EINFÜHRUNG. Die Naturwissenschaften am Ende des Jahrhunderts

Vor hundert Jahren, als das neunzehnte Jahrhundert seinem Ende zu ging, waren Wissenschaftler auf der ganzen Welt davon überzeugt, sich ein präzises Bild von der physikalischen Welt machen zu können. Wie der Physiker Alastair Rae es formulierte: »Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts sah es so aus, als wären die grundlegenden Gesetze, die das physikalische Universum bestimmen, bekannt.«1 Und tatsächlich behaupteten viele Wissenschaftler, daß die Erforschung der Physik so gut wie abgeschlossen sei: Große Entdeckungen seien nicht mehr zu machen, es fehlten nur noch ein paar Details und hie und da der letzte Schliff.

Doch dann wurden, kurz vor der Jahrhundertwende, einige Merkwürdigkeiten bekannt: Röntgen entdeckte Strahlen, die Fleisch durchdrangen; weil sie anfangs nicht zu erklären waren, nannte er sie X-Strahlen. Zwei Monate später fand Henri Becquerel durch Zufall heraus, daß ein Stück Uranerz etwas aussandte, das fotografische Platten schwärzte. Und 1897 wurde das Elektron als Träger der elektrischen Ladung entdeckt.

Im großen und ganzen blieben die Physiker jedoch gelassen, denn sie gingen davon aus, daß diese Merkwürdigkeiten irgendwann durch bereits existierende Theorien erklärt würden. Keiner hätte vorausgesagt, daß binnen fünf Jahren ihre selbstgefällige Sicht der Welt gründlich widerlegt sein würde, daß eine völlig neue Sicht des Universums und völlig neue Technologien entstünden, die den Alastair I.M. Rae, Quanienphysik: Illusion oder Realität, Stuttgart: Redani 1966. Siehe auch Richard Feynman, Vom Wesen physikalischer Gesetze, München: Piper 1990; und Rae, Quantum Mechanics, Hilger. Bristol 1986.

Alltag im zwanzigsten Jahrhundert auf bislang unvorstellbare Art und Weise verändern sollten.

Hätte man l 899 einem Physiker gesagt, daß im Jahre 1999, nur hundert Jahre später, Satelliten am Himmel bewegte Bilder in Haushalte auf der ganzen Welt schicken; daß Bomben von unvorstellbarer Zerstörungskraft die Menschheit bedrohen; daß Antibiotika Infektionskrankheiten zuerst besiegen, diese Krankheiten dann aber zurückschlagen; daß Frauen wählen dürfen und Pillen zur Empfängnisverhütung schlucken; daß sich stündlich Millionen Menschen in Flugzeugen in die Luft erheben, die ohne menschliches Zutun starten und landen können; daß die Menschheit zum Mond geflogen ist, dann aber das Interesse daran verlor; daß die Leute Telefone bei sich tragen, die nur wenige Gramm wiegen, und damit an und mit jedem Punkt der Erde drahtlos kommunizieren können; oder daß die meisten dieser Wunder von briefmarkengroßen Objekten abhängen, die sich einer neuen Theorie namens Quantenmechanik bedienen - wenn man dem Physiker all dies gesagt hätte, hätte er einen zweifellos für verrückt erklärt.

Die meisten dieser Entwicklungen konnten deshalb 1899 nicht vorhergesagt werden, weil die damals vorherrschende wissenschaftliche Theorie sie für unmöglich erklärte. Und was die wenigen Entwicklungen angeht, die nicht unmöglich schienen, Flugzeuge zum Beispiel, so hätte schon das schiere Ausmaß ihrer späteren Verwendung jedes Verständnis gesprengt. Man hätte sich ein Flugzeug vorstellen können, daß aber zehntausend Flugzeuge gleichzeitig in der Luft sind, wäre unvorstellbar gewesen. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, daß an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts auch die informiertesten Wissenschaftler von dem, was noch kommen würde, keine Ahnung hatten. Heute stehen wir an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert, und die Situationen sind sich auf merkwürdige Weise ähnlich. Wieder einmal glauben die Physiker, daß die physikalische Welt erklärt sei und uns keine weiteren revolutionären Entdeckungen mehr bevorstehen. Die Erfahrung hat sie gelehrt, diese Meinung nicht mehr öffentlich zu vertreten, dennoch sind sie davon überzeugt. Einige Beobachter wagen sogar die Behauptung, daß die Naturwissenschaft an ihrem Ende angelangt sei, daß sie nichts Wichtiges mehr entdecken könne.

Doch so wie bereits am Ende des neunzehnten Jahrhunderts durchaus Schlüsse auf künftige Entwicklungen möglich waren, liefert uns auch das späte zwanzigste Jahrhundert Hinweise auf die Zukunft. Einer der wichtigsten ist das Interesse an der sogenannten Quantentechnologie. Mit dem Ziel, eine neue Technologie zu erzeugen, die sich der grundlegenden Gesetze der subatomaren Realität bedient, wird hier an vielen Fronten geforscht, und es sieht ganz so aus, als könnten diese Forschungen unsere Vorstellungen dessen, was machbar ist, völlig über den Haufen werfen.

Die Quantentechnologie steht in absolutem Widerspruch zu dem, wie wir uns mit unserem gesunden Menschenverstand die Welt erklären. Sie postuliert eine Welt, in der Computer arbeiten, ohne eingeschaltet worden zu sein; in der Dinge gefunden werden, ohne daß man nach ihnen sucht. Ein unvorstellbar leistungsstarker Computer kann aus einem einzigen Molekül entstehen. Ohne die Hilfe von Drähten oder Netzwerken bewegen sich Informationen ohne Zeitverzögerung zwischen zwei Punkten hin und her. Computer stellen ihre Berechnungen in anderen Universen an. Und Teleportation — »Beam mich hoch, Scottie« — ist alltäglich und wird auf viele verschiedene Arten eingesetzt.

In den neunziger Jahren zeigte die Quantenforschung erste Ergebnisse. 1995 wurden quantenkryptographische Nachrichten über eine Entfernung von fünfundsechzig Kilometern verschickt, was darauf hindeutet, daß im kommenden Jahrhundert ein Quanteninternet entstehen könnte. In Los Alamos maßen Physiker die Dicke eines Haars mit Hilfe von Laserlicht, das dieses Haar nie wirklich traf, sondern nur hätte treffen können. Dieses bizarre, jeder Intuition widersprechende Resultat stand am Anfang eines völlig neuen Forschungseinsatzes, dem der wechselwirkungsfreien Erfassung; »Etwas zu finden, ohne es zu suchen«, wie ich es vorher nannte.

1998 wurde weltweit in drei Laboratorien die Quantenteleportation demonstriert: in Innsbruck, Rom und am CalTech, dem Ca-lifornia Institute of Technology.1 Der Physiker Jeff Kimble, Leiter des CalTech-Teams, sagte, daß man die Quantenteleportation auch auf feste Körper anwenden könnte. »Der Quantenzustand eines Objekts könnte in den eines anderen Objekts übertragen werden ... Wir glauben zu wissen, wie das geht.«4 Kimble verstieg sich natürlich nicht zu der Behauptung, sie könnten ein menschliches Wesen teleportieren, aber er sagte, er könne sich vorstellen, daß jemand es mit einer Bakterie versucht.

Diese Quantenmerkwürdigkeiten, die den Gesetzen der Logik ebenso widersprechen wie dem gesunden Menschenverstand, haben in der allgemeinen Öffentlichkeit bis jetzt noch wenig Aufmerksamkeit erregt, aber das wird sich ändern. Nach einigen Schätzungen wird im Verlauf der ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts die Mehrheit der Physiker an diversen Aspekten der Quantentechnologie arbeiten.5 Es ist deshalb nicht überraschend, daß sich Mitte der neunziger Jahre einige Konzerne der Quantenforschung zuwandten. 1991 wurde Fujitsu Quantum Devices gegründet. IBM bildete 1993 ein Quantenforschungsteam unter der Leitung von Charles Bennett.6 Bald darauf folgten AT&T und andere Firmen, Universitäten wie die CalTech und Regierungseinrichtungen wie Los Alamos, ebenso eine Forschungsfirma in New Mexico mit dem Namen ITC. Nur eine Stunde von Los Alamos entfernt, machte ITC schon früh in diesem Jahrzehnt bedeutende Schritte nach vorn. Inzwischen ist bekannt, daß ITC bereits im Jahr 1998 als erste Firma eine brauchbare, funktionierende Anlage besaß, die fortgeschrittene Quantentechnologie verwendete.

Rückblickend betrachtet war es ein Zusammentreffen besonderer Umstände - plus beträchtliches Glück -, das ITC diesen Vorsprung in einer spektakulären neuen Technologie verschaffte. Obwohl die Firma die Position vertrat, daß ihre Entdeckungen völlig harmlos und dem Menschen nur nützlich seien, zeigte ihre sogenannte Rettungsexpedition die Gefahren nur zu deutlich. Zwei Menschen starben während einer Expedition, eine Person verschwand, eine weitere erlitt schwere Verletzungen. Die jungen Doktoranden, die die Expedition unternahmen, erfuhren es am eigenen Leibe: Diese neue Quantentechnologie, die Vorbotin des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ist alles andere als harmlos.

Ein typisches Beispiel für einen Privatkrieg ereignete sich im Jahre 1357. Sir Oliver de Vannes, ein englischer Ritter von edlem Geblüt und Charakter, hatte die Städte Castelgard und La Roque eingenommen. Glaubt man den Quellen, so herrschte dieser »geborgte Herr« mit Würde und Gerechtigkeit und war beim Volk beliebt. Im April wurden die Ländereien von einer wilden Kompanie aus zweitausend Briganten überfallen, abtrünnigen Rittern unter dem Befehl von Arnaut de Cervole, einem aus dem Amt gejagten Mönch, den man auch den »Erzpriester« nannte. Nachdem Cervole Castelgard niedergebrannt hatte, schleifte er das Kloster von Sainte-Mere, ermordete die Mönche und zerstörte die berühmte Wassermühle an der Dordogne. Anschließend verfolgte Cervole Sir Oliver bis zur Festung von La Roque, wo eine blutige Schlacht stattfand.

Oliver verteidigte seine Burg mit Geschick und Wagemut. Zeitgenössische Berichte schreiben Olivers Verteidigungserfolge seinem militärischen Berater Edwardus de Johnes zu. Nur wenig ist bekannt von diesem Mann, doch rankt sich manche Sage um ihn, die an Merlin erinnert. Angeblich konnte er in einem Lichtblitz verschwinden. Der Chronist Audreim behauptete, Johnes sei aus Oxford gekommen, anderen Quellen zufolge war er jedoch Mailänder. Da er mit einer Gruppe junger Gehilfen reiste, war er höchstwahrscheinlich ein fahrender Gelehrter, der sich dem verdingte, der ihm seine Dienste bezahlte. Er war geübt im Gebrauch von Schießpulver und Artillerie, einer Technologie, die zu der Zeit noch sehr neu war...

Letztendlich verlor Oliver seine uneinnehmbare Burg nur, weil ein Spion einen Geheimgang öffnete und so den Soldaten des Erzpriesters Zugang zur Festung verschaffte. Ein Verrat wie dieser war charakteristisch für die komplexen Intrigen der damaligen Zeit. Aus: Der Hundertjährige Krieg in Frankreich von M. D. Backes, 1996


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