DORDOGNE

Der Ruhm der Vergangenheit ist eine Illusion. Ebenso der Ruhm der Gegenwart.

EDWARD JOHNSTON


Der Hubschrauber donnerte durch den dicken grauen Nebel. Diane Kramer, die hinten saß, rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz hin und her. Immer wenn der Nebel sich etwas lichtete, sah sie die Baumwipfel des Waldes sehr dicht unter sich. »Müssen wir so tief fliegen?« fragte sie. Andre Marek, der vorne neben dem Piloten saß, lachte. »Machen Sie sich keine Sorgen, es ist völlig sicher.« Allerdings sah Marek nicht so aus, als würde er sich wegen irgendwas Sorgen machen. Er war neunundzwanzig Jahre alt, groß und sehr kräftig, unter seinem T-Shirt zeichneten sich die Muskelstränge ab. Man würde auf jeden Fall nie auf den Gedanken kommen, daß er Dozent für Geschichte in Yale war. Oder der stellvertretende Leiter des Dordogne-Projekts, zu dem sie nun flogen.

»Der Nebel wird sich gleich lichten«, sagte Marek mit einem Anflug seines niederländischen Akzents. Kramer wußte alles über ihn: Nach seinem Studium in Utrecht hatte er sich zu einem jener neuen »experimentellen« Historiker entwickelt, die es sich zum Ziel machten, Teile der Vergangenheit wiederzuerschaffen, sie direkt zu erleben, um sie besser zu verstehen. Marek war ein Fanatiker auf diesem Gebiet; er hatte sich alles über mittelalterliche Kleidung, Sprache und Gewohnheiten beigebracht; angeblich konnte er mit Schwert und Lanze kämpfen. Und wenn sie ihn so ansah, glaubte sie es sogar. Sie sagte: »Es überrascht mich, daß Professor Johnston nicht mit uns gekommen ist.« Kramer hatte eigentlich erwartet, daß Johnston sie persönlich empfangen würde. Sie war schließlich eine Topmanagerin der Firma, die diese Forschung finanzierte. Und das Protokoll verlangte es, daß Johnston selbst ihr das Projekt zeigte. Außerdem hatte sie vorgehabt, ihn bereits im Hubschrauber zu bearbeiten. »Leider hatte Professor Johnston bereits eine Verabredung.« »Ach so?«

»Mit Francois Beilin, dem Staatssekretär für historisches Kulturgut.« »Verstehe.« Kramer fühlte sich gleich besser. Natürlich mußte Johnston sich zuerst mit den Behörden beschäftigen. Das Dordogne-Projekt war völlig abhängig von guten Beziehungen zur französischen Regierung. »Gibt es ein Problem?« fragte sie.

»Ich glaube nicht. Die beiden sind alte Freunde. Ah, jetzt geht's los.«

Der Hubschrauber flog aus dem Nebel in morgendliches Sonnenlicht.

Die steinernen Bauernhäuser warfen lange Schatten.

Als sie eins der Anwesen überflogen, schlugen die Gänse auf dem Hof mit den Flügeln, und eine Frau in einer Schürze drohte ihnen mit der Faust.

»Sie ist nicht gerade erfreut über uns«, sagte Marek und deutete mit seinem dicken, muskulösen Arm nach unten.

Kramer, die hinter ihm saß, setzte ihre Sonnenbrille auf und erwiderte: »Na ja, es ist sechs Uhr morgens. Warum sind wir so früh gestartet?« »Wegen des Lichts«, sagte Mrek. »Frühe Schatten zeigen am besten Konturen, Geländeunebenheiten und so weiter.« Er deutete an seinen Füßen vorbei nach unten. Drei schwere gelbe Gehäuse waren an den Vorderstreben des Hubschraubers befestigt. »Im Augenblick haben wir Stereo-Geländekameras, Infrarot- und UV-Sensoren und Sidescan-Radar dabei.«

Kramer deutete zum Rückfenster hinaus, zu einer knapp zwei Meter langen silbernen Röhre, die unter dem Heck des Hubschraubers hing.

»Und was ist das?«

»Ein Protonenmagnetometer.«

»Aha. Und was macht der?«

»Sucht nach magnetischen Anomalien im Erdboden, die auf verschüttete Mauern, Keramik oder Metalle hindeuten können.«

»Gibt es noch irgendwelche Geräte, die Sie gern hätten, aber nicht haben?«

Marek lächelte. »Nein, Ms. Kramer. Wir haben alles, was wir wollten, vielen Dank.«

Bis jetzt hatte der Hubschrauber die sanft wogenden Konturen dichten Waldes überflogen. Aber jetzt sah sie graues Felsgestein, klippenähnliche Steilhänge, die die Landschaft durchschnitten. Langsam wurde ihr klar, daß Marek mit ihr so etwas wie eine wohleinstudierte Führung machte; er redete fast ununterbrochen.

»Diese Kalksteinklippen sind die Überreste eines uralten Strands«, sagte er. »Vor Millionen von Jahren war dieser Teil Frankreichs von einem Meer bedeckt. Als das Meer zurückwich, ließ es einen Strand zurück. Und über Äonen zusammengepreßt, wurde aus diesem Strand Kalkstein. Es ist ein sehr weicher Stein. Die Abhänge sind durchlöchert von Höhlen.«

Kramer konnte wirklich viele Höhlen erkennen, dunkle Öffnungen im Fels. »Es gibt eine ganze Menge davon.«

Marek nickte. »Dieser Teil Südfrankreichs ist einer der am dauerhaftesten besiedelten Landstriche der Erde. Menschen leben hier seit mindestens vierhunderttausend Jahren, nachweisbar vom Neandertaler bis heute.«

Kramer nickte ungeduldig. »Und wo ist das Projekt?« fragte sie. »Kommt gleich.«

Der Wald ging in freies Gelände mit verstreuten Bauernhöfen über. Jetzt flogen sie auf ein Dorf auf einem Hügel zu; sie sah eine Ansammlung von Steinhäusern, schmale Straßen und den steinernen Turm einer Burg, der sich in den Himmel erhob. »Das ist Beynac«, sagte Marek mit dem Rücken zu ihr. »Und hier kommt unser Dopplersignal.« Kramer hörte in ihrem Kopfhörer elektronische Pieptöne, die immer schneller wurden. »Achtung«, sagte der Pilot.

Marek schaltete seine Ausrüstung an. Ein halbes Dutzend Lichter blinkten grün auf.

»Okay«, sagte der Pilot. »Beginne mit erstem Überflug. Drei... zwei... eins.«

Die sanften, bewaldeten Hügel endeten an einem steilen Abhang, und Diane Kramer sah das Tal der Dordogne, das sich unter ihnen ausbreitete.

Wie eine braune Schlange wand sich die Dordogne durch das Tal, das sie sich vor Hunderttausenden von Jahren gegraben hatte. Sogar zu dieser frühen Morgenstunde sah man schon Kanuten, die auf ihr paddelten.

»Im Mittelalter war die Dordogne eine militärische Grenze«, sagte Marek. »Diese Flußseite war französisch und die andere englisch. Die Kämpfe gingen hin und her. Direkt unter uns liegt Beynac, eine französische Festung.«

»Und da drüben«, fuhr er fort und zeigte über den Fluß, »sehen Sie die gegenüberliegende Stadt Castelnaud. Eine englische Festung.« Hoch oben auf einem entfernten Hügel sah Kramer eine zweite Burg, die völlig aus gelbem Stein erbaut war. Die Burg war klein, aber wunderbar restauriert, ihre drei runden, von hohen Mauern verbundenen Türme ragten anmutig in die Luft. Am Fuß der Burg war ein malerisches Touristenstädtchen zu erkennen. »Aber das ist nicht unser Projekt...«, sagte sie.

»Nein«, erwiderte Marek. »Ich zeige Ihnen nur den generellen Charakter dieses Landstrichs. Überall an der Dordogne findet man diese paarweise angeordneten, einander gegenüberliegenden Burgen. Bei unserem Projekt geht es ebenfalls um so ein gegenüberliegendes Burgenpaar, aber es liegt noch ein paar Kilometer flußabwärts. Da fliegen wir jetzt hin.«

Der Hubschrauber legte sich in die Kurve und flog nach Osten über sanft gewelltes Hügelland. Das Touristengebiet ließen sie jetzt hinter sich, und Kramer war froh, als sie sah, daß das Land unter ihr größtenteils bewaldet war. Sie überflogen ein Städtchen am Fluß mit dem Namen Envaux und stiegen dann wieder über dem Hügelland in die Höhe. Hinter einer dieser Kuppen sah sie plötzlich die offene Fläche einer baumlosen grünen Wiese. In der Mitte der Wiese standen die Ruinen von mehreren steinernen Häusern, Mauern, die in merkwürdigen Winkeln aufeinanderstießen. Dies war offensichtlich früher eine Stadt gewesen, die sich unterhalb der Mauern einer Burg erstreckte. Doch die Burgmauern waren nur noch Linien aus Gesteinsbrocken, von der Burg selbst war so gut wie nichts mehr übrig; sie sah nur die Fundamente von zwei run-den Türmen und Reste einer zerstörten Mauer, die sie verband. Hier und da zwischen den Ruinen waren weiße Zelte aufgeschlagen worden. Mehrere Dutzend Leute arbeiteten dort unten.

»Bis vor drei Jahren gehörte das alles einem Ziegenbauern«, sagte Marek. »Die Franzosen hatten diese Ruinen so gut wie vergessen, sie waren von Wald überwuchert. Wir haben den Wald gerodet und ein bißchen was wiederaufgebaut. Was Sie hier sehen, war einst die berühmte englische Festung Castelgard.«

»Das ist Castelgard?« seufzte Kramer. So wenig war also übrig: ein paar stehende Mauern, die auf die Stadt hindeuteten, und von der Burg selbst fast nichts.

»Ich dachte, da wäre schon mehr«, sagte sie.

»Irgendwann wird es mehr geben. Castelgard war zu seiner Zeit eine große Stadt mit einer sehr imposanten Burg«, erwiderte Marek. »Aber es dauert noch mehrere Jahre, bis alles restauriert ist.« Kramer fragte sich, wie sie das Doniger erklären sollte. Das Dor-dogne-Projekt war noch bei weitem nicht so fortgeschritten, wie Doniger sich das vorgestellt hatte. Es wäre extrem schwierig, mit wirklicher Rekonstruktion zu beginnen, solange die Anlage nur aus solchen Trümmern bestand. Und sie war sicher, daß Professor Johnston sich einer Rekonstruktion unter solchen Umständen widersetzen würde. »Unser Hauptquartier haben wir in dem Bauernhof da drüben aufgeschlagen.« Marek deutete auf ein Haus mit mehreren Nebengebäuden, nicht weit von den Ruinen entfernt. »Wollen Sie über Castelgard kreisen, um es sich genauer anzusehen?« »Nein«, sagte Kramer, die versuchte,sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Nein, fliegen wir weiter.« »Okay, dann geht's jetzt zur Mühle.«

Der Helikopter schwenkte und flog nach Norden in Richtung Fluß. Das Land flachte zum Ufer der Dordogne hin ab. Sie überquerten den breiten, dunkelbraunen Fluß und kamen zu einer stark bewaldeten Insel, die direkt vor dem anderen Ufer lag. Insel und Nordufer trennte ein schmalerer, rauschender Flußarm von etwa fünf Metern Breite. Genau hier waren die Ruinen eines anderen Gebäudes zu erkennen, die jedoch so zerstört waren, daß man nicht mehr ausmachen konnte, was es einmal gewesen war. »Und das?« fragte Kramer und schaute nach unten. »Was ist das?«

»Das ist die Wassermühle. Früher gab es eine Brücke über den Fluß und darunter Wasserräder. Die Wasserkraft wurde zum Mehlmahlen benutzt und zum Antreiben großer Blasebälge für die Stahlherstellung.«

»Hier wurde offenbar überhaupt noch nichts wiederaufgebaut.« Krämer seufzte.

»Nein«, sagte Marek. »Aber wir haben die Mühle studiert. Chris Hughes, einer unser Doktoranden, hat sie ziemlich ausführlich erforscht. Das da unten ist Chris, beim Professor.«

Krämer sah einen stämmigen, dunkelhaarigen jungen Mann, der neben der großen, imposanten Gestalt von Professor Johnston stand. Keiner der beiden sah auf, als der Hubschrauber sie überflog; sie waren zu sehr auf ihre Arbeit konzentriert.

Jetzt ließ der Hubschrauber den Fluß hinter sich und überflog das flache Land nördlich davon. Sie überquerten einen Komplex niedriger rechteckiger Mauern, die im schrägen Morgenlicht als dunkle Linien zu erkennen waren. Krämer schätzte, daß die Mauern nur ein paar Zentimeter hoch waren. Aber sie markierten deutlich den Umriß von etwas, das aussah wie eine kleine Stadt. »Und das? Ist das eine andere Stadt?«

»So ungefähr. Das ist das Kloster von Sainte-Mere«, erklärte Marek.

»Eines der wohlhabendsten und mächtigsten Klöster Frankreichs. Es wurde im vierzehnten Jahrhundert in Schutt und Asche gelegt.«

»Da wird aber viel gegraben.«

»Ja, das ist unsere wichtigste Grabungsstätte.«

Im Überfliegen erkannte Diane die großen quadratischen Gruben, mit denen sich die Forscher Zugang zu den Katakomben unter dem Kloster verschafften. Sie wußte, daß sich auf diese das Hauptaugenmerk richtete, weil man hoffte, hier noch weitere Verstecke mit klösterlichen Dokumenten zu finden; eine ganze Reihe hatte man bereits entdeckt. Der Hubschrauber schwenkte wieder und näherte sich den Kalksteinabhängen auf der französischen Seite sowie einer kleinen Stadt. Dann stieg er über den Rand des Steilufers.

»Wir kommen jetzt zur vierten und letzten Grabungsstätte«, sagte Marek. »Die Festung über der Stadt Bezenac. Im Mittelalter hieß sie La Roque. Obwohl sie auf der französischen Seite des Flusses liegt, wurde sie von den Engländern gebaut, die sich damit einen dauerhaften Brückenkopf auf französischem Gebiet sichern wollten. Wie Sie sehen, ist es eine ziemlich ausgedehnte Anlage.«

Das war sie wirklich: ein riesiger militärischer Komplex auf der Anhöhe, mit drei Reihen konzentrischer Mauern, die sich über gut zwanzig Hektar erstreckten. Die Festung von La Roque war in einem besseren Zustand als die anderen Anlagen des Projekts, es gab noch mehr stehende Mauern. Man konnte leichter erkennen, was es einmal gewesen war.

Aber in der Anlage wimmelte es auch von Touristen.

»Sie lassen Touristen hinein?« fragte sie entsetzt.

»Das ist eigentlich nicht unsere Entscheidung«, antwortete Marek. »Wie Sie wissen, ist das eine neue Grabungsstätte, und die französische Regierung wollte, daß sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Aber natürlich schließen wir sie wieder, wenn wir mit der Rekonstruktion beginnen.«

»Und wann wird das sein?«

»Oh... irgendwann in zwei bis fünf Jahren.«

Sie sagte nichts. Der Hubschrauber kreiste und stieg höher.

»So«, sagte Marek. »Wir sind am Ende angelangt. Von hier oben haben Sie einen Überblick über das gesamte Projekt: die Festung La Roque, das Kloster im Flachland, die Mühle und auf der anderen Flußseite die Festung Castelgard. Wollen Sie es noch einmal sehen?«

»Nein«, entgegnete Diane Krämer. »Wir können zurückkehren. Ich habe genug gesehen.«

.Edward Johnston, Professor der Geschichte in Yale, verdrehte die Augen, als der Hubschrauber über ihre Köpfe hinwegdonnerte. Er flog in südlicher Richtung, nach Domme, wo es einen Landeplatz gab. Johnston sah auf die Uhr und sagte: »Laß uns weitermachen, Chris.« »Okay«, erwiderte Chris Hughes. Er wandte sich wieder dem auf ein Stativ montierten Computer zu, steckte den GPS-Empfänger ein und schaltete den Strom ein. »Das Set-up dauert ein wenig.« Christopher Stewart Hughes war einer von Johnstons Doktoranden. Der Professor — alle nannten ihn nur so - hatte insgesamt fünf, die bei dem Projekt arbeiteten, sowie zwei Dutzend Studenten, die seine Einführungsvorlesung über westliche Zivilisation gehört hatten und von ihm fasziniert waren.

Es war leicht, dachte Chris, von Edward Johnston fasziniert zu sein. Obwohl schon gut über sechzig, war er breitschultrig und fit, er bewegte sich schnell, was einen Eindruck von Tatkraft und Energie vermittelte. Gebräunt, mit dunklen Augen und seiner ironischen Art wirkte er oft eher wie Mephistopheles als wie ein Geschichtsprofessor.

Seine Kleidung allerdings entsprach der eines typischen Collegeprofessors: Sogar hier vor Ort trug er jeden Tag Button-Down-Hemd und Krawatte. Sein einziges Zugeständnis an die Arbeit im Gelände waren Jeans und Wanderstiefel.

Was Johnston bei seinen Studenten so beliebt machte, war die Art, wie er sich um sie kümmerte: Einmal pro Woche lud er sie zum Essen zu sich nach Hause ein, er sorgte für sie, und wenn einer von ihnen Probleme mit dem Studium, dem Geld oder der Familie hatte, war er immer bereit, bei der Lösung des Problems zu helfen, ohne sich dabei jedoch aufzudrängen.

Vorsichtig packte Chris den Metallkoffer zu seinen Füßen aus. Zuerst holte er ein durchsichtiges LCD hervor, das er vertikal in die Halterungen über dem Computer montierte. Dann startete er den Computer neu, damit der Rechner den Bildschirm identifizieren konnte. »Jetzt dauert's nur noch ein paar Sekunden«, sagte er. »Der GPS-Empfänger kalibriert.« Johnston nickte geduldig und lächelte.

Chris war Doktorand im Bereich Geschichte der Wissenschaft — ein äußerst kontroverses Gebiet, aber er umging geschickt alle Dispute, indem er sich nicht auf moderne Wissenschaft konzentrierte, sondern auf Wissenschaft und Technik des Mittelalters. So war er Experte für Metallurgie, für Waffenherstellung, Dreifelder-Frucht-wechsel, der Chemie des Gerbens und für ein Dutzend andere Techniken der damaligen Zeit geworden. Er hatte beschlossen, seine Doktorarbeit über die Mühlentechnik des Mittelalters zu schreiben - ein faszinierendes, aber stark vernachlässigtes Gebiet. Und sein besonderes Interesse gehörte natürlich der Mühle von Sainte-Mere.

Johnston wartete gelassen ab.

Chris war Student im zweiten Semester gewesen, als seine Eltern bei einem Autounfall getötet wurden. Chris, ein Einzelkind, war am Boden zerstört; er spielte sogar mit dem Gedanken, das College zu verlassen. Johnston hatte den jungen Studenten für drei Monate in sein Haus aufgenommen und diente ihm auch noch viele Jahre danach als Vaterersatz, der ihm in allen Lebenslagen mit Rat und Tat zur Seite stand, von der Abwicklung des elterlichen Nachlasses bis hin zu Problemen mit Freundinnen. Und Probleme mit Freundinnen hatte es eine ganze Menge gegeben.

Nach dem tragischen Verlust seiner Eltern hatte Chris sich mit vielen Frauen eingelassen. Die daraus folgende Kompliziertheit seines Lebens — böse Blicke von verschmähten Geliebten in Seminaren; verzweifelte mitternächtliche Anrufe wegen einer ausgebliebe-nen Periode, während er mit einer anderen im Bett war; heimliche Treffen in Hotelzimmern mit einer Philosophiedozentin, die mit-ten in einer schmutzigen Scheidung steckte — prägte bald seinen Tagesablauf. Unweigerlich wurden seine Noten schlechter, und eines Tages nahm Johnston ihn beiseite und redete ihm mehrere Abende lang gut zu.

Doch Chris wollte nicht hören, und bald darauf tauchte sein Name in dem Scheidungsverfahren auf. Nur die persönliche Intervention des Professors verhinderte seine Relegation von Yale. Chris reagierte auf diese plötzliche Krise, indem er sich in seine Studien vergrub; seine Noten wurden schnell besser, und schließlich hatte er sein Diplom als Fünftbester seines Jahrgangs abgelegt. Insgesamt war er seit dieser Zeit viel ruhiger geworden. Jetzt, mit vierundzwanzig, neigte er zu Pedanterie und Magenproblemen. Nur bei Frauen war er immer noch ein Draufgänger.

»Endlich«, sagte Chris. »Es kommt.«

Das LCD zeigte einen Umriß in leuchtendem Grün. Durch den transparenten Monitor waren die Ruinen der Mühle zu sehen, überlagert von dem grünen Umriß. Das war die neueste Methode zur Rekonstruktion archäologischer Strukturen. Früher hatten ihnen nur gewöhnliche Architekturmodelle zur Verfügung gestanden, die aus weißem Styropor bestanden und per Hand ausgeschnitten und zusammengesetzt werden mußten. Aber diese Technik war langsam, Modifikationen waren schwierig.

Inzwischen wurden alle Modelle am Computer erstellt. Die Modelle konnten schnell erzeugt und problemlos verändert werden. Zusätzlich gestattete diese Methode die Betrachtung der Modelle vor Ort und einen präzisen Abgleich mit dem Original. Die Ortskoordinaten der Ruine wurden in den Computer eingespeist, und dank der durch das GPS ermittelten Stativposition war die Darstellung auf dem Monitor genau in der richtigen Perspektive.

Sie sahen zu, wie sich der Umriß füllte und dreidimensionale Gestalt annahm. Die Abbildung zeigte nun eine mächtige Brücke, aus Stein erbaut und überdacht und mit drei Wasserrädern darunter. »Chris«, sagte Johnston, »du hast sie ja befestigt.« Er klang erfreut. »Ich weiß, daß es ein Risiko ist...«, sagte er.

»Nein, nein«, erwiderte der Professor. »Ich halte das für einleuchtend.«

In der Literatur gab es Hinweise auf befestigte Mühlen, und auf jeden Fall gab es unzählige Berichte über Schlachten um Mühlen und Mühlenrechte. Doch tatsächlich bekannt waren nur wenige befestigte Mühlen: eine in Buerge und eine andere, erst kürzlich entdeckte, in Montauban im nächsten Tal. Die meisten Mittelalterspezialisten glaubten, daß solche befestigten Mühlen eher selten waren. »Die Pfeilerfundamente am Wasserrand sind sehr mächtig«, sagte Chris. »Nachdem die Mühle aufgegeben war, benutzten die Leute sie als Steinbruch, wie alles hier in der Gegend. Sie holten sich die Steine, um damit ihre eigenen Häuser zu bauen. Aber die Steine in den Pfeilerfundamenten blieben, wo sie waren, weil sie zum Transport einfach zu groß und zu schwer waren. Für mich deutet das auf eine mächtige Brücke hin. Wahrscheinlich befestigt.« »Du könntest recht haben«, sagte Johnston. »Und ich glaube -« Das Funkgerät an seiner Hüfte knackte. »Chris? Ist der Professor bei dir? Der Staatssekretär ist da.«

Johnston schaute über die Klosterausgrabung hinweg zu der unbefestigten Straße, die am Fluß entlangführte. Ein grüner Landrover mit weißer Beschriftung an den Seiten kam, eine große Staubwolke aufwirbelnd, auf sie zugerast. »Ja«, sagte er. »Das kann nur Francois sein. Immer in Eile.«

»Edouard! Edouard!« Francois Bellin faßte den Professor bei den Schultern und küßte ihn auf beide Wangen. Bellin war ein großer, überschwenglicher Mann mit schütteren Haaren. Er sprach sehr schnelles Französisch. »Mein lieber Freund, wir haben uns viel zu lange nicht gesehen. Dir geht es gut?«

»Ja, Francois«, sagte Johnston und wich einen Schritt vor diesem Überschwang zurück. Immer wenn Bellin so übertrieben freundlich war, bedeutete das Probleme. »Und du, Francois, wie geht es dir?« »Wie immer, wie immer. Aber in meinem Alter muß das reichen.« Er sah sich um und legte Johnston verschwörerisch die Hand auf die Schulter. »Edouard, ich muß dich um einen Gefallen bitten. Ich habe da ein kleines Problem.« »Ach so?« »Du kennst doch diese Reporterin, von L'Express —« »Nein«, sagte Johnston. »Auf keinen Fall.« »Aber Edouard -«

»Ich habe mit ihr telefoniert. Sie ist eine von diesen Spinnern, die immer an irgendwelche Verschwörungen glauben. Der Kapitalismus ist schlecht, alle Konzerne sind böse —«

»Ja, ja, Edouard, du hast ja recht.« Er beugte sich zu ihm. »Aber sie schläft mit dem Kulturminister.«

»Nicht gerade eine Empfehlung«, sagte Johnston.

»Edouard, bitte. Die Leute fangen an, auf sie zu hören. Sie kann Probleme verursachen. Für dich. Für mich. Für dieses Projekt.«

Johnston seufzte.

»Du weißt doch, hier in Frankreich denken viele, daß die Amerikaner jede Kultur zerstören, weil sie selber keine haben. Vor allem Filme und Musik machen immer wieder Probleme. Und es gibt Diskussionen darüber, Amerikanern die Arbeit an französischen Kulturdenkmälern zu verbieten. Was meinst du?« »Das ist nichts Neues«, erwiderte Johnston.

»Außerdem hat dich dein eigener Sponsor, ITC, gebeten, mit ihr zu sprechen.«

»Ach, tatsächlich?«

»Ja. Eine Ms. Kramer hat verlangt, daß du mit ihr sprichst.« Johnston seufzte noch einmal.

»Es dauert nur ein paar Minuten, das verspreche ich dir«, sagte Bellin und winkte zum Landrover. »Sie ist im Auto.« »Du hast sie mitgebracht?« fragte Johnston.

»Edouard, laß es dir gesagt sein«, erwiderte Bellin. »Es ist nötig, daß du sie ernst nimmst. Ihr Name ist Louise Delvert.« Als die Reporterin aus dem Auto stieg, sah Chris eine Frau Mitte Vierzig, schlank und dunkelhaarig, mit attraktiven, markanten Gesichtszügen. Sie hatte das gewisse Etwas reifer europäischer Frauen, ein Stil, in dem sich eine raffinierte sublime Sexualität ausdrückte. Angezogen war sie wie für eine Expedition: Khakibluse und -hose, mit Kamera, Video- und Kassettenrekorder an Riemen um den Hals. Mit einem Notizblock kam sie sehr forsch und zielstrebig auf die beiden zu. Delvert streckte die Hand aus. »Professor Johnston«, sagte sie in akzentfreiem Englisch. Ihr Lächeln war aufrichtig und herzlich. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, daß Sie sich Zeit für mich nehmen.«

»Aber nicht doch«, erwiderte Johnston und nahm ihre Hand. »Sie haben einen weiten Weg hinter sich, Miss Delvert. Ich freue mich, wenn ich Ihnen helfen kann.«

Gemeinsam besichtigten sie die Klosterausgrabung, eine verschworene kleine Gruppe: der Professor und Miss Delvert vorneweg, Bellin und Chris hinterher, nicht zu dicht, aber doch so, daß sie das Gespräch hören konnten. Bellin trug ein stilles, zufriedenes Grinsen auf den Lippen, und Chris kam der Gedanke, daß es offenbar mehr als eine Art gab, mit einem lästigen Kulturminister fertig zu werden. Was den Professor anging, so war seine Frau schon seit vielen Jahren tot; und obwohl es Gerüchte gegeben hatte, hatte Chris ihn noch nie mit einer anderen Frau gesehen. Um so faszinierter beobachtete er ihn jetzt. Johnston verhielt sich nicht anders als sonst, er schenkte der Reporterin einfach seine ungeteilte Aufmerksamkeit und vermittelte ihr den Eindruck, daß es auf der Welt nichts Wichtigeres gebe als sie. Und tatsächlich hatte Chris das Gefühl, daß Delverts Fragen viel weniger aggressiv waren, als sie es geplant hatte.

»Wie Sie wissen, Professor«, sagte sie, »arbeitet meine Zeitung schon eine ganze Weile an einer Story über die amerikanische Firma ITC.« »Ja, das weiß ich.«

»Trifft es zu, daß ITC diese Ausgrabung sponsert?« »Ja.«

»Wir haben erfahren, daß die Firma pro Jahr eine Million Dollar zu dem Projekt beiträgt.« »Das kommt ungefähr hin.«

Einen Augenblick gingen sie schweigend weiter. Die Journalistin schien sich ihre nächste Frage genau zu überlegen. »Es gibt einige in unserer Zeitung«, sagte sie, »die der Ansicht sind, daß das für ein Projekt in mittelalterlicher Archäologie eine Menge Geld ist.«

»Nun, Sie können diesen Leuten sagen«, erwiderte Johnston, »daß es das nicht ist. Genaugenommen ist es für ein Projekt dieser Größe ungefähr Durchschnitt. ITC gibt uns zweihundertfünfzigtausend als direkten Zuschuß, einhundertfünfundzwanzigtausend als indirekten Zuschuß an die Universität, noch einmal achtzigtausend für Stipendien, Reise- und Unterhaltskosten und funfzigtausend für Labor- und Archivierungskosten.«

»Aber da bleibt doch eine beträchtliche Differenz«, konterte sie, spielte kokett mal mit dem Stift, mal mit ihren Haaren und blinzelte in Johnstons Richtung. Sie macht ihm schöne Augen, dachte Chris. Bei seinem Professor hatte er noch nie eine Frau so etwas tun sehen. Man mußte schon Französin sein, um eine solche Show abzuziehen. Der Professor schien es nicht zu bemerken. »Ja, natürlich bleibt da eine Differenz«, sagte er, »aber der Rest geht nicht an uns. Der ist für die Rekonstruktionskosten selbst. Die werden separat abgerechnet, da diese Kosten, wie Sie wissen, gemeinsam mit der französischen Regierung getragen werden.«

»Natürlich«, sagte sie. »Und in Ihren Augen ist die halbe Million Dollar, die Ihr Team ausgibt, also ganz normal?« »Na ja, wir können ja Francois fragen«, sagte Johnston. »In dieser Ecke Frankreichs gibt es siebenundzwanzig laufende archäologische Projekte. Sie reichen von der paläolithischen Ausgrabung, die die Universität von Zürich zusammen mit der Carnegie-Mellon macht, bis hin zu dem römischen castrum, der Festung, das die Uni Bordeaux zusammen mit der von Oxford ausgräbt. Die jährlichen Kosten dieser Projekte betragen ungefähr eine halbe Million Dollar pro Jahr.« »Das wußte ich nicht.« Sie sah ihm mit unverhüllter Bewunderung in die Augen. Zu unverhüllt, dachte Chris. Pötzlich kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht mißverstanden hatte, was da passierte. Vielleicht war das einfach ihre Art, an eine Story zu kommen. Johnston drehte sich zu Bellin um. »Francois? Was sagst du?« »Ich glaube, du weißt, was du tust — ich meine, sagst«, antwortete Bellin. »Die Beträge schwanken zwischen vier- und sechshunderttausend Dollar. In Skandinavien, Deutschland und Amerika kostet es mehr. Paläolithische Projekte kosten mehr. Aber ja, eine halbe Million dürfte ungefähr Durchschnitt sein.«

Miss Delvert blieb weiter auf Johnston konzentriert. »Und für Ihre Sponsorengelder, Professor Johnston, wieviel Kontakt müssen Sie da mit ITC halten?«

»So gut wie keinen.«

»So gut wie keinen? Wirklich?«

»Der Präsident, Robert Doniger, war vor zwei Jahren hier. Er ist ein Geschichtsfanatiker, und er war sehr begeistert, wie ein kleiner Junge. Und ungefähr einmal pro Monat schickt ITC uns einen Vizepräsidenten. Gerade jetzt haben wir einen hier, eine Dame. Aber im großen und ganzen lassen sie uns in Ruhe.« »Und was wissen Sie über ITC selbst?«

Johnston zuckte die Achseln. »Sie forschen im Bereich der Quantenphysik. Sie fertigen Komponenten, die in Kernspintomographen, anderen medizinischen Geräten und so weiter verwendet werden. Und sie entwickeln Datierungstechniken, die auf Quan-teneffekten beruhen und mit denen man das Alter jedes Artefakts präzise bestimmen kann. Dabei helfen wir ihnen.«

»Verstehe. Und diese Techniken, funktionieren sie?« »Wir haben Prototypen dieser Geräte in unserem Hauptquartier in dem Bauernhof. Bis jetzt haben sie sich als zu empfindlich für die Arbeit vor Ort erwiesen. Sie gehen immer kaputt.«

»Aber ist das der Grund, warum ITC Sie sponsert - damit Sie ihre Geräte testen?«

»Nein«, sagte Johnston. »Es ist genau andersherum. ITC baut diese Datierungsgeräte aus demselben Grund, warum ITC uns sponsert - weil Bob Doniger sich für Geschichte begeistert. Wir sind sein Hobby.« »Ein teures Hobby.«

»Für ihn nicht«, sagte Johnston. »Er ist Milliardär. Er hat sich eine Gutenberg-Bibel für drei Millionen gekauft. Er hat bei einer Auktion für siebzehn Millionen den Wandteppich von Rouen ersteigert. Unser Projekt ist für ihn nur Kleingeld.«

»Das mag schon sein. Aber Mr. Doniger ist auch ein taffer Geschäftsmann.«

»Ja.«

»Glauben Sie wirklich, daß er sie nur aus rein persönlichem Interesse unterstützt?« fragte sie leichthin, fast schnippisch.

Johnston sah sie direkt an. »Die wahren Motive eines Menschen, Miss

Delvert, kennt man nie.«

Auch er ist argwöhnisch, dachte Chris.

Delvert schien das ebenfalls zu spüren und kehrte sofort wieder zu einem verbindlicheren Tonfall zurück. »Natürlich, ja. Aber ich frage das aus einem bestimmten Grund. Trifft es nicht zu, daß die Ergebnisse Ihrer Forschung nicht Ihnen gehören? Daß alles, was Sie finden, alles, was Sie entdecken, ITC gehört?« »Ja, das stimmt.« »Stört Sie das nicht?«

»Wenn ich für Microsoft arbeiten würde, würden die Ergebnisse meiner Arbeit Bill Gates gehören. Alles, was ich finden oder entdecken würde, würde Bill Gates gehören.« »Schon. Aber das ist wohl kaum dasselbe.«

»Warum nicht? ITC ist eine Technikfirma, und Doniger hat diesen Unterstützungsfond eingerichtet, wie Technikfirmen das eben tun. Das Arrangement stört mich nicht. Wir haben das Recht, unsere Forschungsergebnisse zu veröffentlichen — die Firma zahlt sogar für die Publikation.«

»Nachdem sie sie gutgeheißen hat.«

»Ja. Wir schicken unsere Berichte zuerst an sie. Haben aber noch nie einen Kommentar zurückbekommen.«

»Sie sehen also keinen größeren ITC-Plan hinter dem Ganzen?« »Sehen Sie einen?« entgegnete Johnston.

»Ich weiß nicht so recht«, sagte sie. »Deshalb frage ich ja Sie. Weil es natürlich einige sehr verwirrende Aspekte im Verhalten von ITC als Firma gibt.« »Was für Aspekte?«

»Zum Beispiel«, sagte sie, »ist die Firma einer der weltgrößten Verbraucher von Xenon.«

»Xenon? Sie meinen das Gas?«

»Ja. Es wird in Lasern und Elektronenröhren benutzt.«

Johnstons zuckte die Achseln. »Von mir aus können sie so viel Xenon haben, wie sie brauchen. Ich verstehe nicht, was das mich angehen soll.«

»Was ist mit dem Interesse der Firma an exotischen Metallen? ITC hat vor kurzem eine nigerianische Firma aufgekauft, um ihren Bedarf an Niob decken zu können.«

»Niob.« Johnston schüttelte den Kopf. »Was ist Niob?« »Es ist ein dem Titan ähnliches Metall.« »Wozu braucht man es?«

»Für supraleitende Magneten und Atomreaktoren.«

»Und Sie wollen wissen, wozu ITC es braucht?« Johnston schüttelte den Kopf. »Das müssen Sie die Firma fragen, Miss Delvert.«

»Das habe ich. Und die Antwort war: für Forschungen im Bereich fortschrittlicher magnetischer Anwendungen.«

»Da sehen Sie. Gibt es einen Grund, ihnen nicht zu glauben?«

»Nein«, entgegnete sie. »Aber wie Sie selbst gesagt haben, ist ITC eine Forschungseinrichtung. In ihrer Zentrale in einem Ort namens Black Rock in New Mexico beschäftigt sie zweihundert Physiker. Sie ist offensichtlich und unbestreitbar eine High-Tech-Firma.«

»Ja.«

»Deshalb frage ich mich: Wozu braucht eine High-Tech-Firma so viel Land?«

»Land?«

»ITC hat in abgelegenen Gegenden auf der ganzen Welt umfangreiche Landkäufe getätigt: in den Bergen von Sumatra, im nördlichen Kambodscha, im südöstlichen Pakistan, in den Dschungeln von Zentralguatemala, im Hochland von Peru.« Johnston runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher?«

»Ja. Sie haben auch in Europa Land aufgekauft. Westlich von Rom fünfhundert Hektar. In Deutschland in der Nähe von Heidelberg siebenhundert Hektar. In Frankreich tausend Hektar in den Kalksteinhügeln über dem Fluß Lot. Und schließlich hier.« »Hier?«

»Ja. Unter Benutzung britischer und schwedischer Holdings haben sie um Ihr Grabungsgelände herum fünfhundert Hektar erworben. Es ist vorwiegend Wald- und Ackerland, im Augenblick zumindest.« »Holdings?« fragte er.

»Das macht es sehr schwer, den eigentlichen Käufer zu ermitteln.

Was immer ITC' tut, es erfordert auf jeden Fall Verschwiegenheit. Aber warum sponsert diese Firma Ihre Forschungen und kauft gleichzeitig alles Land um Ihre Grabungsstätte herum auf?«

»Keine Ahnung«, entgegnete Johnston. »Vor allem, da ITC" das Gelände seihst nicht gehört. Sie werden sich erinnern, daß sie das ganze Gebiet — Castelgard, Sainte-Mere und La Roque — letztes Jahr der französischen Regierung geschenkt hat.« »Natürlich. Für eine Steuerbefreiung.«

»Dennoch, ITC besitzt das Gelände nicht. Warum sollte die Firma dann das Land drumherum kaufen?«

»Ich zeige Ihnen sehr gern alles, was ich habe.«

»Vielleicht«, sagte Johnston, »sollten Sie das tun.«

»Meine Rechercheergebnisse liegen im Auto.«

Gemeinsam gingen die beiden auf den Landrover zu. Bellin schnalzte mit der Zunge. »O Gott. Es ist heutzutage so schwer, jemandem zu vertrauen.«

Chris wollte eben etwas sagen, als sein Funkgerät klickte. »Chris?« Es war David Stern, der technische Leiter des Projekts. »Chris, ist der Professor bei dir? Frag ihn, ob er jemanden mit dem Namen James Wauneka kennt.«

Chris drückte den Antwortknopf an seinem Gerät. »Der Professor ist gerade beschäftigt. Worum geht's?«

»Das ist irgendein Kerl aus Gallup. Hat schon zweimal angerufen. Will uns ein Foto von unserem Kloster schicken, das er angeblich in der Wüste gefunden hat.« »Was? In der Wüste?«

»Er ist vielleicht nicht ganz richtig im Kopf. Behauptet, ein Polizist zu sein, und quasselt dauernd von einem toten ITC-Angestell-ten.« »Er soll es an unsere E-Mail-Adresse schicken«, sagte Chris. »Schau's dir mal an.«

Er schaltete das Funkgerät ab. Bellin sah auf seine Uhr, schnalzte noch einmal mit der Zunge und schaute dann zum Auto hinüber, wo Johnston und Delvert ihre Köpfe in Unterlagen steckten. »Ich habe noch Termine«, sagte er betrübt. »Wer weiß, wie lange das hier noch dauert.«

»Ich glaube«, entgegnete Chris, »nicht sehr lange.«

Zwanzig Minuten später fuhr Bellin mit Miss Delvert davon, und Chris und der Professor standen da und winkten zum Abschied. »Ich glaube, das lief ziemlich gut«, sagte Johnston. »Was hat sie dir gezeigt?«

»Einige Grunderwerbsurkunden für das Umland hier. Aber das Material ist nicht sehr überzeugend. Fünf Parzellen wurden von einer deutschen Investmentgruppe gekauft, über die nur wenig bekannt ist. Zwei Parzellen wurden von einem britischen Anwalt gekauft, der behauptet, hier seinen Ruhestand verbringen zu wollen, eine aridere von einem niederländischen Bankier für seine erwachsene Tochter, und so weiter und so fort.«

»Briten und Niederländer kaufen seit Jahren im Perigord Land«, sagte Chris. »Das ist nichts Neues.«

»Genau. Aber sie hat die fixe Idee, daß alle Grundstückskäufe zu ITC zurückverfolgt werden können. Die Argumentation ist jedenfalls ziemlich dünn. Man muß schon daran glauben.«

Das Auto war verschwunden. Sie drehten sich um und gingen zum Fluß. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, es wurde allmählich heiß. Vorsichtig bemerkte Chris: »Charmante Frau.« »Ich glaube«, sagte Johnston, »sie ist zu sehr auf ihren Job fixiert.« Sie stiegen in das Boot, das am Flußufer vertäut lag, und Chris ruderte sie hinüber nach Castelgard.

Sie ließen das Boot am Ufer liegen und stiegen den Hügel zum Ort hinauf. Bald kamen die ersten Teile der Burgmauern in Sicht. Auf dieser Seite war von den Mauern nichts mehr übrig als ein paar grasbewachsene Wälle, die in langen Narben aus freiliegendem, zerbröckelndem Gestein endeten. Nach sechshundert Jahren sah es fast so aus wie ein natürlicher Teil der Landschaft. Tatsächlich aber waren es die Überreste einer Mauer.

»Weißt du«, sagte der Professor, »wogegen sie eigentlich was hat, ist Firmensponsoring. Aber archäologische Forschung war schon immer von externen Wohltätern abhängig. Vor hundert Jahren waren diese Wohltäter noch Privatpersonen: Carnegie, Peabody, Stanford. Heutzutage ist das große Geld bei Firmen und Konzernen, deshalb finanziert Nippon TV die Sixtinische Kapelle, British

Telecom finanziert York, Philips Electronics finanziert das castrum in Toulouse, und ITC- finanziert uns.«

»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Chris. Als sie die Kuppe überquerten, sahen sie die dunkle Gestalt von Diane Kramer, die sich mit Andre Marek unterhielt.

Der Professor seufzte. »Der Tag ist im Eimer. Wie lange hat sie vor zu bleiben?«

»Ihr Flugzeug steht in Bergerac. Der Rückflug ist für heute nachmittag drei Uhr geplant.«

»Tut mir leid wegen dieser Frau«, sagte Diane Krämer, als Johnston zu ihr kam. »Sie nervt jeden, aber wir konnten nichts gegen sie tun.« »Bellin sagte mir, Sie wollten, daß ich mit ihr spreche.« »Wir wollen, daß alle mit ihr sprechen«, sagte Kramer. »Wir tun, was wir können, um ihr zu zeigen, daß wir nichts zu verbergen haben.« »Sie schien höchst besorgt darüber«, bemerkte Johnston, »daß ITC hier in der Gegend Land aufkauft.«

»Landkäufe? ITC?« Kramer lachte. »Der Witz ist mir neu. Hat sie Sie auch nach Niob und Atomreaktoren gefragt?«

»Wenn Sie's genau wissen wollen, ja. Sie behauptete, ITC hätte eine Firma in Nigeria gekauft, um den Bedarf zu decken.« »Nigeria«, wiederholte Kramer mit einem Kopfschütteln. »Ach du meine Güte. Unser Niob kommt aus Kanada. Niob ist nicht gerade ein seltenes Metall, wissen Sie. Fünfundsiebzig Dollar das Pfund.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben ihr eine Führung durch unsere Einrichtungen angeboten, ein Interview mit unserem Präsidenten, sie hätte einen Fotografen und eigene Experten mitbringen dürfen, was immer sie will. Aber nein. Das ist moderner Journalismus: Laß dir die Tatsachen nicht in die Quere kommen.«

Kramer drehte sich um und deutete über die Ruinen von Castel-gard. »Wie auch immer«, sagte sie, »ich bin eben in den Genuß von Dr. Mareks ausgezeichneter Führung gekommen, im Hubschrauber und zu Fuß. Es ist offensichtlich, daß Sie hier absolut spektakuläre Arbeit leisten. Sie kommen gut voran, die Arbeit ist von höchster akademischer Qualität, die Aufzeichnungen sind erstklas-sig, Ihre Leute sind zufrieden, Organisation und Verwaltung funktionieren. Einfach großartig. Ich könnte nicht glücklicher sein. Aber Dr. Marek sagt mir, daß er zu spät kommt für seine — was ist es gleich wieder?«

»Meine Breitschwertstunde«, sagte Marek.

»Seme Breitschwertstunde. Ja. Ich glaube, da sollte er unbedingt hingehen. Es klingt nicht wie etwas, das man einfach verlegen kann wie eine Klavierstunde. Können wir unterdessen ein wenig über das Gelände spazieren?« »Natürlich«, sagte Johnston.

Chris' Funkgerät klickte. »Chris? Sophie will dich sprechen.« »Ich rufe sie zurück.«

»Nein, nein«, sagte Kramer. »Machen Sie nur. Ich spreche allein mit dem Professor.«

»Normalerweise habe ich Chris immer dabei, damit er sich Notizen macht«, sagte Johnston schnell.

»Ich glaube nicht, daß wir heute Notizen brauchen.«

»Okay. Gut.« Er wandte sich an Chris. »Aber gib mir dein Funkgerät,

nur für den Fall.«

»Kein Problem.« Er hakte das Funkgerät vom Gürtel und gab es Johnston. Als Johnston es in die Hand nahm, drückte er, für Chris sichtbar, die Sprechtaste. Dann hakte er es sich an den Gürtel. »Danke«, sagte Johnston. »Und jetzt soütest du besser Sophie anrufen. Du weißt, daß sie es nicht mag, wenn man sie warten läßt.« »Okay«, sagte Chris.

Während Johnston und Kramer langsam durch die Ruinen schlenderten, rannte er über die Wiese zu dem steinernen Bauern-haus, das ihnen als Hauptquartier diente.

Knapp hinter den bröckelnden Mauern des Ortes Castelgard hatte das Team ein heruntergekommenes steinernes Lagerhaus gekauft, das Dach erneuert und das Mauerwerk ausgebessert. Hier waren ihre gesamte Elektronik, die Laborausrüstung und die Archivierungscomputer untergebracht. Unbearbeitete Aufzeichnungen und Artefakte lagerten neben dem Bauernhaus unter einem weiten grünen Zeltdach. Chris betrat das Lagerhaus, ursprünglich ein einziger großer

Raum, den sie in zwei kleine unterteilt hatten. Im linken Abteil saß Elsie Kastner, die Linguistin und Graphologieexpertin des Teams, über Pergamente gebeugt. Chris ignorierte sie und ging direkt in den anderen Kaum, der gesteckt voll war mit elektronischem Gerät. Dort saß David Stern, der dünne, bebrillte Technikexperte des Projekts, und sprach in ein Telefon.

»Na ja«, sagte Stern eben. »Sie müßten Ihr Dokument mit einer ziemlich hohen Auflösung einscannen und es uns schicken. Haben Sie einen Scanner?«

Hastig wühlte Chris in dem Gerätedurcheinander auf dem Klapptisch nach einem Funkgerät. Er fand keins, alle Ladestationen waren leer. »Die Polizei hat keinen Scanner?« fragte Stern eben überrascht. »Ach, Sie sind nicht im Revier — aber warum gehen Sie nicht hin und benutzen den Polizeiscanner?«

Chris klopfte Stern auf die Schulter. Funkgerät, formte er mit den Lippen.

Stern nickte und hakte das Funkgerät von seinem Gürtel. »Ja, der Krankenhausscanner tut's auch. Vielleicht gibt es da ja jemanden, der Ihnen helfen kann. Wir brauchen zwölf-achtzig mal zehn-vier-undzwanzig, abgespeichert als JPEG-Datei. Dann schicken Sie uns das...«

Chris lief nach draußen und schaltete dabei die Funkkanäle durch. Von der Tür des Lagerhauses konnte er das gesamte Gelände überblicken. Er sah, daß Johnston und Kramer am Rand des Plateaus entlanggingen, von wo man zum Kloster hinuntersah. Sie hatte ihr Notizbuch aufgeschlagen und zeigte ihm etwas. Und dann fand er sie auf Kanal acht.

»- deutliche Beschleunigung der Forschungsarbeiten«, sagte sie eben. Und der Professor sagte: »Was?«

Johnston starrte die Frau, die vor ihm stand, über seine Drahtbrille hinweg an. »Das ist unmöglich«, sagte er.

Sie atmete tief ein. »Vielleicht habe ich es nicht gut erklärt. Sie machen doch schon einige Rekonstruktionen. Nun, Bob hätte gern, daß Sie diese Arbeiten zu einem vollständigen Wiederaufbauprogramm ausweiten.« »Ja. Und das ist unmöglich.« »Sagen Sie mir, warum?«

»Weil wir noch nicht genug wissen, darum«, erwiderte Johnston verärgert. »Schauen Sie: Rekonstruiert haben wir bis jetzt ausschließlich aus Sicherheitsgründen. Wir haben Mauern nur wiederaufgebaut, damit sie unseren Leuten nicht auf den Kopf fallen. Aber wir sind noch nicht soweit, um mit dem Wiederaufbau der gesamten Anlage zu beginnen.«

»Aber doch sicher einem Teil«, sagte sie. »Ich meine, sehen Sie sich das Kloster da drüben an. Die Kirche können Sie doch bestimmt wiederaufbauen, und den Kreuzgang daneben und das Refektorium und...«

»Was?« fragte Johnston. »Das Refektorium?« Das Refektorium war der Speisesaal, in dem die Mönche ihre Mhlzeiten einnahmen. Johnston deutete auf die Ausgrabungsstätte hinunter, wo niedere Mauern und kreuz und quer verlaufende Gräben ein verwirrendes Muster ergaben. »Wer sagt, daß das Refektorium neben dem Kreuzgang liegt?« »Nun, ich —«

»Sehen Sie, das ist genau der Punkt«, sagte Johnston. »Wir sind uns immer noch nicht sicher, wo genau das Refektorium liegt. Seit kurzem verdichten sich die Hinweise darauf, daß es neben dem Kreuzgang liegt, aber sicher sind wir nicht.«

Leicht irritiert erwiderte sie: »Professor, akademische Studien kann man ewig treiben, aber in der realen Welt der Ergebnisse —« »Oh, ich bin sehr für Ergebnisse«, sagte Johnston. »Aber Sinn und Zweck einer Grabung wie dieser ist es doch, daß wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Vor hundert Jahren baute ein Architekt namens Viollet-le-Duc in ganz Frankreich historische Monumente neu auf. Bei einigen ist ihm das gut gelungen. Aber wenn er nicht genügend Informationen hatte, dachte er sich einfach etwas aus. Diese Gebäude waren dann nichts als Produkte seiner Phantasie.« »Ich verstehe ja, daß Sie exakt sein wollen, aber -«

»Wenn ich gewußt hätte, daß ITC! ein Disneyland will, hätte ich nie zugestimmt.«

»Wir wollen kein Disneyland.«

»Wenn Sie jetzt mit dem Wiederaufbau beginnen, bekommen Sie genau das, Ms. Kramer. Ein Phantasieprodukt. Mittelalterland.«

»Nein«, sagte sie. »Ich kann Ihnen hundertprozentig versichern, daß wir kein Phantasieprodukt wollen. Wir wollen eine historisch exakte Rekonstruktion dieser Anlage.«

»Aber das geht nicht.«

»Wir glauben, daß es geht.«

»Wie?«

»Bei allem Respekt, Professor, ich glaube, Sie sind übervorsichtig. Zum Beispiel die Stadt Castelgard, unter der Burg. Die könnte man doch sicher wiederaufbauen.« »Ich schätze... Einen Teil davon, ja.«

»Und mehr verlangen wir ja nicht. Nur, daß Sie einen Teil wiederaufbauen.«

David Stern, der eben das Lagerhaus verließ, fand Chris vor der Tür mit dem Funkgerät am Ohr. »Lauschst du vielleicht, Chris?« »Pst, das ist wichtig.«

Stern zuckte die Achseln. Er betrachtete den Enthusiasmus der Doktoranden um ihn herum immer mit einer gewissen Distanz. Die anderen waren Historiker, er aber hatte eine Ausbildung als Physiker und neigte daher zu einer anderen Betrachtungsweise der Dinge. Er konnte einfach nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen, wenn wieder einmal eine mittelalterliche Feuerstelle oder auf einem Friedhof ein paar Knochen gefunden wurden. Diesen Job -Wartung und Bedienung der elektronischen Geräte, Durchführung verschiedener chemischer Analysen, Radiokarbondatierungen und so weiter - hatte er überhaupt nur angenommen, damit er in der Nähe seiner Freundin sein konnte, die einen Ferienkurs in Toulouse besuchte. Fasziniert hatte ihn allerdings die Idee der Quantendatierung, doch bis jetzt hatte das Gerät nicht funktioniert.

Aus dem Funkgerät kam Kramers Stimme: »Und wenn Sie einen Teil der Stadt wiederaufbauen, könnten Sie auch den Teil der äußeren Burgmauer wiederaufbauen, der an die Stadt grenzt. Diesen

Abschnitt hier.« Sie deutete zu einer niedrigen, zerklüfteten Mauer, die in Nord-Süd-Kichtung über das Gelände lief.

Der Professor sagte: »Na ja, ich nehme an, wir könnten ...«

»Und«, fuhr Krämer fort, »Sie könnten die Mauer nach Süden verlängern, dort drüben, wo sie im Wald verschwindet. Sie könnten den

Wald roden und den Turm wiederaufbauen.«

Stern und Chris sahen einander an.

»Wovon redet die denn?« fragte Stern. »Was für einen Turm?« »Bis jetzt hat noch kein Mensch den Wald inspiziert«, sagte Chris. »Wir wollten ihn am Ende des Sommers roden und im Herbst inspizieren lassen.«

Über Funk hörten sie den Professor sagen: »Ihr Vorschlag ist sehr interessant, Ms. Kramer. Lassen Sie ihn mich mit den anderen diskutieren, und dann treffen wir uns zum Mittagessen wieder.« Und dann sah Chris, wie auf der Wiese unter ihnen der Professor sich umdrehte, direkt zu ihnen hochsah und mit dem Finger auf den Wald deutete.

Sie verließen das Ruinenfeld, stiegen eine grüne Anhöhe hoch und betraten den Wald. Die Bäume waren schlank, standen aber dicht beieinander, und unter dem Blätterdach war es dunkel und kühl. Chris Hughes folgte der äußeren Burgmauer, die sich von einem hüfthohen Wall zu einer niederen Geröllspur verflachte und schließlich im Unterholz verschwand.

Von da an mußte er sich bücken und Farne und kleine Pflanzen mit den Händen beiseite schieben, um dem Verlauf der Mauer folgen zu können. Der Wald um sie herum wurde immer dichter. Es war sehr still hier. Als er Castelgard das erste Mal gesehen hatte, war noch fast das gesamte Gelände bewaldet gewesen, die wenigen noch stehenden Mauern waren von Moos und Flechten überwuchert und schienen aus der Erde herauszuwachsen wie organische Formen. Damals hatte die Anlage etwas Geheimnisvolles gehabt. Doch diese Aura war verflogen, als sie das Land rodeten und mit den Ausgrabungen begannen. Stern folgte ihm. Er kam nicht viel aus dem Labor und schien den Ausflug zu genießen. »Warum sind die Bäume so klein?« fragte er.

»Weil es ein junger Wald ist«, antwortete Chris. »Fast alle Wälder im Perigord sind weniger als hundert Jahre alt. Früher war das ganze Land hier gerodet, für Weinberge.« »Und?«

Chris zuckte die Achseln. »Eine Krankheit. Um die Jahrhundertwende zerstörte ein Schädling, die Reblaus, alle Weinstöcke. Und der Wald wuchs nach.« Und dann fugte er hinzu: »Der französische Weinbau wäre fast untergegangen. Gerettet wurde er nur, weil man reblausresistente Weinstöcke importierte, und zwar aus Kalifornien. Etwas, das die Franzosen gern vergessen.«

Während er redete, hob er den Blick nicht vom Erdboden. Anhand von Steinfragmenten, die hier und dort zutage traten, konnte er dem Verlauf der alten Mauer folgen.

Doch plötzlich war die Mauer verschwunden. Er hatte sie völlig aus den Augen verloren. Jetzt mußte er umkehren und ihre Spur wiederaufnehmen.

»Verdammt.«

»Was ist?« fragte Stern.

»Ich finde die Mauer nicht mehr. Sie verlief in dieser Richtung da«, er deutete mit der offenen Hand, »und jetzt ist sie verschwunden.«

Sie standen inmitten von besonders dichtem Unterholz, hohe Farne vermischt mit dornigen Ranken, die ihm die nackten Beine zerkratzten.

Stern trug eine lange Hose, er ging einfach weiter und sagte: »Ich weiß nicht, Chris, irgendwo hier muß sie doch sein...«

Chris wußte, daß er umkehren mußte. Er wollte eben zurückmarschieren, als er Stern schreien hörte.

Chris drehte sich um.

Stern war verschwunden. Einfach nicht mehr da.

Chris stand allein im Wald.

»David?«

Ein Stöhnen. »Ah... verdammt.« »Was ist passiert?«

»Ich hab mir das Knie angestoßen. Tut verdammt weh.«

Chris konnte ihn nirgendwo sehen. »Wo bist du?«

»In einem Loch«, sagte Stern. »Ich bin gefallen. Paß auf, wenn du in meine Richtung kommst. Eigentlich...« Ein Grunzen. Fluchen. »Alles okay. Ich kann stehen. Ich bin in Ordnung. Eigentlich - «!

»Was ist?«

»Wart mal!«

»Was ist denn los?«

»Wart einfach, okay?«

Chris sah Bewegung im Unterholz, die Farne schwankten, Stern bewegte sich offensichtlich nach links. Dann sagte er etwas. Seine Stimme klang merkwürdig. »Ah, Chris?« »Was ist?«

»Es ist ein Teil der Mauer. Gebogen.« »Was sagst du da?«

»Ich glaube, ich stehe am Fuß von etwas, das früher mal ein runder Turm war, Chris.«

»Im Ernst?« fragte Chris. Woher hatte Kramer das wissen können? »Schau im Computer nach«, sagte der Professor. »Prüf nach, ob wir irgendwelche Hubschrauberbilder haben - Infrarot oder Radar -, die einen Turm zeigen. Vielleicht ist er schon irgendwo aufgezeichnet, und wir haben ihn nur übersehen.«

»Am ehesten auf Infrarotaufnahmen vom späten Nachmittag«, sagte Stern. Er saß auf einem Stuhl und drückte sich einen Eisbeutel aufs Knie.

»Warum vom späten Nachmittag?«

»Weil dieser Kalkstein Wärme speichert. Das ist der Grund, warum es den Höhlenmenschen hier so gefallen hat. Sogar im Winter war es in einer Kalksteinhöhle hier im Perigord um fünf Grad wärmer als draußen.«

»Und am Nachmittag...«

»Speichert die Mauer die Wärme, während der Wald sich abkühlt. Und zeichnet sich deshalb auf Infrarot ab.« »Auch wenn sie verschüttet ist?« Stern zuckte die Achseln.

Chris setzte sich an den Computer und tippte auf die Tastatur. Ein leises Piepsen kam aus dem Computer. Und plötzlich wechselte das Bild.

»Ups. Wir sind in E-Mail.«

Chris klickte die Mailbox an. Es gab nur eine Nachricht, aber das Herunterladen dauerte ziemlich lange. »Was ist das?«

»Ich schätze, die Mail von diesem Wauneka«, erwiderte Stern. »Ich habe ihm gesagt, er soll eine Graphik in ziemlich hoher Auflösung schicken. Er hat sie wahrscheinlich nicht komprimiert.«

Dann tauchte das Bild auf dem Monitor auf: eine Ansammlung von Punkten in einem geometrischen Muster. Sie erkannten es sofort. Es war eindeutig das Kloster von Sainte-Mere. Ihre Anlage.

Detailgenauer als ihre eigenen Karten.

Johnston betrachtete die Graphik. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Es ist komisch«, sagte er schließlich, »daß Bellin und Kramer zufällig am selben Tag hier auftauchen.«

Die Doktoranden sahen einander an. »Was ist komisch daran?« fragte Chris.

»Bellin hat nicht mal gefragt, ob er sie kennenlernen kann. Und sonst will er Sponsoren doch immer kennenlernen.«

Chris zuckte die Achseln. »Er schien es sehr eilig zu haben.«

»Ja. Genau so hat es ausgesehen.« Er wandte sich an Stern. »Druck es auf jeden Fall aus«, sagte er. »Mal sehen, was unsere Architektin dazu zu sagen hat.«

Katherine Erickson — aschblond, blauäugig und sonnengebräunt — hing in fünfzehn Meter Höhe, das Gesicht nur Zentimeter von der beschädigten gotischen Decke der Kapelle von Castelgard entfernt. Sie hing rücklings in einem Haltegeschirr und machte sich seelenruhig Notizen über den Zustand der Konstruktion knapp über ihr. Erickson war der Neuling unter den Doktoranden, sie war erst wenige Monate zuvor zu dem Projekt gestoßen. Ursprünglich war sie nach Yale gegangen, um Architektur zu studieren, hatte aber bald gemerkt, daß ihr das Fach nicht zusagte, und war deshalb in die historische Fakultät gewechselt. Dort hatte Johnston sie entdeckt und sie zum Mitmachen überredet, so wie er alle anderen überredet hatte: »Warum legen Sie diese alten Bücher nicht beiseite und betreiben ein bißchen echte Geschichte. Geschichte zum Anfassen?«

Zum Anfassen war es ja — allerdings hier in luftiger Höhe. Wobei Kate das nichts ausmachte. Sie war in Colorado aufgewachsen und eine begeisterte Kletterin. Jeden Sonntag verbrachte sie in den Felshängen der Dordogne. Hier kletterte kaum jemand, was großartig war: Zu Hause in den USA mußte man an einer guten Wand Schlange stehen.

Mit ihrem Pickel schlug sie Mörtelproben von verschiedenen Stellen ab, die später einer spektroskopischen Analyse unterzogen wurden. Jedes Fragment steckte sie in einen der kleinen Plastikbehälter, die aussahen wie Filmdöschen und in einem Gurt steckten, den sie wie einen Patronengurt um Schulter und Brust trug.

Sie beschriftete eben die Döschen, als sie eine Stimme hörte: »Wie kommst du von da oben runter? Ich will dir was zeigen.« Sie schaute über die Schulter, sah unten am Boden Johnston. »Ganz einfach«, sagte sie. Kate löste die Leinen, glitt behende zu Boden und landete leichtfüßig. Sie schob sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Kate Erickson war kein hübsches Mädchen - wie ihre Mutter, am College eine Schönheitskönigin, ihr oft genug gesagt hatte -, aber sie hatte ein frisches, typisch amerikanisches Aussehen, das viele Männer attraktiv fanden.

»Ich glaube, du kletterst auf alles rauf«, sagte Johnston.

Sie löste sich aus ihrem Haltegeschirr. »Anders kommt man an diese Daten nicht ran.«

»Wenn du meinst.«

»Ernsthaft«, sagte sie. »Wenn du eine Architekturgeschichte dieser Kapelle willst, dann muß ich da hoch und Mörtelproben nehmen. Weil diese Decke nämlich viele Male neu aufgebaut wurde -entweder weil sie schlecht konstruiert war und immer wieder einstürzte, oder weil sie in Kriegen zerstört wurde, durch Belagerungsmaschinen.« »Bestimmt bei Belagerungen«, erwiderte Johnston. »Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte Kate. »Die Hauptgebäude der Burg - die große Halle, die inneren Gemächer — sind solide, aber einige der äußeren Mauern sind nicht gut konstruiert. Teilweise sieht es so aus, als wären Mauern nachträglich hinzugefügt worden, um Geheimgänge zu schaffen. Diese Burg hat einige. Es gibt sogar einen, der in die Küche führt. Wer diese Veränderungen gemacht hat, muß ziemlich paranoid gewesen sein. Und vielleicht wurden sie zu schnell ausgeführt.» Sie wischte sich die Hände an ihren Shorts ab. »Und, was willst du mir zeigen?«

Johnston gab ihr ein Blatt Papier. Es war ein Computerausdruck, eine Ansammlung von Punkten in einem geometrischen Muster. »Was ist das?« fragte sie.

»Sag's du mir.«

»Sieht aus wie Sainte-Mere.«

»Wirklich?«

»Ich würde sagen, ja. Aber das Komische ist...«

Sie verließ die Kapelle und sah hinunter zu der Klosterausgrabung, die etwa anderthalb Kilometer entfernt im Flachland lag.

»Hm ...«

»Was ist?«

»Auf dieser Skizze sind Sachen eingezeichnet, die wir überhaupt noch nicht entdeckt haben«, sagte sie. »Eine Apsiden-Kapelle neben der Kirche, ein zweiter Kreuzgang im nordöstlichen Quadranten und... das sieht aus wie ein Garten innerhalb der Klostermauer... woher stammt denn das überhaupt?«

Das Restaurant in Marqueyssac stand am Rand des Plateaus und bot einen Ausblick über das gesamte Tal der Dordogne. Als Kramer den Kopf hob, sah sie überrascht, daß der Professor mit Marek und Chris an ihren Tisch kam. Sie runzelte die Stirn. Eigentlich hatte sie erwartet, nur mit Johnston zu essen. Sie saß an einem Tisch für zwei. Alle setzten sich, nachdem Marek zwei Stühle von einem Nebentisch geholt hatte. Der Professor beugte sich vor und sah sie eindringlich an. »Ms. Kramer«, sagte er. »Woher wußten Sie, wo das Refektorium liegt?«

»Das Refektorium?« Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Stand das nicht in Ihrem Wochenbericht? Nein? Dann hat es Dr. Marek vielleicht erwähnt.« Sie musterte die ernsten Gesichter, die sie anstarrten. »Meine Herren, Klöster sind nicht gerade mein Spezialgebiet. Ich muß es irgendwo aufgeschnappt haben.« »Und der Turm im Wald?«

»Wahrscheinlich aus einem der Lagepläne. Oder den alten Fotos.« »Wir haben es nachgeprüft. Da ist er nirgendwo drauf.«

Der Professor schob ihr eine Skizze über den Tisch zu. »Und warum hat ein ITC-Angestellter namens Joseph Traub eine Zeichnung des

Klosters, die vollständiger ist als unsere?«

»Ich weiß es nicht... Woher haben Sie das?«

»Von einem Polizisten in Gallup, New Mexico, der dieselben Fragen stellt, die ich jetzt stelle.«

Sie sagte nichts. Starrte ihn nur an.

»Ms. Kramer«, sagte er schließlich. »Ich denke, Sie verschweigen uns etwas. Ich glaube, Sie haben hinter unserem Rücken eigene Analysen angestellt und sagen uns nicht, was Sie gefunden haben. Und ich glaube, der Grund dafür ist, daß Sie und Bellin in Verhandlungen über die Nutzung dieses ganzen Komplexes stehen für den Fall, daß ich mich als nicht kooperativ erweise. Und die französische Regierung wäre überglücklich, wenn sie endlich die Amerikaner von einer ihrer historischen Stätten verjagen könnte.«

»Nein, Professor, das stimmt absolut nicht. Ich kann Ihnen versichern —«

»Nein, Ms. Kramer, das können Sie nicht.« Er sah auf die Uhr. »Wann fliegt Ihre Maschine zurück?« »Um drei Uhr.«

»Ich kann sofort aufbrechen.« Er schob seinen Stuhl zurück. »Aber ich fliege nach New York.«

»Dann sollten Sie Ihre Pläne besser ändern und nach New Mexico fliegen.«

»Sie wollen doch sicher mit Mr. Doniger sprechen, und ich kenne seinen Terminplan nicht...«

»Ms. Kramer.« Er beugte sich über den Tisch. »Arrangieren Sie es.« Als der Professor aufbrach, sagte Marek: »Möge Gott in seiner Gnade Euch auf Eurer Reise behüten und Euch sicher zurück geleiten.« Das sagte er immer zu Freunden, die verreisten. Es war ein Lieblingsspruch des Grafen Geoffrey de la Tour gewesen - vor sechshundert Jahren.

Manche meinten, daß Mareks Begeisterung für die Vergangenheit schon an Besessenheit grenze. Tatsächlich aber war es für ihn etwas ganz Natürliches: Schon als Kind hatte er sich stark zum Mittelalter hingezogen gefühlt, und in vieler Hinsicht schien er jetzt in dieser Zeit zu leben. (In einem Restaurant hatte er einem Freund einmal gestanden, er lasse sich keinen Bart wachsen, weil es nicht der Mode der Zeit entspreche. Erstaunt hatte ihm der Freund entgegengehalten: »Natürlich ist es in Mode, schau dir doch bloß die ganzen Barte hier an.« Worauf Marek erwidert hatte: »Nein, nein, ich meine, es ist in meiner Zeit nicht in Mode.« Er meinte damit das dreizehnte und vierzehnte Jahrhundert.) Viele Mediävisten konnten die alten Sprachen lesen, aber Marek konnte sie tatsächlich sprechen: Mittelenglisch, Altfranzösisch, Pro-venzalisch und Latein. Er war ein Experte für Bekleidung und Sitten der damaligen Zeit. Und mit seiner Größe und seinem sportlichen Können hatte er es sich auch zum Ziel gesetzt, die Kriegskünste der Zeit zu erlernen. Schließlich war es, wie er sagte, eine Zeit immerwährenden Krieges gewesen. Die riesigen Percherons, die damals als Schlachtrosse verwendet wurden, konnte er bereits reiten. Auch mit der Lanze war er schon einigermaßen geschickt, nachdem er stundenlang mit einer drehbaren Turnierpuppe, der sogenannten quintaine, geübt hatte. Den Langbogen beherrschte Marek so gut, daß er inzwischen die anderen unterrichtete. Und jetzt lernte er, wie man mit dem Breitschwert kämpfte.

Aber Mareks detaillierte Kenntnis der Vergangenheit ließ ihn manchmal den Bezug zur Gegenwart verlieren, und so merkte er zunächst nicht, wie sehr sich die Stimmung im Camp verändert hatte. Nach der plötzlichen Abreise des Professors fühlten sich alle Teilnehmer des Projekts verloren und unbehaglich. Wilde Gerüchte machten die Runde, vor allein unter den Studenten: ITC stoppe die Finanzierung. ITC wolle aus dem Projekt ein Mittelalterland machen. ITC habe in der Wüste jemanden umgebracht und sei jetzt in Schwierigkeiten. Niemand arbeitete; die Leute standen einfach herum und unterhielten sich.

Marek beschloß schließlich, eine Versammlung einzuberufen, um die Gerüchte aus der Welt zu schaffen, und so rief er am frühen Nachmittag alle unter dem großen grünen Zelt neben dem Lagerhaus zusammen. Marek erklärte, zwischen dem Professor und ITC habe es Meinungsverschiedenheiten gegeben, und der Professor sei in die ITCZentrale geflogen, um sie aufzuklären. Alles sei nur ein Mißverständnis, das in wenigen Tagen bereinigt sei. Der Professor stehe in ständigem Kontakt mit dem Projekt, fuhr Marek fort, er habe versprochen, sie alle zwölf Stunden anzurufen, und er, Marek, erwarte, daß Johnston in Kürze zurückkommen und alles wieder seinen gewohnten Gang gehen werde.

Es half nichts. Das Gefühl tiefen Unbehagens blieb. Einige der Studenten meinten, der Nachmittag sei sowieso zu heiß zum Arbeiten und viel besser geeignet für eine Kajakfahrt auf dem Fluß. Marek, der endlich begriff, daß Appelle nichts nützten, ließ sie gehen. Einer nach dem anderen beschlossen auch die Doktoranden, den Rest des Tages freizunehmen. Kate tauchte mit mehreren Pfund klirrenden Metalls an ihrer Taille auf und verkündete, daß sie die Steilwand hinter Gageac ersteigen wolle. Sie fragte Chris, ob er mit ihr kommen wolle (um ihr die Seile zu halten - sie wußte, daß er nie klettern würde), aber er sagte, er fahre mit Marek zum Reitstall. Stern erklärte, er fahre nach Toulouse zum Abendessen. Rick Chang wollte nach Les Eyzies, um dort einen Kollegen bei einer paläolithischen Ausgrabung zu besuchen. Nur Elsie Kastner, die Graphologin, blieb in dem Lagerhaus und brütete geduldig über ihren Dokumenten. Marek fragte sie, ob sie mit ihm kommen wolle. »Mach dich doch nicht lächerlich«, sagte sie und arbeitete weiter.

Der Reitstall außerhalb von Souillac lag fünf Kilometer entfernt, und hier trainierte Marek zweimal pro Woche. In der entfernten Ecke einer wenig benutzten Wiese hatte er ein hölzernes T-Kreuz auf einem Drehständer aufgestellt. Am einen Ende der Querstange war ein wattiertes Quadrat befestigt, am anderen hing ein Ledersack, der aussah wie ein Punchingball.

Das war eine quintaine, eine Vorrichtung, die so alt war, daß Mönche sie schon vor tausend Jahren an die Ränder ihrer illuminierten Manuskripte gezeichnet hatten. Eine solche Zeichnung hatte Marek als Vorlage für seine Version genommen.

Die quintaine zu bauen war ziemlich einfach gewesen; viel schwieriger war es, eine anständige Lanze zu bekommen. Das war die Art von Problem, mit der Marek als experimenteller Historiker immer wieder zu kämpfen hatte. Oft mußte er feststellen, daß sogar die einfachsten und gebräuchlichsten Gegenstände der Vergangenheit in der modernen Welt nicht zu reproduzieren waren. Nicht einmal, wenn Geld kein Problem war, dank des ITC-Forschungsfonds.

Im Mittelalter bestanden Turnierlanzen aus gedrechselten Rundhölzern von über drei Metern Länge. Aber Rundhölzer dieser Länge waren kaum mehr zu finden. Nach langer Suche hatte Marek eine spezielle Holzbearbeitungsfirma in Norditalien entdeckt, nahe der österreichischen Grenze. Dort war man in der Lage, aus Fichtenholz Lanzen der von ihm geforderten Länge zu drechseln, doch man war auch sehr erstaunt gewesen, als er gleich zwanzig Stück bestellte. »Lanzen brechen«, sagte er. »Ich brauche viele davon.« Als Schutz gegen Splitter befestigte er ein Stück feines Drahtgitter am Gesichtsschutz eines Footballhelms. Wenn er beim Reiten diesen Helm trug, zog er beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich. Er sah aus wie ein durchgeknallter Imker.

Letztendlich jedoch war er den Versuchungen der modernen Technik erlegen und ließ sich seine Lanzen aus Aluminium herstellen, von einer Firma, die sonst Baseballschläger produzierte. Die Aluminiumlanzen waren besser ausbalanciert und fühlten sich für ihn authentischer an, auch wenn sie nicht der damaligen Zeit entsprachen. Und da jetzt Splitter kein Problem mehr waren, konnte er einen ganz normalen Reithelm tragen.

Genau so einen trug er jetzt.

Er stand an einem Ende der Wiese und winkte Chris, der am anderen neben der quintaine stand. »Chris? Bist du soweit?« Chris nickte und drehte das T-Kreuz so, daß es im rechten Winkel zu Mareks Reitrichtung stand. Er winkte. Marek senkte die Lanze und spornte sein Pferd an.

Das Training mit der quintaine war trügerisch einfach. Der Reiter galoppierte auf das T-Kreuz zu und versuchte, das gepolsterte Quadrat mit seiner Lanzenspitze zu treffen. Wenn er es schaffte, versetzte er das T-Kreuz in eine Drehbewegung, und er mußte sein Pferd noch einmal antreiben, um außer Reichweite zu sein, bevor der Ledersack herumschwang und ihn am Kopf traf. Früher, das wußte Marek, war der Sack so schwer gewesen, daß er einen jungen Reiter vom Pferd werfen konnte. Aber Marek hatte ihn nur so schwer gemacht, daß er ihm eine schmerzhafte Rüge erteilen konnte.

Beim ersten Mal traf er sein Ziel, war aber nicht schnell genug, um dem Sack zu entgehen, der ihn hart am linken Ohr traf. Er zü-gelte das Pferd und trabte zurück. »Warum probierst du es nicht mal, Chris?« »Vielleicht später«, sagte Chris und brachte das T-Kreuz für die nächste Runde in Stellung.

In letzter Zeit hatte Chris ein paarmal einen Ritt auf die quintaine versucht. Aber Marek vermutete, das war nur ein Nebeneffekt von Chris' plötzlichem Interesse an allem, was mit Reiten und Pferden zu tun hatte.

Marek wendete sein Tier, ließ es steigen und stürmte noch einmal vorwärts. Als er mit dem Lanzenreiten angefangen hatte, war es ihm absurd schwer vorgekommen, in vollem Galopp auf ein Quadrat von nur dreißig Zentimeter Kantenlänge zuzureiten. Inzwischen aber hatte er den Dreh heraus. Bei fünf Versuchen traf er viermal das Ziel. Das Pferd donnerte voran. Er senkte die Lanze. »Chris! Hallo!«

Chris drehte sich um und winkte einem vorbeireitenden Mädchen zu. In diesem Augenblick traf Mareks Lanze das Ziel, der Ledersack schwang herum und warf Chris zu Boden.

Benommen lag Chris da und hörte ein perlendes Mädchenlachen. Aber die junge Frau stieg schnell ab und half ihm auf die Beine. »Ach, Chris, tut mir leid, daß ich lache«, sagte sie mit ihrem eleganten britischen Akzent. »Es war auf jeden Fall meine Schuld. Ich hätte dich nicht ablenken dürfen.«

»Ich bin okay«, sagte er ein wenig eingeschnappt. Er wischte sich den Staub vom Kinn, und als er sich ihr zudrehte, gelang ihm sogar ein Lächeln.

Wie immer staunte er über ihre Schönheit, vor allem in Augenblicken wie diesem, wenn ihre blonden Haare von hinten von der Nachmittagssonne beleuchtet wurden, so daß ihr vollkommenes Gesicht zu leuchten schien und ihre veilchenblauen Augen noch intensiver strahlten. Sophie Rhys-Hampton war die schönste Frau, die er je getroffen hatte. Und die intelligenteste. Und die kultivierteste. Und die verführerischste.

»O Chris, Chris«, sagte sie und strich ihm mit ihren kühlen Fingerspitzen übers Gesicht. »Ich muß mich wirklich entschuldigen. Armer Junge. Geht's wieder?«

Sophie war Studentin am Cheltenham College und zwanzig Jahre alt, vier Jahre jünger als er. Ihr Vater, Hugh Hampton, war ein Londoner Anwalt; ihm gehörte das Anwesen, das vom Team für den Sommer angemietet worden war. Sophie verbrachte ihre Ferien mit Freunden in einem Landhaus in der Nähe. Eines Tages war sie vorbeigekommen, um aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters etwas zu holen. Chris hatte sie gesehen und war gegen einen Baum geknallt. Und das hat anscheinend unserer Beziehung die Richtung vorgegeben, dachte Chris ein wenig betrübt. Jetzt sah sie ihn an und sagte: »Ich bin geschmeichelt, daß ich eine solche Wirkung auf dich habe, Chris. Aber ich mache mir Sorgen um deine Sicherheit.« Sie kicherte und küßte ihn leicht auf die Wange. »Ich hab dich heute angerufen.«

»Ich weiß, aber ich war verhindert. Wir hatten eine Krise.« »Eine Krise? War es eine archäologische Krise?« »Ach, du weißt schon. Probleme mit dem Sponsor.« »Ach ja. Diese ITC-Truppe. Aus New Mexico.« Bei ihr klang es, als wäre es das Ende der Welt. »Weißt du was, die wollten meinem Vater den Hof abkaufen.«

»Wirklich?«

»Ja. Sie meinten, sie müßten ihn für so viele Jahre mieten, daß sie ihn am liebsten gleich kaufen würden. Natürlich hat er nein gesagt.« »Natürlich.« Er lächelte sie an. »Abendessen?«

»Ach, Chris, ich kann heute abend nicht. Aber wir können morgen zusammen reiten. Sollen wir?«

»Natürlich.«

»Vormittags? Um zehn?«

»Okay«, sagte er. »Dann bis morgen um zehn.«

»Ich halte dich nicht von deiner Arbeit ab?«

»Du weißt doch, daß du das tust.«

»Mir macht es nichts aus, wenn wir es auf einen anderen Tag verschieben.«

»Nein, nein«, sagte er. »Morgen vormittag um zehn.« »Abgemacht«, sagte sie mit einem betörenden Lächeln. In Wirklichkeit war Sophie Hampton fast zu schön, ihre Figur zu perfekt, ihr Wesen zu charmant, als daß das alles ganz echt sein konnte. Marek zum Beispiel mochte sie nicht. Aber Chris war verzaubert.

Nachdem sie davongeritten war, stürmte Marek noch einmal heran. Diesmal brachte Chris sich rechtzeitig vor dem schwingenden Sack in Sicherheit. Als Marek dann wieder bei ihm war, sagte er: »Man hält dich zum Narren, mein Freund.«

»Vielleicht«, erwiderte Chris. Im Grunde genommen aber war es ihm egal.

Am nächsten Tag war Marek auf dem Klostergelände, um Rick Chang bei der Freilegung der Katakomben zu helfen. Sie gruben nun schon seit Wochen und kamen nur langsam voran, weil sie immer wieder menschliche Überreste fanden. Und immer wenn sie auf Knochen stießen, legten sie die Schaufeln weg und griffen zu Kellen und Zahnbürsten.

Rick Chang war der biologische Anthropologe des Teams und folglich Spezialist für menschliche Überreste; er konnte sich ein erbsengroßes Stück Knochen ansehen und sagen, ob es vom linken oder rechten Handgelenk stammte, von einem Mann oder einer Frau, einem Kind oder einem Erwachsenen, ob es alt war oder zeitgenössisch. Aber die menschlichen Überreste, die sie hier fanden, waren verwirrend. Zum einen waren sie alle männlich, und einige der langen Knochen trugen Spuren von Kampfverletzungen. Mehrere Schädel zeigten Pfeilwunden. Tatsächlich waren im vierzehnten Jahrhundert die meisten Soldaten durch Pfeile gestorben. Aber es gab keine Quelle, die je von einer Schlacht bei dem Kloster berichtete. Zumindest keine, die sie kannten.

Sie hatten eben etwas gefunden, das aussah wie ein verrosteter Helm, als Mareks Handy klingelte. Es war der Professor. »Wie läuft's?« fragte Marek. »Bis jetzt gut.«

»Hast du mit Doniger gesprochen?« »Ja. Heute nachmittag.« »Und?«

»Ich weiß noch nicht.« »Bestehen sie noch immer auf dem Wiederaufbau?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Es ist hier alles ein bißchen anders, als ich es mir vorgestellt habe.« Der Professor klang unbestimmt, zerstreut.

»Inwiefern?«

»Darüber kann ich am Telefon nicht reden«, sagte der Professor. »Ich wollte euch nur eins sagen: In den nächsten zwölf Stunden braucht ihr von mir keinen Anruf zu erwarten. Vielleicht auch nicht in vierundzwanzig.«

»Aha. Okay. Alles in Ordnung?«

»Alles bestens, Andre.«

Marek war nicht ganz überzeugt. »Brauchst du ein Aspirin?« Das war einer ihrer Codesätze, eine Art zu fragen, ob etwas nicht stimmte, falls der andere nicht frei sprechen konnte. »Nein, nein, überhaupt nicht.« »Du klingst ein bißchen abwesend.«

»Überrascht, würde ich sagen. Aber alles ist okay. Zumindest glaube ich, daß alles okay ist.« Er hielt inne und fragte dann: »Und wie läuft's bei dir? Woran arbeitest du gerade?«

»Ich bin jetzt mit Rick beim Kloster. Wir graben in den Katakomben im vierten Quadranten. Ich schätze, daß wir heute abend oder spätestens morgen unten sind.«

»Großartig. Weiter so, Andre. Ich melde mich in ein oder zwei Tagen wieder.«

Damit legte er auf.

Marek hängte sich das Telefon wieder an den Gürtel und runzelte die Stirn. Was hatte das alles zu bedeuten?

Der Hubschrauber donnerte über sie hinweg, unter seinem Rumpf waren die Sensorenkästen zu erkennen. Stern hatte ihn noch einen Tag länger behalten, um noch einen Morgen- und einen Nachmittagsflug durchführen zu können; er wollte nachprüfen, wieviel von den Gebäudeteilen, die Kramer erwähnt hatte, mit den Instrumenten zu erkennen war.

Marek war neugierig, wie es wohl lief, aber um mit ihm zu reden, brauchte er ein Funkgerät. Und das nächste war im Lagerhaus.

»Elsie«, sagte Marek, als er das Lagerhaus betrat. »Wo ist das Funkgerät, mit dem ich David anrufen kann?«

Natürlich antwortete Elsie Kastner ihm nicht. Sie starrte einfach weiter auf die Dokumente, die sie vor sich ausgebreitet hatte. Elsie war eine hübsche, kräftige Frau, die sich unglaublich konzentrieren konnte. Stundenlang saß sie in diesem Lagerhaus und entzifferte die Handschrift auf Pergamenten. Für ihre Arbeit mußte sie nicht nur die sechs wichtigsten Sprachen des mittelalterlichen Europa beherrschen, sondern auch lang vergessene lokale Dialekte, Umgangssprache und Abkürzungen. Marek schätzte sich glücklich, sie zu haben, auch wenn sie sich vom Rest des Teams absonderte. Und manchmal etwas komisch sein konnte. »Elsie?« wiederholte er.

Plötzlich hob sie den Kopf. »Was? Oh, tut mir leid, Andre. Ich bin, äh, ich meine, ein wenig...» Sie deutete auf das Pergament vor ihr. »Das ist eine Rechnung des Klosters an einen deutschen Grafen. Für die Beherbergung seines persönlichen Gefolges: neunund-zwanzig Leute und fünfunddreißig Pferde. Eine solche Truppe hatte dieser Graf dabei, wenn er über Land ritt. Aber es ist verfaßt in einer Mischung aus Latein und Provenzalisch, und die Handschrift ist unmöglich.« Elsie nahm das Pergament und ging damit zum Fotoständer in der Ecke. Auf ein vierbeiniges Stativ war eine Kamera montiert, umringt von vier auf den Objektträger gerichteten Blitzlampen. Sie breitete das Pergament auf dem Objektträger aus, legte am unteren Rand eine Strichcode-Identifikation und ein zweifarbig markiertes FünfZentimeter-Lineal zur Größenangabe dazu und schoß das Foto. »Elsie? Wo ist das Funkgerät, mit dem ich David anrufen kann?« »Oh, Entschuldigung. Da drüben auf dem Tisch. Das mit dem Klebestreifen, auf dem DS steht.«

Marek nahm das Gerät und drückte die Sprechtaste. »David? Andre hier.«

»Hi, Andre.« Durch den Lärm des Hubschraubers konnte Marek ihn kaum verstehen.

»Was hast du gefunden?«

»Null. Rien. Absolut nichts«, sagte Stern. »Wir haben das Kloster überprüft, und wir haben den Wald überprüft. Nichts von dem, was

Krämer erwähnt hat, ist zu sehen. Nicht auf SLS und auch nicht auf Radar, Infrarot oder UV. Ich habe keine Ahnung, wie sie diese Entdeckungen gemacht haben.«

Sie stürmten in gestrecktem Galopp über einen grasbewachsenen Kamm oberhalb des Flusses. Zumindest Sophie galoppierte; Chris wurde im Sattel auf und ab geworfen und hatte alle Hände voll zu tun, um nicht herunterzufallen. Normalerweise galoppierte sie bei ihren gemeinsamen Ausritten nie, aus Rücksicht auf seine geringeren Fähigkeiten, doch heute kreischte sie vor Vergnügen, während sie ihrem Pferd die Sporen gab.

Chris bemühte sich, mit ihr mitzuhalten, doch er hoffte inständig, daß sie bald anhalten möge, und schließlich tat sie es auch. Sie zügelte ihren schnaubenden, schwitzenden schwarzen Hengst, klopfte ihm auf den Hals und wartete, bis Chris sie eingeholt hatte. »War das nicht aufregend?« fragte sie.

»Das war es«, erwiderte er atemlos. »Das war es auf jeden Fall.« »Also, ich muß sagen, Chris, das war schon sehr gut. Deine Sitzhaltung ist viel besser geworden.«

Er konnte nur nicken. Sein Sitzfleisch tat ihm nach dem Geholper weh, und seine Schenkel schmerzten vom heftigen Zusammenpressen. »Es ist wunderschön hier«, sagte sie und deutete zum Fluß und zu den dunklen Burgen auf den fernen Anhöhen. »Ist es nicht großartig?« Und dann sah sie auf die Uhr, was ihn ärgerte. Der Rückweg im Schritt erwies sich dennoch als überraschend angenehm. Sie ritt sehr dicht neben ihm, ihre Pferde berührten sich fast, und sie beugte sich zu ihm, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern; einmal legte sie ihm sogar den Arm um die Schulter und küßte ihn auf den Mund, aber dann wandte sie schnell den Blick ab, als hätte diese Kühnheit sie verlegen gemacht. Von hier aus konnten sie das gesamte Ausgrabungsgelände überblicken: die Ruinen von Castelgard, das Kloster und in der Ferne La Roque auf seinem Hügel. Wolken zogen über den Himmel und trieben Schatten über die Landschaft. Die Luft war warm und mild, und es war still bis auf das entfernte Röhren eines Autos.

»Ach, Chris«, sagte sie und küßte ihn noch einmal. Als sie sich wieder voneinander lösten, drehte sie sich um, schaute in die Ferne und winkte plötzlich.

Ein gelbes Cabrio kam über die kurvige Straße auf sie zu. Es war eine Art Rennwagen, sehr flach, mit knurrendem Motor. In einiger Entfernung blieb es stehen, der Fahrer erhob sich und setzte sich auf die Rückenlehne. »Nigel!« rief sie fröhlich.

Der Mann im Auto winkte träge zurück, seine Hand beschrieb einen langsamen Bogen.

»Ach, Chris, bist du so lieb?« Sophie gab Chris die Zügel ihres Pferds, sprang ab und rannte den Hügel hinunter zu dem Auto, wo sie den Fahrer umarmte. Die beiden stiegen ein. Als sie davonfuhren, drehte sie sich noch einmal um und warf Chris eine Kußhand zu.

Die restaurierte mittelalterliche Stadt Sarlat war abends besonders bezaubernd, wenn Gaslaternen die dichtstehenden Häuser und die schmalen Gassen sanft erleuchteten. Marek und die Doktoranden saßen in einem Straßenrestaurant an der Rue Tourny unter weißen Schirmen und begrüßten mit dem dunkelroten Wein von Cahors die Nacht. Normalerweise genoß Chris diese Abende, doch heute paßte ihm einfach nichts. Der Abend war zu warm, sein Metallstuhl unbequem. Er hatte sein Lieblingsgericht bestellt, pintade aux cepes, aber das Perlhuhn war trocken gewesen und die Steinpilze geschmacklos. Sogar die Unterhaltung nervte ihn: Normalerweise redeten die Doktoranden über die Arbeit des Tages, aber an diesem Tag hatte ihre junge Architektin, Kate Erickson, einige Freunde aus New York getroffen, zwei amerikanische Paare Ende Zwanzig -Börsenmakler mit ihren Freundinnen. Chris fand sie von Anfang an unsympathisch. Die Männer standen dauernd vom Tisch auf, um mit ihren Handys zu telefonieren. Die Frauen waren beide Managerinnen in derselben PR-Firma; sie hatten gerade eine sehr große Party für Martha Stewarts neues Buch organisiert. Das wichtigtuerische Gehabe dieser Gruppe ging Chris ziemlich schnell auf die Nerven; und wie viele erfolgreiche Geschäftsleute neigten sie dazu, Akademiker zu behandeln, als wären sie leicht zurückgeblieben, unfähig, in der wirklichen Welt zu funktionieren und die wirklich wichtigen Spiele zu spielen. Oder vielleicht, dachte er, fanden sie es einfach unverständlich, daß jemand einen Beruf wählte, der ihn nicht bereits mit vierundzwanzig zum Millionär machte.

Andererseits mußte er zugeben, daß sie durchaus freundlich waren; sie tranken viel Wein und stellten eine Menge Fragen über das Projekt. Leider waren es die üblichen Fragen, die auch Touristen immer stellen: Was, ist so besonders an diesem Ort? Woher wissen Sie, wo Sie graben müssen? Woher wissen Sie, nach was Sie suchen müssen? Wie tief graben Sie, und woher wissen Sie, wo Sie aufhören müssen? »Warum arbeitet ihr gerade hier? Was ist eigentlich so besonders an diesem Ort?« fragte eine der Frauen eben.

»Der Ort ist sehr typisch für die Zeit«, antwortete Kate, »mit den beiden gegenüberliegenden Burgen. Was die Anlage aber zu einem echten Fundstück macht, ist die Tatsache, daß sie von der Forschung vernachlässigt war, daß hier noch nie Ausgrabungen stattgefunden haben.«

»Und das ist gut? Daß sie vernachlässigt war?« Die Frau runzelte die Stirn; sie kam aus einer Welt, in der Vernachlässigung schlecht war. »Sogar äußerst erstrebenswert«, sagte Marek. »Bei unserer Arbeit ergeben sich Gelegenheiten nur, wenn die Welt einen Ort links liegenläßt. Wie Sarlat zum Beispiel. Dieses Städtchen.« »Es ist sehr nett hier«, sagte eine der Frauen. Die Männer verließen den Tisch, um zu telefonieren.

»Aber das Wesentliche ist etwas anderes«, sagte Kate. »Es ist nämlich ein Zufall, daß diese Stadt überhaupt existiert. Ursprünglich war Sarlat eine Siedlung, die um ein Kloster herum entstanden ist, das Reliquien beherbergte; nach einer Weile wurde die Stadt so groß, daß das Kloster auszog, um sich woanders Ruhe und Frieden zu suchen. Sarlat existierte weiter als wohlhabendes Marktzentrum für die Dordogne-Region. Aber im Lauf der Jahre schwand die Bedeutung der Stadt, und im zwanzigsten Jahrhundert verlor man Sarlat aus den Augen. Der Ort war so unbedeutend und arm, daß er kein Geld hatte, um die alten Stadtteile zu sanieren. Die alten Gebäude blieben einfach stehen, so wie sie waren, ohne moderne Installationen und Elektrizität. Viele davon waren verlassen.«

Kate erklärte weiter, daß in den fünfziger Jahren die Stadtverwaltung schließlich beschlossen habe, die alten Viertel abzureißen und neue Häuser zu errichten. »Andre Malraux hat das verhindert. Er überzeugte die französische Regierung, Geld für eine Restau-rierung zur Verfügung zu stellen. Die Leute hielten ihn für verrückt. Aber heute ist Sarlat die am exaktesten restaurierte mittelalterliche Stadt Frankreichs, und eine der größten Touristenattraktionen des Landes.«

»Es ist hübsch«, erwiderte die Frau unbestimmt. Plötzlich kehrten die beiden Männer gemeinsam wieder an den Tisch zurück, setzten sich und steckten ihre Handys in die Tasche. Ihrer Miene nach zu urteilen, waren sie mit dem Telefonieren fertig. »Was ist passiert?« fragte Kate.

»Die Märkte sind geschlossen«, erklärte einer. »So. Was habt ihr über

Castelgard gesagt? Was ist so besonders daran?«

Marek übernahm das Antworten: »Wir haben eben davon gesprochen, daß dort noch nie gegraben wurde. Für uns ist es aber auch wichtig, weil Castelgard eine typische befestigte Stadt des vierzehnten

Jahrhunderts ist. Der Ort selbst ist älter, aber zwischen dreizehnhundert und vierzehnhundert wurden die meisten Gebäude errichtet oder umgebaut, damit sie besseren Schutz boten: dickere Mauern, konzentrische Mauern, kompliziertere Gräben und Tore.«

»Und wann ist das noch mal? Im finsteren Mittelalter?« fragte einer der Männer und goß sich Wein ein.

»Nun ja«, sagte Marek. »Genau gesagt, das Hochmittelalter.« »Nicht so hoch, wie mein Alkoholpegel bald sein wird«, sagte der Mann. »Und was kommt dann davor? Das Tiefmittelalter.« »Genau«, erwiderte Marek mit einem ironischen Grinsen. »Mann«, sagte der andere, »Volltreffer.«

Seit etwa vierzig vor Christus wurde Europa von Rom beherrscht. Die Region Frankreichs, in der sie sich jetzt befanden, Aquitaine, war ursprünglich die römische Kolonie Aquitania. Überall in Europa bauten die Römer Straßen, überwachten den Handel und hielten Recht und Ordnung aufrecht. Europa florierte.

Doch um vierhundert nach Christus begann Rom, seine Soldaten zurückzuziehen und seine Garnisonen zu verlassen. Nach dem Zusammenbrach des Imperiums verfiel Europa fünfhundert Jahre lang in Gesetzlosigkeit. Die Bevölkerungszahl sank, der Handel ging zurück, Städte schrumpften. Das offene Land wurde von Bar-barenhorden heimgesucht: von Goten und Vandalen, Hunnen und Wikingern. Diese finstere Zeit nannte man natürlich nicht Tiefmittelalter - hier hatte Marek seinen Gesprächspartner auflaufen lassen -, sondern das frühe Mittelalter.

»Aber um das letzte Millennium — ich meine tausend nach Christus — wurde es langsam wieder besser«, fuhr Marek fort. »Eine neue Organisationsform bildete sich heraus, die wir Feudalismus nennen -ein Wort, das allerdings von den Leuten damals nicht benutzt wurde.« Im Feudalismus sorgten mächtige Regionalherrscher für Ordnung in ihren Regionen. Das neue System funktionierte. Die Landwirtschaft verbesserte sich. Handel und Städte florierten. Um zwölfhundert nach Christus war Europa wieder erblüht, mit einer größeren Bevölkerung als während des römischen Imperiums. »Deshalb betrachtet man das Jahr 1200 als den Beginn des Hochmittelalters — einer Zeit des Wachstums und der kulturellen Blüte.«

Die Amerikaner waren skeptisch. »Wenn alles so toll war, warum wurden dann immer mehr Verteidigungsanlagen errichtet?« »Wegen des Hundertjährigen Kriegs«, sagte Marek, »der zwischen England und Frankreich ausgefochten wurde.« »Was war das, ein Religionskrieg?«

»Nein«, erwiderte Marek. »Die Religion hatte damit nichts zu tun. Zu der Zeit waren alle katholisch.«

»Wirklich? Was war mit den Protestanten?«

»Es gab keine Protestanten.«

»Wo waren die?«

»Die hatten sich noch nicht erfunden«, sagte Marek.

»Wirklich? Um was ging's dann in dem Krieg?«

»Um Landeshoheit«, sagte Marek. »Es ging darum, daß ein großer Teil Frankreichs in englischem Besitz war.«

Einer der Männer runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Daß Frankreich zu England gehörte?« Marek seufzte.

Er hatte einen Schimpfnamen für Leute wie diese: Zeitprovinzler -Leute, die von der Vergangenheit keine Ahnung hatten und auch noch stolz darauf waren.

Zeitprovinzler waren davon überzeugt, daß nur die Gegenwart Bedeutung hatte und daß man alles, was früher passiert war, einfach ignorieren konnte. Die moderne Welt war faszinierend und neu, und die Vergangenheit hatte keinen Einfluß darauf. Sich mit Geschichte zu beschäftigen war so sinnlos, wie das Morsealphabet oder das Kutschenfahren zu lernen. Und das Mittelalter — all diese Ritter in klirrenden Rüstungen und Damen in wallenden Gewändern und spitzen Hüten — war so offensichtlich irrelevant, daß man keinen Gedanken daran zu verschwenden brauchte.

In Wahrheit aber war die moderne Welt im Mittelalter erfunden worden. Alles - vom Rechtssystem über die Nationalstaaten und das Vertrauen in die Technik bis hin zur Idee der romantischen Liebe — hatte seinen Ausgangspunkt im Mittelalter. Diese Börsenmakler verdankten sogar das Konzept der Marktwirtschaft dem Mittelalter. Und wenn sie das nicht wußten, kannten sie nicht einmal die grundlegenden Tatsachen ihres Seins. Warum sie taten, was sie taten. Woher sie kamen.

Wie Professor Johnston oft sagte: Wer über die Geschichte nichts weiß, der weiß überhaupt nichts. Der ist ein Blatt, das nicht weiß, daß es Teil eines Baums ist.

Die Börsenmakler machten stur weiter, so wie Leute es oft tun, wenn sie mit ihrer eigenen Unwissenheit konfrontiert werden. »Wirklich: England gehörte ein Teil Frankreichs? Das ist doch Blödsinn. Engländer und Franzosen haben einander immer gehaßt.« »Nicht immer«, sagte Marek. »Das war vor sechshundert Jahren. Es war eine völlig andere Welt. Engländer und Franzosen standen sich damals viel näher. Seit Soldaten aus der Normandie im Jahr 1066 England eroberten, war fast der gesamte englische Adel französisch. Man sprach französisch, aß französisch, folgte der französischen Mode. Es war nicht überraschend, daß diese Adligen französisches Territorium besaßen. Hier im Süden hatten sie mehr als ein Jahrhundert lang über Aquitanien geherrscht.«

»Und? Worum ging's in dem Krieg? Wollten die Franzosen plötzlich alles für sich selbst?« »Mehr oder weniger, ja.«

»Paßt«, sagte der Mann mit einem wissenden Grinsen.

Marek dozierte weiter. Chris vertrieb sich die Zeit, indem er versuchte, mit Kate Blickkontakt herzustellen. Das Kerzenlicht machte ihre Gesichtszüge, die im Sonnenlicht hart, ja beinahe verbissen aussahen, weicher. Er fand sie unerwartet attraktiv.

Aber sie erwiderte seinen Blick nicht. Ihre Aufmerksamkeit war ausschließlich auf ihre Maklerfreunde gerichtet. Typisch, dachte Chris. Egal, was die Typen plapperten, Frauen fühlten sich nur zu Männern mit Macht und Geld hingezogen. Auch wenn es solche bornierten Dünnbrettbohrer waren wie diese beiden.

Als schließlich einer der Männer anfing, mit seiner Uhr zu spielen und sie um sein Handgelenk wirbelte, hielt Chris es nicht länger aus. Abrupt stand er auf, murmelte eine Entschuldigung und daß er seine Analysen noch einmal überprüfen müsse und ging dann die Rue Tourny hinunter zum Parkplatz am Rand des alten Viertels.

Unterwegs kam es ihm vor, als würde er in dem Sträßchen nur Liebende sehen, Paare, die Arm in Arm gingen, die Frau den Kopf auf der Schulter des Mannes. Sie fühlten sich wohl miteinander, ohne reden zu müssen, genossen einfach die romantische Umgebung. Jedes Paar, das ihm begegnete, machte ihn mürrischer und ließ ihn schneller gehen. Er war erleichtert, als er endlich beim Auto war und heimfahren konnte. Nigel!

Was für ein Idiot hatte einen Namen wie Nigel?

Am nächsten Morgen hing Kate wieder in der Kapelle von Ca-stelgard.als ihr Funkgerät knisterte und sie den Schrei hörte: »Heiße Tamales! Heiße Tamales. Planquadrat vier. Mittagessen ist fertig. Kommt und holt es euch.«

Das war der Signalruf des Teams, wenn jemand eine neue Entdeckung gemacht hatte. Für alle wichtigen Mitteilungen benutzten sie Codewörter, weil sie wußten, daß die örtlichen Behörden manchmal ihren Funkverkehr abhörten. Bei anderen Ausgrabungen hatte die Regierung gelegentlich Agenten geschickt, die alle Funde sofort nach der Entdeckung konfiszierten, bevor die Forscher Gelegenheit hatten, sie zu dokumentieren und zu bewerten. Obwohl die französische Regierung ein durchaus verständiges und aufgeklärtes Verhältnis zu historischen Kulturgütern hatte — in vieler Hinsicht ein besseres als die Amerikaner -, waren die einzelnen Inspektoren vor Ort oft berüchtigt für ihre Ignoranz. Und natürlich begegnete man häufig auch dem Vorurteil, daß Fremde sich die ruhmreiche Geschichte Frankreichs unter den Nagel rissen.

Planquadrat vier, das wußte sie, lag drüben beim Kloster. Sie überlegte, ob sie in der Kapelle bleiben oder den weiten Weg bis dort hinüber machen sollte, und beschloß schließlich zu gehen. In Wahrheit war ein Großteil ihrer täglichen Arbeit langweilig und ereignislos. Und sie alle brauchten das Wiederanfachen der Begeisterung, das eine neue Entdeckung mit sich brachte.

Sie ging durch die Ruinen von Castelgard. Wie kaum ein anderer konnte Kate die Stadt im Geiste wiederaufbauen und sie so sehen, wie sie einmal war. Ihr gefiel Castelgard, es war eine zweckorientierte Stadt, entworfen und gebaut in Zeiten des Krieges. Sie besaß all die unkomplizierte Authentizität, die Kate im Architek-turstudimn so vennißt hatte.

Sie spürte die Sonne heiß auf Hals und Beinen und dachte zum hundertsten Mal, wie froh sie doch war, hier in Frankreich zu sein und nicht in New Haven an ihrem engen kleinen Arbeitsplatz im sechsten Stock des Arts and Architecture Building mit seinen großen Panoramafenstern und dem Ausblick auf das pseudokoloniale Davenport College und das pseudogotische Payne Whitney Gym. Kate hatte das Architekturstudium deprimierend gefunden und das A & A Building sehr deprimierend, und ihren Wechsel zur Geschichte hatte sie nie bereut.

Jedenfalls war gegen einen Sommer in Frankreich nichts einzuwenden. Es gefiel ihr sehr gut in diesem Team hier an der Dordogne. Bis jetzt war es eine angenehme Zeit gewesen.

Natürlich hatte sie einige Männer abwehren müssen. Anfangs hatte es Marek versucht, dann Rick Chang, und jetzt würde sie sich auch noch mit Chris Hughes herumschlagen müssen. Chris litt stark unter der Zurückweisung durch das britische Mädchen — anscheinend war er der einzige im ganzen Perigord gewesen, der es nicht hatte kommen sehen —, und jetzt führte er sich auf wie ein verletztes Hündchen. Gestern abend während des Essens hatte er sie die ganze Zeit angestarrt. Männer schienen einfach nicht zu begreifen, daß Anmache aus einer Enttäuschung heraus für das neue Gegenüber etwas Beleidigendes hatte. Gedankenverloren ging sie zum Fluß, wo das kleine Boot vertäut lag, das vom Team zur Überfahrt benutzt wurde. Und dort wartete, mit einem Lächeln im Gesicht, Chris Hughes. »Ich rudere«, sagte er, als sie ins Boot stiegen. Sie ließ ihn. Mit langsamen Zügen setzte er das Boot in Bewegung. Sie sagte nichts, schloß nur die Augen und drehte das Gesicht der Sonne entgegen. Es war warm und entspannend. »Ein schöner Tag«, hörte sie ihn sagen. »Ja, schön.«

»Weißt du, Kate«, begann er, »das Abendessen gestern hat mir wirklich gefallen. Ich habe mir gedacht, vielleicht -«

»Das ist sehr schmeichelhaft, Chris«, erwiderte sie. »Aber ich muß ehrlich mit dir sein.«

»Wirklich? Inwiefern?«

»Ich habe gerade erst mit jemandem Schluß gemacht.« »Oh. Aha...«

»Und ich will jetzt eine Weile allein bleiben.«

»Oh«, sagte er. »Sicher. Ich verstehe. Aber vielleicht könnten wir trotzdem ... «

Sie schenkte ihm ihr nettestes Lächeln. »Ich glaube nicht.«

»Oh. Okay.« Sie sah, daß sein Gesicht sich zu einem Schmollen verzog.

Doch dann sagte er: »Weißt du, du hast recht. Ich glaube wirklich, es ist das beste, wenn wir einfach nur Kollegen bleiben.«

»Kollegen«, sagte Kate, und sie schüttelten sich die Hände.

Mit einem Knirschen landete das Boot am anderen Ufer.

Beim Kloster standen eine Menge Leute am Rand von Planquadrat vier und schauten hinunter in die Grube.

Es war ein exakt quadratisches Loch von sieben Metern Kantenlänge und drei Metern Tiefe. An der Nord- und der Ostseite hatten die Ausgräber die Schmalseiten von Steinbögen freigelegt, was daraufhindeutete, daß die Grabung die Katakomben unterhalb des Klosters erreicht hatte. Die Bögen waren angefüllt mit dichtgepackter Erde. In der Woche zuvor hatten sie einen Graben durch den nördlichen Bogen ausgehoben, aber der schien nirgendwohin zu fuhren. Er war mit Brettern vernagelt und wurde nicht weiter beachtet. Jetzt richtete sich die ganze Aufmerksamkeit auf den östlichen Bogen, wo sie in den letzten Tagen einen weiteren Graben ausgehoben hatten. Die Arbeit war nur langsam vorangekommen, weil sie immer wieder menschliche Überreste fanden, die Rick Chang als die Leichen von Soldaten identifizierte.

Als Kate nach unten schaute, sah sie, daß die Wände des Grabens auf beiden Seiten eingestürzt waren, die Erde war nach innen gerieselt und hatte den Graben selbst wieder aufgefüllt. Jetzt lag ein riesiger Haufen Erde da, der ein Weiterkommen unmöglich machte, und der Einsturz hatte bräunliche Schädel und lange Knochen — Unmengen davon -freigelegt.

Sie sah Rick Chang unten in der Grube, und Marek und Elsie, die ihre Klause verlassen hatte, um hierherzukommen. Elsie hatte ihre Kamera auf ein Stativ montiert und schoß Fotos. Diese wür-den später im Computer zu 360-Grad-Panoramaansichten montiert werden. Fotografiert wurde in Stundenintervallen, um jede Phase der Ausgrabung zu dokumentieren.

Marek hob den Kopf und sah Kate am Rand stehen. »He«, sagte er. »Dich habe ich schon gesucht. Komm runter.«

Sie kletterte die Leiter hinunter. In der heißen Nachmittagssonne roch sie Erde und einen schwachen Fäulnisgestank. Einer der Schädel löste sich aus der Erde und rollte ihr vor die Füße. Aber sie berührte ihn nicht; sie wußte, daß alle Überreste genauso bleiben mußten, wie sie waren, bis Chang sie entfernte.

»Das sind vielleicht die Katakomben«, sagte Kate, »aber diese Knochen wurden hier nicht gelagert. Gab es hier je eine Schlacht?« Marek zuckte die Achseln. »Hier gab es überall Schlachten. Was mich mehr interessiert, ist das da.« Er deutete auf den Bogen, der ohne jede Verzierung war, gerundet und leicht abgeflacht.

Kate sagte: »Zisterziensisch, könnte sogar aus dem zwölften Jahrhundert stammen...«

»Okay, gut. Aber was ist damit?« Direkt unter der Wölbung des Bogens hatte der Einsturz des Grabens eine schwarze Öffnung von etwa einem Meter Durchmesser hinterlassen. »Was denkst du?« fragte sie.

»Ich denke, daß wir da rein sollten. Und zwar gleich.« »Warum?« fragte sie. »Was soll die Eile?«

Chang antwortete: »Es sieht aus, als wäre hinter der Öffnung ein Hohlraum. Eine Kammer, vielleicht mehrere Kammern.«

»Und?«

»Jetzt kommt Luft da hinein. Zum ersten Mal seit vielleicht sechshundert Jahren.«

»Und Luft hat Sauerstoff«, ergänzte Marek. »Glaubt ihr, daß da Artefakte drin sind?«

»Ich weiß nicht, was drin ist«, sagte Marek. »Aber schon wenige Stunden könnten beträchtliche Zerstörungen verursachen.« Er wandte sich an Chang. »Haben wir eine Schlange?«

»Nein, die ist in Toulouse, bei der Reparatur.« Die Schlange war ein Fiberoptikkabel, das mit einer Kamera verbunden werden konnte. Man benutzte sie, um ansonsten nicht zugängliche Hohlräume zu untersuchen.

Kate sagte: »Warum pumpt ihr nicht einfach Stickstoff hinein?« Stickstoff war ein träges Gas und schwerer als Luft. Wenn man es durch die Öffnung pumpte, würde es die dahinterliegenden Kammern anfüllen wie Wasser. Und etwaige Artefakte vor der Korrosion durch den Sauerstoff schützen.

»Ich würde ja«, sagte Marek, »wenn ich genug Gas hätte. Der größte Zylinder, den wir haben, faßt nur fünfzig Liter.« Das war nicht genug.

Kate deutete auf die Schädel. »Ich weiß, aber wenn du jetzt irgendwas machst, zerstörst du -«

»Wegen der Skelette würde ich mir keine Gedanken machen«, sagte Chang. »Die wurden bereits bewegt. Und es sieht so aus, als wären sie nach einer Schlacht in einem Massengrab beigesetzt worden. Allzu viel können wir von denen nicht mehr erfahren.« Er drehte sich um und schaute nach oben. »Chris, wer hat die Reflektoren?« Von oben rief Chris herunter: »Ich nicht. Ich glaube, die wurden das letzte Mal hier benutzt.«

Einer der Studenten sagte: »Nein, die sind drüben bei Planquadrat drei.«

»Dann holt sie. Elsie, bist du mit deinen Fotos fertig?« »Immer diese Hektik.« »Ja oder nein?« »Noch eine Minute.«

Chang rief den Studenten am Grubenrand zu, sie sollten die Reflektoren herbringen. Vier von ihnen liefen aufgeregt davon. Zu den anderen sagte Marek: »Okay, Leute, ich brauche Strahler, ich brauche Ausgrabungsrucksäcke, Preßluftflaschen, Gesichtsmasken, Sicherungsleinen, den ganzen Kram - und zwar pronto.« Während all der Aufregung musterte Kate weiter die Öffnung unter der Bogenwölbung. Der Bogen selbst sah schwach aus, die Steine saßen nur locker aufeinander. Normalerweise behielt ein Bogen seine Form durch das reine Gewicht der Mauern, das auf den Mittelstein, den Schlußstein des Bogens, drückte. Aber hier konnte die gesamte Wölbung über der Öffnung einfach einstürzen. Der Erdhaufen unter der Öffnung war locker. Sie sah, wie sich hier und dort Steinchen lösten und herunterrieselten. Für sie sah das nicht sehr gut aus.

»Andre, ich glaube nicht, daß es sicher ist, da drüber zu klettern.« »Wer redet denn vom Drüberklettern? Wir lassen dich von oben herunter.« »Mich?«

»Ja. Du hängst an einem Seil über dem Bogen, und wir lassen dich langsam hinein.« Anscheinend war ihr die Bestürzung anzusehen, denn Marek grinste. »Keine Angst, ich komme mit.«

»Aber du weißt, wenn wir uns irren ...« Dann könnten wir lebendig begraben werden, dachte sie. »Was ist?« fragte Marek. »Angst?« Mehr hatte er nicht zu sagen.

Zehn Minuten später hing sie am Rand des freigelegten Bogens in der Luft. Sie trug den Ausgrabungsrucksack, an dem hinten eine Preßluftflasche befestigt war; seitlich am Hüftriemen baumelten zwei Taschenlampen wie Handgranaten. Die Gesichtsmaske hatte sie sich auf die Stirn hochgeschoben. Drähte liefen vom Funkgerät zu einer Batterie in ihrer Tasche. Mit so viel Ausrüstung kam sie sich schwerfällig, unbeholfen vor. Marek stand über ihr und hielt die Sicherungsleine. Und unten in der Grube standen Rick und seine Studenten und sahen ihr angespannt zu.

Sie schaute zu Marek hoch. »Gib mir anderthalb.« Er gab ihr eineinhalb Meter Leine, und sie sank nach unten, bis ihre Füße leicht den Erdhaufen berührten. Sie spürte, wie sich unter ihren Füßen Erde löste und hinunterrieselte. »Noch einen.«

Auf Hände und Knie gestützt, drückte sie ihr ganzes Gewicht auf den Erdhaufen. Er hielt. Aber sie sah skeptisch zu dem Bogen hoch. Der Schlußstein bröckelte an den Rändern.

»Alles okay?« rief Marek.

»Okay«, sagte sie. »Ich geh jetzt rein.«

Sie kroch zurück zu dem klaffenden Loch unter dem Bogen, zu Marek hoch und löste eine Taschenlampe vom Gürtel. »Ich weiß nicht, ob du das schaffst, Andre. Kann sein, daß die Erde dein Gewicht nicht trägt.« »Sehr lustig. Du machst das nicht allein, Kate.« »Na, dann laß mich wenigstens zuerst reingehen.« Sie knipste die Lampe an, schaltete das Funkgerät ein, zog sich die Gesichtsmaske vor Mund und Nase, so daß sie jetzt durch Filter atmete, und kroch dann durch das Loch in die Schwärze dahinter.

Die Luft war überraschend kühl. Der gelbe Strahl ihrer Taschenlampe huschte über nackte Steinwände, einen Steinboden. Chang hatte recht: ein Hohlraum unter dem Kloster. Er schien ziemlich ausgedehnt zu sein, und am anderen Ende war eine Art Durchgang zu erkennen, der jedoch von einem Erd- und Geröllhaufen versperrt wurde. Irgendwie war diese Kammer nicht mit Erde angefüllt worden wie die anderen. Sie richtete die Lampe zur Decke, um ihren Zustand zu prüfen. Sie konnte kaum etwas erkennen. Gut sah es auf jeden Fall nicht aus. Auf Händen und Knien kroch sie zuerst vorwärts und dann abwärts. Sie rutschte ein wenig über die lockere Erde, doch dann hatte sie den Steinboden erreicht. Augenblicke später stand sie im Inneren der Katakombe. »Ich bin drin.«

Es war dunkel um sie herum, die Luft fühlte sich feucht an. Ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase, der sogar durch die Filter hindurch noch unangenehm war. Die Filter schützten vor Bakterien und Viren; bei den meisten Ausgrabungen verzichtete man auf diese Masken, aber hier waren sie nötig, weil im vierzehnten Jahrhundert die Pest mehrmals diese Gegend heimgesucht und ein Drittel der Bevölkerung getötet hatte. Zwar wurde eine Form dieser Epidemie ursprünglich nur durch Ratten übertragen, doch es gab auch eine andere, die durch die Luft übertragen wurde, durch Husten und Niesen, und so mußte jeder, der in einen alten, lange verschlossenen Hohlraum eindrang, auf der Hut sein.

Hinter sich hörte sie ein Klappern. Marek kam gerade durch das Loch. Er fing an zu rutschen und sprang deshalb zu Boden. In der Stille danach hörte sie die leisen Geräusche von Kieseln und Erdbrocken, die den Haufen herunterrieselten.

»Du weißt«, sagte sie, »daß wir hier lebendig begraben werden könnten?« »Wo bleibt dein Optimismus?« sagte Marck. Eine große Leuchtstofflampe mit Retlektoren in der Hand, bewegte er sich vorwärts. Das Licht erhellte einen ganzen Abschnitt des Gewölbes. Jetzt, da sie besser sehen konnten, wirkte der Raum enttäuschend nackt. Links stand ein Steinsarkophag, auf dem Deckel der daneben an der Wand lehnte, war das Relief eines Ritters eingemeißelt. Sie schauten in den Sarkophag, er war leer. An einer anderen Wand stand ein grober Holztisch. Auch darauf war nichts zu sehen. Links von ihnen führte ein offener Gang zu einer steinernen Treppe, die jedoch schon nach wenigen Stufen unter einem Erdhaufen verschwand. Rechts von ihnen blockierten weitere Erdhaufen einen anderen Durchgang, einen anderen Steinbogen.

Marek seufzte. »Die ganze Aufregung... für nichts.«

Aber Kate machte sich immer noch Sorgen um die Erde, die sich löste und in den Raum rieselte. Deshalb sah sie sich die Erdhaufen auf der rechten Seite genauer an.

Und nur deshalb entdeckte sie es.

»Andre«, sagte sie. »Komm her.«

Es war ein erdfarbener Vorsprung, braun auf dem Braun des Haufens, aber seine Oberfläche glänzte leicht. Sie strich mit der Hand darüber. Es war Öltuch. Sie legte eine scharfe Ecke frei. Öltuch, in das etwas eingewickelt war.

Marek schaute ihr über die Schulter. »Sehr gut. Sehr gut.« »Hatten die damals schon Öltuch?«

»O ja. Öltuch ist eine Erfindung der Wikinger, ungefähr im neunten Jahrhundert. Und zu unserer Zeit in Europa schon ziemlich verbreitet. Obwohl wir,soweit ich weiß, im Kloster sonst nichts gefunden haben, was in Öltuch eingewickelt war.«

Er half ihr graben. Sie gingen behutsam vor, weil sie nicht wollten, daß der Erdhaufen auf sie herabstürzte, aber bald hatten sie es freigelegt: ein Quadrat von etwa sechzig Zentimetern Kantenlänge, verschnürt mit ölgetränkter Schnur.

»Ich würde sagen, es sind Dokumente«, bemerkte Marek. Seine Finger zuckten im grellen Licht, er wollte das Paket unbedingt öffnen, hielt sich aber zurück. »Wir nehmen es mit.«

Er klemmte es sich unter den Arm und ging zum Eingang zu-rück. Kate warf noch einen letzten Blick auf den Erdhaufen und fragte sich, ob sie vielleicht irgend etwas übersehen hatte. Aber das hatte sie nicht. Sie schwang die Taschenlampe und -Hielt plötzlich inne.

Aus dein Augenwinkel heraus erhaschte sie einen Blick auf etwas Glänzendes. Sie drehte sich um, schaute noch einmal hin. Im ersten Augenblick fand sie es nicht mehr, doch dann sah sie es.

Es war ein kleines Stückchen Glas, das aus der Erde herausragte.

»Andre?« sagte sie. »Ich glaube, da ist noch mehr.«

Das Glas war dünn und völlig durchsichtig. Der Rand war abgerundet und glatt, die Fertigungsqualität wirkte beinahe modern. Mit den Fingerspitzen wischte sie die Erde weg und sah dann, worum es sich handelte: um die Linse einer Brille.

Es war eine Bifokallinse.

»Was ist das?« fragte Andre, der nun wieder zu ihr kam. »Das mußt du mir sagen.«

Er bückte sich darüber, hielt seine Lampe sehr nahe daran. Sein Gesicht war so dicht vor dem Glas, daß seine Nase es beinahe berührte. »Wo hast du das gefunden?« Er klang besorgt. »Gleich hier.«

»Freiliegend, so wie jetzt?« Seine Stimme klang angespannt, beinahe vorwurfsvoll.

»Nein, nur der Rand ragte heraus. Ich habe es freigelegt.« »Wie?«

»Mit dem Finger.«

»Du willst mir also sagen, daß es teilweise verschüttet war?« Er klang,

als glaubte er ihr nicht.

»He, was soll das?«

»Bitte antworte mir einfach.«

»Nein, Andre, es war größtenteils verschüttet. Alles bis auf diese linke Ecke steckte in der Erde.«

»Mir wäre es lieber, wenn du es nicht berührt hättest.«

»Mir auch, wenn ich gewußt hätte, daß du dich aufführst wie ein —«

»Das muß erklärt werden«, sagte er. »Dreh dich um.« »Was?« »Dreh dich um.« Er packte sie an der Schulter und drehte sie grob herum, so daß sie ihm den Rücken zukehrte.

»O Gott.« Sie schaute über die Schulter, um zu sehen, was er tat. Er hielt seine Lampe sehr dicht an den Rucksack und suchte ihn langsam und Stück für Stück ab. Dann kamen ihre Shorts dran. »Äh, soll das heißen ...« »Bitte sei ruhig.«

Es dauerte eine ganze Minute, bis er fertig war. »Die linke untere Reißverschlußtasche deines Rucksacks ist offen. Hast du sie aufgemacht?« »Nein.«

»Dann war sie die ganze Zeit offen? Seit du dir den Rucksack umgeschnallt hast?«

»Wahrscheinlich.«

»Hast du irgendwann die Wand gestreift?«

»Ich glaube nicht.« Sie hatte extra aufgepaßt, weil sie die Wand nicht zum Einsturz bringen wollte. »Bist du sicher?«

»Ach du meine Güte. Nein, Andre, ich bin nicht sicher.«

»Na gut. Jetzt kontrolliere mich.« Er gab ihr die Lampe und drehte ihr den Rücken zu.

»Wie kontrollieren?« fragte sie.

»Das Glas ist eine Verunreinigung«, sagte er. »Wir müssen erklären,

wie es hierhergekommen ist. Schau nach, ob bei meinem Rucksack irgendwas offen ist.«

Sie tat es. Nichts war offen.

»Hast du ihn sorgfältig abgesucht?«

»Ja, sorgfältig«, erwiderte sie verärgert.

»Ich glaube, du hast dir nicht genug Zeit genommen.«

»Doch, Andre, das habe ich.«

Marek starrte den Erdhaufen vor ihnen an. Kleine Kiesel rieselten herunter. »Es kann sein, daß die Linse aus einem unserer Rucksäcke gefallen ist und dann von Erde bedeckt wurde...« »Ja, möglich war's.«

»Wenn du sie mit der Fingerspitze freilegen konntest, konnte sie nicht sehr fest vergraben sein ...« »Nein, nein. Sehr locker.«

»Na gut. Dann dürfte das die Erklärung sein.« »Was?«

»Irgendwie haben wir die Linse mitgebracht, und während wir uns mit dem Öltuchpaket beschäftigten, ist sie aus dem Rucksack gefallen und wurde dann von Erde bedeckt. Dann hast du sie gesehen und freigelegt. Das ist die einzige Erklärung.« »Okay...«

Er holte eine Kamera aus dem Rucksack und fotografierte das Glas mehrmals aus verschiedenen Entfernungen - zuerst sehr nahe und dann immer weiter weg. Erst dann zog er ein Plastiktütchen hervor, hob das Glas vorsichtig mit einer Pinzette an und steckte es in die Tüte. Dann holte er eine kleine Rolle Bläschenfolie heraus, schlug die Tüte darin ein, umwickelte das ganze mit Klebeband und gab ihr das Bündel. »Du bringst es raus. Bitte sei vorsichtig.« Jetzt wirkte er wieder ein bißchen entspannter. Und war wieder netter zu ihr.

»Okay«, sagte sie. Dann kletterte sie den Erdhügel wieder hoch und kroch nach draußen.

Von den Studenten wurden sie mit Jubel begrüßt, und das Öltuchpaket wurde an Elsie übergeben, die es sehr schnell ins Lagerhaus brachte. Alle lachten und grinsten, bis auf Chang und Chris Hughes. Sie trugen beide Kopfhörer und hatten alles gehört, was in der Kammer passiert war. Beide machten ein düsteres, besorgtes Gesicht. Die Verunreinigung einer Ausgrabungsstätte war ein sehr ernstes Problem, das wußten sie alle. Weil sie nachlässiges Arbeiten bei der Grabung nahelegte, stellte sie auch alle anderen, einwandfreien Entdeckungen, die das Team gemacht hatte, in Frage. Ein typisches Beispiel dafür war ein kleinerer Skandal, der im Jahr zuvor in Les Eyzies passiert war.

Les Eyzies war eine paläolithische Grabungsstätte, eine frühmenschliche Behausung an einem Felsabhang. Die Archäologen gruben gerade in einer Schicht, die auf das Jahr 320000 vor unserer Zeit datiert wurde, als einer von ihnen ein halbverschüttetes Kondom fand. Es steckte noch in seinem Alutütchen, und keiner glaubte auch nur einen Augenblick daran, daß es in diese Schicht gehörte. Aber die Tatsache, daß man es dort gefunden hatte - halb verschüttet - deutete darauf hin, daß sie es mit der Sorgfalt beim Graben nicht so genau nahmen. Bestürzung regte sich im Team, die auch noch andauerte, nachdem man einen Doktoranden mit Schimpf und Schande nach Paris zurückgeschickt hatte. »Wo ist diese Linse?« fragte Chris Marek. »Kate hat sie.«

Sie gab sie Chris. Während alle anderen jubelten, wandte er sich ab, wickelte das Päckchen aus und hielt die Tüte gegen das Licht. »Eindeutig modern«, sagte er. Er schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich gehe der Sache nach. Aber du darfst nicht vergessen, sie im Tagesbericht zu erwähnen.« Er werde daran denken, erwiderte Marek.

Dann drehte Rick Chang sich um und klatschte in die Hände. »Okay, Leute. Die Aufregung ist vorbei. Macht euch wieder an die Arbeit.« Für den Nachmittag hatte Marek eine Übungsstunde im Bogenschießen angesetzt. Den Studenten gefielen diese Stunden sehr, sie ließen nie eine aus, und in letzter Zeit hatte sich auch Kate dazu-gesellt. An diesem Tag war das Ziel eine Strohpuppe, die etwa fünfzig Meter entfernt stand. Die Studenten standen alle in einer Reihe, die Bogen in den Händen, und Marek ging hinter ihnen auf und ab.

»Um einen Mann zu töten«, sagte er, »müßt ihr folgendes bedenken: Mit ziemlicher Sicherheit trägt er einen Plattenpanzer auf der Brust. Dagegen sind Kopf, Hals und Beine eher ungeschützt. Um ihn zu töten, müßt ihr ihn am Kopf treffen oder seitlich am Oberkörper, wo der Panzer ihn nicht schützt.«

Kate hörte Marek amüsiert zu. Andre nahm alles so ernst. Um einen Mann zu töten. Als würde er es wirklich ernst meinen. Hier, im gelben Nachmittagslicht Südfrankreichs, während in der Entfernung Autos hupten, wirkte dieser Gedanke etwas absurd.

»Aber wenn ihr einen Mann nur stoppen wollt«, fuhr Marek fort, »dann schießt ihm in die Beine. Er geht sofort zu Boden. Heute benutzen wir die Fünfzigpfundbogen.«

Die fünfzig Pfund bezogen sich auf das Zuggewicht, die Kraft, die man benötigte, um die Sehne nach hinten zu ziehen. Die Bogen waren schwer und schwierig zu spannen. Die Pfeile waren fast einen Meter lang. Viele der Studenten hatten Probleme damit, vor allem am Anfang. Meistens beendete Marek die Übungsstunde mit ein wenig Gewichtheben, um ihre Muskeln aufzubauen.

Er selbst konnte einen Hundertpfundbogen spannen. Auch wenn das schwer zu glauben war, beharrte er doch darauf, daß dies dem Zuggewicht der echten Waffen des vierzehnten Jahrhunderts entsprach — weit mehr als irgendeiner von ihnen bewältigen konnte. »Okay«, sagte Marek. »Pfeile anlegen, zielen und loslassen, bitte.« Pfeile flogen durch die Luft. »Nein, nein, David, du darfst nicht ziehen, bis du zitterst. Du mußt die Kontrolle behalten. Carl, schau dir deine Haltung an. Bob, zu hoch. Deanna, denk an deine Finger. Rock, das war schon viel besser. Okay, und jetzt das Ganze noch einmal, Pfeile anlegen, zielen und... loslassen!«

Es war schon später Nachmittag, als Stern Marek über Funk anrief und ihn bat, ins Lagerhaus zu kommen. Er habe gute Nachrichten, sagte er. Marek fand ihn am Mikroskop, wo er gerade die Linse untersuchte. »Was ist?«

»Hier. Schau's dir selber an.« Er trat beiseite, und Marek blickte durchs Mikroskop. Er sah die Linse, die scharfe Linse des Bifokal-schnitts. Hier und dort war die Linse mit weißen Kreisen gesprenkelt, wie von Bakterien.

»Was soll ich sehen?« fragte Marek. »Linker Rand.«

Er bewegte den Objektträger, bis er den linken Rand vor Augen hatte. In der Lichtbrechung sah der Rand sehr weiß aus. Dann fiel ihm auf, daß das Weiße über den Rand hinauswuchs, auf die Linsenoberfläche. »Das sind Bakterien, die auf der Linse wachsen«, sagte Stern. »Sieht aus wie Steinlack.«

»Steinlack« war der Ausdruck für die Patina aus Bakterien und Schimmel, die auf der Unterseite von Steinen wuchs. Weil Steinlack organisch war, konnte man ihn datieren. »Kann man ihn datieren?«

»Man könnte«, erwiderte Stern, »wenn man genug Material für einen C-14-Test hätte. Aber ich kann dir gleich sagen, daß es nicht genug ist. Von dieser Menge bekommt man keine vernünftige Datierung. Wir brauchen es gar nicht erst zu versuchen.« »Und?«

»Der Punkt ist, das war der freiliegende Rand der Linse, nicht? Der Rand, von dem Kate sagte, daß er aus der Erde herausragte?« »Richtig.«

»Das heißt, die Linse ist alt. Andre. Ich weiß nicht, wie alt, aber sie ist keine Verunreinigung. Rick sieht sich gerade die Knochen an, die heute gefunden wurden, und er glaubt, daß einige davon aus einer späteren Periode als der unseren stammen, aus dem achtzehnten, vielleicht sogar dem neunzehnten Jahrhundert. Was bedeutet, daß einer von denen eine Bifokalbrille getragen haben könnte.«

»Ich weiß nicht. Die Linse sieht sehr präzise geschliffen aus..,« »Was nicht heißen muß, daß sie neu ist«, erwiderte Stern. »Gute Schleiftechniken gibt es seit zweihundert Jahren. Ich werde diese Linse einem Optikspezialisten in New Haven schicken, damit der sie untersucht. Und ich habe Elsie gebeten, sich sofort an die 01-tuchdokumente zu machen und nachzuschauen, ob sie dort irgendwas Ungewöhnliches entdeckt. Aber ich glaube, vorerst können wir uns alle wieder entspannen.«

»Das ist eine gute Nachricht«, sagte Marek grinsend.

»Ich dachte mir, daß du es wissen willst. Dann bis zum Abendessen.«

Zum Abendessen trafen sie sich auf dem alten Marktplatz von Domme, einem Dorf auf einer Anhöhe, wenige Kilometer von ihrer Grabungsstätte entfernt. Als die Nacht hereinbrach, hatte Chris, der den ganzen Tag mürrisch gewesen war, seine schlechte Laune überwunden und freute sich aufs Abendessen. Er fragte sich, ob Marek etwas vom Professor gehört hatte, und wenn nicht, was er deswegen unternehmen wollte. Er hatte eine unbestimmte Vorahnung.

Seine gute Laune schwand dahin, als er im Restaurant ankam und die beiden Börsenmaklerpärchen wieder an ihrem Tisch fand. Anscheinend hatte man sie für einen zweiten Abend eingeladen. Chris wollte gleich wieder kehrtmachen, doch Kate stand auf, legte den Arm um ihn und schob ihn zum Tisch.

»Lieber nicht«, sagte er leise. »Ich kann diese Leute nicht ausstehen.« Aber sie umarmte ihn kurz und drückte ihn auf einen Stuhl. Er sah, daß an diesem Abend offensichtlich die Börsenmakler den Wein bezahlten — Chateau Lafite-Rothschild, über zweitausend Francs die Flasche. Ach, was soll's, dachte er.

»Was für ein bezauberndes Städtchen«, sagte eine der Frauen. »Wir haben uns heute die Mauern angeschaut, die außen herumlaufen. Die sind ziemlich lang. Und hoch. Und dieses hübsche Tor, durch das man in die Stadt kommt, das mit den runden Türmen auf jeder Seite.« Kate nickte. »Es ist nur irgendwie witzig«, sagte sie, »daß viele von den Dörfern, die wir heute so bezaubernd finden, im Grunde genommen die Einkaufszentren des vierzehnten Jahrhunderts waren.« »Einkaufszentren? Wie meinst du das?«

In diesem Augenblick fing Mareks Funkgerät, das er sich an den Gürtel gehakt hatte, an zu knistern. »Andre? Bist du dran?«

Es war Elsie. Sie ging nie mit den anderen zum Abendessen, sondern arbeitete bis spät in die Nacht an ihrer Katalogisierung. Marek griff nach dem Apparat. »Ja, Elsie.«

»Ich habe hier gerade was sehr Komisches gefunden.« »Ja...«

»Würdest du David sagen, er soll herkommen? Ich brauche seine Hilfe bei einem Test. Aber eins kann ich euch jetzt schon sagen -falls das ein

Witz sein soll, ich finde den nicht lustig.«

Es klickte, und die Verbindung war unterbrochen.

»Elsie?«

Keine Antwort.

Marek sah in die Runde. »Hat einer von euch Elsie einen Streich gespielt?«

Alle schüttelten den Kopf.

Chris Hughes sagte: »Vielleicht dreht sie langsam durch. Würde mich nicht wundern, sie macht ja nichts anderes, als immer nur diese Pergamente anzustarren.«

»Ich schau nach, was sie will«, sagte David Stern, stand auf und verschwand in der Dunkelheit.

Chris überlegte, ob er mit ihm gehen sollte. Doch Kate sah ihn an und schenkte ihm ein Lächeln, und so ließ er sich zurücksinken und griff nach seinem Weinglas.

»Du hast eben gesagt — diese Städte waren wie Einkaufszentren.« »Viele davon, ja«, sagte Kate Erickson. »Diese Städte waren Spekulationsobjekte, die Grundbesitzern Geld einbringen sollten. Wie die Einkaufszentren heute. Und wie diese Zentren wurden sie alle nach einem ähnlichen Muster erbaut.«

Sie drehte sich um und deutete auf den Marktplatz von Domme hinter ihnen. »Seht ihr diesen überdachten hölzernen Markt in der Mitte des Platzes? Ähnliche überdachte Märkte findet man in vielen Städten hier in der Gegend. Das bedeutet, daß die Stadt eine oastide ist, ein neuer, befestigter Ort. Im vierzehnten Jahrhundert wurden in Frankreich fast tausend hastidcs gegründet. Einige wurden gebaut, um Territorium zu sichern. Aber viele wurden nur gebaut, um Geld zu machen.«

Nun hatte sie die Aufmerksamkeit der Aktienhändler. Einer der Männer nß den Kopf hoch und sagte: »Moment mal. Wie kann man mit dem Bau einer Stadt Geld verdienen?« Kate lächelte. »Die Volkswirtschaft im vierzehnten Jahrhundert«, sagte sie, »hat ungefähr so funktioniert: Nehmen wir an, du bist ein Adliger, der eine Menge Land besitzt. Frankreich im vierzehnten Jahrhundert ist größtenteils bewaldet, was bedeutet, daß dein Land hauptsächlich Wald ist, in dem Wölfe hausen. Vielleicht hast du hier und dort ein paar Bauern, die dir eine ziemlich dürftige Pacht zahlen. Aber so wird man nicht reich. Und weil du ein Adliger bist, brauchst du immer dringend Geld, um Kriege zu führen und den aufwendigen Lebensstil zu bezahlen, der von dir erwartet wird.

Was kannst du also tun, um die Einkünfte aus deinen Ländereien zu erhöhen? Du baust eine neue Stadt. Du siedelst Leute in deiner neuen Stadt an, indem du ihnen spezielle Steuerbefreiungen versprichst, spezielle Privilegien, die in der Stadtverfassung festgelegt sind. Im Grunde genommen befreist du die Städter von feudalen Verpflichtungen.«

»Und warum gibt man ihnen diese Vergünstigungen?« »Weil du so bald Händler und Märkte in der Stadt hast, und deren Steuern und Gebühren bringen dir viel mehr Geld ein. Du verlangst Gebühren für alles. Für die Benutzung der Straße, die in die Stadt fuhrt. Für das Recht, durch das Stadttor zu treten. Für das Recht, auf dem Markt einen Stand aufzubauen. Für die Soldaten, die in der Stadt Ordnung halten. Für die Zulassung von Geldverleihern zum Markt.« »Nicht schlecht«, sagte einer der Männer.

»Absolut nicht schlecht. Und zusätzlich verlangst du einen Prozentsatz von allem, was auf dem Markt verkauft wird.« »Wirklich? Wieviel Prozent?«

»Das hing ab von dem Ort und von der jeweiligen Ware. Im allgemeinen zwischen einem und fünf Prozent. Der Markt ist also der eigentliche Grund für die Stadt. Man sieht es deutlich an ihrer Anlage. Seht euch die Kirche da drüben an«, sagte sie und deutete zur Seite. »In früheren Jahrhunderten war die Kirche der Mittelpunkt des Ortes. Die Leute gingen mindestens einmal pro Tag zur Messe. Das ganze Leben drehte sich um die Kirche. Aber hier in Domme steht die Kirche seitlich. Der Markt ist jetzt das Zentrum der Stadt.« »Dann kommt das ganze Geld also vom Markt?« »Nicht ausschließlich, weil die befestigte Stadt auch Schutz für die Umgebung bietet, was bedeutet, daß Bauern das Land vor den Toren roden und neue Höfe errichten. Das erhöht auch deine Pachteinkünfte. Alles in allem war eine neue Stadt also eine solide Investition. Und das ist der Grund, warum so viele von diesen Städten gebaut wurden.« »Ist das der einzige Grund, warum sie gebaut wurden?« »Nein, viele wurden auch aus militärischen Überlegungen gebaut, als -« Mareks Funkgerät knisterte. Es war wieder Elsie. »Andre?« »Ja«, sagte Marek.

»Du solltest besser sofort rüberkommen. Ich weiß nämlich absolut nicht, was ich davon halten soll.« »Warum? Worum geht's denn?« »Komm einfach. Sofort.«

Der Generator tuckerte laut, und das Lagerhaus stand hell erleuchtet in dem dunklen Feld, unter einem Himmel voller Sterne.

Alle drängten sich in dem Lagerhaus zusammen. Elsie saß an ihrem

Schreibtisch in der Mitte und starrte sie an. Ihr Blick wirkte glasig.

»Elsie?«

»Es ist unmöglich«, sagte sie.

»Was ist unmöglich? Was ist hier passiert?«

Marek sah zu David Stern hinüber, doch der arbeitete noch an einer Analyse in einer Ecke des Raums.

Elsie seufzte. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht...«

»Also gut«, sagte Marek. »Jetzt mal von Anfang an.«

»Okay«, sagte sie. »Der Anfang.« Sie stand auf, ging durch den Raum und deutete auf einen Stapel Pergamente, der auf einer Plastikplane auf dem Boden lag. »Das ist der Anfang. Das Dokumentenbündel, das heute vormittag im Kloster gefunden wurde, von mir als M-031 bezeichnet.

David hat mich gebeten, es so schnell wie möglich zu untersuchen.«

Niemand sagte etwas. Sie schauten sie alle nur an.

»Okay«, sagte sie. »Ich bin also dieses Bündel durchgegangen. Ich gehe dabei folgendermaßen vor. Ich nehme mir ungefähr zehn Pergamente und gehe damit zu meinem Schreibtisch.« Sie trug zehn zum Tisch.

»Jetzt setz ich mich an den Schreibtisch und sehe mir eins nach dem anderen an. Dann, nachdem ich den Inhalt eines Blattes zusammengefaßt und die Zusammenfassung in den Computer eingegeben habe, nehme ich das Blatt und fotografiere es hier drüben ab.« Sie ging zum Nebentisch und schob das Pergament unter die Kamera.

Marek sagte: »Wir sind vertraut mit —«

»Nein, seid ihr nicht«, erwiderte sie scharf. »Ihr seid überhaupt nicht vertraut damit.« Elsie kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und nahm das nächste Pergament vom Stapel. »Okay. Ich gehe also eins nach dem anderen durch. Dieser Stapel hier besteht aus allen möglichen Dokumenten: Rechnungen, Briefabschriften, Antworten auf Anordnungen des Bischofs, Verzeichnisse von Ernteerträgen, Bestandslisten des Klosters. Alle um das Jahr 1357.« Sie nahm die Pergamente vom Stapel, eins nach dem anderen. »Und dann ...« Sie nahm das letzte zur Hand. »Sehe ich das da.« Alle starrten das Pergament an. Keiner sagte etwas.

Das Pergament war exakt so groß wie die anderen des Stapels, doch anstelle einer dichten Beschriftung in Latein oder Altfranzösisch standen auf diesem nur zwei Worte, in schlichtem, modernem Englisch: HELFT MIR 7.4.1357

»Falls es jemandem noch nicht klar ist«, sagte Elsie, »das ist die Handschrift des Professors.«

Alles war still im Raum. Keiner rührte sich. Alle starrten nur schweigend das Pergament an.

Marek dachte sehr schnell, er ging alle Möglichkeiten durch. Wegen seines detaillierten, enzyklopädischen Wissens über das Mittelalter hatte er dem Metropolitan Museum in New York jahrelang als externer Gutachter für mittelalterliche Artefakte gedient. Er hatte deshalb beträchtliche Erfahrungen mit Fälschungen aller Art. Es stimmte zwar, daß man ihm nur selten gefälschte Dokumente aus dem Mittelalter vorlegte - die Fälschungen waren meistens Edelsteine in einem Armband, das nur zehn Jahre alt war, oder eine Rüstung, die sich als in Brooklyn gefertigt erwies -, aber dank seiner Erfahrung wußte er genau, wie er an das Problem herangehen mußte.

»Okay«, sagte er. »Noch einmal von vorne. Bist du sicher, daß das seine Handschrift ist?«

»Ja«, sagte Elsie. »Ohne Frage.«

»Woher weißt du das?«

Sie rümpfte die Nase. »Ich bin Graphologin, Andre. Aber hier. Schau's dir selber an.«

Sie zog eine Notiz hervor, die Johnston vor ein paar Tagen geschrieben hatte, einen Zettel, mit Blockbuchstaben beschriftet und an eine Rechnung geheftet: BITTE RCHNG ÜBERPRÜFEN. Sie legte den Zettel neben das Pergament. »Blockbuchstaben sind im Grunde genommen einfacher zu analysieren. Sein H zum Beispiel zeigt unten eine schwache Diagonale. Er zeichnet eine vertikale Linie, hebt den Stift, um die zweite Vertikale zu zeichnen, und zieht dann den Stift über das Papier, um den Querstrich zu zeichnen. Dadurch entsteht diese Diagonale. Oder schau dir das P an. Er macht einen Strich nach unten und geht dann hoch zur Anfangsposition um den Halbkreis zu zeichnen. Oder das E, das zeichet er zuerst als L und geht dann in einer Zickzackbewegung nach oben um die beiden Querstriche hinzuzufügen. Keine Frage. Das ist seine Handschrift.«

»Könnte sie jemand gefälscht haben?«

»Nein, bei einer Fälschung würde man ein häufiges Absetzen des Stifts und andere Hinweise bemerken. Er hat das selbst geschrieben.« »Könnte es sein, daß er uns einen Streich spielen wollte?« fragte Kate.

»Wenn ja, dann ist er nicht lustig.«

»Was ist mit dem Pergament, auf dem die Nachricht steht?« fragte Marek. »Ist es so alt wie die anderen?«

»Ja«, sagte David Stern und kam zu ihnen. »Auch wenn ich noch keine Radiokarbondatierung gemacht habe, würde ich sagen, ja, es ist so alt wie die anderen.«

Wie kann das sein, dachte Marek. Dann sagte er: »Bist du sicher? Das Pergament sieht anders aus als die anderen. Die Oberfläche wirkt irgendwie rauher.«

»Sie ist rauher«, erwiderte Stern. »Weil sie schlecht abgeschabt wurde. Im Mittelalter war Pergament ein sehr wertvolles Material. Für gewöhnlich wurde es benutzt, sauber geschabt und dann noch einmal benutzt. Aber wenn wir uns dieses Pergament unter UV-Licht ansehen ... Kann mal jemand das Licht ausmachen?« Kate ging zum Schalter, und in der Dunkelheit hielt Stern eine Lampe mit violettem Schein über den Tisch.

Sofort sah Marek weitere Schriftzeichen auf dem Pergament, zwar schwach, aber doch deutlich erkennbar.

»Das war ursprünglich eine Übernachtungsrechnung«, sagte El-sie. »Dann wurde es abgeschabt, und zwar schnell und oberflächlich, als hätte es jemand sehr eilig gehabt.«

»Willst du damit sagen, daß der Professor es abgeschabt hat?« fragte Chris.

»Ich habe keine Ahnung, wer es abgeschabt hat. Aber es wurde nicht sehr fachmännisch gemacht.«

»Na gut«, sagte Marek. »Es gibt eine Möglichkeit, diese Sache eindeutig und ein für allemal zu klären.« Er wandte sich an Stern. »Was ist mit der Tinte, David? Ist sie echt?« Stern zögerte. »Ich bin mir nicht sicher.« »Nicht sicher? Warum nicht?«

»Chemisch gesehen«, sagte Stern, »ist sie genau das, was man erwarten würde: Eisen in der Form von Eisenoxid, gemischt mit Gallussäure als organischem Bindemittel. Dazu ein wenig Kohlenstoff für die Schwärze und fünf Prozent Saccharose. Damals wurde Zucker benutzt, um die Tinte glänzend zu machen. Es ist also gewöhnliche Eisengallustinte, völlig korrekt für die Zeit. Aber das heißt noch nicht viel.« »Genau.« Stern wollte damit sagen, daß sie gefälscht werden konnte. »Also habe ich eine Gallussäure- und Eisentitration durchgeführt«, sagte Stern, »was ich in zweifelhaften Fällen immer mache. Sie verrät uns exakt das Mengenverhältnis der Tintenbestandteile. Die Titration deutet darauf hin, daß diese Tinte ähnlich ist wie die Tinte auf den anderen Dokumenten, aber nicht mit ihr identisch.« »Ähnlich, aber nicht identisch«, sagte Marek. »Wie ähnlich?« »Wie ihr wißt, wurde mittelalterliche Tinte immer kurz vor dem Gebrauch zusammengemischt, weil sie sich nicht hielt. Gallussäure ist organisch — sie wurde aus zermahlenen Eicheln gewonnen -, und das heißt, daß sie irgendwann schlecht wird. Manchmal fügte man Wein als Konservierungsmittel hinzu. Auf jeden Fall gibt es von einem Dokument zum anderen normalerweise ziemlich starke Abweichungen im Gehalt an Gallussäure und Eisen. Man findet bis zu zwanzig oder dreißig Prozent Abweichung zwischen zwei Dokumenten. Mit Hilfe dieser Prozentangaben kann man feststellen, ob zwei Dokumente am selben Tag, mit derselben Tinte geschrieben wurden. Diese Tinte hier zeigt eine Abweichung von ungefähr neunundzwanzig Prozent im Vergleich zu den Dokumenten davor und danach in dem Stapel.« »Bedeutungslos«, sagte Marek. »Diese Ziffern bestätigen weder Echtheit noch Fälschung. Hast du eine spektrographische Analyse gemacht?« »Ja. Hm eben fertig geworden. Hier sind die Spektren von drei Dokumenten, mit dem des Professors in der Mitte.« Drei Meßkurven mit je einer Reihe von Zacken. »Auch hier wieder: ähnlich, aber nicht identisch.«

»Nicht sehr ähnlich«,sagte Marek und betrachtete die Muster der Zacken. »Weil sich zusätzlich zur Abweichung im Eisengehalt noch eine Menge von Spurenelementen in der Tinte des Professors finden, darunter — was ist das für eine Spitze zum Beispiel?« »Chrom.«

Marek seufzte. »Was bedeutet, daß sie modern ist.« »Nicht unbedingt, nein.«

»Aber in den beiden anderen Tinten ist kein Chrom.«

»Das stimmt. Aber es findet sich immer wieder Chrom in Manuskripttinten. Ziemlich häufig sogar.«

»Gibt es in diesem Tal Chrom?«

»Nein«, sagte Stern, »aber Chrom wurde in ganz Europa importiert, weil es nicht nur für Tinten, sondern auch als Tuchfarbstoff verwendet wurde.«

»Aber was ist mit all diesen anderen Verunreinigungen?« fragte Marek und zeigte auf andere Zacken. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Das ist alles nicht schlüssig.«

»Ganz meine Meinung«, erwiderte Stern. »Das muß ein Witz sein.« »Aber sicher wissen wir es erst mit einer Radiokarbondatierung«, sagte Marek. Der C-14-Test würde es ihnen ermöglichen, sowohl Tinte wie Pergament auf etwa fünfzig Jahre genau zu datieren. Das würde reichen, um die Frage nach einer Fälschung zu beantworten. »Und wenn wir gerade dabei sind, würde ich gerne auch einen Thermoluminiszenz-Test machen und vielleicht eine Laserspek-trographie«, sagte Stern. »Das können wir hier nicht.«

»Nein, ich bringe es rüber nach Les Eyzies.« In Les Eyzies, einer Stadt im nächsten Tal, lag das Zentrum für prähistorische Studien m Südfrankreich. Dort gab es ein gutausgestattetes Labor, das - und Kahum-Argon-Datierungen sowie Neutronenaktivierungsanalysen und andere komplizierte Tests durchführen konnte.

Die Ergebnisse waren zwar nicht so exakt wie die der Labors in Paris oder Toulouse, dafür konnten Wissenschaftler dort in wenigen Stunden eine Antwort erhalten.

»Meinst du, daß du das heute nacht noch schaffst?« »Ich werd's versuchen.«

Chris kam zur Gruppe zurück, er hatte versucht, den Professor über ein Handy anzurufen. »Nichts«, sagte er. »Nur seine Mailbox.« »Nun gut«, sagte Marek. »Im Augenblick können wir nichts mehr tun. Ich vermute, daß diese Nachricht ein bizarrer Streich ist. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wer uns den gespielt haben könnte - aber irgend jemand hat es getan. Morgen machen wir den C-14-Test und datieren die Nachricht. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie neu ist. Und bei allem Respekt vor Elsie, ich glaube, daß es eine Fälschung ist.« Elsie fing an zu protestieren.

»Aber wie auch immer«, fuhr Marek fort, »wir erwarten morgen einen Anruf vom Professor, und dann können wir ihn fragen. Unterdessen würde ich vorschlagen, daß wir alle zu Bett gehen und uns ausschlafen.«

Im Bauernhaus schloß Marek leise die Tür, bevor er das Licht einschaltete. Dann sah er sich um.

Das Zimmer war makellos, wie er es erwartet hatte. Es war aufgeräumt wie eine Mönchszelle. Neben dem Bett lagen, ordentlich aufgestapelt, fünf oder sechs Forschungsberichte. Auf einem Tisch rechts davon lagen neben einem Laptop weitere Papiere. Der Schreibtisch hatte eine Schublade, die Marek nun öffnete und kurz durchstöberte. Aber er fand nicht, wonach er suchte.

Als nächstes ging er zum Kleiderschrank. Die Kleidung des Professors hing ordentlich auf Bügeln, mit Platz zwischen den einzelnen Stücken. Marek ging von einem zum anderen und tastete alle Taschen ab, doch er fand noch immer nichts. Vielleicht ist sie nicht da, dachte er. Vielleicht hat er sie nach New York mitgenommen.

Gegenüber der Tür stand eine Spiegelkommode. Er öffnete die oberste

Schublade: Münzen in einer kleinen flachen Schale, eine Rolle mit einem Gummiband umwickelte Dollarscheine und ein paar persönliche Gegenstände, darunter ein Messer, ein Kugelschreiber und eine

Reserveuhr — nichts Ungewöhnliches.

Dann entdeckte er am äußersten rechten Rand ein Plastiketui.

Er nahm das Etui heraus, öffnete es. Das Etui enthielt eine Brille. Er legte die Brille auf die Kommodenplatte.

Die Gläser waren ovale Bifokallinsen.

Er griff in seine Tasche und zog eine kleine Plastiktüte hervor. Dann hörte er hinter sich ein Knarzen, und als er sich umdrehte, sah er Kate Erickson durch die Tür kommen.

»Durchwühlst du seine Unterwäsche?« fragte sie mit hochgezo-genen Augenbrauen. »Ich habe Licht unter der Tür gesehen. Also habe ich nachgesehen.« »Ohne zu klopfen?«

»Was machst du denn hier drinnen?« fragte sie. Dann sah sie die

Plastiktüte. »Ist es das, was ich glaube?«

»Ja.«

Mit einer Pinzette holte Marek die einzelne Bifokallinse aus der Tüte und legte sie neben die Brille des Professors auf die Kommode. »Nicht identisch«, sagte sie. »Aber ich würde sagen, die Linse gehört ihm.«

»Ich auch.«

»Aber das ist es doch, was du die ganze Zeit gedacht hast, oder? Ich meine, er ist der einzige im Team, der eine Bifokallinse trägt. Die

Verunreinigung muß von seiner Brille stammen.«

»Aber es ist keine Verunreinigung«, erwiderte Marek. »Die Brille ist alt.«

»Was?«

»David sagt, der weiße Rand ist Bakterienwachstum. Die Linse ist nicht modern, Kate. Sie ist alt.«

Sie sah sie sich genau an. »Das kann nicht sein«, sagte sie. »Schau dir nur den Schliff an. Der ist bei der Brille des Professors und dieser

Linse identisch. Sie muß modern sein.«

»Ich weiß, aber David besteht darauf, daß sie alt ist.«

»Wie alt?«

»Das kann er nicht sagen.« »Er kann sie nicht datieren?«

Marek schüttelte den Kopf. »Nicht genug organisches Material.« »Dann bist du also«, sagte sie, »in dieses Zimmer gekommen, weil...« Sie hielt inne und starrte zuerst die Brille an und dann ihn. Sie runzelte die Stirn. »Ich dachte, du hast gesagt, diese Schrift sei eine Fälschung, Andre.« »Habe ich, ja.«

»Aber du hast David auch gefragt, ob er den Radionkarbontest noch heute machen kann, nicht?« »Ja ... «

»Und dann bist du hierhergekommen, mit der Linse, weil du dir Sorgen machst...« Sie schüttelte den Kopf, wie um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. »Worüber? Was glaubst du, was hier los ist?«

Marek sah sie an. »Ich habe absolut keine Ahnung. Nichts ergibt einen Sinn.«

»Aber du bist besorgt.«

»Ja«, sagte Marek. »Ich bin besorgt.«

Der nächste Tag wurde klar und heiß, eine sengende Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel. Der Professor rief am Vormittag nicht an. Marek versuchte zweimal die Nummer seines Handys, bekam aber immer nur die Mailbox. »Hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe Sie zurück.«

Auch von Stern hörten sie nichts. Als sie im Labor in Les Eyzies anriefen, erfuhren sie nur, daß er beschäftigt sei. Ein frustrierter Techniker sagte: »Er wiederholt die Tests schon wieder! Inzwischen zum dritten Mal!«

Warum? fragte sich Marek. Er überlegte, ob er nach Les Eyzies fahren und selbst nachsehen sollte — es waren nur ein paar Kilometer -, beschloß dann aber, im Lagerhaus zu bleiben für den Fall, daß der Professor anrief. Er rief nicht an.

Am späteren Vormittag sagte Elsie plötzlich: »Huch!« »Was ist?«

Sie sah sich eben ein anderes Pergament an. »Das war das Dokument in dem Stapel direkt vor dem des Professors«, sagte sie. Marek ging zu ihr. »Was ist damit?«

»Sieht aus, als wären da Tintenspuren vom Stift des Professors drauf. Siehst du, hier und hier?«

Marek zuckte die Achseln. »Er hat es sich wahrscheinlich angesehen, kurz bevor er seine Notiz schrieb.«

»Aber sie sind am Rand«, sagte sie. »Fast wie eine Markierung.« »Eine Markierung von was?« fragte er. »Worum geht es denn in dem Dokument?«

»Es ist ein Traktat über Naturgeschichte«, antwortete Elsie. »Die

Beschreibung eines unterirdischen Flusses von einem der Mönche. Hier steht, daß man vorsichtig sein muß an bestimmten Stellen, die mit Schritten abgezählt sind, und so weiter und so fort.« »Ein unterirdischer Fluß...« Marek war nicht interessiert. Die Mönche waren die Gelehrten der Gegend gewesen, und sie schrieben oft kleine Abhandlungen über die örtliche Geographie oder das Schreinerhandwerk, über die richtige Zeit zum Stutzen von Obstbäumen oder wie man Getreide im Winter am besten lagerte und so weiter. Solche Texte waren bestenfalls Kuriosa und oft falsch. >»Bruder Marcellus hat den Schlüssel<«, las sie. »Ich frage mich, was das bedeuten soll. Und genau hier hat der Professor seine Markierung gesetzt. Dann ... irgendwas über riesige Füße ... nein ... des Riesen Füße? ... Die Füße des Riesen? ... und hier steht vivix, was Lateinisch ist für... mal sehen ... Das Wort ist mir neu ...« Sie schlug in einem Lexikon nach.

Ruhelos ging Marek nach draußen und kehrte wieder zurück. Er war gereizt, nervös.

»Das ist komisch«, sagte sie. »Das Wort vivix gibt es nicht. Zumindest nicht in diesem Lexikon.« Methodisch, wie sie war, machte sie sich eine Notiz. Marek seufzte.

Die Stunden krochen vorüber. Der Professor rief nicht an.

Dann war es Mittag, und die Studenten schlenderten zu dem großen Zelt, wo alle aßen. Marek stand in der Tür und sah ihnen zu. Sie wirkten sorglos, lachten und boxten einander und machten Witze. Das Telefon klingelte. Er drehte sich sofort wieder um. Elsie nahm ab. Er hörte sie sagen: »Ja, er ist hier bei mir...» Er stürzte zu ihr. »Der Professor?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist jemand von ITC.« Sie gab ihm den Hörer.

»Andre Marek hier«, sagte er.

»Ach ja. Einen Augenblick bitte, Mr. Marek. Mr. Doniger möchte Sie gern sprechen.«

»Wirklich?« »Ja. Wir versuchen seit Stunden, Sie zu erreichen. Bitte warten Sie, bis ich ihn gefunden habe.«

Eine lange Pause. Klassische Musik spielte. Marek legte die Hand über den Hörer und sagte zu Elsie: »Doniger.«

»Mann«, sagte sie. »Da scheinst du einen Stein im Brett zu haben. Der Oberboß persönlich.« »Warum ruft Doniger mich an?«

Fünf Minuten später wartet er noch immer, als Stern kopfschüttelnd ins Zimmer kam. »Das wirst du nicht glauben.« »Ja? Was?«

Stern gab ihm wortlos ein Blatt Papier. Daraufstand:

638 ± 47 VUZ

»Was soll das sein?«

»Die Datierung der Tinte.«

»Wovon redest du?«

»Die Tinte«, sagte Stern. »Sie ist sechshundertachtunddreißig Jahre alt, plus oder minus siebenundvierzig Jahre.« »Was?« sagte Marek.

»Du hast richtig gehört. Die Tinte stammt aus dem Jahr 1361 nach Christus.«

»Was?«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Stern. »Aber wir haben den Test dreimal gemacht. Jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Wenn das wirklich der Professor geschrieben hat, dann hat er es vor über sechshundert Jahren geschrieben.« Marek drehte das Blatt um. Auf der anderen Seite stand: 1361 n. Ch. ± 47 Jahre

Im Hörer hörte plötzlich die Musik mit einem Klicken auf, und eine angespannte Stimme sagte: »Mr. Marek? Hier Bob Doniger.« »Ja?« sagte Marek.

»Sie erinnern sich vielleicht nicht an mich, aber wir haben uns vor ein paar Jahren kennengelernt, als ich die Ausgrabungsstätte besuchte.« »Ich erinnere mich noch sehr gut«, sagte Marek.

»Ich rufe an wegen Professor Johnston. Wir machen uns Sorgen um seine Sicherheit.« »Ist er verschwunden?«

»Nein, das ist er nicht. Wir wissen genau, wo er ist.«

Etwas in Domgers Tonfall jagte Marek einen Schauer über den Rücken.

Er sagte: »Kann ich dann mit ihm sprechen?«

»Im Augenblick nicht, fürchte ich.«

»Ist der Professor in Gefahr?«

»Das ist schwer zu sagen. Ich hoffe nicht. Aber wir brauchen Ihre Hilfe und die Ihrer Gruppe. Ich habe bereits das Flugzeug abgeschickt, um Sie abzuholen.«

Marek sagte: »Mr. Doniger, es sieht so aus, als hätten wir hier eine Nachricht von Professor Johnston, die über sechshundert Jahre -« Doniger schnitt ihm das Wort ab. »Bitte nicht über Handy«, sagte er. Aber Marek fiel auf, daß er absolut nicht überrascht wirkte. »Bei Ihnen in Frankreich ist jetzt Mittag, nicht?« »Kurz danach, ja.«

»Na gut«, sagte Doniger. »Suchen Sie sich die drei Mitglieder Ihres Teams aus, die die Dordogne-Region am besten kennen. Fahren Sie zum Flugplatz in Bergerac. Packen Sie nicht lange. Sie bekommen von uns alles, was Sie brauchen. Das Flugzeug landet um 15 Uhr Ihrer Zeit und bringt Sie hierher nach New Mexico. Alles klar?« »Ja, aber —« »Bis dann.« Und Doniger legte auf.

David Stern sah Marek an. »Was war denn los?« fragte er. »Hol dir deinen Paß«, sagte Marek. »Was?«

»Hol dir deinen Paß. Und dann komm mit dem Auto hierher.« »Fahren wir wohin?« »Ja, das tun wir«, sagte Marek. Und griff nach seinem Funkgerät.

Kate Erickson sah von der Mauerkrone der Burg von La Roque hinunter in den Burghof, den weiten, grasbewachsenen Mittel-punkt der Anlage. Auf dem Rasen wimmelte es von Touristen unterschiedlichster Nationalitäten, alle in Shorts und bunten Hemden. Überall klickten Kameras.

Unter sich hörte sie ein junges Mädchen sagen: »Schon wieder eine Burg. Warum müssen wir uns all diese blöden Burgen anschauen, Mom?«

Ihre Mutter antwortete: »Weil Dad sich sehr dafür interessiert.« »Aber die sind doch alle gleich, Mom.« »Ich weiß, Liebling...«

Ein paar Meter entfernt stand der Vater innerhalb einer niedrigen Mauer, die den Umriß eines früheren Raums definierte. »Und das«, verkündete er seiner Familie, »war der Festsaal.« Kate sah sofort, daß das nicht stimmte. Der Mann stand in den Überresten der Küche. Das war deutlich zu sehen an den drei Öfen, die in der linken Wand noch immer zu erkennen waren. Und die Steinrinne, die Wasser in die Küche geleitet hatte, ragte direkt hinter dem Mann aus der Wand.

»Was hat man im Festsaal gemacht?« fragte seine Tochter.

»Hier wurden Bankette abgehalten, und hier haben Ritter, die zu Besuch kamen, dem König ihre Reverenz erwiesen.«

Kate seufzte. Es gab keine Hinweise darauf, daß je ein König in La Roque gewesen war. Im Gegenteil, die Dokumente deuteten daraufhin, daß die Festung immer eine private Burg gewesen war, erbaut im elften Jahrhundert von einem gewissen Armand de Clery und Anfang des vierzehnten Jahrhunderts umgebaut und stärker befestigt mit einem zusätzlichen äußeren Mauerring und weiteren Zugbrücken. Diese Umbauten wurden ausgeführt von einem Ritter namens Francois le Gros, oder Francis dem Fetten, um das Jahr 1302 herum. Trotz seines Namens war Francois ein englischer Ritter, und seine Umbauten waren bestimmt vom neuen Stil englischer Burgen, den Edward I. geprägt hatte. Die edwardischen Burgen waren sehr groß, mit weiten Höfen und komfortablen Gemächern für den Burgherrn. Dies sagte Francois sehr zu, der nach allen Quellen eine künstlerische Ader, einen Hang zur Faulheit und außerdem beständige Geldprobleme hatte. Francois war gezwungen, seine Burg zu verpfänden und später sogar zu verkaufen. Während des Hun-dertjährigen Kriegs wurde La Roque beherrscht von einer ganzen Reihe von Rittern. Aber die Befestigungen hielten: Die Burg wechselte nie nach einer Schlacht den Besitzer, sondern immer nur nach geschäftlichen Transaktionen.

Was nun den Festsaal anging, den sah Kate etwas weiter links, nur noch bröckelnde Mauern, die aber noch immer einen sehr großen Raum umrissen, beinahe dreißig Meter lang. Der riesige offene Kamin — drei Meter hoch und vier Meter breit - war noch zu erkennen. Kate wußte, daß ein Saal dieser Größe immer Steinwände und ein Holzdach gehabt hatte. Und jetzt, da sie genau hinsah, konnte sie wirklich am oberen Mauerrand Einkerbungen erkennen, in die man die mächtigen Querbalken eingepaßt hatte. Darüber hatten wohl Kreuzverstrebungen in die Höhe geragt, die das Dach stützten.

Eine britische Reisegruppe zwängte sich auf der schmalen Mauerkrone an ihr vorbei. Sie hörte die Führerin erzählen: »Diese Festungsmauer wurde von Sir Francis dem Bösen im Jahr 1363 errichtet. Francis war wirklich ein durch und durch gemeiner Kerl. In seinen riesigen Verliesen quälte er gern Männer und Frauen und sogar Kinder. Wenn Sie jetzt nach links schauen, sehen Sie den Sprung der Liebe, wo Madame de Renaud zu Tode stürzte, entehrt, weil sie schwanger war vom Stallburschen ihres Gatten. Es ist jedoch noch immer nicht klar, ob sie sprang oder von ihrem erzürnten Gemahl gestoßen wurde...« Kate seufzte. Wo hatten sie nur immer diese Märchen her? Sie wandte sich wieder ihrem Skizzenblock zu und zeichnete weiter an ihrem Grundriß der Anlage. Auch diese Burg hatte ihre Geheimgänge. Aber Francis der Fette war ein geschickter Architekt gewesen. Seine Geheimgänge dienten vorwiegend Verteidigungszwecken. Ein Gang führte von der Mauerkrone zur entfernten Wand des Festsaals und hinten am Kamin vorbei. Ein anderer folgte der Brustwehr auf der südlichen Mauerkrone.

Aber den wichtigsten Geheimgang hatte sie noch nicht entdeckt. Nach Froissart, einem Geschichtsschreiber des vierzehnten Jahrhunderts, war eine Belagerung der Burg von La Roque nie erfolgreich gewesen, weil die Angreifer den Geheimgang nicht finden konnten, durch den Nahrung und Wasser in die Burg geschafft wurden. Es ging das Gerücht, daß dieser Geheimgang eine Verbindung hiatte zu dem Geflecht von Höhlen im Kalkstein unter der Burg, und auch, daß er sich über eine ziemliche Entfernung erstreckte und in einer verborgenen Öffnung im Felsabhang endete. Irgendwo.

Der einfachste Weg, ihn zu finden, wäre es, das Ende des Gangs in der Burg zu lokalisieren und ihm dann bis zum Anfang zu folgen. Aber um diese Öffnung zu finden, brauchte sie technische Hilfe. Das Beste wäre wahrscheinlich ein Bodenradar. Aber für eine solche Untersuchung brauchte sie die Burg leer. Montags war sie für die Öffentlichkeit geschlossen; vielleicht schafften sie es nächsten Montag, wenn -Ihr Funkgerät knisterte. »Kate?« Es war Marek.

Sie nahm es vom Gürtel und drückte die Sprechtaste. »Ja? Kate hier.« »Komm sofort ins Bauernhaus. Es ist ein Notfall.« Und damit schaltete er ab.

Drei Meter unter Wasser hörte Chris Hughes das gurgelnde Zischen seines Regulators, während er die Leine kontrollierte, die ihn in der starken Strömung der Dordogne an Ort und Stelle hielt. Das Wasser war an diesem Tag relativ klar, die Sichtweite betrug ungefähr drei Meter, und er konnte am Wasserrand den gesamten mächtigen Pfeilersockel der befestigten Mühlenbrücke erkennen. Vom Sockel weg führte eine Spur großer, behauener Steine in gerader Linie quer über den Fluß. Diese Steine waren die Überreste des früheren Brückenbogens.

Chris bewegte sich an dieser Linie entlang und untersuchte sorgfältig die Steine. Er suchte sie nach Einkerbungen oder Vertiefungen ab, die ihm helfen würden zu bestimmen, wo Holz verwendet worden war. Hin und wieder versuchte er, einen Stein umzudrehen, aber das war unter Wasser ziemlich schwierig, weil er den richtigen Angriffspunkt nicht fand.

Über ihm auf der Wasseroberfläche dümpelte ein Plastikfloß mit der rotgestreiften Taucherflagge. Eigentlich diente es dazu, ihn vor den Kajaktouristen zu schützen. Zumindest in der Theorie.

Er spürte einen plötzlichen Ruck, der ihn vom Grund hochriß. Er tauchte auf und stieß sich den Kopf am gelben Rumpf eines Kajaks. Der Fahrer klammerte sich am Plastikfloß fest und rief ihm etwas zu, das wie Deutsch klang.

Chris zog sein Mundstück heraus und sagte: »Würden Sie das bitte in Ruhe lassen!«

Als Antwort kam ein Schwall in Deutsch. Der Kajakfahrer deutete erregt zum Ufer.

»Hör mal, Kumpel, ich weiß nicht, was du —«

Doch der Mann hörte nicht auf zu rufen und mit ausgestrecktem Zeigefinger zum Ufer zu deuten. Chris sah in diese Richtung.

Einer der Studenten stand am Ufer und hielt ein Funkgerät in die Höhe. Er rief etwas. Chris brauchte einen Augenblick, bis er verstand. »Marek will, daß du zum Bauernhaus kommst. Sofort.« »Mein Gott, wie wär's in einer halben Stunde, wenn ich hier fertig -« »Er sagt sofort.«

Dunkle Wolken hingen über den fernen Tafelbergen, es sah aus, als würde es bald regnen. Doniger saß in seinem Büro und legte eben den Hörer auf. »Sie kommen«, sagte er.

»Gut«, entgegnete Diane Krämer. Sie stand vor seinem Schreibtisch,

die Berge im Rücken. »Wir brauchen ihre Hilfe.«

»Leider ja«, sagte Doniger. Er stand auf und ging im Büro auf und ab.

Er war immer ruhelos, wenn er intensiv nachdachte.

»Ich verstehe nur nicht, wie wir den Professor überhaupt verlieren konnten«, sagte Kramer. »Offensichtlich ist er in die Welt getreten.

Obwohl du ihm gesagt hast, er soll es nicht tun. Obwohl du ihm geraten hast, er soll überhaupt nicht reisen. Trotzdem ist er anscheinend in die

Welt getreten.«

»Wir wissen nicht, was passiert ist«, sagte Doniger. »Wir haben nicht den blassesten Schimmer.«

»Außer dem, daß er eine Nachricht geschrieben hat«, sagte Kramer.

»Ja. Nach Kastner. Wann hast du mit ihr gesprochen?«

»Gestern abend«, sagte Kramer. »Sie rief mich an, sobald sie es wußte.

Sie ist für uns eine sehr verläßliche Verbindung, und sie -«

»Egal«, sagte Doniger und wedelte gereizt mit der Hand. »Das ist nicht der Kern.«

Das war der Ausdruck, den Doniger immer verwendete, wenn er etwas für irrelevant hielt. »Was ist der Kern?« fragte Kramer.

»Ihn zurückzuholen«, antwortete Doniger. »Es ist äußerst wichtig, daß wir den Mann zurückbekommen. Das ist der Kern.«

»Keine Frage«, sagte Kramer. »Äußerst wichtig.«

»Persönlich halte ich den alten Knacker ja für ein Arschloch«, sagte Doniger. »Aber wenn wir ihn nicht zurückbekommen, ist das ein

PR-Alptraum.«

»Ja. Hin Alptraum.«

»Aber ich kann damit umgehen.«

»Du kannst damit umgehen, da bin ich mir sicher.«

Im Lauf der Jahre hatte Kramer sich angewöhnt, alles zu wiederholen,

was Doniger sagte, wenn er so auf und ab ging. Für einen Außenseiter sah das aus wie Speichelleckerei, aber Doniger fand es hilfreich. Denn häufig, wenn Doniger ihre Wiederholung hörte, widersprach er ihr.

Kramer begriff, daß sie in diesem Prozeß nur Zuschauerin war. Es mochte zwar aussehen wie ein Gespräch zwischen zwei Leuten, aber das war es nicht. Doniger redete nur mit sich selbst.

»Das Problem ist«, sagte Doniger, »daß wir zwar die Zahl der

Außenseiter, die über diese Technologie Bescheid wissen, erhöhen,

aber keine entsprechende Gegenleistung erhalten. Wer weiß denn, ob diese Studenten den Professor zurückbringen können?«

»Ihre Chancen stehen besser.«

»Das ist eine Vermutung.« Er ging auf und ab. »Eine schwache.« »Akzeptiert, Bob. Sie ist schwach.«

»Und was ist mit dem Suchtrupp, den du losgeschickt hast? Wen hast du geschickt?«

»Gomez und Baretto. Sie haben den Professor nirgendwo gesehen.« »Wie lang waren sie dort?« »Ungefähr eine Stunde, glaube ich.« »Sie haben die Welt nicht betreten?«

Kramer schüttelte den Kopf. »Warum das Risiko eingehen? Das bringt nichts. Das sind zwei Ex-Marines, Bob. Die wüßten gar nicht, wo sie suchen sollten, auch wenn sie die Welt betreten würden. Die wüßten nicht einmal, wovor sie Angst haben sollten. Das ist eine ganz andere Welt.«

»Aber diese Doktoranden könnten wissen, wo sie suchen müssen.« »Das ist der Gedanke dahinter.«

In der Ferne grollte Donner. Die ersten fetten Regentropfen klatschten gegen die Bürofenster. Doniger starrte in den Regen hinaus. »Was ist, wenn wir diese Doktoranden auch verlieren?«

»Ein PR-Alptraum.«

»Vielleicht«, sagte Doniger. »Aber darauf müssen wir uns auf jeden Fall vorbereiten.«

Die Turbinen jaulten, als die Gulfstream V mit »ITC« in großen silbernen Lettern auf dem Leitwerk auf sie zu rollte. Die Treppe wurde herabgelassen, und eine uniformierte Stewardeß rollte auf dem Asphalt einen roten Teppich aus. Die Doktoranden machten große Augen.

»Kein Scheiß«, sagte Chris Hughes. »Das ist wirklich ein roter Teppich.«

»Gehen wir«, sagte Marek. Er warf sich seinen Rucksack über die Schulter und führte sie an Bord.

Marek hatte auf ihre Fragen nicht geantwortet und Unwissenheit vorgeschützt. Er berichtete ihnen von den Ergebnissen der Radiokarbondatierung. Er sagte ihnen, er könne sie nicht erklären. Er sagte ihnen, ITC wolle, daß sie dem Professor zu Hilfe kamen, und daß es dringend sei. Mehr sagte er nicht. Und ihm fiel auf. daß auch Stern sehr schweigsam war.

Im Inneren des Flugzeugs herrschten Grau und Silber vor. Die

Stewardeß fragte sie, was sie trinken wollten. Dieser ganze Luxus stand in deutlichem Kontrast zu dem hart wirkenden Mann mit Bürstenschnitt,

der jetzt in die Passagierkabine kam, um sie zu begrüßen. Obwohl der

Mann einen Geschäftsanzug trug, spürte Marek etwas Militärisches an ihm, als er jedem einzelnen von ihnen die Hand gab.

»Mein Name ist Gordon«, sagte er. »Vizepräsident von ITC.

Willkommen an Bord. Die Flugzeit nach New Mexico beträgt neun

Stunden und vierzig Minuten. Bitte schnallen Sie sich an.«

Sie sanken in ihre Sitze, denn schon spürten sie, wie das Flugzeug über die Startbahn rollte. Augenblicke später dröhnten die Turbi-neu auf, und als Marek aus dein Fenster schaute, sah er, daß die französische Landschaft bereits unter ihnen zurückblieb. Es könnte schlimmer sein, dachte Gordon, der hinten im Flugzeug saß und die Gruppe betrachtete. Zugegeben, es waren Akademiker. Sie waren ein bißchen verwirrt. Und es herrschte keine Koordination, kein Teamgeist unter ihnen.

Andererseits schienen sie alle in recht ordentlicher körperlicher Verfassung zu sein, vor allem dieser Ausländer, Marek. Und die Frau war auch nicht schlecht. Guter Muskeltonus in den Armen, Schwielen an den Händen. Kompetentes Auftreten. Die könnte unter Druck standhalten, dachte er.

Aber der gutaussehende Junge war wohl nicht zu gebrauchen. Gordon seufzte, als Chris Hughes zum Fenster hinausschaute, sein Spiegelbild bemerkte und sich die Haare zurückstrich.

Bei dem vierten, dem Strebertypen, war Gordon sich nicht ganz sicher. Offensichtlich hatte er viel Zeit im Freien verbracht, seine Kleidung war ausgebleicht, seine Brillengläser zerkratzt. Offenbar ein Technikfreak. Der alles über Geräte und Schaltkreise wußte, aber nichts über die Welt. Es war schwer zu sagen, wie er reagieren würde, wenn es hart auf hart ging.

Der kräftige Mann, Marek, sagte: »Erzählen Sie uns jetzt, was eigentlich los ist?«

»Ich glaube, Sie wissen es bereits, Mr. Marek«, entgegnete Gordon. »Oder?«

»Ich habe ein Stück sechshundert Jahre altes Pergament mit der Schrift des Professors darauf. Geschrieben mit sechshundert Jahre alter Tinte.« »Ja. Das stimmt.«

Marek schüttelte den Kopf. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.« »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es einfach eine technologische Realität. Man kann es machen.« Er stand auf und setzte sich zu der Gruppe.

»Sie meinen Zeitreisen«, sagte Marek.

»Nein«, sagte Gordon. »Zeitreisen meine ich absolut nicht. Zeitreisen ist unmöglich. Das weiß jeder.« »Allein schon der Gedanke des Zeitreisens ist Unsinn, da Zeit nicht fließt«, fuhr er fort. »Daß wir glauben, die Zeit vergehe, ist nur ein Fehler unseres Nervensystem - der Art, wie die Welt für uns aussieht. In Wirklichkeit vergeht die Welt nicht, wir vergehen. Die Zeit selbst ist invariant. Sie ist einfach. Deshalb sind Vergangenheit und Zukunft nicht verschiedene Orte, so wie New York und Paris verschiedene Orte sind. Und da die Vergangenheit kein Ort ist, kann man auch nicht dorthin reisen.«

Sie alle schwiegen. Und starrten ihn nur an.

»Es ist wichtig, daß wir uns darüber im klaren sind«, sagte Gordon. »Die ITC-Technologie hat nichts zu tun mit Zeitreisen, zumindest nicht direkt. Was wir entwickelt haben, ist eine Art des Raumreisens. Um genau zu sein, wir verwenden die Quantentechnologie, um eine orthogonale Koordinatentransformation im Multiversum zu erzeugen.« Sie sahen ihn verständnislos an.

»Das heißt«, sagte Gordon, »wir reisen zu einem anderen Ort im Multiversum.«

»Und was ist das Multiversum?«

»Das Multiversum ist die Welt, wie sie von der Quantenmechanik definiert wird. Es bedeutet, daß —«

»Quantenmechanik?« wiederholte Chris. »Was ist Quantenmechanik?« Gordon zögerte kurz. »Das ist ziemlich schwierig«, sagte er. »Aber da Sie alle Historiker sind, will ich versuchen, es ihnen historisch zu erklären.«

»Vor hundert Jahren«, sagte Gordon, »erkannten die Physiker, daß Energie - wie Licht oder Magnetismus oder Elektrizität - aus kontinuierlich sich ausbreitenden Wellen besteht. Wir reden noch immer von >Funkwellen< oder >Lichtwellen<. Tatsächlich war die Erkenntnis, daß jede Form von Energie diesen Wellencharakter besitzt, eine der größten Leistungen der Physik des neunzehnten Jahrhunderts.« »Aber es gab da ein kleines Problem«, fuhr er fort. »Damals zeigte sich, daß man, wenn man ein Licht auf eine Metallplatte richtete, elektrischen Strom erhielt. Der Physiker Max Planck beschäftigte sich mit dem Verhältnis zwischen der Menge des Lichts, die die Platte traf, und der Menge des erzeugten Stroms, und er kam zu dem Schluß, daß Energie keine kontinuierliche Welle war. Statt dessen schien die Energie aus individuellen Einheiten zu bestehen, die er Quanten nannte. Die Entdeckung, daß Energie aus Quanten besteht, war der Beginn der Quantenmechanik. Einige Jahre später zeigte Einstein, daß man den photoelektrischen Effekt erklären konnte, wenn man annahm, daß Licht aus Teilchen bestand, die er Photonen nannte. Diese Photonen des Lichts trafen die Metallplatte und schlugen Elektronen heraus, was die Elektrizität erzeugte. Mathematisch funktionierten die Gleichungen. Sie paßten zu der Hypothese, daß Licht aus Teilchen bestand. Bis hierher alles klar?« »Ja ...«

»Und ziemlich schnell erkannten die Physiker, daß nicht nur Licht, sondern jede Energie aus Teilchen bestand. Daß genaugenommen die gesamte Materie aus Teilchen aufgebaut war. Atome bestanden aus schweren Teilchen im Kern und leichten Elektronen, die außen herumwirbelten. Nach diesem neuen Denken besteht alles aus Teilchen. Okay?« »Okay...«

»Diese Teilchen sind diskrete Einheiten oder Quanten. Und die Theorie, die beschreibt, wie sich diese Teilchen verhalten, ist die Quantentheorie. Eine der großen Entdeckungen der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts.« Alle nickten.

»Die Physiker beschäftigen sich weiter mit diesen Teilchen und erkennen allmählich, daß es sehr merkwürdige Entitäten sind. Man weiß nicht so recht, wo sie sind, man kann sie nicht exakt messen, und man kann nicht vorhersagen, was sie tun werden. Manchmal verhalten sie sich wie Teilchen, manchmal wie Wellen. Manchmal interagieren — >wechselwirken<, wie die Physiker sagen — zwei Teilchen miteinander, obwohl sie Millionen von Kilometern voneinander entfernt sind, ohne jede Verbindung zwischen ihnen. Und so weiter. Die Theorie fängt langsam an, sehr merkwürdig auszusehen. Jetzt passieren zwei Dinge mit der Quantentheorie. Zum einen wird sie bestätigt, immer und immer wieder. Es ist die am besten bewiesene Theorie in der Geschichte der Wissenschaft. Scanner im Supermarkt, Laser und Computerchips, das alles beruht auf der Quantenmechanik. Es besteht deshalb absolut kein Zweifel daran, daß die Quantentheorie die korrekte mathematische Beschreibung des Universums ist.

Aber das Problem ist, sie ist nur eine mathematische Beschreibung. Nur eine Reihe von Gleichungen. Und die Physiker konnten sich die Welt, die diese Gleichungen implizierten, nicht bildlich vorstellen - sie war einfach zu merkwürdig, zu widersprüchlich. Einstein zum Beispiel gefiel das überhaupt nicht. Er hatte den Eindruck, daß die Theorie einen Makel hatte. Aber sie wurde immer wieder bestätigt, und die Situation wurde schlimmer und schlimmer. Schließlich mußten sogar Wissenschaftler, die für ihre Beiträge zur Quantentheorie den Nobelpreis gewannen, zugeben, daß sie sie nicht verstanden. Es ergab sich also eine sehr merkwürdige Situation. Fast seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts existiert nun eine Theorie, die jeder benutzt und die jeder als korrekt bezeichnet - aber kein Mensch kann erklären, was sie über die Welt aussagt.«

»Was hat das alles mit multiplen Universen zu tun?« fragte Marek. »Dazu komme ich gleich«, erwiderte Gordon.

Viele Physiker hätten versucht, die Gleichungen zu erklären, sagte Gordon. Aber aus dem einen oder dem anderen Grund versagte jeder Erklärungsversuch. Doch 1957 schlug ein Physiker namens Hugh Everett eine gewagte, neue Erklärung vor. Everett behauptete, daß unser Universum — das Universum, das wir sehen, das Universum der Felsen und Bäume und Menschen und Galaxien im All - nur eins aus einer unendlichen Zahl von Universen sei, die alle nebeneinander existierten. Jedes dieser Universen verzweigte sich ständig, so daß es ein Universum gab, in dem Hitler den Krieg verlor, und ein anderes, in dem er ihn gewann; ein Universum, in dem Kennedy starb, ein anderes, m dem er weiterlebte. Und auch eine Welt, in der man sich am Morgen die Zähne putzte, und eine andere, in der man es nicht tat.

Und so weiter, und so weiter, und so weiter. Eine Unendlichkeit von Welten.

Everett nannte dies die »Vielwelten-Erklärung« der Quantenmechanik. Seine Erklärung stand zwar im Einklang mit Quantengleichungen aber den Physikern fiel es schwer sie zu akzeptieren. Ihnen gefiel der Gedanke nicht, daß all diese Wellen sich ständig verzweigten. Sie fanden es wenig glaubhaft, daß die Wirklichkeit eine solche Form annehmen konnte.

»Die meisten Physiker weigern sich noch immer, sie zu akzeptieren«, sagte Gordon. »Obwohl sie bis jetzt noch keiner widerlegt hat.« Everett selbst hatte keine Geduld mit den Einwänden seiner Kollegen. Er beharrte darauf, daß die Theorie korrekt sei. ob es ihnen nun gefiel oder nicht. Wenn man seine Theorie nicht glaubte, war man einfach nur borniert und altmodisch, genau wie die Wissenschaftler, die dem kopernikanischen System, das die Sonne in den Mittelpunkt unseres Planetensystems stellte, keinen Glauben schenkten — eine Theorie, die damals ebenfalls unglaublich erschienen war. »Denn Everett behauptete, daß die Vielweltentheorie tatsächlich wahr sei. Daß es multiple Universen tatsächlich gebe. Und daß sie neben unserem eigenen existierten. Schließlich wurden diese multiplen Universen unter dem Begriff >Multiversum< zusammengefaßt.« »Moment mal«, sagte Chris. »Wollen Sie damit sagen, daß das alles wirklich stimmt?« »Ja«, sagte Gordon. »Es stimmt.« »Woher wissen Sie das?« fragte Marek.

»Ich werde es Ihnen zeigen«, antwortete Gordon und griff nach einem Aktendeckel mit der Aufschrift »ITC/CTC-Technology«. Er zog ein leeres Blatt Papier heraus und fing an zu zeichnen. »Ein sehr simples Experiment, das schon seit zweihundert Jahren gemacht wird. Stellen Sie zwei Wände auf eine vor die andere. In der ersten Wand befindet sich ein einzelner vertikaler Schlitz.« Er zeigte ihnen die Zeichnung

Jetzt richten sie eine Lichtquelle auf den Schlitz An der Wand dahinter sehen sie -«

»Eine weiße Linie« sagte Marek. »Von dem Licht das durch den Schlitz fällt«

»Genau. Es sieht ungefähr so aus«Gordon zog ein auf Karton aufgezogenes Foto aus der Mappe.

Gordon zeichnete weiter. »Jetzt haben Sie in der vorderen Wand anstelle des einzelnen Schlitzes zwei Schlitze« Richten Sic eine Lichtquelle darauf, und auf der dahinterliegenden Wand sehen Sie-«

»Zwei vertikale Linien« sagte Marek.

»Nein, Sie sehen eine Reihe von hellen und dunklen Streifen«

Er zeigte ihnen das nächste Foto.

»Und nun«, fuhr Gordon fort, »wenn Sie das l.icht durch vier Schlitze scheinen lassen,dann bekommen sie nur halb so viele Streifen wie zuvor. Weil jeder zweite Streifen schwär/, wird.«

Marek runzelte die Stirn. »Mehr Schlitze bedeuten weniger Streifen? Warum?«

»Die gewöhnliche Erklärung ist die, die ich aufgezeichnet habe — das Licht verhält sich wie zwei Wellen, die einander überlagern. An einigen Stellen verstärken sie einander, an anderen löschen sie sich gegenseitig aus. Und das erzeugt dieses abwechselnde Hell-Dun-kel-Muster an der Wind. Wir nennen das eine Interferenz zwischen den beiden Wellen, und was dabei herauskommt, ist ein Interferenzmuster.« Chris Hughes fragte: »Und? Was ist falsch daran?« »Falsch daran ist«, fuhr Gordon fort,»daß ich Ihnen eben eine Erklärung des neunzehnten Jahrhunderts gegeben habe. Sie war völlig in Ordnung, als noch jeder glaubte, daß Licht eine Welle sei. Aber seit Einstein wissen wir, daß Licht aus Teilchen, sogenannten Photonen, besteht. Wie erklärt man, daß ein Haufen Photonen dieses Muster erzeugt?« Alle schwiegen. Sie schüttelten nur den Kopf.

Nun sagte David Stern zum ersten Mal etwas. »Teilchen sind nicht so simpel, wie Sie sie beschrieben haben. Teilchen haben einige wellenähnliche Eigenschaften, abhängig von der Situation. Es kann zu Interferenzen zwischen Teilchen kommen. In diesem Fall entsteht zwischen den Photonen in dem Lichtstrahl eine Interferenz, die genau dieses Muster erzeugt.«

»Das klingt zumindest logisch«, sagte Gordon. »Schließlich ist ein Lichtstrahl nichts anderes als -zig Milliarden Photonen. Man kann sich leicht vorstellen, daß die auf irgendeine Art wechselwirken und so das Interferenzmuster erzeugen.«

Sie alle nickten. Ja, das war wirklich leicht vorstellbar. »Aber stimmt das tatsächlich?« fragte Gordon. »Ist es wirklich das was passiert? Eine Möglichkeit, das herauszufinden, ist, jede Wechselwirkung zwischen den Photonen zu eliminieren. Beschäftigen wir uns nur mit einem einzelnen Photon. Das wurde im Experiment bereits gemacht. Man nimmt einen Lichtstrahl, der so schwach ist, daß jeweils immer nur ein Photon herauskommt. Und man kann sehr empfindliche Detektoren hinter den Schlitz stellen, so empfindlich, daß sie merken, wenn ein einzelnes Photon sie trifft. Okay?«

Diesmal nickten sie langsamer.

»Jetzt kann es keine Interferenz mit anderen Photonen geben, weil wir es ja nur mit einem einzelnen Photon zu tun haben. Die Photonen kommen immer einzeln heraus, eins nach dem anderen. Die Detektoren zeichnen auf, wo die Photonen landen. Und nach ein paar Stunden erhalten wir ein Resultat. Und das sieht etwa so aus.« »Was wir sehen«, sagte Gordon, »ist, daß die einzelnen Photonen immer nur an bestimmten Stellen landen, nie an anderen. Sie verhalten sich genau so, wie sie es in einem normalen Lichtstrahl tun. Aber sie kommen einzeln heraus. Es gibt keine anderen Photonen, mit denen sie interferieren könnten. Aber trotzdem interferiert irgend etwas mit ihnen, weil sie das übliche Interferenzmuster erzeugen. Also: Was interferiert mit einem einzelnen Photon?« Schweigen. »Mr. Stern?«

Stern schüttelte den Kopf. »Wenn man die Wahrscheinlichkeiten berechnet -«

»Wir wollen uns nicht in die Mathematik flüchten. Bleiben wir bei der

Wirklichkeit. Schließlich wurde dieses Experiment bereits durchgeführt

- mit realen Photonen, die reale Detektoren treffen. Und etwas Reales interferiert mit ihnen. Die Frage ist, was?«

»Es müssen andere Photonen sein«, sagte Stern.

»Ja«, sagte Gordon, »aber wo sind sie? Wir haben Detektoren,

aber die registrieren keine anderen Photonen. Wo sind also die

Photonen, die diese Interferenz produzieren?«

Stern seufzte. »Okay«, sagte er und warf die Hände in die Höhe.

Chris fragte: »Was soll das heißen, okay. Was ist okay?«

Gordon nickte Stern zu. »Sagen Sie es ihnen.«

»Was er damit sagen will, ist folgendes. Diese Einphotoneninter-ferenz beweist, daß die Wirklichkeit viel mehr ist als das, was wir in unserem Universum sehen. Die Interferenz passiert, aber in unserem Universum sehen wir keine Ursache dafür. Deshalb müssen die Photonen, die diese Interferenz erzeugen, in anderen Universen sein. Und das beweist, daß andere Universen existieren.«

»Richtig«, sagte Gordon. »Und manchmal gibt es Wechselwirkungen mit unserem Universum.«

»Entschuldigung«, sagte Marek. »Können Sie das noch einmal erklären? Warum gibt es Wechselwirkungen zwischen unserem Universum und einem anderen?«

»Das ist das Wesen des Multiversums«, sagte Gorclon. »Denken Sie daran, in diesem Multiversum verzweigen sich die Universen ständig, das heißt, daß es viele Universen gibt, die dem unseren sehr ähnlich sind. Und zwischen diesen ähnlichen Universen gibt es Wechselwirkungen. Jedesmal, wenn wir in unserem Universum einen Lichtstrahl erzeugen, werden in vielen ähnlichen Universen simultan ebenfalls Lichtstrahlen erzeugt, und die Photonen aus diesen anderen Universen interferieren mit den Photonen in unserem Universum und produzieren das Muster, das wir sehen.« »Und Sie wollen uns sagen, daß das alles wahr ist?« »Absolut wahr. Das Experiment wurde schon viele Male durchgeführt.«

Marek runzelte die Stirn. Kate starrte auf den Tisch. Chris kratzte sich den Kopf.

Schließlich sagte David Stern: »Nicht alle Universen sind ähnlich wie unseres.«

»Nein.«

»Existieren sie gleichzeitig mit unserem?« »Absolut nicht, nein.«

»Das heißt, einige Universen existieren zu einer früheren Zeit?« »Ja. Und da es unendlich viele Universen gibt, existieren sie zu allen früheren Zeiten.«

Stern überlegte einen Augenblick. »Und Sie wollen uns sagen, daß ITC", die Technologie hat, um in diese anderen Universen zu reisen.« »Ja«, sagte Gordon. »Genau das will ich Ihnen sagen.« »Wie?«

»Wir schaffen Wurmlochverbindungen im Quantenschaum.«

»Sie meinen den Wheeler-Schaum? Subatomare Fluktuationen der

Raumzeit?«

»Ja.«

»Aber das ist unmöglich.«

Gordon lächelte. »Sie werden es selbst sehen, und zwar ziemlich bald.«

»Wir werden es sehen? Was soll das heißen?« fragte Marek. »Ich dachte, Sie hätten verstanden«, erwiderte Gordon. »Professor Johnston ist im vierzehnten Jahrhundert. Wir wollen, daß Sie ebenfalls dorthin reisen und ihn zurückholen.«

Keiner sagte etwas. Die Stewardeß drückte auf einen Knopf, und alle Fenster verdunkelten sich gleichzeitig. Sie ging in der Kabine herum, verteilte Decken und Kissen auf den Couchen und richtete sie als Betten her. Neben jede Couch legte sie einen großen, gepolsterten Kopfhörer. »Wir gehen zurück?« sagte Chris Hughes. »Wie?« »Es ist einfacher, wenn wir es Ihnen zeigen«, sagte Gordon und gab jedem von ihnen ein kleines Zellophantütchen mit Tabletten. »Im Augenblick will ich, daß Sie die nehmen.« »Was ist das?« fragte Chris.

»Drei unterschiedliche Beruhigungsmittel«, sagte er. »Dann will ich, daß Sie sich hinlegen und dem lauschen, was aus den Kopfhörern kommt. Sie können schlafen, wenn Sie wollen. Der Flug dauert nur zehn Stunden, Sie werden also sowieso nicht viel aufnehmen können. Aber wenigstens gewöhnen Sie sich ein wenig an die Sprachen und ihre Aussprache.«

»Was für Sprachen?« fragte Chris und nahm seine Tabletten. »Altenglisch und Mittelfranzösisch.«

Marek sagte: »Ich kenne diese Sprachen bereits.«

»Ich glaube nicht, daß Sie die korrekte Aussprache kennen. Setzen Sie die Kopfhörer auf.«

»Aber niemand kennt die korrekte Aussprache«, entgegnete Marek. Doch kaum hatte er das gesagt, besann er sich eines Besseren. »Ich glaube, Sie werden merken«, sagte Gordon, »daß wir sie kennen.« Chris legte sich auf eine der Couchen. Er zog die Decke hoch und setzte sich den Kopfhörer auf. Wenigstens war so der Lärm des Jets nicht mehr zu hören.

Die Tabletten müssen sehr stark sein, dachte er, denn plötzlich fühlte er sich sehr entspannt. Er konnte die Augen nicht offenhalten. Plötzlich setzte eine Stimme ein. »Atmen Sie tief ein«, sagte sie. »Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem wunderschönen, warmen Garten. Alles ist vertraut und behaglich. Direkt vor sich sehen Sie eine Tür, die in den Keller führt. Sie öffnen die Tür. Sie kennen den Keller gut, weil er Ihr Keller ist. Sie gehen die Steintreppen hinunter, in den warmen, behaglichen Keller. Mit jedem Schritt hören Sie deutlicher Stimmen. Sie finden es angenehm, ihnen zuzuhören, es fällt Ihnen leicht, ihnen zuzuhören.«

Nun sprachen abwechselnd eine Männer- und eine Frauenstimme.

»Gib mir meinen Hut. Yiffmay mean heht.«

»Hier ist dein Hut. Hair baye thynhatt.«

»Danke. Grah mersy.«

»Bitte. Ayepray thee.«

Die Sätze wurden länger. Chris fand es schwer, ihnen zu folgen. »Mir ist kalt. Ich hätte gern einen Mantel. Aycam chillingcold, ee wolld leifer half a coot.«

Chris sank langsam, unmerklich in den Schlaf und hatte dabei den Eindruck, er würde noch immer eine Treppe hinuntergehen, tiefer und tiefer hinunter zu einem geräumigen, hallenden, behaglichen Ort. Alles war sehr friedlich, obwohl der letzte Satz, den er hörte, ihn ein wenig besorgt machte.

»Mach dich bereit zu kämpfen. Dicht theeselv to ficht.« »Wo ist mein Schwert? IVliar beest mcc sitvarde?« Doch dann atmete er aus und schlief vollends ein.

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