaler Aktivator«, erklärte mir Tag. »Mit seiner Hilfe bestimmt das System deine Persönlichkeit und entscheidet, ob du das Recht hast, das Verkehrsmittel zu benutzen. Wenn es viele Passagiere gibt, könnten die widersprüchlichen Befehle das Steuern unmöglich machen. Oder deine eigenen Überlegungen, wohin du fahren möchtest, werden von dem System als eine Reihe von Befehlen aufgefasst. Der Kontakt mit dem Aktivator bedeutet dagegen, dass du deine Entscheidung getroffen und in die nötige Form gebracht hast. Also ... im Grunde ist es Tradition. Die alten Systeme waren noch nicht so empfindlich, sie brauchten den direkten Kontakt mit dem Menschen.«

»Vielen Dank für den Vortrag ...«Ich grinste. »Du wirst mir viel erklären müssen, also haushalte mit deinen Kräften.«

»Wir werden sie gleich mal ein wenig stärken.«

Das Auto wendete direkt in der Spur - die hinter uns kommenden Wagen mussten scharf bremsen, um uns Platz für unser Manöver zu machen. Dann bogen wir in eine schmale Gasse ein, in der sich zu beiden Seiten kleine Häuser erstreckten.

»Wir haben eine hohe Priorität«, meinte Tag munter. »Prima.«

Ich presste mich gegen die Scheibe und schaute mir die Häuser an. Durch das Grün der Bäume schimmerten die warmen Farben der Fassaden, ließen sich die offenen Fenster ausmachen. Auf einer Wiese zwischen zwei Häusern picknickten zwei Pärchen. Eine Frau, die auf einem Tablett Essen aus einem Haus brachte, fing meinen Blick auf, lächelte und machte eine Kopfbewegung, als lüde sie mich ein, mich ihnen zuzugesellen.

»Nette Menschen«, bemerkte ich.

Tag linste durchs Fenster. »Alle Menschen sind nett«, sagte er. »Das ist normal.«

Ich biss mir auf die Zunge. Warum fehlte mir diese Sicherheit? War auch sie verschwunden - zusammen mit meinem Gedächtnis? Und wieso ausgerechnet jetzt?

Das Auto verringerte das Tempo.

»Wir sind da«, verkündete Tag zufrieden.

Das kleine Restaurant lag unter freiem Himmel. Etwas abseits stand ein kleineres, kuppelförmiges Gebäude, aber anscheinend beherbergte es nur die Küche, nicht die Gäste. Zwei Dutzend Tische waren in schnurgeraden Reihen um ein quadratisches Becken mit einem sprudelnden Springbrunnen aufgestellt. Das Wasser im Becken leuchtete schwach, nicht von Scheinwerfen angestrahlt, sondern als schimmere es von selbst in zartem türkisfarbenen Licht.

»Da drüben ist etwas frei ...«

Ich trottete brav hinter Tag her und versuchte, nicht allzu offen alles um mich herum anzuglotzen. Uns beachtete niemand, obwohl viele Menschen hier waren. Auf jedem Tisch brannte ein Lämpchen, ein Metallgefäß mit einer öligen Flüssigkeit, in der ein Docht schwamm. Wahrscheinlich weil es schön aussah. Der Platz um den Springbrunnen herum war mit Steinplatten in verschiedenen Farben gepflastert, an seinen Rändern leuchteten matt niedrige Laternen. Einige Autos parkten in der Nähe, die meisten Menschen schienen jedoch zu Fuß gekommen zu sein.

Wir setzten uns an den freien Tisch. Breite, bequeme Stühle, ein makellos sauberes, rosafarbenes Tischtuch aus Wolle, ovale und quadratische Teller, allerlei Besteck aus gelbem Metall. Die Unmenge von Gabeln, Löffeln und Messern beunruhigte mich ein wenig. Anscheinend hatte ich vergessen, wie sie zu gebrauchen waren.

Insgesamt gefiel es mir hier jedoch.

»Nur keine Sorge«, flüsterte mir Tag zu. »Erinnerst du dich an nichts?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wir sind oft hier gewesen. Als wir noch im Internat gewohnt haben, fanden einige Unterrichtsstunden hier statt. Schon damals haben wir beschlossen, regelmäßig hierherzukommen.«

Tag amüsierte sich über etwas, das ihm völlig klar war. Welcher Unterricht wohl in einem Restaurant gegeben wurde? Tischmanieren? Wohl kaum, denn dann würde selbst ein behagliches Fleckchen wie dieses nicht derart angenehme Gefühle wecken.

»Und wer kommt hierher?«

»Wer immer Lust dazu hat. Wer in der Nähe wohnt oder arbeitet.«

Verstohlen beäugte ich die Menschen an den Nachbartischen. Größtenteils handelte es sich um Gruppen von drei oder vier Menschen verschiedenen Alters, aber meist nur eines Geschlechts. Bei den Pärchen überwogen ältere Leute.

Ging man normalerweise also mit seinen Freunden essen - und nicht mit seiner Familie?

Abermals stieg ein schmerzliches Gefühl in mir auf. Meine Heimatwelt, die mir fremd geworden war, zu verstehen und zu akzeptieren, das ist etwas anderes, als einen Nachttopf schwingend den Außerirdischen zu entkommen ...

»Hallo!«

Eine sehr junge Frau im Minirock und mit einem breiten, funkelnden Band über der Brust war an uns herangetreten.

»Hallo!«, erwiderte Tag.

»Ich erinnere mich an euch«, meinte die Frau lächelnd. »Du bist Tag. Und du Niki. Stimmt’s? Ihr seid doch auch aus Mütterchens Licht. Das Übliche?«

Tag sah mich betreten an.

»Das Übliche«, bestellte ich.

»Und ... eine Karaffe trockenen Wein«, ergänzte Tag.

Die Frau schnitt eine Grimasse und entfernte sich mit tänzelnden Schritten.

»Was ist Mütterchens Licht?«, fragte ich.

»Das Internat, in dem wir aufgewachsen sind. Das Mädchen ist auch von da, eine ihrer Formen der Vorbereitung-zur-Arbeit ist das Kellnern.«

»Also haben auch wir mal hier gearbeitet ...«

»Nicht gearbeitet!« Tag schüttelte energisch den Kopf. »Uns-auf-die-Arbeit-vorbereitet. Das ist etwas ganz anderes, Niki! Die Arbeit - das ist dein Schicksal! Das, was dir Vergnügen bereitet und für Die Heimat am nützlichsten ist.«

»Es ist alles weg, Tag«, stellte ich fest. »Wie ausgewaschen. Vielleicht sollte ich mich lieber ... umschmelzen lassen, so wie das Schiff.«

Tag lächelte gequält.

»Jeder wird es wissen, jeder wird Mitleid mit mir haben«, erklärte ich. »Alle, die ich kannte, werden mich anschauen, als sei ich ein bemitleidenswerter Kranker. Und selbst wenn das der Wahrheit entsprechen sollte ...«

»Niemand wird etwas davon erfahren!«, unterbrach mich Tag scharf. »Wo denkst du denn hin! Das Persönlichkeitsgeheimnis!«

Das Wort kannte ich! Der Sinn erschloss sich mir im Großen und Ganzen auch, aber ...

»Die Verlautbarung dessen, was dir passiert ist, ist verboten!«, fuhr Tag fort. »Schließlich ist das eine unangenehme, dich traumatisierende Situation. Wir wissen Bescheid - aber nur, weil wir dir helfen sollen. Dein Ausbilder weiß Bescheid ... aber das verstehst du doch, oder? Das Komitee der Fernaufklärung muss eingeweiht werden, immerhin handelt es sich um lebenswichtige Informationen. Vermutlich wird der Weltrat davon erfahren. Aber sonst niemand. Keine einzige lebende Seele wird etwas davon wissen, sofern du es nicht von dir aus erzählst.«

»Das ist ja schön und gut«, sagte ich. »Aber wie soll ich denn mein Geheimnis wahren? Wenn mich sogar eine Kellnerin erkannt hat? Wenn sie sich daran erinnert, was ich gern esse - und ich selbst nicht?«

»Ich bin ja bei dir«, beruhigte mich Tag. »Der Ausbilder, Katti, Han, ich ... Solange du dich einlebst, sind wir immer in deiner Nähe. Du bist stark, Niki. Du wirst dich daran gewöhnen und ein drittes Mal geboren werden!«

»Und wann war das zweite Mal?«, hakte ich nach. »Sicher, ich kenne das Wort Zweite-Geburt. Aber was bedeutet es?«

»Zunächst kommst du auf die Welt«, holte Tag aus. »Die Liebe deiner Eltern und die Fürsorge Der Heimat schenken dir das Leben. Dann wählst du dein Schicksal. Der Ausbilder gibt dir dann einen Beruf. Das ist die Zweite-Geburt.«

»Bin ich eigentlich ein kompletter Idiot?«, fragte ich leise.

»Nein, Niki. Du bist krank. Jetzt wirst du gesund werden.«

Die Kellnerin kam mit einem Tablett zurück, und wir verstummten.

»Dein Fleisch, Niki.« Sie stellte ein Tongefäß vor mich, unter dessen Deckel Dampf aufstieg. Es roch lecker. »Und dein Fisch, Tag.«

»Danke, Mädchen«, bemerkte Tag.

»Brot ... und euer Wein.« Das letzte Wort sprach sie leicht missbilligend aus. Sie stellte ein rundes, mit einer rubinroten Flüssigkeit gefülltes Gefäß in die Tischmitte.

»Wir trinken ihn auf ärztliche Anordnung«, klärte Tag sie auf.

»Ach ... Guten Appetit.«

»Warum sprichst du sie nicht mit Namen an?«, fragte ich Tag, während ich der Kellnerin nachsah. Wer gefiel mir eigentlich besser? Katti oder sie? Keine Ahnung. Kattis Frisur war ziemlich hässlich. Ihr hätten lange Haare gestanden ...

»Woher soll ich ihren Kindernamen kennen?«, wunderte sich Tag. »In einem Jahr bekommt sie ihren Erwachsenennamen, dann mache ich mich mit ihr bekannt.«

Wie seltsam das alles war, wie erstaunlich ...

Schweigend nahm ich den heißen Deckel ab und tat mir Fleisch auf, große, appetitliche Stücke, die mit Gemüse vermengt waren. Tag beobachtete mich verstohlen, als erwarte er einen Ausruf meinerseits: »Jetzt erinnere ich mich!« Nein, Tag ... Mich erstaunten diese Lebensmittel nicht, ich wusste, dass Essen lecker sein muss, aber ich glaubte nicht, dass dieser gedämpfte Brei mein Lieblingsgericht war.

Tag tat sich zwei große Stücke weißen Fischs auf. Als er probierte, hantierte er geschickt mit zwei Gabeln zugleich. »Hmm!«, schmatzte er. »Ich verstehe wirklich nicht, wie man standardgerechten, idealen Fisch anders zubereiten kann! Aber es geht! In der Mensa vom Wohnheim ist das Essen viel schlechter!«

»Du wohnst im Wohnheim?«

»Ja-a ...« Tag verschluckte sich. »Genau wie du. Ein eigenes Zuhause bekommt ein Mensch, wenn er eine Familie gründet. Und wir sind halt noch Junggesellen!«

»Ich werde wohl ein ewiger Junggeselle bleiben«, prophezeite ich düster. Ich gab den Versuch, mit der winzigen Gabel zu essen, auf und schnappte mir einen großen Löffel. Tag nickte anspornend. »Wenn Junggesellen hier essen, ist es allerdings nur halb so schlimm!«

»Ein nettes Plätzchen«, schloss sich mir Tag an. »Aber lassen wir das. Was ich über den ärztlichen Rat erzählt habe, stimmt. Katti hat dir natürliche Psychostimulatoren verordnet.«

»Wein?«

»Ja.«

Er füllte zwei gläserne Becher und schaute versonnen durch eines hindurch auf den in der Schale brennenden Docht. Es dunkelte bereits, und der Wein im Glas funkelte mit kräftigem feiertäglichen Licht.

»Wie schön«, bemerkte Tag gedankenversunken.

Ich schaute ebenfalls durch das Glas auf die Flamme.

»Kein Ende kannte die Kerze, brennend auf dem Tisch. Die Kerze brannte«, sagte ich.

»Ist das ein Gedicht?«, fragte Tag erstaunt. »Wie aufschlussreich. Das müssen wir im Informatorium nachschlagen. Wer hat dich da wohl derart nachhaltig beeindruckt?«

»Wenn ich das wüsste.«

»Vielleicht ist es von dir«, vermutete Tag. »Du hast in deiner Kindheit selbst Gedichte zusammengeschustert, bis dir der Ausbilder irgendwann Zehntausend große Verse in die Hand gedrückt hat, dann hast du aufgehört, deine Kräfte zu vergeuden ... Gut, Niki. Auf deine Rückkehr.«

Ich hob mein Glas auf die Höhe des seinen und stieß mit dem Rand leicht dagegen. Das Glas antwortete mit einem feinen, angenehmen Ton.

»Was soll das?«, fragte Tag irritiert.

»Ich weiß es nicht. Ich habe mir so ein Ritual ausgedacht.«

Der Wein trank sich gut, den Geschmack kannte ich. Ich nahm einen weiteren Schluck, bevor ich das Glas auf dem Tisch abstellte.

»Warum hat sich die Kellnerin über die Bestellung so gewundert?«

»Alkohol ist nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt«, erklärte Tag widerstrebend. »Es gibt zwar kein Verbot, aber es müssen gewichtige Gründe vorliegen, damit man sich seinen Genuss erlauben darf.«

»An gewichtigen Gründen mangelt es uns nicht.«

»Leider«, stimmte Tag zu.

Vier

Der Wein wirkte schnell, obwohl er ganz leicht war, der Alkohol kaum zu spüren. Doch ich hatte diesen Zustand erwartet und wunderte mich nicht, als über meinen Körper eine Welle der Entspannung wogte, das Entsetzen angesichts meiner Lage von mir wich und die Welt mir beinahe vertraut vorkam.

»Han kommt wohl nicht mehr«, meinte Tag seufzend. »Mein Herr Bruder ist mal wieder in seiner Arbeit versackt ...«

»Er ist dein Bruder?«

Tag war der Wein ebenfalls zu Kopf gestiegen, er wunderte sich über nichts mehr, nahm meine Amnesie gelassen hin.

»Ja. Als Kleinkind war er häufig krank, so dass man unseren Eltern geraten hat, ihn noch ein halbes Jahr bei sich zu Hause zu behalten. Auf diese Weise sind wir in einer Gruppe gelandet.«

»Und wer sind meine Eltern? Habe ich auch Geschwister?«

Tag runzelte die Stirn und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. »Deine Mutter hat dich ein paar Mal besucht ... und dein Vater ... also ... Ich weiß es nicht, Niki! Du kannst im Informatorium anfragen.«

»Wozu? Das würde mir nicht helfen, Tag. Wenn ich euch nicht erkannt habe, dann würde ich meine Eltern ...«

»Stimmt schon ...« Er schenkte uns noch einmal Wein ein. »Man sollte ihnen keine solch katastrophale Enttäuschung zumuten. Trotzdem-auf-dein-Wohl!«

»Trotzdem-auf-dein-Wohl!«, wiederholte ich den traditionellen Trinkspruch, auf den bei einer potenziell gesundheitsschädigenden Handlung zurückgegriffen wurde ... Ich schüttelte den Kopf. Als ob sich über den Abgrund meiner Amnesie eine Brücke aus Wörterbüchern spannte! Was für ein Albtraum! »Auf dein Wohl!«

Wir tranken abermals.

»Ich brauche Schulbücher, Tag ...«, erinnerte ich ihn noch einmal. »Für Geschichte ...«

»Das Steinzeitalter. Was fällt dir dazu ein?«

»Mammuts, Tiger, Äxte, Pfeile?«

»Alle Achtung!« Tag lächelte. »Dein assoziatives Denkvermögen funktioniert.«

»Alle Assoziationen sind falsch.«

»Quatsch! Da meldet sich dein Wi ... dein Widerspruchsgeist. Danach kam das Knochenzeitalter.«

»Die Zähmung der Freund-Tiere, die Erfindung von Kufen und Rad, Ackerbau ...«

»Hervorragend!« Tag fuchtelte mit der Hand. »Dein Wortschatz ist noch erhalten. Und ein Wort ist schließlich nicht nur ein Symbol. Es enthält auch die Vorstellung von einem Objekt. Das heißt ... du hast eine Art Sicherheitskopie der Informationen. Dein Grundwissen über die Welt ist verloren gegangen, aber du bist in der Lage, aus den Wörtern Informationen zu ziehen! Sehen wir mal weiter. Das Burgenzeitalter ...«

»Soziale Differenzierung der Gesellschaft, Feudalherrscher, Kriege, Erz- und Ölgewinnung, Erfindung von Schießpulver und Napalm ...«

»Was du für kriegerische Assoziationen hast«, bemerkte Tag seufzend. »Ob dein Beruf dir seinen Stempel aufgedrückt hat? Ich würde mich vermutlich an den Alchimisten Rig Hattern erinnern, Rig den Stinkenden, und seine Entdeckung der Antibiotika. Sie sind meiner Meinung nach für die Gesellschaft viel wichtiger als das Napalm. Was ist, bleiben wir dabei?«

Ich nahm an, er meinte unsere Geschichtsstunde, aber Tag hatte an den Wein gedacht.

»Das ist doch gesundheitsschädigend«, wandte ich ein.

»Aber wenn es doch auf ärztlichen Rat hin geschieht ...« Tag geriet ein wenig in Verlegenheit. »Also, auf das Burgenzeitalter folgte das Industriezeitalter ...«

»Dampfmotoren, Elektrizität, die Feudalherrschaften haben sich endgültig in klaren Grenzen etabliert, Funkverkehr, Aufkommen der Schifffahrt, Entstehung der Tradition der Ausbilder ...«

»Siehst du! Du antwortest wie in der Schule!«, freute sich Tag. »Das Meereszeitalter?«

Hier stockte ich kurz. Als müsste ich sehr tief graben, um zu meinen Assoziationen zu gelangen. »Die ersten Karten des Sternenhimmels?«

»Und weiter?«

»Navigation ... Entdeckung und Besiedlung des quadratischen und des dreieckigen Kontinents ... der Große Fehler ...«

Ich verstummte.

»Du weißt nicht mehr, was der Große Fehler ist?«

»Nein.«

»Wir haben dort Leben vorgefunden, Niki«, erklärte Tag seufzend. »Intelligentes Leben. Die Befellten ...«

Die Befellten, die Verlorenen Freunde, Krieg, der Große Fehler, die Schande ...

»Wir haben sie vernichtet«, sagte ich. »Stimmt’s?«

»Ja, Niki. Diese Schande lastet auf der ganzen Menschheit. Aber damals schien der Krieg der einzige Ausweg zu sein. Sie waren weniger entwickelt, aber ausgesprochen talentiert und aggressiv. Lane Der Spät Bereuende hat einen Stamm von Pesterregern gezüchtet, der die Befellten innerhalb von rund vierzig Jahren dahingerafft hat.«

»Die Befellten waren Nicht-Freunde, aber wir hätten sie zu Freunden machen können«, hielt ich dagegen.

»Natürlich! Wir hätten sie sogar zu Freunden machen müssen! Aber die Einrichtungen des Progressorentums und des Regressorentums existierten damals noch nicht. Glücklicherweise haben die Ausbilder verstanden, welche Schuld die Menschheit auf sich geladen hat, und beschlossen, sie zu sühnen. Das Zeitalter der Vereinigung, erinnerst du dich daran?«

»Ausbildertum, Beseitigung der sozialen Unterschiede, Atomenergie, Umformung der Kontinente, Raumflüge ... die Planeten der Freunde. Richtig?«

»Ja. Wir sind mit primitiven Atomraketen in den Kosmos aufgebrochen. Die gesamte Menschheit aller drei Kontinente hat sich für dieses Ziel vereinigt. Die Flüge zum Inneren und Äußeren Planeten, die Siedlungen ... daran musst du dich doch erinnern!«

»Die Nahen Freunde?«, fragte ich.

»Genau. Aber wir sind auch auf Unverständnis gestoßen, auf Nicht-Freundschaft. Und es hat Opfer auf unserer Seite gegeben. Die Ausbilder hatten jedoch inzwischen das Konzept der Freundschaft ausgearbeitet. Und damit haben wir die Nahen Freunde gewonnen.«

»Wer sind sie?«, wollte ich wissen.

»Dreh dich mal um.«

Der Vorschlag ließ mich zusammenfahren. Langsam drehte ich mich um.

Die Menschen an den Tischen, die jungen Kellnerinnen ...

»Sind sie uns ähnlich?«

»Du machst es einem wirklich nicht leicht ...«, gestand Tag schuldbewusst. »Manchmal schließt du Wissenslücken sofort. Und manchmal ... Ja, vor allem deine visuellen Erinnerungen haben gelitten. Ins Becken musst du sehen ...«

Ich schaute in das funkelnde, türkisfarbene Wasser. Am Boden registrierte ich eine kaum merkliche Bewegung. Etwas Langes, Schmales ...

»Sie haben keine Lautsprache«, teilte mir Tag leise mit. »Hören können sie allerdings. Und sie reagieren hervorragend auf Vibrationen. Es wäre sinnlos, ihre Eigenbezeichnung zu übersetzen, sie klingt wie Menschen. Deshalb nennen wir sie die Wendigen.«

»Die Wendigen und die Kleinen«, sagte ich. »Stimmt’s?«

»Ja. Aber die Kleinen gibt es auf Der Heimat fast nicht, die Bedingungen hier sind zu hart für sie. Du musst sie dir schon auf dem Inneren Planeten ansehen. Oder in ihrer Botschaft.«

»Ich schaue sie mir lieber auf Abbildungen an«, erwiderte ich. Irgendwie vermittelte mir der träge über den Beckenboden dahingleitende Körper ein unangenehmes Gefühl ... Die Wendigen ...

Ich leerte mein Glas und löste den Blick von diesem Nahen Freund.

»Soll ich noch Wein bestellen?«, fragte Tag.

»Ja.«


Wir verließen das Restaurant um ein Uhr nachts. Wir hatten den Wein ausgetrunken und - von der Kellnerin mit einem Blick purer Missbilligung bedacht - eine weitere Karaffe bestellt. Außer uns orderte anscheinend niemand Wein. Das hinderte die Menschen jedoch nicht daran, sich zu amüsieren. Im Halbdunkel - beim Licht der bunten Lämpchen vom Becken und der Laternen, im Schein der in den Schalen schwimmenden Dochte -fingen einige an zu tanzen. Von irgendwoher erklang Musik, die Melodie erkannte ich nicht, das Motiv war jedoch leicht und rhythmisch. Tag schlug mir vor, mich am Tanz zu beteiligen, doch ich lehnte ab. Ich traute meinen Fähigkeiten nicht, mich dieser komplizierten Bewegungen zu erinnern.

Auch tanzen würde ich neu erlernen müssen. Vieles würde ich neu erlernen müssen.

Wir brachen mit den letzten Gästen auf. Hinter den Kellnerinnen glitt eine überdachte Plattform her, die Frauen sammelten das schmutzige Geschirr von den Tischen ein, löschten die Kerzen und nahmen auf den Plattformen Platz. Sie waren jetzt nicht mehr so munter, der Abend hatte sie geschafft.

»Haben sie es weit?«, fragte ich.

»Hundert, hundertzehn Minuten«, antwortete Tag gähnend.

»Gibt es denn keine schnellere Transportmöglichkeit?«

»Das ist eine Komponente der Vorbereitung-zur-Arbeit«, tadelte mich Tag. »Es gibt eine große Zahl von Berufen, die dir nur geringe Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bieten. Die Persönlichkeit muss auch auf ein solches Schicksal vorbereitet sein. Was ist? Tun dir die Mädchen etwa leid? Sie können sich ausschlafen ... einmal in der Woche in die Stadt fahren ... das ist so schlecht doch nicht. Nik ... Niki ...«

»Was bin ich nur für ein Idiot.«

»Das gibt sich!«

Wir kamen schnell zum Wohnheim. Bereits nach fünf Minuten hielt der Wagen vor einem flacheren, nur vierstöckigen Haus in Hufeisenform. In manchen Fenstern brannte Licht, über den Eingängen leuchteten grelle Lampen. Trotzdem herrschte absolute Stille.

Bevor wir aus dem Wagen stiegen, berührte Tag das Terminal. »Ich lösche den Auftrag«, erklärte er mir. »Wir brauchen jetzt ja kein Transportmittel mehr ...«

Ich schwieg, um nicht wieder irgendeinen Unsinn von mir zu geben, und folgte ihm. Wir hielten auf den zweiten Eingang von links zu. Eine Tür gab es nicht, aus einer nicht zu erkennenden Ritze strömte jedoch warme Luft, die das Innere von der Straße trennte. Sobald wir durch diesen Vorhang traten, ging das Licht an.

Eine kleine runde Halle. Ein paar Sessel, ein Tisch, ovale Bildschirme, eingelassen in die Wände. Einer lief, über ihn krochen Textzeilen. Vermutlich handelte es sich um ein Informationsterminal mit den neuesten Nachrichten.

»Nach oben«, sagte Tag, während er schon die schmale Treppe hinaufstieg.

Ich stapfte hinter ihm her. Zwei Schritte von uns entfernt befand sich ein Fahrstuhl, aber Tag wollte ihn offenbar nicht benutzen. Ob sich das nicht gehörte, wenn kein Notfall vorlag?

Jedes Stockwerk verfügte über einen schmalen Korridor, von dem ein Dutzend Türen abging, vermutlich in die Zimmer. Und zum Fahrstuhl ... Vielleicht wohnten wir ja gar nicht weit oben?

Im dritten Stock verwarf ich diese Hypothese. Tag deutete mit einer Kopfbewegung zu einer der Türen. »Das ist mein Zimmer«, informierte er mich. »Du wohnst im vierten Stock ... Wart mal. Leg die Hand hier drauf.«

Ich berührte mit der Hand seine Tür, und sie sprang einen Spalt auf. Im Zimmer schaltete sich das Licht ein.

»Das Schloss hat dich erkannt«, stellte Tag zufrieden fest. »Na, dann komm, ich bring dich zu deinem Zimmer.«

Tag wohnte unmittelbar neben der Treppe, ich am Ende des Gangs. Er öffnete meine Tür ebenso problemlos, wie ich die seine geöffnet hatte.

»Unabhängig von dir können der Ausbilder, Han und ich rein ... und vielleicht Katti?« Er grinste unverschämt. »Und natürlich alle, für die du das gegebenenfalls eingerichtet hast. Geh rein!«

Ich betrat mein Zuhause. Mein unbekanntes Zuhause ...

Das Zimmer war quadratisch, relativ groß, zehn mal zehn Schritt. Außer der Tür, durch die wir gekommen waren, gab es noch eine.

»Das ist das Bad«, erklärte Tag, als er meinen Blick auffing. »Soll ich dir erklären, wie da was funktioniert?«

»Ich glaube, daran werde ich mich erinnern«, lehnte ich ab. Tag lachte.

An einer Wand stand unterm Fenster das Bett. Meiner Ansicht nach war es ziemlich schmal und viel zu niedrig. Aber woher wollte ich eigentlich wissen, wie Betten zu sein hatten? Jenes Podest, auf dem ich bei den Alari geschlafen hatte, hatte ja in erster Linie dazu gedient, mich festzuschnüren, dann noch als Detektor, der meinen Körper erkundete, aber nicht als Möbel.

Was mich befremdete, war, dass es mir gefiel, unterm Fenster zu schlafen.

Die ganze gegenüberliegende Wand nahmen Regale ein. Halb leere, hier und da ein Stapel Bücher - alles sehr schmale Bände -, ab und an ein Stein von bizarrer Form, sorgfältig zusammengelegte Kleidung, eine Schale aus gelbem Metall mit geschwärzter Intarsienarbeit ... Alles sichtbar, alles extrem akkurat, aber die Freigabe zur allgemeinen Betrachtung löste einen gewissen Schmerz in mir aus, ebenso wie das Übermaß an ungenutzter Fläche und die nahezu zwanghafte Ordnung. Ich glaubte, meine Sachen momentan nicht mit dieser Pedanterie zusammenlegen zu können. Dann gab es noch einen völlig leeren Tisch und zwei Stühle. In die Wand war ein Bildschirm eingelassen, der aber gerade ausgeschaltet war, dazu gehörte ein Terminal.

»Ich zeige dir jetzt, wie die Bücher benutzt werden«, sagte Tag. Er durchforstete den Stapel und zog eines heraus. »Genau das, was wir brauchen! Ein Einführungskurs in das Regressorentum! Das vermittelt dir nützliches Wissen und Geschichtskenntnisse in einem!«

Er kam zu mir und schlug das Buch auf.

Assoziationen stellten sich bei mir keine ein ...

Das Buch war aus Plastik. Es bestand einzig aus dem Umschlag. Die Innenseite war hellgrau und leer. Die oberen Ecken des Umschlags wirkten allerdings leicht abgerieben ...

Tag berührte mit dem Finger eine Ecke, und auf der Innenseite schimmerten Buchstaben auf.

Regressorentum. Einführungskurs.

Auf der anderen Seite erschien eine hochwertige Farbphotographie. Nackte Menschen, ein Mann und eine Frau, zu deren Füßen ein fünf Schritt langes, schwarz-graublaues glänzendes Wesen eingerollt dalag. Obwohl es über eine Art Kopf verfügte, vermochte ich nicht mit Gewissheit zu sagen, wo der Kopf war und wo der Schwanz. Dann gab es noch ein weiteres Wesen, das, sich mit einer schwächlichen Pfote an der Hand der Frau festhaltend, aufrecht dastand und nur halb so groß wie die Menschen war. Kleine graue Schuppen bedeckten seinen Körper fast vollständig, das Gesicht sah aus wie die Karikatur eines menschlichen.

Die Wendigen und die Kleinen Freunde.

Die beiden ersten Rassen, die wir nicht ausgelöscht, sondern uns gleich, uns zu Freunden gemacht hatten.

»Blätter weiter ...«, verlangte Tag. »Mit dem Finger schreibst du eine Ziffer - damit kommst du schnell zur gesuchten Seite. Wenn du ein Wort schreibst, leitest du eine Kontextsuche ein ...«

»Danke«, sagte ich. »Ich habe den Eindruck, als sähe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Buch.«

»Und das aus dem Mund von unserem Schlaukopf Niki«, bemerkte Tag seufzend. »Du wirst dich schon wieder an alles erinnern. Wie sieht’s aus, kann ich dich allein lassen?«

Ich ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. »Ja, ich denke schon.«

»Wenn du willst, blätter ruhig vor dem Einschlafen noch ein bisschen in dem Buch«, sagte Tag. »Aber besser wäre es, du würdest dich ausschlafen. Was gibt’s sonst noch? Ist in deinem Kühlschrank was zu essen?«

Selbstsicher durchquerte er das Zimmer, öffnete einen kleineren, in einem Regal stehenden Container und schaute hinein. »Verhungern wirst du nicht. Gut. Wenn du etwas wissen willst, komm bei mir vorbei. Oder ruf an.«

Tag nickte in Richtung des Terminals, ich lächelte wissend. Mit dem Ding würde ich schon zurechtkommen. Schließlich sind sie recht klug, unsere Steuerungssysteme.

»Uneingeschränkte Erholung, Niki.«

»Dir auch, Tag.«

Mein Freund - mein alter und zugleich neuer Freund -verließ mich, und ich blieb allein.

Hier hatte ich gelebt. Hier hatte ich Lehrbücher zum Regressorentum gelesen, mich mit Freunden getroffen, von hier aus war ich zur Fernaufklärung gestartet, hier hatte ich mich in Katti verliebt ... Nein! Das auf gar keinen Fall! Ich konnte mich nicht in sie verliebt haben! Ich spürte nichts in mir, keinen Hinweis auf diese Liebe, nicht einen Funken Sehnsucht!

Hier würde ich wieder leben. Abermals die Konstruktion von Raumschiffen studieren und die Methode erlernen, Nicht-Freunde in Freunde zu verwandeln. Ich würde Tag und Han treffen, zur Fernaufklärung starten, mich in Katti verlieben, irgendwann würden wir heiraten, Kinder kriegen, sie ins Internat geben, ich würde mich weiter mit meinen Freunden treffen, fliegen ...

Ich ließ mich aufs Bett fallen, zog die Decke erst über mich, schob sie dann wieder weg, knüllte sie zusammen und presste mein Gesicht hinein. Die Tränen strömten ganz von selbst, und ich konnte sie nicht zurückhalten.

Warum war das alles so gekommen? Diese Welt um mich herum war anständig, freundlich und gut - aber ich konnte sie einfach nicht meine Welt nennen!

Etwas stimmte nicht, etwas war absolut nicht so, wie es sein sollte!

Nach fünf Minuten erhob ich mich. Ich ging zum Terminal und experimentierte mit dem Licht herum. Ich schaffte es, die Deckenbeleuchtung in Form von vier kleinen Lampen auszuschalten und über dem Bett ein kleines Licht, eine matte Kugel an einem elastischen Arm, aufleuchten zu lassen. Das Steuerungssystem hier im Zimmer war zwar weitaus dümmer als das im Schiff, aber immerhin schlau genug, um den Wunsch eines Idioten wie ich zu verstehen.

Ich würde jetzt nicht einschlafen können. Selbst wenn wir Wein getrunken hatten und es spät war.

Mit dem Buch in der Hand legte ich mich aufs Bett. Ich schlug es auf ... Hmm, warum glaubte ich bloß, Bücher müssten völlig anders aussehen? Ich »lud« die ersten Seiten. Einführungskurs. Weiter ...

Nach dem Photo folgte eine Seite, die bis auf drei Zeilen leer war.


Man kann der Zukunft nicht ohne einen Blick in die Vergangenheit entgegenschreiten.

Hatr Chamezzi


Der Name kam mir bekannt vor. Das Wort »Regressor« verband sich mit ihm wie ein Synonym. Hatr Chamezzi war Ausbilder und Begründer der Theorie des Regressorentums gewesen ...

Ich blätterte um und fing an zu lesen.

Zunächst bekam ich, genau wie Tag es versprochen hatte, die Menschheitsgeschichte präsentiert. Das Stein- und das Knochenzeitalter sowie das Burgenzeitalter überflog ich nur. Erst als ich zur Geschichte der Entwicklung des Napalms gelangte, die sich als wirklich spannend und überraschend herausstellte, vertiefte ich mich in die Lektüre. Ein wirklicher Durchbruch im menschlichen Denken. Über den Ausbilder und Alchimisten Rig Hattern, Rig den Stinkenden, und die von ihm entdeckten Antibiotika gab das Buch kaum etwas her. Es wartete lediglich mit zwei Versionen auf, wobei Rig sich der ersten zufolge mit Medizin beschäftigt hatte, um seine Schützlinge vor der Pest zu retten, während er laut der zweiten seinen alten Ausbilder retten wollte. Damals wogten Wellen der Epidemie über den Kontinent, es war eine schreckliche und finstere Zeit. Die Ausbilder setzten alles daran, das Wüten der Pest einzudämmen, führten Hygienenormen in der Gesellschaft ein, aber ohne die wundersamen Antibiotika von Rig dem Stinkenden wäre die Welt auf lange Zeit in der Entwicklung gebremst worden, die Burgstädte hätten sich in abgelegene, Fremdlinge fürchtende Dörfer verwandelt ...

Insgesamt war Geschichte jedoch nicht der Hauptgegenstand. Immer wieder gab es Verweise auf irgendwelche »allgemein bekannten« Postulate des Regressorentums und Exkurse zum Thema »Was wäre gewesen, wenn ...?«.

Ein interessantes Spiel, gewiss. Sich vorzustellen, welche Entwicklung eine Gesellschaft genommen hätte, wenn ein Faktor verändert, wenn irgendeine Entdeckung erst zehn, zwanzig Jahre später gemacht worden wäre ...

Warum wurde die Schifffahrt beispielsweise nicht schon viel früher entwickelt? Bauten denn nicht schon die Urmenschen im Steinzeitalter Schiffe und Flöße, wussten sie sich nicht die Windenergie zunutze zu machen, indem sie sie mit ihren Segeln aus Tierhäuten einfingen?

»Der entscheidende Faktor, der uns so lange auf dem Runden Kontinent festhielt, war der Himmel. Kreiselkompasse zur Orientierung, hochsensible Radargeräte, die das Magnetfeld von Der Heimat einfingen - all das sind Errungenschaften einer durchaus entwickelten Technologie. Die ersten Schritte Richtung Schifffahrt wurden jedoch nicht nach der Entwicklung starker Elektrodampfschiffe möglich, hundert Jahre lang sollten diese Schiffe nämlich nur die mit Leuchttürmen bewehrte Küste befahren, bevor dann endlich das Meereszeitalter anbrach. Nein, entscheidend war vielmehr die Möglichkeit, sich auf See zu orientieren, und zwar vermittels Sternkarten, die es erlaubten, den Kurs zu halten. Aber wie beschwerlich war der Weg dorthin! Man braucht nur einmal in den Nachthimmel aufzuschauen ...«

Ich riss mich von dem Buch los und folgte dem Rat. Ein ganz normaler Himmel. Wenige Wolken. Die Sterne ...

»Man braucht nur einmal in den Nachthimmel aufzuschauen, in das blendende Licht der Abermillionen von Sternen. Was aber wäre, wenn Das Mütterchen sich nicht im Zentrum der Galaxis befände, sondern in einem fernen, stärker ausgedünnten Sternarm? Man nehme nur einmal in Gedanken die Sterne weg, lasse lediglich einen von hundert stehen. Die Finsternis ist erschreckend? Ja, das ist die negative und auf der Hand liegende Folge. Die Landwirtschaft wäre in der Erntezeit ohne künstliche nächtliche Beleuchtung undenkbar. Die Philosophie hätte vermutlich einen anderen Weg genommen, die Vermutung, es könne eine Vielzahl bewohnter Welten geben, wäre wohl später aufgekommen ... Alles hat jedoch auch eine positive Kehrseite. Unter solchen Bedingungen wäre es wesentlich einfacher, Sternkarten zu erstellen und sich an den Sternen zu orientieren. Damit wäre die Schifffahrt weit früher aufgekommen. Wir hätten die Nachbarkontinente unter Bedingungen erreicht, da unsere wissenschaftliche Überlegenheit gegenüber den Verlorenen Freunden noch nicht erdrückend gewesen wäre. Man sollte die Ereignisse indes nicht vorschnell beklagen. Schließlich gab es damals auch das Institut des Regressorentums noch nicht, und wir wären in einen Dauerkonflikt gestolpert ...«

Richtig. Über Der Heimat musste sich früher ein anderer Himmel gespannt haben!

Auf der nächsten Seite gab es zwei Photographien. Ich erschauderte, als ich die erste betrachtete. Die Verlorenen Freunde, die Befellten, die hier wie unglückliche Opfer aussahen. Von etwas geringerem Wuchs als die Menschen, dafür sehr breit in den Schultern, gedrungen, mit langen, kräftigen Armen und gefletschten Zähnen waren die beiden Befellten gegenüber einer Frau und einem Mann erstarrt, in einer aggressiven, angreifenden Haltung. Einer der beiden Befellten hielt einen Metallgegenstand in Händen, von dem leichter Rauch aufstieg. Der Mann presste die Hand gegen eine blutende Wunde an der Schulter ...

Die zweite Photographie zeigte wahrscheinlich die potenzielle glückliche Lösung, bei der die Befellten und die Menschen sämtlichen Widrigkeiten zum Trotz Freunde geworden waren. Alle vier lächelten und hatten einander die Arme über die Schulter gelegt.

Aber irgendwie wirkte dieser Ausgang nicht sehr überzeugend ...

Ich übersprang die Geschichte von Lane Dem Spät Bereuenden - über die Entwicklung des Peststamms, mit dem die Befellten gezielt vernichtet worden waren. Ich hegte keine Sympathie für diese kraftstrotzenden Zottelkreaturen, kein Mitleid mit Lane, der zunächst als Liebling der gesamten Menschheit galt, dann jedoch sein Leben als geächteter und ausgestoßener Wandersmann beschloss und durch die Berge des Quadratischen Kontinents streifte, auf der vergeblichen Suche nach Befellten, die womöglich durch puren Zufall der Ausrottung entkommen waren ...

Das Zeitalter der Vereinigung. Die Kräfte der Menschheit waren bereits angewachsen, das Ausbildertum hatte die gesellschaftlichen Verhältnisse neu gestaltet, die Schande des Großen Fehlers hatte Chamezzi veranlasst, die Theorie des Regressorentums und des Progressorentums zu entwickeln. Die Umwandlung der Kontinente begann, Sümpfe wurden trockengelegt, Berge eingeebnet, die Uferlinie begradigt, Flüsse in wasserarme Landstriche gelenkt ...

Ich blätterte wieder vor.

Heroische Flüge in den Kosmos, die ersten Erfolge und Katastrophen ... Die Entwicklung des Satelliten Der Heimat, jener kleinen orbitalen Plattform, auf der interplanetare Raumschiffe gebaut wurden. Expeditionen zum Inneren und Äußeren Planeten, wo nach Ansicht der Astronomen eventuell Leben anzutreffen war. Dann wurde das eigentliche Regressorentum erklärt:

»Jede intelligente Lebensform, die sich ihrer selbst bewusst ist und sich im Raum ausbreitet, erkennt unweigerlich den Wert Wahrer Freundschaft an, der Brüderschaft, wenn man diesen veralteten poetischen Begriff gebrauchen mag. Doch wie lang kann der Weg zu einem Verständnis echter Werte sein! Schreckliche Verbrechen können diesen Weg pflastern! Die Menschheit hat das sehr rasch verstanden, da die Tragödie des Großen Fehlers uns Freundschaft gelehrt hat. Zwei intelligente Rassen jedoch, die auf einem Planeten koexistieren, das ist eher eine Ausnahme. Genau wie die Geburt von Zwillingen eine Seltenheit in der Physiologie der intelligenten Rassen ist, so entwickeln sich auch zwei intelligente Rassen nur selten auf einer Welt. Noch in den Stufen der Präintelligenz kristallisiert sich der dominierende Evolutionszweig heraus, der sodann jene ökologische Nische einnimmt, die diesen intelligenten Wesen von der Natur zugewiesen ist, während die Entwicklung der anderen Lebensformen gebremst wird. Was folgt daraus? Sollten wir unseren Freunden-von-morgen im Universum erlauben, den Weg des Versuchs und Irrtums zu gehen? Oder sollten wir ihnen helfen, sich zu den Gipfeln der Zivilisation aufzuschwingen, zu Frieden und Freundschaft?

Selbstverständlich Letzteres!

Das wesentliche Hindernis besteht dabei in dem Umstand, dass jede intelligente Lebensform einer Einmischung von außen höchst negativ gegenübersteht. Die Instinkte der Selbsterhaltung sind einer Zivilisation in nicht geringerem Maße zu eigen als dem einzelnen Individuum. Begegnen wir einer Rasse, die sich ihrer selbst gerade erst bewusst geworden und technisch nicht entwickelt ist, können wir einen positiven Einfluss auf sie ausüben, indem wir ihr die Idee der Freundschaft nahebringen. Das ist die Arbeit der Progressoren. Eine schwere, langwierige, indes recht erprobte Arbeit, die sich gut prognostizieren lässt. Nicht jeder Progressor kann Ausbilder werden, wohingegen jeder Ausbilder in der Lage ist, als Progressor zu arbeiten ...

Was aber ist, wenn eine Rasse zwar technisch, jedoch nicht geistig entwickelt ist?

Wenn unsere Hilfe als Einmischung und Aggression aufgefasst wird?

Eben für diesen Fall existiert das Konzept des Regressorentums, das in der ersten und schwierigsten Etappe auf dem Weg zur Freundschaft Anwendung findet. Durch die Regression einer Zivilisation wird ihr technisches, vor allem jedoch ihr militärisches Potenzial auf null zurückgeschraubt, wobei kulturelle und moralische Errungenschaften der künftigen Freunde so weit wie möglich erhalten werden sollen. Denn eine Gesellschaft, die sich auf einem Entwicklungsniveau befindet, das dem Stein- oder dem Knochenzeitalter bei den Menschen entspricht, akzeptiert die Hilfe und die Idee der Freundschaft voller Dankbarkeit.

Die grundlegenden, allen bekannten Postulate des Regressorentums lauten:

1. Prinzip der Guten Absichten.

2. Prinzip des Kleineren Übels.

3. Prinzip der Umkehrbarkeit der Wahrheit, aus dem sich das Axiom der Abwesenheit der Lüge ableitet.

4. Prinzip der Moralischen Flexibilität.

Im Weiteren wollen wir auch die sechs ergänzenden Postulate des Regressorentums betrachten, einschließlich solcher auf den ersten Blick nicht unstrittig anmutender wie die Verantwortung der Kultur und der Freiheit des Zweitrangigen. Doch zunächst sei auf die grundlegenden Postulate eingegangen ...«

Ich legte das Buch beiseite.

Ein beklemmendes Gefühl beschlich mich.

Mich verwirrte nicht, dass verständliche und allgemein akzeptierte Wahrheiten Abscheu in mir weckten. Mich erschreckte vielmehr, dass diese Abscheu irgendwie persönlich war, gleichsam mich selbst herabwürdigte!

Ich würde es schwer haben. Sehr schwer.

Ich stand auf und ging ins Bad. Es war überraschend groß, mit einer funkelnden, schneeweißen dreieckigen Badewanne, einem mit desinfizierendem Gel ausgestrichenen Handwaschbecken und natürlich einem Klo. An der Wand, die mit einer dunklen, leicht spiegelnden Folie überzogen war, war ein buntes Bild befestigt: ein kleiner Junge, der sich ordentlich die Hände wäscht, und der Hinweis: »Waschen muss man sich am Morgen und sich abends waschen auch!«

Hygiene ist ausgesprochen wichtig. Das verstehe ich.

Mir fiel mein dummer Impuls wieder ein, der mich veranlasst hatte, Tag bei der Hand zu fassen.

Dergleichen gehörte sich hier offenbar nicht!

Wie war ich nur auf den Gedanken gekommen, so etwas sei zulässig?

Ich musste mich ausschlafen. Ich musste zu Kräften kommen. Morgen würde mir die Welt schon klarer und vertrauter erscheinen. So würde es jeden Tag weitergehen, ich würde mir die Moral und die Normen Der Heimat aneignen, würde wieder ich selbst werden, mich abermals mit dem Regressorentum beschäftigen, Die Heimat würde die Alari ausfindig machen und deren aggressives Potenzial auf null reduzieren. Irgendwann würden die Alari dann unsere Freunde werden.

Ob sich die Regressoren auch jene Wesen, die uns so ähnelten, vornehmen mussten? Oder reichte deren Verstand, um unsere Hilfe freiwillig anzunehmen?

Ich wusch mir die Hände, entschied mich nach kurzem Zögern, gleich vom ersten Abend an die richtige Lebensweise zu praktizieren, und machte mich mit den Mechanismen der Dusche vertraut. Nach ein paar Minuten, nachdem ich mich zweimal mit Wasser übergössen hatte -erst mit eisigem, dann mit kochend heißem -, kam ich mit ihnen zurecht. Ich zog mich aus - etwas spät, nach zwei unfreiwilligen Duschen -, stieg in die Wanne und wusch mich sorgfältig.

Die nassen Sachen akkurat zusammenzupacken - das wäre natürlich idiotisch gewesen. Daher verteilte ich sie auf den Regalen, damit sie bis zum Morgen trockneten, kroch unter die Bettdecke und schlief ein. Ich war derart müde, dass mich nicht einmal die winzigen Maße des Kissens störten.


Ich träumte etwas, einen typischen Traum-zur-Diskussion-mit-dem-Ausbilder. Einen schrecklichen Traum.

Eine amöbenartige flüssige Kreatur kroch in mich hinein, floss durch meinen Körper, streckte ihre Fühler nach meinem Herzen und meiner Leber aus und trübte mit ihrem Gift mein Gehirn ... Ich wälzte mich auf einer unebenen Metallplatte, um mich herum standen alptraumhafte Wesen, unter ihnen auch ein Mensch, ein alter Mann, mein Ausbilder, auch wenn er nicht wie Fed aussah ...

Ich ertrug alles, was mit mir geschah, ertrug es, weil es nötig war und mein Verstand begriff: Mein ganzes Leben, mein ganzer Schmerz - die sind nur Staub im Wind des Schicksals, ein Partikel, nicht der Aufmerksamkeit wert ...

»Nik! Niki!«

Die Kreatur kroch in mir herum, machte sich daran, jede Zelle meines Körpers zu untersuchen, jeden Nerv und jeden Muskel, was durchaus nicht immer schmerzhaft, aber immer eklig war ...

»Niki!«

Ich stöhnte und wachte auf.

Katti saß neben mir am Bett und studierte besorgt mein Gesicht.

»Du hast geweint«, sagte sie. »Du hast im Schlaf geweint, Niki ...«

Ich schluckte, denn mein Hals war völlig ausgetrocknet, und mein Herz hämmerte wie irrsinnig in der Brust.

»Niki ...«

»Was ... was machst du hier?«

Na toll! Etwas Klügeres hätte ich mir wohl nicht einfallen lassen können!

Katti zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Sie wollte schon aufstehen.

»Warte.« Unwillkürlich griff ich nach ihrer Hand. »Verzeih mir. Mir war schlecht. Du hast mir geholfen, danke. Ich habe mich nur gewundert, wie du hereingekommen bist.«

»Dein Schloss kennt mich.« Sie betrachtete leicht verwundert meine Hand. »Niki, wir waren doch schließlich ... Freunde ... Einen fröhlichen Morgen, Nik!«

Sie sah sehr gut aus. Nur diese Igelfrisur ... die gefiel mir überhaupt nicht. Dafür hatte sie sehr gute Augen, ein schönes Gesicht, einen halbnackten Körper. Heute hatte sie einen kurzen Rock an, und das Band, das Frauen statt eines Hemdes trugen, war ganz schmal und fast durchsichtig.

Bestimmt hatte ich sie früher wirklich geliebt.

Und ich war bereit, mich hier und heute sofort wieder in sie zu verlieben.

Etwas in meinem Kopf hakte sich fest: In dem vergeblichen Versuch, die eigenen Wünsche zu verstehen, musste ich in eine logische Sackgasse getreten sein.

Was sollte das? Nicht einmal die Worte reichten!

Zum ersten Mal weigerte sich mein »Reservegedächtnis«, mir zu erklären, was ich eigentlich wollte.

»Katti ...«, flüsterte ich hilflos. »Ich ... ich liebe dich.«

Sie entspannte sich sofort und lächelte sogar.

»Ich liebe dich auch, Niki. Alles ist gut. Du bist bereits auf dem Weg der Besserung.«

Vorsichtig zog sie die Hand aus der meinen und berührte meine Stirn.

Prompt fiel mir jene fremde Frau ein und ihre scheue Geste ...

»Deine Temperatur ist normal«, konstatierte Katti.

Hätte sie doch bloß geschwiegen!

»Steh auf, du Faulpelz!«, forderte sie mich munter auf. »Dir ist erlaubt, im Bett zu liegen, aber du solltest das nicht ausnutzen!«

Sie erhob sich und zog mir die Bettdecke weg.

So schnell, dass ich sie nicht festhalten konnte.

Und gestern Abend hatte mir doch die Kraft gefehlt, frische Unterwäsche zu suchen!

»Wasch dich und zieh dich an«, sagte Katti völlig unerschüttert. »Du hast gestern deine Sachen nicht in den Reinigungstrakt gebracht, ich habe sie für dich dort abgegeben. Und jetzt hoch mit dir!«

Ich setzte mich im Bett auf, was überraschend unbequem war, als hätte man ihm die Beine abgesägt, so dass es niedriger als normal war. Nachdenklich schaute ich Katti an.

Meine Nacktheit irritierte sie überhaupt nicht - im Unterschied zu jener fremden Frau. Fand man hier also nichts dabei?

Aber welches Verhalten stimmte dann nicht?

Warum konnte ich mich einfach nicht durchringen aufzustehen?

»Nimm eine kalte Dusche«, riet mir Katti. »Du hast einen Hormonschub. Das hat nichts zu bedeuten, dergleichen kommt nach Stresssituationen vor.«

Etwas in mir zerbrach. Ohne mich noch länger zu genieren, stand ich auf und ging ins Bad. Dort stellte ich, dem ärztlichen Rat folgend, das kalte Wasser an und ließ mich berieseln. Aus winzigen Löchern in der Decke ergoss sich echter Regen über mich, ich drehte mich in ihm, hob die Hände und fing die kalten Tropfen auf. Irgendwann lehnte ich mich mit der Stirn gegen die glitschige Wand und erstarrte.

»Ich habe dir deine Sachen gebracht«, teilte Katti freundlich mit, als sie das Bad betrat. Die Badezimmertür ließ sich nicht abschließen. Vielleicht hatte ich aber auch nur den Mechanismus des Schlosses nicht durchschaut. »Geht es dir gut? Tag hat gesagt, ihr habt zwei Karaffen Wein getrunken. Er leidet an einer leichten Vergiftung ...«

»Mit mir ist alles in Ordnung«, erwiderte ich, ohne mich umzudrehen.

»Deine Bioabwehr ist besser«, vermutete Katti. »Dein Organismus hat die toxischen Stoffe problemlos abgebaut.«

»Katti, ich leide an psychischen Störungen«, bemerkte ich. »Mir ist ... ich bin ...«

Sie wartete geduldig, während ich nach Worten suchte.

»Ich verspüre ein gewisses Unbehagen, wenn ich nackt neben dir stehe!«, brachte ich schließlich heraus.

»Das passiert dir nur mit mir?«, erkundigte sie sich sachlich.

»Also ... ich glaub schon. Gestern, bei der Untersuchung, habe ich dieses Unbehagen auch jedes Mal empfunden, wenn du mich angesehen hast.«

»Keine Sorge. Das ist eine bekannte Erscheinung. Eine psychische Regression. Sie tritt mitunter bei Kindern während der Adoleszenz auf, manchmal auch unter starkem Stress. Es gibt dafür einen Fachausdruck: Schamhaftigkeit.

Normalerweise ist die Schamhaftigkeit aufs andere Geschlecht gerichtet.«

»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte ich begriffsstutzig.

»Das geht vorbei. Wir müssen die bei dir aufgetretene falsche Verhaltensform ändern. Wenn du willst, gehen wir zusammen in ein Dampfbad. Wir haben noch Zeit.«

»Das musst du wissen«, antwortete ich.

»Dann zieh dich an, und wir gehen zu Tag.«

Vielleicht war es eine Regression - aber ich entspannte mich erst, nachdem Katti das Bad verlassen hatte.


Tag fühlte sich wirklich miserabel.

»Alkoholhaltige Getränke müssten verboten werden«, brummte er, während er durchs Zimmer tigerte. Bei ihm herrschte die gleiche penible Ordnung wie bei mir, allerdings besaß er mehr Sachen. Vor allem Photographien von entsetzlichen Monstern, die an den Wänden hingen, und allerlei unappetitliche Substanzen in breiten, flachen Gefäßen. »Das ist Gift. Ich werde ein Gesuch beim Weltrat einreichen, im Namen des ganzen Instituts ...«

»Warte damit noch ein, zwei Tage, dann wirst du es dir überlegt haben«, lachte Katti. Sie saß in einem Sessel, heiter und sorglos. Ob sie vielleicht tatsächlich glaubte, mit mir käme wieder alles in Ordnung? Oder wollte sie mich nur aufheitern?

»Gut, ich warte! Aber ich werde es mir nicht überlegen!«, verkündete Tag energisch. »Wann muss Niki Rechenschaft ablegen?«

»Der Ausbilder hat mit dem Rat einen Termin für sechs Uhr vereinbart. Bis dahin bleibt jede Menge Zeit. Ich will mit Niki noch ins Dampfbad gehen.«

»Wozu das?«, fragte Tag verwundert.

»Um die toxischen Stoffe auszuschwitzen.« Katti zwinkerte mir zu. Ich wusste ihr Taktgefühl zu schätzen. »Kommst du mit?«

»Ja«, entschied Tag. »Wir müssen um ein Auto bitten ...«

»Ich bin motorisiert. Der Ausbilder hat mir für fünf Tage ein Auto besorgt, für die erste Rehabilitationsphase von Nik.«

»Verstehe. In diesem Prozess kommt es jetzt vor allem auf dich an ... Han hat nichts gefunden?«

»Absolut nichts. Der Vortrag des Schiffs war vollständig und korrekt. Er hat die halbe Nacht gearbeitet und ist erst um halb drei nach Hause gekommen. Wollen wir ihn ausschlafen lassen?«

»Ja«, antwortete Tag. Er inspizierte einen Kleiderstapel und zog sich über das Hemd eine Jacke, die aus bunten Schnüren gefertigt war. »Seh ich gut aus?«

»Sehr«, lobte ihn Katti.


Das Auto war entweder das von gestern Abend oder sah völlig gleich aus. Katti gab die Route ein und drehte anschließend den Vordersitz zu uns herum, so dass wir uns unterhalten konnten. Über alles Mögliche. Über die Rasse der künftigen Freunde, die ich im Kosmos entdeckt hatte, und darüber, wie aufregend und abwechslungsreich es wäre, sich ernsthaft mit ihnen zu befassen, ihnen zu helfen, unsere Freunde zu werden. Die Alari interessierten Tag allerdings kaum, die Rasse, die uns äußerlich glich, dafür umso mehr.

»So etwas hat es noch nie zuvor gegeben!«, sagte er wild gestikulierend. »Als wir die Kleinen zu Freunden gemacht haben - was mussten wir uns da alles einfallen lassen! Sogar spezielle Anzüge haben wir angefertigt und Kinder in diesen Kostümen zu den Kleinen Freunden geschickt! Das Wachstum haben wir künstlich gebremst, um erwachsene Regressoren zu erhalten ... Die Kinder haben eine Niederlage nach der nächsten einstecken müssen ... Wie lange haben wir uns mit diesen Versuchen noch mal rumgeschlagen, Katti?«

»Siebzehn Generationen von Kleinwüchsigen«, antwortete sie seufzend. »Ja selbst heute noch ... also manchmal ... heißt es ...«

»Aber mit denen kannst du einfach loslegen! Wähle die Mitarbeiter aus, schick sie zu dem Planeten der künftigen Freunde und mach dich an die Arbeit! Ich beneide die Regressoren! Ehrenwort, ich beneide sie!«

»Sie sind weit genug entwickelt, um Fremde zu erkennen. Wir können ihnen äußerlich in noch so idealer Weise gleichen, aber die Unterschiede in der Psyche werden uns verraten. Ganz so einfach wird die Arbeit wohl nicht werden.«

»Vergiss die Methoden nicht, die uns zur Verfügung stehen! Zum Beispiel ...« Tag wies mit dem Finger auf mich. »... die Amnesie! Sie ist eine hervorragende Möglichkeit, um jede Merkwürdigkeit eines Regressors zu erklären!«

Stille trat ein. Tag selbst verstummte, ich hatte nichts zu sagen, Katti wandte den Blick ab.

»Eine gute Hypothese«, bemerkte ich.

»Niki!« Tag sprang sogar von seinem Sitz hoch, stieß mit dem Kopf gegen die Decke. Weil das Auto aber gerade in die Kurve ging, fiel er auf seinen Platz zurück.

»Woher weißt du, dass ich Niki bin? Vielleicht haben sie ihn ja verhört, so viel wie möglich aus ihm herausgepresst und mich in der Gestalt von Niki zu euch geschickt? Mich, einen fremden Regressor? Na?«

Ich fühlte mich momentan so beschissen, dass ich niemanden schonte.

»Nik!«

Ich sah Katti in die Augen.

»Das ist aus drei Gründen unmöglich.«

»Dann beweis mir, dass ich ich bin. Weil ich nämlich selbst nicht hundertprozentig daran glaube!«

»Dein Körper ist der Körper von Niki. Wir haben die Genkarte überprüft! Beide Analysen haben sich als positiv herausgestellt und entsprechen deinem Gentyp!«

»Einen Körper kann man kopieren«, gab ich zu bedenken.

»Das zweite Argument dagegen! Wir haben eine vollständige Mentoskopie deines Gehirns angefertigt. Ja, du erinnerst dich an nichts aus deiner Vergangenheit! Aber dein Wortschatz ist eben genau dein Wortschatz! Du weißt das, was du wissen musst! Und du trägst kein fremdes Gedächtnis in dir! Warum sollten die einen Regressor schicken, der seine Aufgabe nicht kennt? Das wäre sinnlos! Und wir haben das ganze Gehirn durchforstet, sämtliche Winkel. Es ist sauber!«

»Und das dritte Argument?«, fragte ich. Geradezu mit dem rachsüchtigen Wunsch, mir selbst zu schaden!

»Das sind wir. Deine Freunde, dein Ausbilder. Meinst du nicht, wir hätten es nicht gespürt, wenn du ausgetauscht worden wärst?«

Ich schloss die Augen. Danke, Katti. Danke für diese Worte. Vielleicht waren sie das wichtigste Argument. Das Argument, das mich beruhigte.

»Ein nicht-freundschqftlich-gesinnter Regressor müsste eine solch perfekte Kopie von Niki sein ... eine moralischethische Kopie ... dass es einfach unmöglich wäre.«

»Danke, Katti ...«, flüsterte ich.

»Das sind absolut unstrittige Argumente«, fasste Tag zusammen. »Mir glaubst du doch wohl, dem Spezialisten für fremde Rassen?«

»Ja.«

»Zugegeben, wenn du das alles als abstrakte Hypothese auffasst ...« Tag setzte eine süßliche Miene auf. »Dann könnte ich natürlich versuchen, Einwände zu finden. Und alle Argumente durchhecheln.«

Die Stille kehrte zurück.

»Tu das, Tag«, bat ich. »Versuch herauszukriegen, ob ich ein fremder Regressor sein könnte. Wenn du eine entsprechende Möglichkeit siehst, überleg dir, wie du sie verifizieren könntest. In dem Fall müsste man mich nämlich sofort von der Gesellschaft isolieren und Gegenmaßnahmen ergreifen.«

»Und diese Worte«, mischte sich Katti ein, »sind der letzte Beweis, Nik. Vielleicht wird dir der Weltrat nicht glauben. Aber ich, ich glaube dir. Du bist unser Niki. Niki der Schlaukopf, Niki der Zappelphilipp, Niki der Übervorsichtige. Du brauchst keine Angst zu haben!«

»Glaub niemandem, fürchte niemanden, bitte niemanden um etwas«, sagte ich. »Ich danke euch. Wenn ich wieder ganz der Alte bin, werden wir zusammen über diese Geschichte lachen. Doch vorerst klappt das noch nicht.«


Bei dem Dampfbad handelte es sich nicht nur um ein Gebäude, sondern um einen ganzen Komplex aus runden, aufgrund ihrer enormen Höhe eher an Türme erinnernde Pavillons, aus dreieckigen, Seite an Seite stehenden Pyramiden und einem gigantischen würfelförmigen Bau aus schneeweißem Stein im Zentrum. In der Fläche zwischen den einzelnen Gebäuden wucherte das Grün derart dicht, dass die Anlage verwildert gewirkt hätte, wären da nicht die Pfade gewesen, die ins Innere führten. Wir ließen das Auto an der Straße und schlenderten über einen der kleinen Wege, die unter Brücken und Galerien wegtauchten und die Bauten wie ein versponnenes Netz miteinander verbanden. Einmal kam uns eine kleine Gruppe entgegen, drei Männer und zwei Frauen. Sie lachten, plauderten miteinander und begrüßten uns freundlich.

Durch ein Tor mit einem Wärmevorhang gelangten wir in einen weitläufigen, dämmrigen Saal. An der Schwelle blieb ich einen Moment stehen.

Kein Zweifel, falsche Verhaltensmuster galt es zu ändern.

In dem Raum hielten sich um die hundert Leute auf. Männer und Frauen, nackte, sich entkleidende und halb angezogene. Hier kam, hier ging jemand. Entlang der Wände zogen sich Reihen kleinerer Spinde, in welche die Besucher akkurat ihre Sachen legten. Die gewölbte Decke durchbrachen spiralförmig angeordnete kleine Fenster, durch die das nicht sonderlich grelle, gleichsam gefilterte Licht Des Mütterchens fiel.

»Gehen wir«, drängte Tag mich.

Wir steuerten ein paar freie Spinde an. Katti und Tag begannen sofort, sich auszuziehen, ich zögerte kurz.

Das ist normal, flüsterte ich mir schließlich zu und fing ebenfalls an, mich zu entkleiden. Um mich herum gab es ein solches Übermaß an nackten Körpern, dass mein Verstand voller Panik jenes Gefühl, das Katti als Schamhaftigkeit bezeichnet hatte, verleugnete.

»In die Hurrikan-Halle oder in die Meer-Halle?«, wollte Tag von Katti wissen.

Katti hatte sich bereits ausgezogen und ihren Schrank zugemacht - ich bemerkte, dass es in der Tür kein Schloss gab - und ließ sich die Frage nun durch den Kopf gehen.

»Erst ins Meer. Niki muss sich wieder daran gewöhnen.«

Ohne Widerspruch folgte ich ihnen. Weder einen Hurrikan noch das Meer hätte ich mit einem Dampfbad assoziiert.

Zusammen mit einem Dutzend anderer nackter Besucher gingen wir durch einen schmalen Gang. Sowohl der Steinfußboden als auch die Steinwände verströmten Wärme, ab und an klafften in den Wänden schmale Schlitze, aus denen uns heiße Luft entgegenschlug. Das Licht war hier bereits künstlich, gespendet von matten Lampen an der hohen Decke. Niemand sagte ein Wort, alle waren ernst, als bereiteten sie sich auf ein wichtiges Ritual vor, und das Patschen der nackten Füße auf dem Boden verschmolz zu einem seltsamen Rhythmus, einer urwüchsigen Begleitmusik für die kommende Handlung. Der Boden unter den Füßen war zwar immer noch heiß, wurde jetzt aber feucht. Irgendwo musste Wasser hinuntertröpfeln, das dann ungehindert vorwärts floss, da der Boden anscheinend ganz leicht, fürs Auge nicht fassbar abfiel.

Obwohl mich die Teilnahme an dieser Prozession in Bann schlug, fand ich Gelegenheit, mich verstohlen umzusehen. Männer und Frauen waren zu annähernd gleichen Teilen vertreten, die meisten jung, etwa in unserem Alter. Sehr viele schöne Frauen. Die Menge teilte sich klar in einzelne Gruppen von Leuten, die zusammen gekommen waren, aber selbst innerhalb einer solchen Kleingruppe berührte niemand einen anderen. Als ein Mann stolperte, fiel er ebenso ungeschickt wie schmerzhaft aufs Knie, obwohl ich hätte schwören können, dass er sich zu halten vermocht hätte, wenn er nach dem Oberarm seines neben ihm gehenden Freunds gegriffen hätte.

Heiße Luft wehte. Es roch nach Salz und Jod, als ob vor uns wirklich das Meer läge. Ein glühendes, fast kochendes Meer. Das Wasser unter unseren Füßen nahm zu, und ich setzte meine Schritte vorsichtiger.

Der Gang endete abrupt, öffnete sich in einen Raum, der mich an das Schiff der Alari erinnerte. Auch er wirkte wie die Nachbildung einer Höhle und wies eine Steinverkleidung auf. Allerdings fiel durch die Fenster Licht. Der Boden war mit grobkörnigem weißen Sand bestreut, hier und da schimmerten Muscheln und sogar kleine Bruchstücke von Korallen. Der Sand war zu unzähligen kleinen Hügeln aufgeschüttet, zu Dünen, auf deren Spitze Menschen saßen, standen und lagen. Von irgendwoher blies heißer Wind, die Hitze war inzwischen jedoch so stark, dass er Erleichterung mit sich brachte. In Gedanken schätzte ich die Temperatur auf das Doppelte der Temperatur eines gesunden Körpers.

»Niki!«

Ich folgte Katti und Tag auf eine kleine Sanddüne und ließ mich dort im Schneidersitz nieder. Wir saßen da, die Gesichter einander zugekehrt, eine von unzähligen Gruppen. Heiße Windstöße strichen über unsere Körper.

»Wie gefällt’s dir?«, erkundigte sich Katti.

Ich versuchte, sie nicht anzusehen. Hundertprozentig half diese therapeutische Maßnahme nämlich doch nicht. Mich irritierte allein schon die eigene Nacktheit - von ihrer ganz abgesehen.

»Es ist interessant«, antwortete ich ausweichend.

»Genieß es«, riet Katti. »Entspann-dich-sei-wachsam und genieß es ...«

Mit geschlossenen Augen folgte ich dem Befehl.

Eigentlich war es angenehm.

Mein Körper hatte sich zwar zunächst gesträubt, als er in diesen gigantischen Backofen gesteckt wurde, nach und nach wirkte die Hitze jedoch angenehmer. Ich schwitzte, aber die heiße Luft trocknete den Schweiß im Nu. Der Sand strömte langsam unter den Windböen dahin, sammelte sich um meine Beine, verbrannte meine Haut.

Wie gut das tat ...

»Niki!«

Ich öffnete die Augen. Katti und Tag hatten sich bereits erhoben.

»Gehen wir«, forderte mich Tag auf. »Wir sollten uns jetzt einer anderen Temperatur aussetzen.«

Wir umrundeten die Sandhügel, auf denen die nackten Körper schwitzten und dörrten, und gingen zum gegenüberliegenden Ende des Raums. Dort gab es ein kleines Wasserbecken, einen kleinen See, zu dem sich das über die Wand strömende Wasser gesammelt hatte; von dort aus strömte das Wasser durch einen in die Wand eingelassenen Tunnel weiter.

»Ohoho«, kreischte Tag und lief los. Mit einem Kopfsprung tauchte er in den See. Wir folgten ihm. Das Wasser brannte, so eisig war es, fast als sei es nicht über erhitzte Wände geflossen. Ich tauchte wieder auf und saugte gierig die Luft ein. Tag hielt bereits auf den Tunnel zu, wobei er sich gänzlich von der Strömung treiben ließ.

»Ihm nach ...« Katti tauchte neben mir aus dem Wasser auf. Unsere Körper berührten sich beinahe. »Niki!«

»Ich schwimme«, sagte ich.

Der Strom brachte mich durch den Tunnel. Die Wände, die im ersten Stück aus Stein bestanden, wurden plötzlich durchsichtig. Jetzt schwammen wir in einer der Glasröhren, die über den Pfaden hinwegführten. Unter uns gingen Leute ... anscheinend sah uns niemand, die Transparenz musste also einseitig sein.

»Wechselbäder wirken sich positiv auf den Organismus aus!«, klang die Stimme der hinter mir schwimmenden Katti zu mir herüber.

Konnte sie nicht einfach mal »klasse« sagen?

Die Strömung ließ nach, wir wurden in einen weiteren Raum gespült. Ich tauchte das letzte Stück des Tunnels und fand mich anschließend in einem neuen Becken wieder.

Oho!

Das Wasser war hier ebenfalls kalt. Aber der Wind ...

War das die Hurrikan-Halle? Bestimmt!

Der Fußboden war aus Stein, vereinzelt waren allerdings Holzstücke eingelegt. Das erwies sich als ausgesprochen umsichtig, denn meine Fußsohlen verbrannten bereits beim ersten Schritt. Windböen zwangen uns zu blinzeln und uns zu ducken.

Sand gab es hier natürlich keinen. Er wäre innerhalb von einer Minute an die Wände gefegt worden. Statt der Sanddünen erhoben sich hier Steinklötze mit hölzerner Sitzfläche. Wir erklommen eiligst den nächsten freien Stein und kauerten uns oben zusammen.

»Hier darf man nicht lange bleiben!«, schrie mir Tag zu. »Drei Minuten, maximal fünf!«

»Gut zu wissen!«, brüllte ich, um das Tosen des Winds zu übertönen. Ich hatte den Eindruck, das Wasser aus meinem Körper werde buchstäblich herausgesaugt. Die drei gesprochenen Worte hatten mir den Mund völlig ausgetrocknet, und ich musste schlucken, um neuen Speichel zu produzieren.

»Ein Dichter hat den vollständigen Zyklus der Prozeduren im Dampfbad einmal mit der Menschheitsentwicklung verglichen!«, sagte Katti. »Der Sieg über die feindlichen Naturgewalten, die Eiseskälte und die Flammen, die entschlossene Bewegung und schließlich der Zustrom neuer Kräfte und die Liebe zum Universum!«

»Ein nicht gerade angenehmer Entwicklungsprozess«, flüsterte ich, eher an mich selbst gerichtet.

»Was?«, fragte Katti.

»Ich glaube, wenn man den Wind vermindert und die Temperatur senkt, würde die Natur nicht ganz so feindlich erscheinen!«, rief ich.

Fünf

Ich weiß nicht, warum mein Körper sich derart leicht anfühlte. Vielleicht rührte das vom segensreichen Einfluss der Dampfbadprozeduren her, vielleicht von der Freude darüber, dass sie vorüber waren.

Die zweite Version kam mir weit überzeugender vor.

»In einer Stunde musst du im Weltrat sein«, erinnerte mich Katti. »Du gehst zusammen mit dem Ausbilder hin. Wir haben unsere Berichte bereits alle eingereicht, so dass wir nicht dabei sein müssen. Aber wir warten auf dich ... im Gebäude.«

»Ist es weit?«, fragte ich.

»Im Zentrum.«

Das sagte mir nichts, Katti bemerkte meine Irritation jedoch. »Im Zentrum des Kontinents«, erklärte sie. »Nach Dienen, so heißt die Stadt.«

»Schaffen wir das denn?«

Das Auto, in dem wir jetzt saßen, schien mir nicht schnell genug, um die Strecke vom Ufer zum Zentrum des Kontinents innerhalb von einer Stunde zurückzulegen. Selbst wenn es eine Schnellstraße gäbe ... nein, auch dann würde ein Transportmittel mit Rädern nicht die nötige Geschwindigkeit erzielen ...

Katti und Tag sahen sich an.

»Wir schaffen es«, versicherte Katti. Mit Mitleid und Zärtlichkeit in der Stimme. »Niki, erinnere dich an die Formen von Transportmitteln auf unserem Planeten!«

»Autos, Plattformen, Schiffe, Flyer, Kabinen«, zählte ich automatisch auf.

»Die richtige Antwort sind in diesem Fall die Kabinen«, erklärte Katti. »Damit schaffen wir es spielend. Jetzt fahren wir erst mal in ein Geschäft, du musst dich umziehen. Das ist zwar keine Pflicht ... aber es sieht besser aus, es ist ein Zeichen des Respekts gegenüber dem Weltrat.«

»Wer gehört ihm an?«

»Wissenschaftler, Ingenieure ... verschiedene Leute halt!« Tag zuckte mit den Achseln. »Hauptsächlich aber Ärzte und Ausbilder. Es sind die Persönlichkeiten, die am meisten geschätzt werden. Katti, gib den Kurs ein.«

Das Auto fuhr an, wir machten uns auf zum nächstgelegenen Geschäft ...


Die nächsten fünfzig Minuten fühlte ich mich wie ein Kind, das fürsorgliche Eltern ... Ausbilder ... herausputzten. Nein, eher wie eine Puppe, die von kleinen Kindern angezogen wird. Ein Kind kann man schließlich ab und ; an fragen, ob ihm dieses oder jenes Kleidungsstück gefällt. Bei mir gab sich niemand diese Mühe. Katti und Tag überließen sich völlig ihrer interessanten Beschäftigung, nämlich durch mich ihren Respekt gegenüber dem Weltrat auszudrücken.

»Also wirklich, all diese modischen Halbmäntel und Pullover kannst du vergessen!«, belehrte Katti Tag. »Schließlich wollen wir mit Nik nicht in einen Jugendclub. Es muss etwas Seriöses und Klassisches sein. Wenn man ihn sieht, muss man gleich denken: Das ist ein Mensch, der Unsagbares durchlitten und nach Der Heimat zurückgekehrt ist. Ihm ist ein Unglück widerfahren, aber er ist nicht daran zerbrochen. Er ist dieser Gesellschaft nützlich und glaubt an sich!«

Nach dieser Tirade wurde für mich Hellgrau gewählt, das Symbol der wahrhaften Reinheit und der schweren Prüfungen, wie Tag mir erklärte. Weiße Kleidung hätte allzu selbstsicher gewirkt, schwarze oder rote hätte für einen Fehler gestanden, den ich nicht begangen hatte.

Ich setzte mich nicht mit sämtlichen Details auseinander. Gehorsam zog ich mich aus und probierte Anzug um Anzug an. Am Ende bekam ich ein stahlgraues Hemd, graue Hosen und ein graues Jackett, um den Hals wurde mir ein plüschiges weißes Band gebunden, über die Füße wurden weiche, eng wie Socken anliegende Schuhe aus feinem grauen Leder gestülpt.

»Jetzt schau dich nur mal an!«, rief Katti aus, während sie mich von allen Seiten begutachtete. In der kleinen Garderobe gab es keinen Spiegel, doch noch bevor ich danach fragen konnte, wie ich einen Blick auf mich selbst werfen sollte, betätigte Tag einen Schalter an der Wand, und direkt neben mir materialisierte sich ein dreidimensionales Bild in der Luft. Ich starrte meinen Doppelgänger an, der meinen Blick mit einem ebenso neugierigen quittierte. Im nächsten Moment wich die Neugier im Gesicht des Hologramms allerdings einem Ausdruck des Abscheus.

Das weiße Band setzte meiner idiotischen Erscheinung die Krone auf. Ohne dieses Ding hätte ich wie ein leicht mürrischer Mann gewirkt, der so angezogen ist, dass nicht gleich auffällt, wenn er sich schmutzig macht. Mit dem weißen Band um den Hals kam ich mir wie ein Tier-Freund vor, der mit seinem Frauchen einen Spaziergang macht, oder wie ein Clown, der gleich das Publikum unterhalten will.

»Stimmt was nicht, Niki?«, fragte Tag erstaunt.

Wortlos zog ich mir das Band vom Hals und warf es zu Boden. Mein Abbild machte gehorsam das Gleiche. So war es schon wesentlich besser!

»Ich weiß nicht«, meinte Katti nachdenklich. »Das war ein schönes Symbol der inneren Reinheit. Nicht auffällig, aber wirkungsvoll.«

Was heißt hier nicht auffällig?

»Ich weiß ja, dass du von klein auf Modemacherin werden wolltest, Katti«, sagte Tag. »Aber deine Ausbilderin hatte doch wohl guten Grund, dir von diesem Beruf abzuraten, oder? Vielleicht spürt Niki intuitiv den provozierenden Symbolismus des weißen Bandes?«

»Vielleicht.« Katti seufzte. »Gut, lassen wir es so. Es wird Zeit, Jungs.«

»Es muss hier in der Nähe eine Kabine geben«, meinte Tag.

»Ja, ich weiß, wo.«

Wir verließen die Garderobe. Aus irgendeinem Grund hatte ich angenommen, wir müssten den Verkäufern des Geschäfts mitteilen, welche Kleidung wir ausgesucht hatten, vielleicht musste man irgendwo Bescheid sagen -aber meine Freunde kümmerte das offensichtlich nicht. Vorbei an den Ständern mit der Kleidung, die manchmal so grell war, dass sie vor den Augen flimmerte, manchmal leuchtete oder die Farbe änderte, trabten wir ans andere Ende des Geschäfts. Dort stand neben einer Glastür, die auf die Straße führte, ein hoher Zylinder aus dunklem, halbtransparentem Plastik.

»Am besten lassen wir uns zur sechsten Kabine von Dienen befördern, oder?«, sagte Katti.

»Richtig«, bestätigte Tag.

Sobald wir näher kamen, bemerkte ich die Schiebetüren und das in die Wand eingelassene Terminal. Tag legte lässig den Handteller auf den kolloidalen Aktivator, runzelte dann aber die Stirn.

»Die sechste Kabine ist für eine große Gruppe reserviert«, teilte er uns mit. »Nehmen wir die fünfte.«

Die Türen des Zylinders glitten auseinander, im Innern sprang Licht an. Dort gab es nichts, nur ein Metallgitter im Fußboden und eine Lampe in der Decke. Tag trat in den Zylinder und winkte uns zu. Die Türen schlössen sich wieder, Dunkelheit hüllte die Kabine ein. Für einen kurzen Moment flammte bläuliches Licht auf.

»Jetzt du«, forderte mich Katti auf. »Gib über das Steuerungssystem die fünfte Kabine ein.«

Gehorsam berührte ich das Terminal.

Zielort?

»Fünfte Kabine von Dienen«, sagte ich heiser. Mir war nicht ganz wohl bei der Sache.

»Du brauchst es nicht laut zu sagen!«, rief mir Katti in Erinnerung.

Warten Sie, bis die Kabine frei ist. Steigen Sie ein.

Ich betrat die sich öffnende Kabine. Tag war natürlich nicht mehr drin.

Kabine, die Kehrseite des Raums, Fortbewegung außerhalb der Zeit ... verzweifelt klammerte ich mich an eine Kette von Worten. Sicherheit und Zuverlässigkeit. Bequemlichkeit und Komfort ...

Das Licht verlosch, anschließend erfolgte die bläuliche Explosion. Nichts veränderte sich. Ich wartete.

Dienen. Fünfte Kabine. Verlassen Sie die Kabine.

Die Türen öffneten sich, ich trat hinaus und erwartete selbstverständlich, eine Reihe von Kleiderständern und Katti zu sehen.

Der Zylinder stand in einem Park. Es war dämmrig, als habe sich etwas Gigantisches vor das Licht Des Mütterchens geschoben. Auf dem Rasen vor dem Zylinder wartete Tag ungeduldig auf mich.

»Nun komm schon raus!«, rief er mir aufmunternd zu.

Auf wackligen Beinen ging ich zu ihm hin. Hinter mir schloss sich der Zylinder.

Neben Tag stand ein Pärchen, eine ältere Frau mit einem jungen Mann. Sie trugen beide sehr grelle Kleidung, hatten fröhliche Gesichter, wirkten aber dennoch ein wenig unzufrieden.

»Freunde, noch einen Moment«, entschuldigte sich Tag bei ihnen. »Noch eine Person.«

Automatisch nickte ich den beiden zu, die vermutlich Dienen verlassen wollten, blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken.

Eine Statue bohrte sich in den Himmel.

Nie zuvor hatte ich ein derart großes Denkmal gesehen ... nein, ein derart großes Haus in Form einer Statue. Sie stellte einen Menschen dar, einen älteren Mann, im leichten Mantel ... Einzelheiten, die mein Bewusstsein wahrnahm, die sich aber nicht zu einem Gesamtbild fügen wollten. Obwohl mein Verstand sich weigerte, die Höhe einzuschätzen, registrierte ich, dass sich der Kopf der Statue auf gleicher Höhe mit den Wolken befand.

»Die allegorische Figur eines Ausbilders krönt das Gebäude des Weltrats«, erklärte Tag mit der Stimme eines Fremdenführers. »Erschaffen vor mehr als zweihundert Jahren, ist es das höchste Bauwerk hier auf Der Heimat. Als seinerzeit die Versuche mit den Quarksreaktoren nach einem Bau verlangten, der das Gebäude des Rates überragt hätte, fand man folgenden Kompromiss: Die Versuchsanlage wurde erst gebaut, nachdem das Ratsgebäude um anderthalb Kiloschritt angehoben worden war.«

»Los jetzt!« Katti stürzte aus der Kabine. »Wir sind spät dran.«

Wir durchquerten den Park. Bis zum Fuß der Statue war es nicht weit, hier standen überall Kabinen. Und es wimmelte von Menschen. Sie schlenderten durch den Park, saßen auf den Bänken oder einfach im Gras und bewunderten das Gebäude. Mir war nicht klar, was ihnen daran gefiel, im Schatten dieser gigantischen Statue zu sitzen. Mich persönlich bedrückte das monströse Gebilde.

»Schau mal, deshalb war die sechste Kabine blockiert«, rief Tag aus. »Eine Exkursion.«

Aus einem Zylinder sprang ein Kind nach dem nächsten heraus. Die ersten Kinder, die ich auf Der Heimat sah. Alles Jungen. Sie hüpften fröhlich lachend aus der Kabine, verstummten jedoch sofort, drängten sich zu viert oder zu fünft in kleinen Gruppen zusammen und scharten sich um den unerschütterlichen Ausbilder.

»Sie sind das erste Mal in Dienen, das merkt man sofort«, kommentierte Tag freundlich, aber auch ein bisschen arrogant. »Ich kann ihre Gefühle gut nachempfinden.«

»Ich auch«, sagte ich, während ich den Kindern hinterherblickte.

Ein Junge lief zu seinem Ausbilder, schmiegte sich an ihn, fragte etwas und zeigte dabei auf das Ratsgebäude. Der Ausbilder lachte, zerzauste ihm das Haar und legte ihm den Arm um die Schultern.

Gab es nicht zu jeder Regel eine Ausnahme?

Gab es nicht für jede Ausnahme einen Grund?

Was bedeutete eine Berührung in einer Welt, in der ein ungeschriebenes Gesetz jeden Körperkontakt verbot?

Welche Kraft steckte hinter der Berührung durch eine andere Hand? Wärme, Liebe, Sorge, Vertrauen?

Aber genau das waren doch die treibenden Kräfte unserer Moral. Freundschaft, Liebe, Gleichheit ... oder poetisch gesprochen: Brüderlichkeit. Weshalb wurde dann die Liebe tabuisiert? Weshalb die Wärme eingeschränkt?

Ob womöglich das Monopol auf die Liebe die stärkste Waffe in dieser Welt bedeutete? Das Burgenzeitalter mit seinen Epidemien, der Pest und den bösartigen Geschwüren hatte uns vom Körperkontakt abgebracht. Es hatte ihn auf ein Minimum reduziert, ihn zu einer Verletzung des Anstands deklariert. Aber wenn irgendwo in der Seele das Bedürfnis nach der Berührung durch die Hand eines Menschen existierte, wenn ein Kind sich an den Kuss seiner Mutter erinnerte und sich innerhalb der vier Wände seines gemütlichen Internats danach sehnte - was verkörperten dann die Ausbilder? Waren sie etwa die Einzigen, die umarmen, trösten, loben, liebkosen und bestrafen durften?

Waren sie Heilige?

Ich schüttelte den Kopf.

Was für absurde Gedanken mir in den Sinn kamen! Was sollte das?! Schließlich war ich doch ein Teil dieser Welt, Fleisch von ihrem Fleisch! Und meine Welt war voll von Güte und Liebe - nur ich, der ich während meines Gedächtnisschwunds zu den dunklen Tiefen meines Unterbewusstseins hinuntergestolpert war, verlangte nach etwas Verbotenem, nach etwas, das die Geschichte längst verworfen hatte ...

»Was ist denn, Niki?«

In Kattis Blick lag Sorge.

»Es ist schwer, ein Neugeborener zu sein«, antwortete ich.


Das Gebäude des Weltrats wirkte innen noch bedrückender als von außen. Kleine Zimmer ließ man hier nicht gelten. Die Flucht von Sälen, die durch das Postament der »allegorischen Figur des Ausbilders« führten, zog sich derart endlos dahin, dass ich mich nicht über Flugapparate gewundert hätte, die durch das Gebäude flogen. Stattdessen gab es jedoch die üblichen Transportplattformen., »Siebter Saal, bei den Informationsschaltern«, erklärte Katti. »Schnell, Tag, schnapp dir eine Plattform!«

Überall schwärmten Menschen hin und her. Sie erledigten ihre Angelegenheiten, schauten sich um und studierten wie verzaubert in jedem Saal die gewölbte Decke, die mit farbenprächtigen Fresken bemalt war, sammelten sich vor den Säulen mit einem Terminal, die es allenthalben gab; sie kamen hierher, um zu arbeiten und sich zu erholen. Irgendwo spielte leise Musik, irgendwo schlurften Schritte, irgendwo verschmolzen gedämpfte Gesprächsfetzen zu einem sanften Rauschen.

Wir fuhren zusammen mit einem seriösen, schweigenden Ausbilder, der hier fraglos etwas zu erledigen hatte, und ein paar jungen Leuten auf einer Plattform in den siebten Saal. Die jungen Leute schienen einfach durch das Zentrum Der Heimat zu streifen und den Ausbilder mit begeistertem Respekt zu betrachten. Uns sahen sie übrigens ebenfalls voller Achtung an. Wir machten offensichtlich den Eindruck von Menschen, die sich aus gutem Grund in diesem Gebäude aufhielten.

Auch ich sah mich um, studierte vor allem die Deckenfresken. Eigentlich waren sie nichts Besonderes, eine Art Geschichtskurs in Bildern. Vom Steinzeitalter an aufwärts. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass das Berührungstabu sich auch auf die Bilder erstreckte. Nur die Ausbilder hielten jemanden an der Hand, nur sie trugen Verwundete aus brennenden Häusern, unterwiesen Kinder und trösteten Greise. Einige der Ausbilder waren noch jung, andere alt, ihre Kleidung unterschied sich durch nichts von der ihrer Mitmenschen. Trotzdem gab es da etwas in der Art der Darstellung, das es erlaubte, die Ausbilder zielsicher unter den anderen Figuren auszumachen. Ein bestimmter Edelmut in der Haltung, Weisheit in den Augen oder das Vertrauen im Blick der Umstehenden.

Übrigens dürfte es recht schwierig sein, eine Kuppel so auszumalen, dass die Bilder von unten überzeugend und proportional aussehen. Die Linien müssen bewusst verzerrt werden. Das Bild muss falsch und disproportional angelegt werden, damit es aus der Ferne realistisch wirkt ...

Ich rieb mir die Stirn. Nein, was für absurde Gedanken kamen mir da in den Sinn?

Am meisten frappierte mich ein Fresko, das die ganze Decke des sechsten Saals einnahm. Es zeigte ein tosendes Meer, spitze Felsen und einen von Sturmwolken verhangenen Himmel. Auf den Felsen standen ein Ausbilder und ein kleiner Junge. Der Ausbilder hatte dem Jungen einen Arm um die Schulter gelegt, mit dem anderen wies er aufs Meer, auf eine Stelle, wo ein Schiff mit gehissten Segeln die Wellen durchpflügte. Die gewaltigen Schaufelräder verschwanden halb im Wasser, an den Masten loderte Feuer. Wahrscheinlich sollte das Bild zum Meereszeitalter die Weisheit des Ausbilders illustrieren, der seinen Schützling auf die Schönheit des Sturms hinwies, auf die Kühnheit der Matrosen, die gegen die Naturgewalten kämpften ... vielleicht aber auch auf ihren verbrecherischen Leichtsinn. Der Kurs des Schiffs ließ keinen Zweifel daran, dass es im nächsten Moment an den Felsen zerschellen würde.

Mich beschlich der unangenehme Gedanke, der Ausbilder und der Junge würden nach der Katastrophe die Felsen runterklettern, um sich daranzumachen, die heilgebliebene Fracht zu bergen.

Ich senkte den Kopf.

Wie fatal ...

Eine Persönlichkeit ist nicht nur der unverwechselbare Genotyp, die Ansammlung von Wissen und das System der sprachlichen Kommunikation. Das Wichtigste an einer Persönlichkeit ist ihre Beziehung zur Umwelt, das Repertoire an Reaktionen, das sich im Laufe des ganzen Lebens herausbildet. Hier wiederum kommt es vermutlich vor allem auf die Stringenz an, mit der man Erscheinungen der Umwelt beurteilt. Diese Fähigkeit muss sich in einem unkritischen, unbewussten kindlichen Alter herausbilden, zu einem Axiom werden, das keiner Beweise bedarf und keine Zweifel hervorruft. Alles andere wäre fatal.

Ich hatte meine Axiome eingebüßt. Die sozialen Normen, die man nicht zu hinterfragen braucht. Und jetzt war es fast unmöglich, sie zurückzugewinnen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als etwas vorzutäuschen.

»Niki!«

Ich sprang Tag und Katti hinterher von der Plattform. Der siebte Saal dürfte sich in der Mitte des Postaments befinden. Und das Postament, daran hegte ich nicht den geringsten Zweifel, befand sich genau in der Mitte des Kontinents. Und die Säule aus hellblauem Licht, die aus dem Boden schoss und in die Kuppel hochstieg, sie durchbohrte und himmelwärts strebte, war die Achse, um die sich das ganze Leben auf Der Heimat drehte.

Hier hatte sich die Menge deutlich gelichtet. Mit Sicherheit gehörte es sich nicht, diesen Saal ohne triftigen Grund aufzusuchen. An der Säule aus kaltem blauen Licht standen zwei Figuren. Ich erkannte den Ausbilder Fed und Han.

»Kommen wir zu spät, Ausbilder?«, rief Katti. Statt einer Antwort winkte er uns nur mit der Hand herbei.

Das blaue Licht verströmte Kälte. Ich fühlte mich immer unbehaglicher, bekam Angst. Sogar Katti und Tag wurden nervös, obwohl sie sich nicht vor dem Weltrat zu verantworten brauchten ...

»Ihr seid pünktlich«, bemerkte der Ausbilder, als wir näher kamen. »Guten Tag, Jungs. Hallo, Katti ...«

Als Han mir zuzwinkerte, nickte ich unbeholfen.

»Du siehst gut aus, Nik«, lobte mich der Ausbilder. »Katti, hast du ihm geholfen, sich einzukleiden?«

»Ja, Ausbilder.«

»Hervorragend. Ich frage mich sogar, ob du nicht doch eine gute Modedesignerin geworden wärst. Bisher hatte ich immer den Eindruck, du würdest auf überflüssige Accessoires wie Krawatten, Bänder oder etwas in der Art bestehen ...«

Katti senkte den Blick. »Ich hatte ein weißes Band gewählt, Ausbilder. Nik hat es von sich aus abgenommen.«

»Hatte ich also doch recht«, sagte Fed schlicht. »Was ist, Nik, mein Junge, gehen wir? Es wäre unschön, den Rat warten zu lassen. Aber wenn du nervös bist ...«

»Nein, ich bin bereit.«

»Gib mir deine Hand.«

Ich erlaubte ihm, meine Hand zu ergreifen. Was ist, Ausbilder, glaubst du etwa, diese Berührung würde mir Zuversicht einflößen und meine Angst vertreiben? Da irrst du dich, dafür bin ich nämlich viel zu krank. Denn ich sehe nichts Schlimmes in der nonverbalen Kommunikation, und ich gerate ihretwegen nicht in Verzückung.

Ich bin zwar Nik - und doch schon ein Fremder.

Einander an der Hand haltend, traten wir in die Säule aus blauem Licht hinein.

Ich erwartete eine Art Fahrstuhl, mit dem wir nach oben fahren würden. Vielleicht eine Plattform oder einfach ein Kraftfeld.

Aber das blaue Licht markierte lediglich die Zone einer augenblicklichen Raumverschiebung. Wir betraten eine große und luxuriöse Kabine. Hier musste der Ausbilder die Befehle geben, ich vernahm nicht einmal die Stimme des Steuerungssystems.

Das Licht um uns herum erlosch, zog sich zusammen, die schemenhaften Konturen des siebten Saals sowie die Gesichter von Katti, Tag und Han verschwanden. Ich meinte, wir stünden in völliger Dunkelheit, so grell und feierlich strahlte die Welt außerhalb der Verschiebungszone.

Vom Ausbilder an der Hand geführt, trat ich in den Sitzungssaal des Weltrats.

Die Wände hatten keine Konturen. Genauer gesagt, sie waren zu bizarr, als dass ich ihre Form hätte erkennen können. Ich spürte eher, als dass ich es wusste: der Sitzungssaal des Weltrats befand sich im Kopf der Statue des »allegorischen Ausbilders«. Das Fußbodenmosaik lag auf Kinnhöhe. Und da ... diese monströse Ausbuchtung ... das war seine Nase, dieser Vorsprung der halboffene Mund, die gerippte, kuppelartige Decke sein Haar. Die Figur war nur von innen durchsichtig, und auf irgendeine Weise strömte das Licht Des Mütterchens in den Raum.

Mir fiel das Dampfbad wieder ein.

Die Einrichtung selbst erinnerte allerdings eher an ein Restaurant. Hundert kleine Tische, an denen Menschen saßen, meist Ausbilder. Manche aßen etwas, manche unterhielten sich bei einer Karaffe Wein oder einer Tasse dampfenden Kaffees. Einzelne Gruppen stritten lebhaft.

Hier wurde das Schicksal Der Heimat entschieden?

Wie verzaubert folgte ich Fed. Unwillkürlich heftete ich den Blick auf zwei extrem groteske Figuren, einen auf einem kleinen Sofa ausgestreckten langnasigen Mann mit schmalem, dunklem Gesicht und gewaltigen Augenbrauen, der in trägem Ton mit einem vor ihm hockenden ... Kleinen Freund sprach! Der Außerirdische beschwichtigte den Mann oder stimmte seinen Worten zu, strich zart mit der grauen Pfote über den Ärmel der Jacke seines Gegenübers und sah ihm in die tief liegenden Augen. Allerdings fühlte sich der Kleine Freund im Saal wohl nicht recht wohl, denn er steckte das Maul immer wieder in die Atemmaske, die auf seiner Brust baumelte.

Und da war ein Wendiger Freund - er hatte sich auf einem Sessel zu einem Knoten eingerollt und den Rest seines Körpers auf dem Tisch platziert. Die hin und her schaukelnde graublaue Röhre erinnerte an einen abgehackten Hals. Ein lachender Dicker neben ihm beugte sich immer wieder zu dem Wendigen Freund vor und sagte ihm etwas ...

So darf man nicht denken! Es gehört sich nicht, den Freunden gegenüber spöttische oder feindselige Empfindungen zu haben!

Wir gingen zu einem Tisch, hinter dem zwei Leute saßen. Ein breitschultriger, hochgewachsener Mann mit abstehenden Haaren und eine alte Frau mit demselben Igelschnitt, wie ihn auch Katti trug. Zwei schlicht in gedeckte Farben gekleidete Menschen, die uns mit wohlwollendem Lächeln ansahen.

»Die Verdiente Ärztin Der Heimat Ana und der Kommodore der Fernaufklärung Big«, stellte mein Ausbilder mir die zwei vor. »Dich kennen die beiden.«

»Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Niki?«, fragte die Frau.

Ich schüttelte den Kopf.

»Setz dich, mein Junge«, befahl sie.

Wir vier verteilten uns um den Tisch. Big goss mir ungefragt aus einer Karaffe etwas Wein ein und schob mir das Glas hin.

»Trink das, Niki. Entspann-dich-sei-wachsam. Du hast einiges durchgemacht ...«

»Seine Rehabilitation kommt gut voran«, berichtete Fed, der sich ebenfalls Wein eingoss. »Die Kinder sind hervorragend, sie helfen dem Jungen.«

»Ich kenne den Bericht des Schiffs und habe gehört, was du dem Ausbilder erzählt hast«, fuhr Big fort. »Dein Flug war das wichtigste Ereignis seit dem Tag des Aufbruchs.«

»Des Aufbruchs?«, fragte ich zurück.

Big sah den Ausbilder verständnislos an.

»Ich habe mich noch nicht mit Niki beschäftigt«, erklärte Fed ungerührt. »Zunächst sollte eine grundsätzliche Entscheidung über sein Schicksal getroffen werden.«

»Ja, sicher«, erwiderte Big seufzend. »Niki, für wen hältst du dich?«

»Für Niki Rimer, Pilot der Fernaufklärung, Progressor und Regressor.«

Sie erwarteten noch mehr.

»Nur eigne ich mich im Moment nicht für diese Arbeit«, fügte ich hinzu. »Alles ist weg. Alles ist verloren. Vielleicht bin ich einfach Niki Rimer, der sein Schicksal suchen muss.«

»Großartig, Niki.« Big atmete tief durch und schielte zu der Frau hinüber.

»Die Überprüfung wurde absolut korrekt vorgenommen, ich teile die Schlussfolgerungen des Instituts der Fremden Lebensformen uneingeschränkt«, brachte Ana sachlich heraus. »Ich halte weder einen Sanatoriumsaufenthalt noch eine Einschränkung der sozialen Rechte für nötig. Was jedoch die Rückkehr zu den bisherigen Berufen angeht ...«

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Soweit ich es sehe, bestehen immer noch Zweifel an meiner Persönlichkeit«, sagte ich. Big und Ana hoben verwundert den Kopf. »Angesichts dieses Umstands wäre die Arbeit im Kosmos für mich nicht wünschenswert.«

»Mein bester Schüler«, bemerkte Fed stolz. »Niki ...«

Er verwuschelte mir das Haar.

»Also gibt es zwei Fragen?«, hielt Big fest. »Den Status und die berufliche Empfehlung?«

»Das liegt auf der Hand«, stimmte der Ausbilder zu.

»Was hast du für Vorschläge?«

»Volle Rechte. Einen neuen Beruf, der Zugang zum Weltraum ausschließt.«

»Zum Beispiel?«

Fed zögerte. »Es mag ein unorthodoxer Vorschlag sein ... aber Niki hat ein erstaunliches Verantwortungsgefühl. Er ist konzentriert, zielstrebig und geduldig. Und sehr empathisch.«

»Du schlägst den Beruf des Ausbilders vor?«, fragte Ana erstaunt.

Big rieb sich die Nasenwurzel.

»Die erste Zeit wird Niki mit mir arbeiten. Ganz normal als Assistent. Danach wird er, wenn alles gut läuft, eine eigene Gruppe übernehmen ...«

Ana taxierte mich zweifelnd. Feds Vorschlag fand offenbar nicht gerade ihr Wohlwollen. Sie sagte jedoch kein Wort.

»Ich weiß, was die medizinische Gruppe des Rats empfohlen hat«, ließ Fed sich nicht aus dem Konzept bringen. »Sie schlägt die Arbeit als Wachtposten in einem Energiewerk oder Beschäftigung in der Landwirtschaft vor, unter Sanatoriumsbedingungen ...«

»Das war nur einer der Vorschläge!«, knurrte Ana.

»Ich weiß. Trotzdem glaube ich, dass es für Niki gut wäre, mit Menschen zu arbeiten. An einer Stelle, wo er seine besten Eigenschaften einbringen kann.«

Gegen dieses Argument wollte offenbar niemand etwas einwenden.

»Ich bürge für ihn«, fuhr Fed fort.

»Schon gut.« Ana winkte ab. »Die medizinische Gruppe schließt sich dem Vorschlag an. Aber er steht unter Ihrer persönlichen Verantwortung, Ausbilder.«

»Selbstverständlich.«

Stille trat ein. Big, Ana und Fed sahen mich an. War das etwa schon alles? War damit die Entscheidung des Weltrats gefallen?

»Vielen Dank«, sagte ich. »Ich werde das Vertrauen des Ausbilders und des Rats nicht enttäuschen.«

»Hat jemand Einwände?«, fragte Fed mit lauter Stimme. Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass im Saal des Rats absolute Stille herrschte. Alle sahen zu unserem Tisch herüber. Und wahrscheinlich hatten sie unser Gespräch mit angehört.

»Nur, wenn Sie die Verantwortung übernehmen, Fed ...«

Die Stimme klang ganz nah - obwohl jener schmalgesichtige Mann gesprochen hatte, der auf dem Sofa lag und sich vorhin mit dem Kleinen Freund unterhalten hatte.

»Selbstverständlich«, gab der Ausbilder ihm die gleiche Antwort wie zuvor Ana.

»Die Entscheidung ist angenommen.« Big nickte mir zu. »Nik, wenn die Fernaufklärung noch etwas von dir wissen muss, wenden wir uns an dich.«

»Ja«, flüsterte ich. »Natürlich.«

»Viel Glück«, wünschte mir Big.

Die Hand des Ausbilders legte sich mir auf die Schulter.

»Gehen wir, Niki. Wir wollen den Rat doch nicht aufhalten.«

Ich erhob mich und nickte Ana zu. Die alte Frau verhehlte ihre Unzufriedenheit mit der Entscheidung nicht, lächelte mir aber trotzdem zu. Als sei das ihre Pflicht.

Das war alles?

Das war alles!

Niemand achtete länger auf mich. Oder nein, der begeisterte Sofalieger schickte mir noch einen nachdenklichen Blick hinterher. Und Big winkte mir freundlich zu.

»Die Frage des ökologischen Dienstes in den Westlichen Wüsten ...«, erklang es im Saal. »Die Inbetriebnahme der Quarksreaktoren, die im Rahmen des Programms des Aufbruchs realisiert wurde, hat erheblichen Schaden unter den Relikten ...«

Das blaue Leuchten erstickte den Ton.

Ich sah den Ausbilder an. Sein Gesicht wirkte sehr ernst. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.

»Hätte der Rat auch eine unangenehmere Entscheidung treffen können?«, fragte ich.

Meine eigene Stimme kam mir fremd vor. Verzerrt und schwach. Von dem blauen Licht abgesehen, gab es in dem Raum noch irgendein Feld.

»Ja.«

In dem Moment wurden wir transportiert. Wir gelangten zurück in den siebten Saal, wo ich meine wartenden Freunde erblickte.

»Gehst du ein Risiko ein, Fed?«

Der Ausbilder drehte mir den Kopf zu - mit einem regelrechten Ruck, als müsse er verrostete Scharniere bewegen.

»Ich hoffe nicht.«

»Was wäre die schlimmste Variante gewesen?«

»Wir dürfen nicht so lange in der Transportzone bleiben«, erinnerte mich Fed streng.

»Trotzdem?«

»Das Sanatorium.« Der Ausbilder zog mich hinter sich her, und ich gehorchte.


Unter anderen Umständen wäre ich durch die Säle des Weltrats geschlendert. Die Bemalung der Decken war ja doch sehr interessant. Auch das Beobachten der Besucher hätte mir bestimmt Spaß gemacht.

Doch momentan bedrückte mich mein Auftritt im Sitzungssaal zu sehr. Wir hatten bereits eine freie Plattform bestiegen und Katti den Kurs zum Ausgang eingegeben.

»Bedrückt dich etwas, Niki?«, fragte Fed.

Ich sollte mich über die Auffassungsgabe des Ausbilders nicht wundern - und erst recht nicht auf den Gedanken kommen, ihm zu widersprechen.

»Ein wenig. Zweierlei.«

»Dann werde ich versuchen, deine Zweifel zu zerstreuen.«

»Niemand hat mich nach meiner Meinung gefragt, Ausbilder. Der Rat hat entschieden, womit ich mich den Rest meines Lebens beschäftigen soll, aber niemand hat sich für meine Meinung interessiert.«

»Aha.« Fed sah Katti an, die verständnisvoll nickte. »Und der zweite Punkt?«

»Mir ist völlig schleierhaft, wie zweihundert Leute das Schicksal der Menschheit kontrollieren sollen. Vor allem in diesem Ambiente ... des endlosen Teetrinkens.«

»Zwei Fragen enthalten in der Regel jede die Antwort auf die andere, mein Junge.«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Niki, der Weltrat hat eine Entscheidung getroffen, die auf der Meinung von Menschen beruht, die dich gut kennen. Ana, Big und ich - wir haben recht klare Vorstellungen davon, welcher Beruf und welches Schicksal dir ein zufriedenstellendes Leben ermöglichen. Die zufällige Wahl des Lebenswegs wurde bereits im Burgenzeitalter überwunden, sobald die Institute für das Ausbildertum gegründet worden waren. Heute besteht unsere Zivilisation aus Menschen, die den Platz einnehmen, der ihnen gebührt. Verstehst du? Der Weltrat mischt sich nicht in zweitrangige Probleme ein, weil das nicht nötig ist. Sie werden vielmehr individuell entschieden, auf der Ebene von Ausbilder und Schützling. Deshalb verlangt das Ambiente im Sitzungssaal des Rats auch nicht nach einer falschen Feierlichkeit oder Konzentration. Welche Rolle spielt es schon, auf welche Weise die Menschen den Informationsfluss bewältigen, vor einem Terminal sitzend oder beim Kaffeetrinken?«

Ich schwieg. Ja, er hatte recht.

Aber warum blieb mir diese Wahrheit verschlossen?

»Niki, dein Bewusstsein hat eine psychische Regression erlitten«, erklärte mir Katti. »Eine Flucht in die Kindheit.

Du hast dich vor der Welt versteckt, bist zu den emotionalen Reaktionen eines Heranwachsenden zurückgekehrt. Wir alle empfinden in jener Lebensphase diese Zweifel. ›Warum rät mir die Ausbilderin, Ärztin zu werden, wenn ich doch Modemacherin werden möchte? Warum leitet der Weltrat keine umfassenden Operationen im Hinblick auf die Fernen Freunde ein? Das ist doch so interessante Wir mussten erst heranreifen, die Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung einer Gesellschaft verstehen und unsere Geschichtslektionen lernen. Dann rückte alles an seinen Platz.«

Han, der bisher geschwiegen hatte, hüstelte. »Du musst erwachsen werden, Niki«, fügte er unsicher hinzu. »Gewiss ist das leichter mit deinem Ausbilder an der Seite.«

Das war’s. Meine Freunde hatten für mich entschieden. Sie stimmten mit dem Weltrat und mit Fed überein. Vorbehaltlos unterstützten sie deren Entscheidungen. Unwichtige Probleme wurden auf der Ebene von Ausbilder und Schützling gelöst, und meine Meinung war unwichtig.

Nein, ich hatte ja gar nichts gegen den Beruf des Ausbilders! Wie ich auch nichts gegen den Beruf eines Wachtpostens in einem Energiewerk oder gegen die Arbeit mit landwirtschaftlichen Maschinen hatte. Ich kannte ihre Nachteile nicht. Und der Beruf des Ausbilders bot vermutlich lauter Vorteile.

Aber die dumme psychische Regression zwang mich zu innerlichem Protest. Als ob mir schon mein Leben lang irgendeine Rolle aufgedrängt worden wäre und ich mich hätte unterordnen müssen und das Ganze jetzt wieder von vorn losginge ...

Die Plattform hielt vor der Tür zum ersten Saal an. Wir gingen zum Ausgang. Fed beobachtete mich. Im Unterschied zu meinen Freunden, die mit der Entscheidung vollauf zufrieden waren, spürte er meine Anspannung.

»Vielleicht sollten wir alle zusammen in Mütterchens Licht vorbeischauen?«, schlug er plötzlich vor. »Ich könnte dafür sorgen, dass euch solange jemand bei der Arbeit vertritt.«

»Eine gute Idee, Ausbilder«, rief Katti begeistert aus.

»Eure Gesellschaft wird Niki helfen«, fuhr der Ausbilder fort. »Du und Tag, ihr habt schon einiges bei ihm geschafft. Wenn sich jetzt noch unser Sturkopf Han anschließt ...«

Han lächelte gequält.

»Abgemacht«, entschied Fed aufgeräumt. »Was sagst du dazu, Niki?«

Du brauchst mir meine Medizin nicht mit Gewalt zu verabreichen, Ausbilder ... Das sprach ich natürlich nicht laut aus. Er spürte es jedoch trotzdem.

»Möchtest du noch ein bisschen im Park spazieren, Nik? Oder sollen wir gleich ins Internat?«

Du brauchst mir meine Pille nicht zu versüßen, Ausbilder. Das ist nicht die Freiheit der Wahl, von der ich träume.

»Hier ist es mir zu finster, Ausbilder«, antwortete ich. »Fahren wir lieber zu Mütterchens Licht


Eine Kabine als Transportmittel ist ausgesprochen bequem. Es wunderte mich sogar, dass mein Gedächtnis keine angenehmen Assoziationen gespeichert hatte, die damit verbunden waren. Ob ich nicht häufig eine Kabine benutzt hatte?

»Zur zweiten Kabine des Internats Mütterchens Licht«, teilte Katti mir mit. »Na los, versuch’s.«

Die anderen räumten mir das Recht ein, als Erster durch den Raum zu reisen. Fragend guckte ich Fed an, der nickte.

Na, von mir aus.

Ich berührte das Terminal, bereits an die gelartige Masse des kolloidalen Aktivators gewöhnt. Und wenn ich eine andere Kabine wählte? Irgendwo am Ufer? Am Meer? Wie würden meine Freunde dann aus der Wäsche gucken, wenn sie mich nicht fänden ...?

Präzisieren Sie den Zielpunkt!

»Zweite Kabine des Internats Mütterchens Licht«, brummte ich. Meine plötzliche Angst überraschte mich, und ich schämte mich ihrer sehr. Nein, für die Rolle des Ruhestörers taugte ich nicht.

Steigen Sie ein!

Unter mir zuckte das blaue Licht auf. Jenseits der milchigen Wände des Zylinders schien sich nichts zu verändern.

Steigen Sie aus.

Auch hier erstreckte sich ein Park, allerdings ein ganz anderer. Rund um die Statue des Ausbilders in Dienen wirkte alles zu perfekt, akkurat, begradigt und kultiviert. Dort hatte es gerade Wege und nicht sehr hohe, beschnittene Bäume gegeben. Hier lag jedoch ein echtes Wäldchen vor mir. Viele Relikttannen mit bläulichen Nadeln, die so lang wie eine Hand waren. Und Wacholder. Ein einziger Sandweg schlängelte sich durch den Wald. Die Luft war regelrecht dick, derart schwängerte der Harzgeruch der Bäume sie, und wirkte lebendig.

Mit einem Mal wurde mir leicht zumute.

Ich trat von der Kabine weg und schaute mich um. In der Ferne, dort, wohin der Pfad führte, schimmerten die hellen Mauern von Gebäuden. Stille herrschte, nur ein leises Zirpen in den Büschen ließ sich vernehmen. Vielleicht rührte es von Insekten her, vielleicht von Vögeln, mein Unterbewusstsein soufflierte mir da nichts. Bisher war noch niemand sonst aus der Kabine herausgetreten: Möglicherweise hatte es eine Verzögerung gegeben, oder sie hatten beschlossen, mich ein wenig allein zu lassen.

»Guten Tag.«

Ich drehte mich um. In den Büschen tauchte der Kopf eines Kindes auf. Ein verschmutztes und neugieriges Gesicht.

»Hallo«, sagte ich. »Komm raus.«

»Sind Sie allein gekommen?«

»Nein, mit meinen Freunden und meinem Ausbilder.«

Der Junge linste zur Kabine rüber. »Dann hau ich lieber ab«, kündigte er an.

»Wie du willst«, erwiderte ich achselzuckend.

Da zögerte der Junge.

»Ich schwänze den Unterricht«, platzte er plötzlich heraus, fraglos begeistert von seiner eigenen Kühnheit.

»Alle Achtung«, lobte ich ihn ehrlich.

Das verwirrte ihn offenbar. Nach weiterem Zögern raschelte es im Gebüsch, und die kleine Gestalt flitzte zwischen den Bäumen davon.

Na, ich würde ja einen großartigen Ausbilder abgeben. Tüchtig wie ein Stock aus Sand ...

Wie bekam ich nur meine primitiven, unnormalen Reaktionen in den Griff?

Hinter der Plastikwand der Kabine leuchtete Licht auf. Die Tür öffnete sich, und Fed kam heraus. »Bist du allein?«, fragte er mich mit forschendem Blick.

»Ja«, log ich, ohne zu zögern - und zwar derart sorglos, dass mir der Ausbilder anscheinend glaubte.

»Erkennst du etwas, Niki? Meldet sich dein Herz?«

»Nein. Aber es gefällt mir hier.«

»Immerhin etwas«, meinte Fed seufzend. Er kam auf mich zu. Sein Gang war auch sonst munter und entschlossen, aber jetzt ging er geradezu federnd und energiegeladen, als ob die Tannenluft Kraft in ihn hineinpumpte. »Wie sollte es dir hier auch nicht gefallen, Niki?«

Als Nächste kam Katti aus der Kabine, dann Tag und schließlich Han. Auf ihren Gesichtern lag eine solche Begeisterung, dass ich sie beneidete.

»Ein Jahr bin ich jetzt nicht hier gewesen«, rief Katti aus. »Es ist alles noch genau wie früher! Sogar das Libellennest ist noch da!«

Ich spähte in die Büsche und versuchte, das Nest der sagenhaften Libelle auszumachen, konnte aber nichts entdecken.

»Wir sind zu einer günstigen Zeit eingetroffen«, sagte Fed. »Die Kleinen haben ihre Nachmittagserholung. Die Älteren sind beim Unterricht oder bei der Vorbereitung-zur-Arbeit. Da stören wir niemanden.«

Wir gingen den Pfad entlang. Ich bemerkte, wie die anderen mich immer wieder ansahen, als erwarteten sie, es würde ein Wunder geschehen und ich ausrufen: »Daran erinnere ich mich! Das ist doch der Baum, auf den wir in unserer Kindheit immer geklettert sind! Das ist der Busch, der Han die Haut aufgekratzt hat!«

Etwas in der Art hätte ich ohne weiteres sagen können. Bestimmt diente die Gegend um die Kabine Kindern schon immer zum Spielen. Hier versteckten sie sich, bauten heimlich Hütten und hinterließen geheime Nachrichten. Der Junge, der neben der Kabine auf zufällige Gäste gelauert hatte, bewies das. Aber ich wollte nicht lügen, nicht mal, um meinen Freunden eine Freude zu bereiten.

Sie würden mir selbst alles sagen, was ich mir ausdenken könnte.

»Erinnerst du dich noch, Niki, wie wir hier Regressor gespielt haben?«, fing Tag an. »Du hast dich in einem Hinterhalt versteckt und mit einem Armbrustpfeil Hans Barett abgeschossen! Katti hat dich danach den halben Tag durch den Park gejagt!«

»Und hat sie mich erwischt?«, wollte ich wissen.

»Ich glaub ja ...«, antwortete Tag. »Weißt du das noch, Katti?«

»Ich habe ihn erwischt - und ihn beinahe im See ertränkt«, brummte Katti. »Das war schon komisch, Nik, du bist beim Spielen sonst immer übervorsichtig gewesen!«

»Die Natur hat Niki eine Neigung zu impulsivem Verhalten mitgegeben«, mischte sich hinter mir der Ausbilder ein. »Ich habe lange gebraucht, um ihm beizubringen, diese Anfälle zu unterdrücken.«

Sie unterhielten sich noch über dies und das. Erinnerten sich an Spiele, Wettkämpfe, Kränkungen und Versöhnungen, was hier passiert war ... was da ... in der Nähe ... in der Ferne ...

Aber in mir lösten all diese Erinnerungen nichts als Traurigkeit aus.

Kindheit und Jugend waren mir gestohlen worden. Die Gegenwart voller Rätsel. Die Zukunft im Nebel.

Wie sehr hatte ich mich nach Der Heimat gesehnt! Ich hatte gehofft, sie würde mir mich selbst zurückgeben. Aber Wunder gibt es nicht. Und diese Welt, die so gut und wohlgestaltet war, so warm und fröhlich, sie war mir fremd.

Für immer fremd.

Die Bäume lichteten sich, und wir gelangten zu den Gebäuden des Internats.

Der Ort strahlte vor allem Ruhe aus. Die Gebäude waren sehr alt, aus unbehauenem Stein erbaut, der wahrscheinlich irgendwann einmal weiß gewesen, inzwischen aber nachgedunkelt war. Eine Kletterpflanze umrankte die Mauern, durch die grünen Stängel mit den vielen kleinen, orangefarbenen Blüten ließen sich gelbe und vertrocknete Blätter erkennen. Rund um die Fenster, die fast alle weit offen standen, wirkte die Pflanze recht mitgenommen, schienen Blätter und Blüten abgerissen. Aber natürlich ...

»Bin ich nachts gern durchs Fenster aus dem Internat geklettert?«, fragte ich, ohne mich an jemand Bestimmten zu wenden.

Han und Tag sahen sich verlegen an.

»Wir alle haben das gern gemacht«, gestand Han. »Erinnerst du dich daran?«

»Ich glaube nicht«, antwortete ich.

Vor den Mauern waren Beete angelegt. Dort war gerade eine Horde Kinder in Shorts und T-Shirt beschäftigt. Sie jäteten Unkraut und gossen mit kleinen Gießkannen die Blumen. Als sie uns bemerkten, unterbrachen sie ihre Vorbereitung-zur-Arbeit und fingen an zu kreischen. Ihre Begeisterung richtete sich vor allem auf den Ausbilder Fed, doch auch wir kriegten ein paar fröhliche Hallos ab und wurden mit der Frage bestürmt, ob wir lange blieben.

An Fed klebte sofort ein ganzes Dutzend Kinder. Er stand da, streichelte die zerzausten Köpfe, antwortete voller Ernst auf ihre Fragen und fragte die Kinder auch seinerseits etwas. Eine sehr anrührende Szene. Ein kleines Mädchen schaffte es allerdings nicht, zum Ausbilder vorzudringen, obwohl sie ununterbrochen in dem Versuch um ihn herumwuselte, den Kopf unter seine zärtliche Hand zu schieben. Als sie einsah, dass sie sich nicht zum Ausbilder durchkämpfen konnte, blieb sie stehen und sah uns beleidigt und finster an.

Ich maß meinem Verhalten keine besondere Bedeutung bei. Ich lächelte der Kleinen einfach zu und streichelte ihr über den Kopf.

Ganz kurz sah mich das Mädchen ungläubig an, bevor sie sich gegen mein Bein schmiegte, als verlange sie eine Wiederholung.

Nach und nach ließen die Kinder von Fed ab und scharten sich um mich.

Der Ausbilder und ich sahen uns schweigend an.

»Das ist der zukünftige Ausbilder Nik«, verkündete Fed laut. »Und jetzt wieder an die Vorbereitung-zur-Arbeit! Oder wollt ihr etwa nicht, dass eure Ausbilder stolz auf euch sind?«

Wir liefen an den widerwillig von uns ablassenden Kindern vorbei zum Hauseingang.

»Du wirst ein guter Ausbilder«, sagte Fed leise. »Ich habe keinen Zweifel, dass du in zehn, zwanzig Jahren im Weltrat sitzen wirst. Aber überstürze nichts.«

»Das werde ich nicht.«

»Du bist sehr emotional, Niki. Du bist jung und voller Energie. Aber du musst noch viel lernen.«

»Ich weiß.«

Ins Internat führten ganz normale Türen, nicht diese Wärmevorhänge. Allem hier haftete etwas Altes an. Den dicken Teppichen auf dem Fußboden, den Bildern an den Wänden - keine epischen wie in den Sälen des Rats, sondern normale schöne Landschaften - den im Vestibül stehenden durchgesessenen Sesseln. Natürlich gab es auch hier die unvermeidlichen Bildschirme mit den Terminals. In einer Nische am Eingang stand unter einer alten, auf Hochglanz polierten Kupferglocke ein kleiner Junge. Wahrscheinlich war das eine Art Ehrenwache, er rührte sich nicht einmal, als wir auftauchten, schielte nur mit den Augen kaum merklich in unsere Richtung und versuchte, einen Blick auf die Gäste zu erhaschen.

»Hallo ... Lotti«, begrüßte der Ausbilder den Jungen nach einem kaum zu bemerkenden Zögern.

Der Junge lächelte.

»Guten Tag, Ausbilder!«

»Und wer begrüßt unsere Gäste?«, fragte Fed tadelnd.

»Guten Tag!«, rief der Junge aus.

Mein Gefühl, all das, was hier geschah, sei irreal, wuchs und wuchs.

Das ist nicht mein Zuhause!

Ich kann hier nicht aufgewachsen sein!

Mit diesen portionierten Zärtlichkeiten der Ausbilder, beschäftigt mit dem Jäten von Unkraut in den Beeten, nachts durch die Fenster ausbüxend, auf der Suche nach einer kurzlebigen Freiheit ... Das war nicht ich! Bestimmt nicht!

Während wir eine breite Treppe hinaufstiegen, bei der goldfarbene Stangen einen verschlissenen Läufer gegen die Stufen pressten, begrüßten wir die Kinder, die die Fenster und Böden in den Etagen wischten.

Hygiene. Die musste sein.

»Das da ist die Tür von unserem Zimmer, Niki!«, rief Tag aus. Ich hatte sogar den Eindruck, er wäre in seiner Aufregung bereit, meine Hand zu ergreifen. Katti sah ohne besondere Gefühle auf die Tür, Han nickte nur phlegmatisch.

»Wir gehen erst zu mir«, kam uns Fed zuvor. »Wir wollen mal sehen, wo wir euch unterbringen können. Vielleicht ...« Er ließ den Satz unbeendet.

Der Ausbilder wohnte im dritten Stock. Es kam mir so vor, als fiele es ihm nicht eben leicht, die Treppe zu nehmen, aber einen Fahrstuhl gab es nicht.

»Kommt rein, Kinderchen«, forderte Fed uns auf, nachdem er durch eine Berührung mit der Hand die Tür entriegelt hatte. »Kommt rein.«

Ein helles und großes Zimmer. Mehr konnte man darüber vermutlich nicht sagen. Mit dem schmalen Bett erinnerte es an die Unterkunft eines Asketen. Ein riesiger Schirm fürs Terminal, zwei Sessel an einem Tisch, Regale mit Büchern und Sachen ... Mein Zimmer schien eine kleinere Kopie von diesem hier zu sein.

Einen Unterschied gab es allerdings. An der Wand, vor der keine Möbel standen, prangten unzählige winzige Farbphotos. Sie waren bunt durcheinander angebracht, immer vier, fünf Bilder zu einer Gruppe zusammengefasst. Und alle zeigten Kindergesichter.

Der Ausbilder Fed hatte schon viele Schützlinge großgezogen. Ich baute mich vor der Wand auf und ließ den Blick über die lachenden Gesichter der Kinder schweifen, in der Hoffnung - und Angst -, mein eigenes zu entdecken.

Zunächst entdeckte ich jedoch den kleinen Tag. Als Kind hatte er helleres Haar gehabt, trotzdem erkannte ich ihn. Genau wie Han, der mir ebenfalls keine Probleme bereitete. In diesem Ensemble von Photos blieben noch zwei Jungen. Der eine hatte leuchtend rotes Haar und Sommersprossen, einer von denen, über die man sagt: »Das Mütterchen liebt sie«, und er strahlte über beide Backen.

»Ist das Inka?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete der Ausbilder leise. »Er ist gestorben ... er ist dort geblieben ... als er den Aufbruch gedeckt hat.«

»Tag hat es mir erzählt«, sagte ich.

Dann war der andere wohl ich?

Anscheinend das einzige Kind an der ganzen Wand, das nicht lachte. Das einzige Kind mit gerunzelter Stirn, sogar angespannt.

Der Ausbilder hätte bestimmt einen anderen Moment für die Aufnahme finden können. Aber ihm muss diese Situation besonders richtig und angemessen vorgekommen sein.

»War ich immer so ernst?«, fragte ich.

»Meist schon«, erwiderte der Ausbilder. »Selbst wenn du Unfug gemacht hast.«

Er schaute noch einen Moment auf das Photo von Inka, dann trat er ans Terminal und sagte mit aufgesetzter Munterkeit: »Also dann, Gruppe zwölf! Ihr seid für drei Tage Gäste des Internats!«

»Hurra«, brachte Han völlig ernst heraus.

»Den Gast aus ... äh ...«

»Gruppe sieben. Ausbilderin Seni Aruano«, erinnerte ihn Katti.

»Für den Gast aus Gruppe sieben gilt das ebenfalls.«

»Hurra«, bestätigte Katti.

»Eine vorübergehende Arbeit werden wir schon für euch finden.« Fed seufzte. »Eine medizinische Kontrolle kann nie schaden, genau wie ein Vortrag über fremde Lebensformen. Und du, Han, musst dich wohl mit unseren Steuerungssystemen befassen.«

»Ist hier immer noch der alte Kram installiert?«, erkundigte sich Han in sachlichem Ton.

»Wozu sollten wir uns hyperschnelle Anlagen zulegen«, erwiderte Fed achselzuckend. »Gut, und wo bringen wir euch unter ...«

Er berührte das Terminal. Der Bildschirm ging an.

»Euer Zimmer ist belegt«, teilte der Ausbilder bedauernd mit. »Meine Güte, ein Chaos ist das in dieser Gruppe ...«

Mit ein paar Schritten trat ich an den Tisch.

Auf dem Bildschirm war ein schmales, langes Zimmer zu sehen. Eine Aufnahme von oben. Vier Betten, auf zweien war Kleidung ausgebreitet. Hosen, Hemden, Unterwäsche. Ein durchbohrter kleiner Stein, aufgezogen auf einen Faden. Das Bild bewegte sich die ganze Zeit, kam näher, wich wieder zurück, erfasste die Wände, die Tür, die Fenster, als ob sich eine gierige und hartnäckige Kamera in einem fremden Haus umsah. Ein überfallartiger, schneller Schwenk auf ein aufgeschlagenes Heft. Die Kamera tastete die Zeilen ab und drehte sich, um besser lesen zu können. Anscheinend handelte es sich um Gedichte.

»Ihr Ausbilder ist ... Don ... glaube ich ...« Fed schielte zu mir rüber. »Was ist mit dir, Niki?«

Ich sagte nichts.

»Jetzt kommt übrigens dein erster Test.« Fed lächelte. »Was würdest du in dieser Situation machen, um die Kinder zur Ordnung anzuhalten?«

Das Bild veränderte sich erneut. Die Kamera schaute im Bad vorbei und hielt sich missbilligend über den zusammengeknautschten und in die Ecke geworfenen Socken auf ...

»Vor allem würde ich nicht in fremde Zimmer schauen«, flüsterte ich.

Tödliche Stille trat ein.

»Das ist kein fremdes Zimmer, Niki«, presste der Ausbilder in abgehackten Worten heraus. »Das sind die Schützlinge unseres Internats.«

»Wissen sie, dass sie beobachtet werden?«

»Selbstverständlich nicht!«

Die Kamera lugte angewidert ins Klo und zog sich aus der Toilette zurück.

»Das ist ekelhaft«, sagte ich. Ich drehte mich um, denn ich suchte in den Gesichtern meiner Freunde nach Unterstützung.

Aber darauf durfte ich nicht hoffen.

»Was ist ekelhaft, Niki?«, rief Fed aufgebracht aus. Das schlaffe alte Gesicht erzitterte in stummer Empörung. »Ist es ekelhaft, diesen minderjährigen Rangen zu verbieten, sich aus dem Internat zu stehlen und heimlich in den Weltraumbahnhof zu laufen? Ist es ekelhaft, ein Fehlverhalten gleich im Keim zu ersticken? Ist es ekelhaft, dafür zu sorgen, dass Kinder, die nach Mitternacht noch schwatzen, sich vor dem neuen wunderbaren Tag ausschlafen und dafür die Infrastrahlung einzuschalten?«

Ich hätte mich beinahe übergeben. Meine Hände zitterten. letzt glaubte ich gern, dass ich früher an Impulsivität gelitten hatte ...

»Es ist ekelhaft, jemanden auszuspionieren«, sagte ich. »Es ist ekelhaft, zu spionieren und zu befehlen. Sein Wissen auf Verrat aufzubauen, seine Güte auf Kontrolle.«

»Du hast unrecht, Niki«, brachte Han hinter mir brummig heraus.

»So geht das nicht, Nik!«, sprang ihm Tag bei. »Du musst dich entschuldigen ...«

Ich? Ich musste mich entschuldigen?

Nur Katti sagte kein Wort ...

»Wenn du Ausbilder bist«, sagte Fed leise, »wirst du das verstehen.«

»Ich werde nicht spionieren!«

»Dann kannst du den Kindern nicht helfen.«

»Dann werde ich eben kein Ausbilder!«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Komm zu dir, Junge! Ich habe vor dem Rat für dich gebürgt!«

»Das war ein Fehler!«

»Du hast doch gewusst, dass das gesamte Internatsgelände überwacht wird! Alle erfahren das, sobald sie erwachsen sind! Alle verstehen, dass das nötig ist!«

»Ich bin nicht alle!«

»Wenn Seni Aruano nicht auf die Mädchen aufgepasst hätte, die ihre Puppen anziehen, und Katti nicht geholfen hätte, ihre Begabung als Ärztin zu entdecken und sich ihre künstlerische Unzulänglichkeit einzugestehen, dann wäre Katti heute eine untaugliche, unter der eigenen Unfähigkeit leidende Designerin!«, brüllte der Ausbilder. Er holte Luft. »Wenn ich deine jugendlichen Gedichte nicht gelesen hätte, wärst du zu einem nichtsnutzigen Dichter herangewachsen. Du hättest deine Gedichte öffentlich vorgetragen ...« Er runzelte die Stirn:


»Zu Tausenden fliegen Vögel gens Licht

Zu Tausenden stürzen sie zu Tausenden

zerschmettern sie

Zu Tausenden geblendet zu Tausenden verblutend

Sterben sie zu Tausenden ...«


»Wenn sie so talentlos waren«, entgegnete ich absolut gelassen, »warum erinnern Sie sich dann bis heute daran?«

»Es ist meine Pflicht, mich an sämtliche Fehler meiner Schützlinge zu erinnern!«

»Ich erinnere mich auch an das Gedicht«, mischte sich Katti unvermutet ein. »Wie heute erinnere ich mich noch daran, wie du es vorgetragen hast, Niki ...


Der Leuchtturmwärter kann’s nicht ertragen

Er liebt die Vögel zu sehr

Egal sagt er Jetzt reicht’s!


Und er macht alles dunkel


In der Ferne sinkt ein Schiff.

Ein Schiff von den Inseln kommend

Ein Schiff mit Vögeln beladen

Tausenden Vögeln von den Inseln

Tausenden Vögeln die ertrinken.«


»Das ist blanker Unsinn«, konstatierte der Ausbilder in scharfem Ton. »Und Katti erinnert sich nur daran, weil eure Beziehungen immer viel zu emotional waren. Natürlich hatte niemand etwas dagegen! Ihr wurdet für ein harmonisches Pärchen gehalten, und eure kindlichen Streiche ...«

»Sie sind ein Dreckskerl, Ausbilder«, sagte ich. Und gab ihm eine Ohrfeige.

Keine sehr heftige.

Denn ich wollte dem alten Mann keinen Schaden zufügen.

Doch in der sicheren Überzeugung, dass der Moment gekommen war, da ein leichter Schlag auf die Wange lange und wirre Formen der Darlegung bezüglich der empfundenen Antipathie ersetzte.

Fed taumelte, als hätte ich ihn mit voller Kraft geschlagen. Er presste die Hände vors Gesicht.

Mir selbst wurden die Arme auf den Rücken gerissen.

Ich schaute hinter mich. Tag und Han hielten mich unbeholfen, aber eifrig gepackt. Wo waren nur ihre Vorbehalte gegenüber jeder Form von Körperkontakt geblieben?!

»Das ist nicht nötig«, versicherte ich. »Ich habe nicht vor, noch einmal zuzuschlagen.«

Trotzdem ließen sie mich nicht los.

Es wäre ein Leichtes gewesen, mich loszureißen, die beiden abzuschütteln und ihnen heftige Schmerzen und Verletzungen zuzufügen.

Aber ich wollte meine Freunde nicht schlagen, selbst wenn sie im Unrecht waren.

»Tausenden Vögeln die ertrinken ...«, hauchte Katti, während sie langsam in die Ecke des Zimmers zurückwich. »Tausenden Vögeln die ertrinken ...«

Der Ausbilder löste die Hände vom Gesicht. Seine Wangen glühten gleichmäßig, jedoch nicht vom Schlag, sondern von seiner Wut. Die Röte stand ihm sogar.

»Du bist mein größter Fehler, Niki« sagte er.

»Ich bin der Einzige von Ihren Schützlingen, der ein Mensch geblieben ist«, erwiderte ich. Dann dachte ich nach und fügte hinzu: »Der ein Mensch geworden ist. Trotz allem.«

»Niki ...«, flüsterte mir Tag ins Ohr. »Entschuldige dich, Niki.«

»Damit hast du dich zum Sanatorium verurteilt«, stellte der Ausbilder fest. »Zu einem lebenslänglichen Sanatoriumsaufenthalt.«

»Ich werde mir die Variante durch den Kopf gehen lassen«, versprach ich.

»Und mir bleibt die Schande ...« Fed senkte den Blick. »Auf meine alten Tage noch diese Schande ... für den Rest meines Lebens ...«

»Auch diese Frage werde ich versuchen zu klären«, versicherte ich. Kalter Wahnsinn schüttelte in Krämpfen meine Muskeln. Wenn Tag und Han auf die Idee gekommen wären, mich fester zu packen oder zu schlagen, hätte ich vermutlich nicht mehr für mich garantieren können. Dann wäre etwas Schreckliches und zugleich Wahnsinniges passiert ...

Sie hielten mich jedoch unverändert fest. Meine beiden unglücklichen Freunde, vor deren Augen es zu einer derart widerwärtigen Blasphemie gekommen war.

»Der Leuchtturmwärter kann’s nicht ertragen ...«, brachte Katti am anderen Zimmerende heraus. Dann lachte sie los, krampfhaft und tränenerstickt.

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