CORAZON

Wer von der Quantentheorie nicht schockiert ist, versteht sie nicht.

NIELS BOHR, 1927


Niemand versteht die Quantentheorie.

RICHARD FEYNMAN, 1967



Er hätte diese Abkürzung nie nehmen dürfen.

Dan Baker zuckte zusammen, als sein neuer Mercedes S 500 über die unbefestigte Straße holperte, die sie tiefer und tiefer in das Navajo-Reservat im Norden Arizonas brachte. Die Landschaft um sie herum wurde immer trostloser: weit entfernte Tafelberge, sogenannte mesas im Osten, im Westen endlose flache Wüste. Vor einer halben Stunde waren sie an einem Dorf vorbeigekommen — staubige Häuser, eine Kirche und eine kleine Schule, die an einem Bergabhang kauerten —, aber seitdem hatten sie überhaupt nichts mehr gesehen, nicht einmal einen Zaun. Nur leere rote Wüste. Das letzte Auto hatten sie vor einer Stunde gesehen. Jetzt war es Mittag, die Sonne brannte auf sie herab. Baker, ein vierzigjähriger Bauunternehmer aus Phoenix, wurde allmählich ein wenig nervös. Vor allem, da seine Frau, eine Architektin, zu jenen künstlerischen Menschen gehörte, die sich mit so profanen Dingen wie Benzin und Kühlwasser nicht abgaben. Sein Tank war halb leer. Und der Motor lief langsam heiß. »Liz«, sagte er, »bist du sicher, daß das der richtige Weg ist?« Seine Frau, die neben ihm saß, beugte sich über die Karte und fuhr die Route mit dem Finger nach. »Er muß es sein«, sagte sie. »Im Führer heißt es, fünf Kilometer nach der Abzweigung zum Corazon Canyon.« »Aber am Corazon Canyon sind wir schon vor zwanzig Minuten vorbeigekommen. Wir haben ihn bestimmt übersehen.« »Wie sollen wir denn einen Handelsposten übersehen?« »Ich weiß auch nicht.« Baker starrte auf die Straße. »Aber hier ist überhaupt nichts. Bist du ganz sicher, daß du dorthin willst? Ich meine, wir können doch auch in Sedona tolle Navajo-Teppiche kaufen. In Sedona gibt es alle möglichen Teppiche.« »Sedona«, erwiderte sie naserümpfend, »ist nicht authentisch.« »Natürlich ist es authentisch, Liebling. Ein Teppich ist ein Teppich.« »Ein Gewebe.«

»Okay.« Er seufzte. »Ein Gewebe.«

»Außerdem ist es nicht dasselbe«, sagte sie. »In den Läden in Sedona gibt es nur Touristenramsch - aus Acryl und nicht aus Wolle. Ich will die Gewebe, die sie im Reservat verkaufen. Und angeblich hat dieser Handelsposten ein altes Sandpainting-Gewebe aus den Zwanzigern, von Hosteen Klah. Und das will ich haben.«

»Okay, Liz.« Er persönlich wußte nicht so recht, wozu sie noch einen Navajo-Teppich - ein Gewebe — brauchten. Sie hatten bereits zwei Dutzend davon. Liz hatte sie überall im Haus verteilt. Und einige sogar in Schränken verstaut.

Schweigend fuhren sie weiter. Die Straße flirrte in der Hitze, so daß sie aussah wie ein Silbersee. Und es gab auch Luftspiegelungen, Häuser oder Menschen, die plötzlich auf der Straße auftauchten, aber wenn man dann näher kam, war nichts mehr da.

Dan Baker seufzte noch einmal. »Wir sind bestimmt daran vorbeigefahren.«

»Laß uns noch ein paar Kilometer fahren«, sagte seine Frau.

»Wie viele noch?«

»Ich weiß nicht. Ein paar.«

»Wie viele, Liz? Wir sollten entscheiden, wie weit wir noch fahren wollen.«

»Noch zehn Minuten«, sagte sie. »Okay«, erwiderte er. Zehn Minuten.

Er sah eben auf die Tankanzeige, als Liz plötzlich erschrocken die Hand vor den Mund schlug und »Dan!« rief. Als Baker wieder auf die Straße schaute, sah er gerade noch eine Gestalt auftauchen — einen Mann in brauner Kleidung am Straßenrand — und hörte einen lauten Knall an der Seite des Autos.

»O Gott!« sagte sie. »Wir haben ihn angefahren!«

»Was?«

»Wir haben den Typ angefahren.« »Nein, haben wir nicht. Wir sind über ein Schlagloch gefahren.« Im Rückspiegel sah Baker, daß der Mann noch immer am Straßenrand stand. Eine Gestalt in Braun, die sehr schnell in der Staubwolke des Autos verschwand.

»Wir können ihn nicht angefahren haben«, sagte Baker. »Er steht ja noch.«

»Dan. Wir haben ihn angefahren. Ich habe es gesehen.« »Nein, glaube ich nicht, Liebling.«

Baker schaute noch einmal in den Rückspiegel. Aber jetzt sah er nichts mehr außer der Staubwolke hinter dem Auto. »Wir sollten umkehren«, sagte sie. »Warum?«

Baker war ziemlich sicher, daß seine Frau sich getäuscht hatte und sie den Mann auf der Straße nicht angefahren hatten. Aber wenn sie ihn doch angefahren hatten und wenn er auch nur leicht verletzt war — nur eine Wunde am Kopf oder ein Kratzer —, würde das eine lange Unterbrechung ihrer Fahrt bedeuten. Sie würden es nie bis Einbruch der Nacht nach Phoenix schaffen. Wer sich hier draußen herumtrieb, war mit Sicherheit ein Navajo; sie würden ihn in ein Krankenhaus bringen müssen oder zumindest in die nächste größere Stadt, und das war Gallup, was nicht auf ihrem Weg lag —

»Ich dachte, du wolltest umkehren«, sagte sie.

»Will ich auch.«

»Dann laß uns umkehren.«

»Ich will nur keine Probleme, Liz.«

»Dan. Ich glaub das einfach nicht.«

Er seufzte und stieg auf die Bremse. »Okay, ich dreh ja schon um. Ich dreh um.«

Vorsichtig, um nicht in dem roten Sand am Straßenrand steckenzubleiben, wendete er das Auto und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen waren. »O mein Gott.«

Baker hielt am Straßenrand an und sprang hinaus in die Staubwolke, die sein Auto aufgewirbelt hatte. Die sengende Hitze auf Gesicht und Körper nahm ihm fast den Atem. Mindestens fünfzig Grad, dachte er.

Als der Staub sich lichtete, sah er den Mann am Straßenrand liegen; er versuchte gerade, sich auf den Ellbogen aufzustützen. Er war tatterig, um die Siebzig, mit schütteren Haaren und einem Vollbart. Seme Haut war blaß, er sah nicht aus wie ein Navajo. Er trug eine lange braune Kutte. Vielleicht ein Priester, dachte Baker.

»Sind Sie in Ordnung?« fragte Baker und half dem Mann, sich am Straßenrand aufzusetzen.

Der alte Mann hustete. »Ja. Alles in Ordnung.«

»Wollen Sie aufstehen?« fragte Baker. Er war erleichtert, daß er nirgendwo Blut sah.

»Gleich.«

Baker sah sich um. »Wo ist Ihr Auto?« fragte er.

Der Mann hustete noch einmal. Mit hängendem Kopf starrte er in den Straßenstaub.

»Dan, ich glaube, er ist verletzt«, sagte seine Frau. »Ja«, sagte Baker. Der Alte machte zumindest einen sehr verwirrten Eindruck. Baker sah sich noch einmal um, aber da war nichts als flache Wüste, die sich im flirrenden Dunst in alle Richtungen erstreckte. Kein Auto. Nichts.

»Wie ist er hierhergekommen?« fragte Baker.

»Komm«,sagte Liz, »wir müssen ihn in ein Krankenhaus bringen.«

Baker schob die Hände unter die Achseln des alten Mannes und half ihm auf die Füße. Die Kleidung des Mannes war dick und bestand aus einem filzähnlichen Material, aber trotz der Hitze schien er nicht zu schwitzen. Sein Körper fühlte sich kühl, beinahe kalt an.

Der Alte stützte sich schwer auf Baker, als sie die Straße überquerten.

Liz öffnete die hintere Tür. Der alte Mann sagte: »Ich kann gehen. Ich kann sehen.«

»Okay. Gut.« Baker schob ihn auf den Rücksitz. Der Mann legte sich auf das Leder und rollte sich wie ein Baby im Mutterleib zusammen. Unter seiner Kutte trug er gewöhnliche Kleidung: Jeans, ein kariertes Hemd, Nikes. Baker schloß die Tür, und Liz setzte sich wieder auf den Beifahrersitz. Er zögerte noch und blieb draußen in der Hitze stehen. Wie war es möglich, daß dieser alte Kerl sich ganz alleine hier draußen herumtrieb? Und daß er in all diesen Kleidungsstücken nicht schwitzte?

Es war, als wäre er eben aus einem klimatisierten Auto ausgestiegen. Vielleicht ist der doch gefahren, dachte Baker. Vielleicht ist er eingeschlafen. Vielleicht ist sein Auto von der Straße abgekommen und er hatte einen Unfall. Vielleicht saß noch jemand in dem Auto und konnte nicht raus.

Er hörte den Alten murmeln: »Nicht zerrinnen, muß es gewinnen. Geh zurück und hol's mit Glück.«

Baker überquerte die Straße, um sich noch einmal umzusehen. Dabei stieg er über ein sehr großes Schlagloch und überlegte, ob er es seiner Frau zeigen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Neben der Straße waren nirgendwo Reifenspuren zu entdecken, aber im Sand sah er deutlich die Fußabdrücke des alten Mannes. Sie führten von der Wüste zur Straße. In etwa dreißig Metern Entfernung sah Baker den Rand eines arroyo, einer Felsspalte in der Landschaft. Die Spuren schienen von dort zu kommen.

Er folgte den Spuren, stand dann am Rand der Senke und schaute hinunter. Kein Auto. Nichts außer einer Schlange, die zwischen den Felsen davonglitt. Er schüttelte sich.

Etwas Weißes stach ihm ins Auge, das ein Stück unterhalb der Felskante in der Sonne funkelte. Baker kletterte hinunter, um es sich genauer anzusehen. Es war ein weißes Keramikquadrat von gut zwei Zentimetern Kantenlänge. Es sah aus wie ein Isolator. Baker hob es auf und stellte überrascht fest, daß es sich kalt anfühlte. Vielleicht bestand es aus einem dieser neuen Materialien, die Hitze nicht absorbieren. Als er das Stück Keramik genauer untersuchte, entdeckte er in einer Ecke die eingeprägten Buchstaben ITC. Und am Rand befand sich eine Art Knopf. Baker fragte sich, was passieren würde, wenn er ihn drückte. Und dann, mitten in der glühendheißen Wüste, umgeben von riesigen Felsen, drückte er ihn. Nichts passierte.

Er drückte noch einmal. Wieder nichts.

Baker kletterte den Abhang wieder hinauf und ging zum Auto zurück. Der alte Mann schlief und schnarchte. Liz studierte die Karte. »Die nächste größere Stadt ist Gallup.« Baker ließ den Motor an. »Dann auf nach Gallup.«

Auf der Hauptstrecke, die in südlicher Richtung nach Gallup führte, kamen sie besser voran. Der alte Mann schlief immer noch. Liz drehte sich zu ihm um und sagte: »Dan...« »Was ist?«

»Siehst du seine Hände?« »Was ist damit?« »Die Fingerspitzen.«

Baker nahm den Blick von der Straße und schaute schnell in den Rückspiegel. Die Fingerspitzen des Alten war rot bis zum zweiten Knöchel. »Und? Hat er eben einen Sonnenbrand.« »Nur an den Fingerspitzen? Warum nicht an der ganzen Hand?« Baker zuckte die Achseln.

»Vorher waren seine Finger noch nicht so«, sagte sie. »Als wir ihn aufgelesen haben, waren sie noch nicht rot.«

»Liebling, du hast es wahrscheinlich einfach nicht bemerkt.«

»Ich hab es bemerkt, weil er nämlich manikürte Finger hat. Und ich mir dachte, interessant, daß so ein alter Kerl mitten in der Wüste manikürte Finger hat.«

»Aha.« Baker sah auf die Uhr. Er fragte sich, wie lange sie in dem Krankenhaus in Gallup würden bleiben müssen. Wahrscheinlich Stunden. Er seufzte.

Die Straße verlief stur geradeaus.

Auf halbem Weg nach Gallup wachte der Alte auf. Er hustete und sagte: »Sind wir hier? Wo sind wir?« »Wie geht's?«

»Wie's geht? Es steht. Gut, ganz gut.« »Wie heißen Sie?« fragte Liz.

Der Mann blinzelte sie verständnislos an. »Der Quondam-Raum macht mich schaun.«

»Aber wie heißen Sie?«

»Name ist Rauch, Schuld auch«, erwiderte der alte Mann.

»Er reimt alles«, bemerkte Baker.

»Das ist mir auch schon aufgefallen, Dan.«

»Ich habe da mal eine Sendung drüber gesehen«, sagte Baker. »Reimen bedeutet, daß er schizophren ist.«

»Reimen ist Timen«, sagte der alte Mann. Und dann fing er an laut zu singen, fast schreiend krächzte er zur Melodie des alten John-DenverSongs Take me Home, Country Road:

»Quondam-Raum macht mich schaun Wohin ich gehör, Black Rock, tief im Bergstock, Quondam-Raum macht dich schaun.« »O Mann«, sagte Baker.

»Sir?« fragte Liz noch. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?« »Niobium wirkt nicht wie Opium. Haarige Singularitäten gestatten keine Paritäten.«

Baker seufzte. »Liebling, der Kerl hat 'ne Meise.« »Amsel, Drossel, Fink und Star. Auch die Meisen sind schon da.« Aber seine Frau ließ sich nicht abbringen. »Sir? Wissen Sie, wie Sie heißen?«

»Ruf Gordon«, erwiderte der alte Mann, jetzt wieder schreiend. »Ruf Gordon, ruf Stanley. Bleib in der Familie.«

»Liz«, sagte Baker. »Laß ihn in Frieden, okay? Er soll sich erst einmal beruhigen. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.« Krächzend sang der alte Mann: »Wohin ich gehör, Hexerei ist Schweinerei, Land-Schaum macht mir Grau'n.« Und fing gleich wieder von vorne an.

»Wie weit noch?« fragte Liz. »Frag lieber nicht.«

Baker hatte vorher angerufen, und deshalb warteten bereits Sanitäter mit einer Rollbahre auf sie, als der Mercedes unter dem rot- und cremefarbenen Säulengang vor der Unfallstation des McKinley Hospital anhielt. Der alte Mann verhielt sich ruhig, als sie ihn auf die Bahre hoben, doch als sie ihn festschnallen wollten, wehrte er sich und rief: »Entfesselt mich, erlöset mich!«

»Es ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, Sir«, sagte einer der Sanitäter. »Das sagt Ihr, geht weg von mir! Sicherheit ist die letzte Zuflucht des Halunken!«

Baker war beeindruckt von der Art, wie die Sanitäter den Kerl behandelten, mit sanften und doch festen Bewegungen schnallten sie ihn fest. Und ähnlich beeindruckt war er von der zierlichen dunkelhaarigen Frau in einem weißen Mantel, die nun zu ihnen stieß. »Ich bin Beverly Tsosie«, sagte sie und gab ihnen die Hand. »Ich bin die diensthabende Arztin.« Sie war sehr ruhig, obwohl der Mann auf der Bahre nicht aufhörte zu schreien, während er in die Unfallstation geschoben wurde. »Quondam-Raum macht mich schaun...«

Jeder im Wartezimmer sah ihn an. Baker bemerkte einen zehn-oder elfjährigen Jungen, der, den Arm in einer Schlinge, neben seiner Mutter auf einem Stuhl saß und den Alten neugierig anstarrte. Der Junge flüsterte seiner Mutter etwas zu. Der Alte sang: »Wohiiin ich gehöööör... «

Dr. Tsosie fragte: »Wie lange ist er schon so?« »Von Anfang an. Seit wir ihn gefunden haben.« »Außer wenn er schlief«, ergänzte Liz. »War er je bewußtlos?« »Nein.«

»Übelkeit, Erbrechen?« »Nein.«

»Und wo haben Sie ihn gefunden? Hinter dem Corazon Canyon?« »Zehn oder fünfzehn Kilometer dahinter.« »Da draußen ist nicht viel.« »Sie kennen die Gegend.«

»Ich bin dort aufgewachsen.« Sie lächelte dünn. »Chinle.« Sie schob den noch immer schreienden alten Mann durch eine Pendeltür. »Wenn Sie bitte hier warten«, sagte Doktor Tsosie. »Ich komme dann zu Ihnen, sobald ich mehr weiß. Wird wahrscheinlich eine Weile dauern. Vielleicht wollen Sie etwas zu Mittag essen.« Eigentlich war Beverly Tsosie Ärztin am University Hospital in Al-buquerque, aber in letzter Zeit kam sie zwei Tage pro Woche nach Gallup, um ihrer Großmutter zu helfen, und an diesen Tagen arbeitete sie jeweils eine Schicht in der Unfallstation des McKinley, um sich etwas dazuzuverdienen. Sie mochte das McKinley, die modernen Gebäude mit den kräftigen roten und cremefarbenen Streifen. Es war ein Krankenhaus, das sich wirklich um die Nöte der Bevölkerung kümmerte. Außerdem mochte sie Gallup, eine kleinere Stadt als Albuquerque und ein Ort, an dem sie sich mit ihrer indianischen Herkunft wohler fühlte.

An den meisten Tagen war es ziemlich ruhig in der Unfallstation, kein Wunder also, daß die Ankunft dieses schreienden und erregten alten Mannes für gehörige Unruhe sorgte. Dr. Tsosie schob die Vorhänge beiseite und betrat die Kabine, wo die Sanitäter dem Mann bereits die Kutte und die Turnschuhe ausgezogen hatten. Aber der Alte wehrte sich immer noch heftig, so daß sie ihn angeschnallt lassen mußten. Gerade schnitten sie ihm das karierte Hemd und die Jeans auf.

Nancy Hood, die Oberschwester der Station, sagte, das mache nichts, weil das Hemd sowieso schon kaputt sei; quer über die Brusttasche verlief eine gezackte Linie, an der die Karos nicht zueinander paßten. »Er hat es schon einmal zerrissen und wieder zusammengenäht. Und zwar ziemlich schlecht, wenn Sie mich fragen.« »Nein«, sagte einer der Sanitäter und hielt das Hemd in die Höhe. »Das wurde nicht zusammengenäht, das Tuch ist noch intakt. Komisch, die Muster passen nicht zusammen, weil die einen Karos größer sind als die anderen...«

»Wie auch immer, er wird's nicht vermissen«, sagte Nancy Hood und warf es auf den Boden. Dann wandte sie sich an Dr. Tsosie. »Wollen Sie ihn jetzt untersuchen?«

Der Mann war viel zu unruhig. »Noch nicht. Legen Sie ihm erst einmal eine Infusion in jeden Arm. Und durchsuchen Sie seine Taschen. Mal schauen, ob er irgendwelche Papiere bei sich hat. Wenn nicht, dann nehmen Sie ihm die Fingerabdrücke ab und faxen Sie sie nach Washington, vielleicht taucht er ja in irgendeiner Datenbank auf.« Zwanzig Minuten später untersuchte Beverly Tsosie einen Jungen, der sich beim Baseballspielen den Arm gebrochen hatte. Er trug eine Brille und sah ein wenig aus wie ein Streber und Stubenhocker, schien aber fast stolz auf seine Sportverletzung zu sein. Nancy Hood kam dazu. »Wir haben unseren Mr. X durchsucht.« »Und?«

»Nichts, was uns weiterhilft. Keine Brieftasche, keine Kreditkarten, keine Schlüssel.« Sie gab Beverly ein zusammengefaltetes Stück Papier. Es sah aus wie ein Computerausdruck und zeigte ein merkwürdiges Muster aus Punkten auf einem Gitternetz. Am unteren Rand stand klo.ste.mere. »Klostemere? Sagt Ihnen das irgendwas?«

Hood schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mich fragen, der ist psychotisch.« Beverly Tsosie sagte: »Na ja, sedieren kann ich ihn erst, wenn wir wissen, was in seinem Kopf los ist. Lassen Sie ihm den Schädel röntgen, damit wir ein Trauma oder Hämatome ausschließen können.« »Die Radiologie wird umgebaut, haben Sie das vergessen, Bev? Warum machen Sie keine Kernspintomographie? Scannen Sie den ganzen Körper, dann haben Sie alles auf einmal.« »Bestellen Sie eine«, sagte Tsosie.

Nancy Hood wandte sich zum Gehen. »Ach, und noch 'ne Überraschung. Jimmy ist da, der von der Polizei.«

Dan Baker war nervös. Wie er vorausgesehen hatte, saßen sie jetzt schon Stunden im Wartezimmer des McKinley Hospital. Nachdem sie sich ihr Mittagessen besorgt hatten — Burros in roter Chili-Sauce —, hatten sie auf dem Krankenhausparkplatz einen jungen Polizisten gesehen, der ihr Auto musterte und mit der Hand an der Seite entlangfuhr. Allein schon bei diesem Anblick lief es Baker kalt über den Rücken. Er überlegte, ob er zu dem Polizisten gehen sollte, ließ es dann aber sein. Statt dessen kehrten sie ins Wartezimmer zurück. Er rief seine Tochter an und sagte, daß sie sich verspäten und vielleicht sogar erst am nächsten Morgen nach Phoenix zurückkommen würden. Dann warteten sie. Als Baker schließlich gegen vier Uhr zur Rezeption ging, um sich nach dem alten Mann zu erkundigen, sagte die Frau: »Sind Sie ein Verwandter?« »Nein, aber —«

»Dann warten Sie bitte da drüben. Die Ärztin wird gleich bei Ihnen sein.«

Seufzend ging er zum Fenster und sah zu seinem Auto hinaus. Der Polizist war verschwunden, aber jetzt klemmte ein flatternder Zettel unter dem Scheibenwischer. Baker trommelte mit den Fingern aufs Fensterbrett. Wenn man in diesen Kleinstädten in Schwierigkeiten gerät, kann alles passieren. Und je länger er wartete, desto drastischer wurden die Szenarien, die er sich ausmalte: Der Alte lag im Koma, und sie durften die Stadt nicht verlassen, bis er aufwachte. Der Alte starb, und sie wurden wegen Totschlags angeklagt. Oder sie wurden zwar nicht angeklagt, mußten aber bei der gerichtlichen Untersuchung erscheinen, die in vier Tagen stattfinden sollte.

Als schließlich jemand kam, um mit ihnen zu sprechen, war es nicht die zierliche Ärztin, sondern der Polizist. Er war ein junger Beamter Mitte Zwanzig, in einer ordentlich gebügelten Uniform. Er hatte lange Haare, und auf seinem Namensschild stand James Wauneka. Baker fragte sich, was für ein Name das wohl war. Vermutlich Hopi oder Navajo. »Mr. und Mrs. Baker?« Wauneka war sehr höflich und stellte sich vor. »Ich war eben bei der Ärztin. Sie hat ihre Untersuchungen abgeschlossen, und die Kernspinergebnisse liegen vor. Es gibt absolut keinen Hinweis darauf, daß er von einem Auto angefahren wurde. Und ich selbst habe mir Ihr Auto angesehen. Keine Spur eines Aufpralls. Ich schätze, Sie sind über ein Schlagloch gefahren und haben nur geglaubt, daß Sie ihn angefahren haben. Die Straße da draußen ist ziemlich schlecht.«

Baker warf seiner Frau einen bösen Blick zu, doch sie wich ihm aus. »Kommt er wieder in Ordnung?« fragte sie. »Sieht so aus, ja.«

»Dann können wir also fahren?« fragte Baker.

»Liebling«, sagte Liz. »Willst du ihm nicht das Ding geben, das du gefunden hast?«

»Ach, ja.« Baker zog das kleine Keramikquadrat aus der Tasche. »Das da habe ich gefunden, in der Nähe der Stelle, wo er gelegen hat.«

Der Polizist drehte das Ding in den Händen. »ITC«, sagte er, als er den Aufdruck sah. »Wo genau haben Sie das gefunden?«

»Ungefähr dreißig Meter von der Straße entfernt. Ich dachte mir, daß er vielleicht ein Auto hatte und damit von der Straße abgekommen war.

Aber da war nirgends ein Auto.«

»Sonst noch was?«

»Nein. Das ist alles.«

»Na, dann vielen Dank«, sagte Wauneka und steckte sich die Keramik in die Tasche. Und dann hielt er kurz inne. »Ach, das hätte ich beinahe vergessen.« Er zog ein Stück Papier aus der Tasche und faltete es behutsam auf. »Das haben wir in seiner Kleidung gefunden. Ich habe mich gefragt, ob Sie das schon mal gesehen haben.«

Baker warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt: eine Anordnung von Punkten auf einem Gitternetz. »Nein«, sagte Baker. »Das habe ich noch nie gesehen.«

»Sie haben es ihm also nicht gegeben?« »Nein.«

»Haben Sie eine Ahnung, was es sein könnte?« »Nein«, sagte Baker. »Absolut keine Ahnung.« »Aber ich«, sagte seine Frau. »Wirklich?« fragte der Polizist.

»Ja«, sagte sie. »Wenn Sie gestatten...« Sie nahm dem Polizisten das Papier ab.

Baker seufzte. Liz ließ mal wieder die Architektin heraushängen; eingehend musterte sie das Papier, drehte es und sah sich das Punktmuster von oben und von der Seite an. Baker wußte, warum. Sie versuchte davon abzulenken, daß sie unrecht gehabt hatte, daß das Auto tatsächlich über ein Schlagloch gefahren war und daß sie hier einen ganzen Tag vergeudet hatten. Sie versuchte, diese Zeitverschwendung zu rechtfertigen, ihr irgendwie Bedeutung zu verleihen. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ich weiß, was es ist. Es ist eine Kirche.« Baker sah sich die Punkte auf dem Papier an. »Das soll eine Kirche sein?« fragte er.

»Na ja, zumindest der Grundriß von einer«, erwiderte sie. »Schau. Das ist die Längsachse des Kreuzes, das Mittelschiff... Siehst du das? Das ist eindeutig eine Kirche, Dan. Und der Rest dieser Abbildung,

die Quadrate in den Quadraten, alles rechtwinklig, das sieht aus... weißt du, das könnte ein Kloster sein.« »Ein Kloster?« fragte der Polizist.

»Ich glaube schon«, sagte sie. »Und was ist mit der Beschriftung hier unten? Ist >klo< nicht eine Abkürzung für Kloster? Bestimmt. Wie gesagt, ich halte das für ein Kloster.« Sie gab dem Polizisten die Abbildung zurück.

Mit übertriebener Geste sah Baker auf seine Uhr. »Wir sollten jetzt wirklich los.«

»Natürlich«, sagte Wauneka, der den Wink verstanden hatte. Er gab ihnen die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Und entschuldigen Sie, daß wir Sie so lange aufgehalten haben. Eine schöne Fahrt noch.« Baker legte seiner Frau den Arm um die Taille und führte sie hinaus ins nachmittägliche Sonnenlicht. Es war kühler geworden, im Osten stiegen Heißluftballons in den Himmel. Gallup war ein Zentrum für Ballonfahrer. Er ging zum Auto. Der Zettel auf der Windschutzscheibe erwies sich als Werbung für einen Türkisschmuckverkauf in einem Geschäft am Ort. Er zog ihn unter dem Scheibenwischer hervor, zerknüllte ihn und stieg ein. Seine Frau saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz und starrte geradeaus. Er ließ den Motor an. »Okay«, sagte sie. »Tut mir leid.« Es klang mürrisch, aber Baker wußte, mehr würde er von ihr nicht bekommen. Er beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Nein«, sagte er. »Du hast genau das Richtige gemacht. Wir haben dem alten Knaben das Leben gerettet.« Seine Frau lächelte.

Er rollte vom Parkplatz und fuhr in Richtung Highway.

Der alte Mann im Krankenhaus schlief, sein Gesicht zur Hälfte unter einer Sauerstoffmaske versteckt. Jetzt war er ruhig; sie hatte ihm ein leichtes Sedativum gegeben, und er war entspannt und atmete gleichmäßig. Beverly Tsosie stand am Fuß des Betts und besprach den Fall mit Joe Nieto, einem Mescalero-Apachen, der ein fähiger Internist und ein sehr guter Diagnostiker war. »Männlicher Weißer, ungefähr siebzig Jahre alt. Bei der Einlieferung verwirrt, benommen und extrem desorientiert. Leichte kongestive Herzinsuffizienz, etwas erhöhte Leberenzyme, ansonsten nichts.« »Und die haben ihn nicht mit dem Auto angefahren?« »Offensichtlich nicht. Aber komisch ist es schon. Sie sagten, sie hätten ihn nördlich des Corazon Canyon aufgelesen. Aber in zwanzig Kilometer Umkreis ist da rein gar nichts.« »Und?«

»Der Kerl hat absolut keine Expositionssymptome. Keine Dehy-dration, keine Ketose. Er hat nicht einmal Sonnenbrand.«

»Glauben Sie, daß ihn jemand ausgesetzt hat? Jemand, der keine Lust mehr hatte, daß Opa dauernd mit der Fernbedienung rumspielt?«

»Ja, das nehme ich an.«

»Und was ist mit seinen Fingern?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Er hat irgendwie ein Durchblutungsproblem. Seine Fingerspitzen sind kalt und stark gerötet, es könnten sich Gangräne entwickeln. Aber was es auch ist, es hat sich verschlimmert, seit er im Krankenhaus ist.« »Ist er Diabetiker?« »Nein.« »Raynaud- Syndrom?« »Nein.«

Nieto stellte sich ans Bett und betrachtete die Finger. »Nur die Fingerspitzen sind betroffen. Die Schädigung ist rein distal.« »Genau«, entgegnete sie. »Wenn man ihn nicht in der Wüste gefunden hätte, würde ich sagen, das sind Erfrierungen.« »Haben Sie ihn auf Schwermetalle untersucht, Bev? Das könnte nämlich eine Schwermetallvergiftung sein. Kadmium oder Arsen. Das würde die Finger erklären und auch seine Demenz.«

»Ich habe ihm Blutproben abgenommen. Aber Schwermetalltests werden nur in der Uniklinik in Albuquerque gemacht. Die Ergebnisse bekomme ich erst nach zweiundsiebzig Stunden.«

»Haben Sie eine Identifizierung, eine Krankengeschichte, sonst irgendwas?«

»Nichts. Wir haben eine Vermißtenanzeige rausgegeben, und wir haben seine Fingerabdrücke für einen Datenbankcheck nach Washington geschickt, aber das kann eine Woche dauern.«

Nieto nickte. »Und dieses erregte Geplapper? Was hat er gesagt?«

»Das war alles in Reimen, immer wieder dasselbe. Irgendwas über Gordon und Stanley. Und dann sagte er: >Quondam-Raum macht mich schaun.<«

»Quondam? Ist das nicht Lateinisch?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ist schon eine Weile her, daß ich in der Kirche war.«

»Ich glaube, quondam ist ein lateinisches Wort«, wiederholte Nieto. Plötzlich hörten sie eine fremde Stimme. »Entschuldigung?« Es war der bebrillte Junge, der, seine Mutter neben sich, im Bett gegenüber saß. »Wir warten noch immer auf den Chirurgen, Kevin«, entgegnete Beverly. »Wenn er kommt, richten wir deinen Arm ein.« »Er hat nicht >Quondam-Raum< gesagt«, bemerkte der Junge. »Er hat >Quantenschaum< gesagt.« »Was?«

»Quantenschaum. Er hat >Quantenschaum< gesagt.«

Sie gingen zu ihm. Nieto schien belustigt. »Und was genau ist Quantenschaum?«

Der Junge blinzelte hinter seiner Brille und sah sie ernst an. »In sehr kleinen, subatomaren Dimensionen ist die Struktur der Raumzeit unregelmäßig. Sie ist nicht glatt, sondern irgendwie blasenförmig und schaumig. Und weil das ganz unten auf der Quantenebene ist, nennt man das Quantenschaum.«

»Wie alt bist du?« fragte Nieto.

»Elf.«

Seine Mutter sagte: »Er liest sehr viel. Sein Vater arbeitet in Los Alamos.«

Nieto nickte. »Und was ist der Sinn von diesem Quantenschaum?« »Da gibt's keinen Sinn«, erwiderte der Junge. »Das Universum ist einfach so beschaffen, auf der subatomaren Ebene.« »Und warum sollte dieser alte Knabe gerade darüber reden?« »Weil er ein bekannter Physiker ist«, sagte Wauneka, der eben ins Zimmer trat. Er sah auf ein Blatt Papier in seiner Hand. »Das ist eben auf die Vermißtenmeldung reingekommen. Joseph A.Traub, einundsiebzig Jahre alt, Werkstoffphysiker. Spezialist für supraleitende Metalle. Als abgängig gemeldet von seinem Arbeitgeber, ITC Research in Black Rock, heute gegen Mittag.«

»Black Rock? Das ist doch in der Gegend von Sandia.« Der Ort lag mehrere Stunden entfernt, mitten in New Mexico. »Wie zum Teufel ist der Kerl zum Corazon Canyon in Arizona gekommen?« »Keine Ahnung«, sagte Beverly. »Aber er ist -« In diesem Augenblick ging der Alarm los.

Es passierte mit einer Geschwindigkeit, die Jimmy Wauneka verblüffte. Der alte Mann hob den Kopf vom Kissen, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und spuckte dann Blut. Die Sauer-stoftmaske färbte sich grell rot; Blut quoll seitlich aus der Maske heraus, lief ihm über Wangen und Kinn und befleckte Kissen und Wand. Ein gurgelndes Geräusch drang aus seiner Kehle: Er ertrank in seinem eigenen Blut. Beverly stürzte bereits durchs Zimmer. Wauneka rannte hinter ihr her. »Drehen Sie ihm den Kopf zur Seite!« rief Nieto, der ebenfalls zum Bett gelaufen kam. »Den Kopf drehen!« Beverly hatte dem alten Mann die Maske heruntergerissen und versuchte, ihm den

Kopf zu drehen, aber er wehrte sich, noch immer gurgelnd, die Augen vor Panik weit aufgerissen. Wauneka schob sich an ihr vorbei, packte den Kopf des Mannes mit beiden Händen und riß ihn mit Kraft zur Seite, so daß sich der ganze Körper mit drehte. Der Mann erbrach sich wieder; Blut spritzte auf die Kontrollgeräte und auf Wauneka. »Absaugen!« rief Beverly und deutete auf einen Schlauch an der Wand. Wauneka versuchte, den alten Mann festzuhalten und gleichzeitig nach dem Schlauch zu greifen, aber der Boden war glitschig vom Blut. Er rutschte aus und hielt sich im Fallen am Bett fest. »Na kommt, Leute!« rief Dr. Tsosie. »Ich brauche euch! Absaugen!« Sie kniete neben dem Bett, schob dem Mann ihre Finger in den Mund und zog die Zunge heraus. Wauneka rappelte sich wieder hoch, sah, daß Nieto ihm den Saugschlauch hinhielt. Er packte ihn mit blutfeuchteten Fingern. Nieto drehte das Ventil an der Wand auf. Beverly nahm den Neoprenschlauch und begann, dem Mann Mund und Nase abzusaugen. Blut lief durch den Schlauch. Der Mann keuchte und hustete, aber er wurde immer schwächer.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Beverly, »wir sollten — « Das Kontrollsignal des Herzmonitors veränderte sich, wurde schriller, dann zu einem gleichbleibenden hohen Ton. Herzstillstand. »Verdammt«, sagte sie. Ihr Mantel, ihre Bluse waren blutbespritzt. »Defibrillator. Bringt mir den Defibrillator!«

Nieto stand neben dem Bett und hielt die Plattenelektroden in den ausgestreckten Händen. Wauneka wich zur Seite, als Nancy Hood sich durch die Leute schob, die sich jetzt um den Mann drängten. Ein scharfer Geruch stieg Wauneka in die Nase, und er wußte, daß der Darm des Alten sich entleert hatte. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß der Mann im Sterben lag.

»Achtung!« rief Nieto und drückte dem Mann die Platten auf die Brust.

Der Körper bäumte sich auf. Auf dem Wandregal klirrten Flaschen. Das Alarmsignal schrillte weiter.

Beverly sagte: »Ziehen Sie den Vorhang zu, Jimmy.«

Er drehte sich um und sah, daß der bebrillte Junge mit weit aufgerissenem Mund zu ihnen herüberstarrte. Wauneka zog den Vorhang zu.

Ein Stunde später sank eine erschöpfte Beverly Tsosie an einen Schreibtisch in der Ecke der Station, um den Abschlußbericht zu schreiben. Er mußte besonders ausführlich sein, weil der Patient gestorben war. Als sie eben die Untersuchungsergebnisse durchblätterte, kam Jimmy Wauneka mit einem Becher Kaffee zu ihr. »Danke«, sagte sie. »Übrigens, haben Sie die Telefonnummer dieser ITC-Firma? Ich muß dort anrufen.«

»Ich mache das für Sie«, sagte Wauneka und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. »Sie hatten einen schweren Tag.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, ging Wauneka zum Nachbartisch, klappte sein Notizbuch auf und wählte eine Nummer. Er lächelte sie an, während er auf die Verbindung wartete. »ITC-Research.«

Er stellte sich vor und sagte dann: »Ich rufe an wegen Ihres vermißten Angestellten Joseph Traub.«

»Einen Augenblick bitte, ich verbinde Sie mit dem Direktor unserer Personalabteilung.«

Er mußte mehrere Minuten warten. Berieselungsmusik spielte. Er legte die Hand über den Hörer und sagte so beiläufig wie möglich zu Beverly: »Sind Sie zum Abendessen frei oder bei Ihrer Großmutter?« Sie schrieb weiter und erwiderte, ohne aufzublicken: »Bei Großmutter.«

Er zuckte leicht die Achseln. »Wollte nur mal fragen«, sagte er. »Aber sie geht früh ins Bett. So gegen acht.« »Tatsächlich?«

Sie lächelte, noch immer ohne den Blick von ihren Notizen zu nehmen. »Ja.«

»Alles klar dann, oder?« »Alles klar.«

Im Telefon klickte es, und er hörte eine Frau sagen: »Einen Augenblick bitte, ich stelle Sie durch zu unserem ersten Vizepräsidenten, Dr. Gordon.«

»Danke.« Erster Vizepräsident, dachte er.

Noch ein Klicken und dann eine rauhe Stimme: »John Gordon.«

»Dr. Gordon, hier spricht James Wauneka vom Gallup Police Department. Ich rufe aus dem McKinley Hospital in Gallup an«, sagte er. »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie.«

Wenn man durch die Panoramafenster des ITC-Konferenzraums schaute, konnte man die gelbe Nachmittagssonne auf den Glas- und Stahlkonstruktionen der fünf Labore des Black-Rock-Forschungszentrums funkeln sehen. In der Entfernung bildeten sich über der Wüste Gewitterwolken. Doch die zwölf Mitglieder des ITC-Auf-sichtsrats interessierten sich nicht für den Ausblick. Sie tranken Kaffee an einem Nebentisch, unterhielten sich und warteten auf den Beginn der Konferenz. Ratssitzungen dauerten immer bis tief in die Nacht, weil der Präsident von ITC, Robert Doniger, an chronischer Schlaflosigkeit litt und sie deshalb so legte. Es war ein Tribut an Donigers Brillanz, daß die Aufsichtsratsmitglieder, alles Topmanager und risikobereite Großinvestoren, dennoch kamen.

An diesem Nachmittag war Doniger noch nicht erschienen. John Gordon, Donigers stämmiger Vizepräsident, glaubte zu wissen, warum. Sein Handy am Ohr, ging er nun langsam auf die Tür zu. Gordon war früher Projektleiter bei der Air Force gewesen, und er hatte noch immer ein militärisches Auftreten. Sein blauer Geschäftsanzug war frisch gebügelt, und seine schwarzen Schuhe glänzten. »Verstehe, Officer«, sagte er in sein Handy und schlüpfte zur Tür hinaus. Wie Gordon vermutet hatte, marschierte Doniger wie ein hyperaktives Kind draußen im Korridor auf und ab, während Diane Kramer, die Leiterin der Rechtsabteilung von ITC, an der Wand stand und ihm zuhörte. Gordon sah Doniger wütend mit dem Finger nach ihr stechen. Ganz offensichtlich machte er ihr die Hölle heiß. Robert Doniger war achtunddreißig Jahre alt, ein brillanter Phy-siker und Milliardär. Trotz Schmerbauch und grauen Haaren hatte er noch immer etwas Jugendliches an sich - oder Pubertäres, je nachdem, mit wem man sprach. Auf jeden Fall hatte das Alter ihn nicht sanfter gemacht. ITC war die dritte Firma, die er gegründet hatte; die ersten beiden hatten ihn reich gemacht, aber sein Führungsstil war so zynisch und gemein wie eh und je. Fast jeder in der Firma hatte Angst vor ihm. Dem Aufsichtsrat zuliebe trug Doniger einen blauen Anzug und nicht wie sonst Khakihose und Sweatshirt. Aber er fühlte sich offensichtlich nicht wohl in dem Anzug, wie ein Junge, den die Eltern gezwungen hatten, sich herauszuputzen.

»Nun, vielen Dank, Officer Wauneka«, sagte Gordon in das Handy. »Wir kümmern uns um alles. Ja. Wir erledigen das sofort. Noch einmal vielen Dank.« Gordon klappte das Handy zu und wandte sich an Doniger. »Traub ist tot, sie haben seine Leiche identifiziert.« »Wo?«

»In Gallup. Das war eben ein Polizist, der aus der Notaufnahme angerufen hat.«

»Was glauben sie, woran er starb?«

»Sie wissen es nicht. Sie tippen auf Herzstillstand. Aber da gab's ein Problem mit seinen Fingern. Ein Durchblutungsproblem. Man wird eine Autopsie durchführen. Das ist gesetzlich vorgeschrieben.« Doniger tat es mit einer unwirschen Handbewegung ab. »Na und? Die Autopsie wird nichts ergeben. Traub hatte Transkriptionsfehler. Da kommen die nie drauf. Warum vergeudest du meine Zeit mit diesem Blödsinn?«

»Einer unserer Angestellten ist eben gestorben, Bob«, sagte Gordon. »Stimmt«, erwiderte Doniger kalt. »Und weißt du was? Dagegen kann ich verdammt noch mal nichts machen. Es tut mir leid. Oje, oje. Schick ein paar Blumen. Erledige es einfach, okay?«

In Augenblicken wie diesem atmete Gordon immer tief durch und erinnerte sich daran, daß Doniger nicht anders war als die meisten ehrgeizigen jungen Unternehmer. Er erinnerte sich daran, daß Doniger hinter seinem Sarkasmus fast immer recht hatte. Und er erin-nerte sich daran, daß Doniger sich sein ganzes Leben lang so verhalten hatte.

Bei Robert Doniger hatten sich schon früh erste Anzeichen von Genialität gezeigt. Bereits in der Grundschule verschlang er technische Fachbücher. Und als er neun war, konnte er jedes elektronische Gerät -ob Radio oder Fernseher - reparieren; er spielte einfach so lange mit den Röhren und Drähten herum, bis es wieder funktionierte. Als seine Mutter sich sorgte, er könne sich mit einem Stromschlag töten, erwiderte er nur: »Mach dich doch nicht lächerlich.« Und als seine geliebte Großmutter starb, informierte ein tränenloser Doniger seine Mutter, daß die alte Dame ihm noch siebenundzwanzig Dollar schulde und er nun von ihr die Rückzahlung erwarte.

Nachdem er mit achtzehn in Stanford summa cum laude in Physik promoviert hatte, ging er zu FermiLab in der Nähe von Chicago. Nach sechs Monaten kündigte er wieder und sagte dem Direktor des Labors, daß »Elementarteilchenphysik nur etwas für Wichser« sei. Er kehrte nach Stanford zurück, um dort in einem Bereich zu arbeiten, der ihm vielversprechender erschien: Magnetismus auf Basis der Supraleitung. Zu dieser Zeit verließen Wissenschaftler aller Fachgebiete die Universitäten und gründeten Firmen, um aus ihren Erfindungen Kapital zu schlagen. So auch Doniger: Er gründete nach einem Jahr in Stanford eine Firma namens TechGate, in der er die Komponenten für ein Präzisionsätzverfahren für Chips, das er nebenbei erfunden hatten, herstellte. Als Stanford dagegen protestierte, weil er die Entdeckungen während der Arbeit in ihren Laboren gemacht habe, sagte Doniger nur: »Wenn Sie ein Problem haben, verklagen Sie mich. Ansonsten halten Sie den Mund.«

Schon bei TechGate wurde Donigers barscher Führungsstil berühmt. Bei Besprechungen mit seinen Wissenschaftlern saß er, seinen Stuhl gefährlich weit nach hinten gekippt, in einer Ecke und deckte sie mit Fragen ein. »Was ist damit?« — »Warum tun Sie das?« - »Was ist der Grund hierfür?« Wenn die Antwort ihn zufriedenstellte, sagte er: »Vielleicht...« Das war das höchste Lob, das man von Doniger bekommen konnte. Aber wenn ihm die Antwort nicht gefiel — was meistens der Fall war —, knurrte er: »Sind Sie hirntot?« — »Haben Sie vor, zum Idioten zu werden?« — »Wollen Sie dumm sterben?« - »Sie sind ja nicht mal ein Schwachkopf.« Wenn er wirklich verärgert war, warf er mit Bleistiften und Notizblöcken um sich und schrie: »Arschlöcher! Ihr seid alle verdammte Arschlöcher!« Die Angestellten von TechGate fanden sich mit den Wutausbrüchen von »Todesmarsch Doniger« ab, weil er ein brillanter Physiker war - ein viel besserer, als sie es waren -, weil er die Probleme kannte, mit denen seine Teams sich herumschlugen, und weil seine Kritik immer berechtigt und treffsicher war. So unangenehm dieser ätzende Stil auch sein mochte, er funktionierte; in nur zwei Jahren machte TechGate erstaunliche Fortschritte.

1984 hatte er seine Firma für hundert Millionen Dollar verkauft. Im selben Jahr zählte das Time Magazine ihn zu den fünfzig Leuten unter fünfundzwanzig, die »den Rest des Jahrhunderts prägen werden«. Zu diesem Kreis gehörten auch Bill Gates und Steve Jobs. »Verdammt noch mal«, sagte Doniger nun zu Gordon. »Muß ich denn alles selber machen? Wo wurde Traub gefunden?« »In der Wüste. Im Navajo-Reservat.« »Wo genau?«

»Soweit ich weiß, zwanzig Kilometer nördlich des Corazon. Anscheinend gibt's da draußen nicht viel.«

»Na gut«, entgegnete Doniger. »Dann sag Baretto vom Sicherheitsdienst, er soll Traubs Auto zum Corazon fahren und es in der Wüste abstellen. Er soll einen Reifen zerstechen und dann verduften.« Diane Kramer räusperte sich. Sie war dunkelhaarig, Anfang Dreißig und trug ein schwarzes Kostüm. »Ich weiß nicht so recht, Bob«, sagte sie in bestem anwaltlichem Tonfall. »Du manipulierst Beweise —« »Natürlich manipuliere ich Beweise! Darum geht's doch. Irgend jemand wird fragen, wie Traub überhaupt dahin gekommen ist. Also stellen wir sein Auto dort ab, damit man es findet.« »Aber wir wissen gar nicht genau, wo -« »Das ist auch nicht wichtig. Tu es einfach.« »Das bedeutet, daß Baretto und noch ein anderer von der Sache wissen ...«

»Und wen kümmert das? Niemanden. Tu es einfach, Diane.«

Ein kurzes Schweigen entstand. Kramer starrte stirnrunzelnd zu Boden.

Die Sache gefiel ihr absolut nicht.

»Schau«, sagte Doniger, an Gordon gewandt. »Weißt du noch, als damals Garman kurz davor war, diesen Vertrag zu kriegen und nicht meine alte Firma? Erinnerst du dich noch an das Gerücht, das wir in die Welt gesetzt haben?« »Nur zu gut.«

»Du hattest dir so den Kopf zerbrochen deswegen«, sagte Doniger mit einem Grinsen. »Garman war ein fettes Schwein. Dann verlor er viel Gewicht, weil seine Frau ihn auf Diät gesetzt hatte. Wir deuteten an, daß Garman inoperablen Krebs habe und seine Firma eingehen werde. Er dementierte natürlich, aber keiner glaubte ihm, weil er so schlecht aussah. Wir bekamen den Vertrag. Und ich schickte seiner Frau einen großen Korb mit Obst.« Er lachte. »Aber das Wichtigste war doch, daß niemand das Gerücht bis zu uns zurückverfolgen konnte. Alles ist erlaubt, Diane. Geschäft ist Geschäft. Also schaff das verdammte Auto in die Wüste.«

Sie nickte, starrte aber noch immer zu Boden.

»Und dann«, fuhr Doniger fort, »will ich wissen, wie zum Teufel Traub überhaupt in den Transitraum gekommen ist. Er hatte doch schon zu viele Reisen gemacht und dabei zu viele Transkriptionsfehler angesammelt. Sein Limit war überschritten. Er hätte keine weiteren Reisen mehr machen dürfen und hatte keine Transitfreigabe mehr. Da unten wimmelt es von Sicherheitsleuten. Also, wie ist er in den Transitraum gekommen?«

»Wir glauben, daß er eine Wartungsfreigabe hatte, damit er sich um die Maschinen kümmern konnte«, sagte Kramer. »Er wartete bis zum Schichtwechsel am Abend und nahm dann eine Maschine. Aber das prüfen wir alles genau nach.«

»Ich will nicht, daß du es nachprüfst«, erwiderte Doniger sarkastisch. »Ich will, daß du das Problem bereinigst, Diane.« »Wir bereinigen das, Bob.«

»Das solltet ihr auch, verdammt noch mal«, sagte Doniger. »Weil diese Firma jetzt drei schwerwiegende Probleme hat. Und Traub ist noch das geringste. Die beiden anderen sind bedeutender. Viel, viel bedeutender.«

Doniger hatte schon immer Weitblick bewiesen. 1984 hatte er TechGate verkauft, weil er voraussah, daß das Chipgeschäft »gegen die Wand fahren« würde. Damals klang das noch unsinnig. Computerchips verdoppelten alle achtzehn Monate ihre Leistungsfähigkeit, während die Kosten sich halbierten. Aber Doniger erkannte, daß man diese Fortschritte nur erreichte, indem man die Komponenten auf dem Chip immer enger zusammendrängte. Irgendwann würden die Schaltkreise so dicht beieinanderliegen, daß die Chips in der Hitze, die sie entwickelten, schmelzen würden. Das bedeutete eine Obergrenze für Computerleistung. Doniger wußte, daß die Gesellschaft immer mehr Rechnerleistung verlangen würde, aber er sah keine Möglichkeit, das zu erreichen.

Frustriert wandte er sich einem früheren Interessensgebiet zu, dem Magnetismus auf Basis der Supraleitung. Er gründete eine zweite Firma, Advanced Magnetics. Diese Firma besaß mehrere Patente, die wesentlich waren für das neue Magnetresonanz-Dar-stellungsverfahren, kurz MRI, für die Kernspintomograhen also, die zu der Zeit begannen, die Medizin zu revolutionieren. Advanced Magnetics erhielt eine Viertelmillion Dollar Tantiemen für jeden Kernspintomographen, der gebaut wurde. Es war »ein Goldesel«, sagte Doniger einmal, »und ungefähr so interessant, wie eine Eselin zu melken«. Gelangweilt und auf der Suche nach neuen Herausforderungen, hatte er die Firma 1988 verkauft. Er war damals acht-undzwanzig Jahre alt und eine Milliarde Dollar schwer. Aber seiner Ansicht nach mußte er eine Großtat erst noch vollbringen.

Im Jahr darauf, 1989, gründete er ITC.

Einer von Donigers Helden war der Physiker Richard Feynman. Anfang der achtziger Jahre hatte Feynman die Hypothese aufgestellt, daß es möglich sein könnte, einen Computer zu bauen, der sich der Quanteneigenschaften von Atomen bediente. Theoretisch wäre ein solcher Quantencomputer abermilliardenmal leistungsstärker als jeder existierende Computer. Aber Feynmans Idee implizierte eine völlig neue Technologie - eine Technologie, die quasi aus dem Nichts entwickelt werden mußte, eine Technologie, die alle Regeln über den Haufen warf". Weil niemand einen praktikablen Weg sah, wie ein solcher Quantencomputer gebaut werden könnte, war Feynmans Idee bald wieder in Vergessenheit geraten. Nur Doniger vergaß sie nicht.

1989 machte Doniger sich daran, den ersten Quantencomputer zu bauen. Die Idee war so radikal — und so riskant -, daß er sein Vorhaben nie öffentlich bekanntgab. Seine neue Firma nannte er einfach nur ITC, International Technology Corporation. In Genf errichtete er seine Zentrale, weil er sich dort aus dem Kader von Physikern, die am CERN arbeiteten, bedienen konnte.

Einige Jahre lang hörte man nichts von Doniger oder von seiner Firma. Die Leute nahmen an, daß er sich zurückgezogen hatte, falls sie überhaupt an ihn dachten. Es war schließlich nicht ungewöhnlich, daß prominente High-Tech-Unternehmer von der Bildfläche verschwanden, nachdem sie ihr Vermögen gemacht hatten.

1994 veröffentlichte das Time Magazine eine Liste der Leute unter vierzig, die unsere Welt prägten. Robert Doniger gehörte nicht dazu. Den Leuten war es egal, sie hatten ihn vergessen. In diesem Jahr verlegte er ITC zurück in die Vereinigten Staaten und errichtete in Black Rock, New Mexico, eine Stunde von Albuquerque entfernt, ein Forschungslabor. Einem aufmerksamen Beobachter wäre nicht entgangen, daß er sich wieder einen Ort ausgesucht hatte, wo er sich aus einem Kader verfügbarer Physiker bedienen konnte. Aber es gab keine Beobachter, weder aufmerksame noch andere. Niemandem fiel deshalb auf, daß ITC in den Neunzigern immer weiter expandierte. In New Mexico wurden weitere Labors gebaut, immer mehr Physiker wurden eingestellt. Donigers Aufsichtsrat wuchs von sechs auf zwölf. Alle waren Topmanager von Firmen, die in ITC investiert hatten, oder risikobereite Großinvestoren. Alle hatten drakonische Geheimhaltungsvereinbarungen unterschrieben, die sie verpflichteten, eine beträchtliche persönliche Bürgschaft bei einem Dritten zu hinterlegen, sich auf Verlangen einem Lügendetektortest zu unterziehen und ITC zu gestatten, ihre Telefone ohne Ankündigung abzuhören. Außerdem verlangte Doniger ein Investment von mindestens 300 Millionen Dollar. Das sei, erklärte er arrogant, der Preis für einen Sitz im Aufsichtsrat. »Wenn

Sie wissen wollen, was ich vorhabe, wenn Sie an dem teilnehmen wollen, was wir hier machen, kostet das eine Drittelmilliarde Dollar. Akzeptieren .Sie, oder lassen Sie es bleiben. Mir ist es egal, wie Sie sich entscheiden.«

Natürlich war es ihm nicht egal. ITC' hatte einen gigantischen Kapitalbedarf, in den letzten neun Jahren hatte man mehr als drei Milliarden Dollar verbraten. Und Doniger wußte, daß er noch mehr brauchte.

»Problem Nummer eins«, sagte Doniger. »Unsere Kapitalausstattung. Wir brauchen noch eine Milliarde, bevor wir Land sehen.« Er nickte in Richtung Konferenzsaal. »Und die liefern mir die nicht. Ich muß sie dazu bringen, daß sie der Berufung von drei neuen Aufsichtsratsmitgliedern zustimmen.«

»Das dürfte ziemlich schwer werden da drin«, erwiderte Gordon. »Ich weiß«, sagte Doniger. »Sie sehen unseren Kapitalbedarf, und sie wollen wissen, wann das aufhört. Sie wollen konkrete Ergebnisse sehen. Und genau die will ich ihnen heute präsentieren.« »Was für konkrete Ergebnisse?«

»Einen Sieg«, sagte Doniger. »Diese Dösköppe brauchen einen Sieg. Irgendwelche aufregenden Neuigkeiten über eins unserer Projekte.« Kramer zog geräuschvoll die Luft ein. Gordon sagte: »Bob, alle unsere Projekte sind langfristig.«

»Eins davon muß doch kurz vor dem Abschluß stehen. Sagen wir, die Dordogne?«

»Ist noch nicht soweit. Ich rate davon ab.«

»Und ich brauche einen Sieg«, sagte Doniger. »Professor Johnston hängt mit seinen Yalies schon drei Jahre auf unsere Kosten in Frankreich herum. So langsam sollten wir doch was zurückbekommen.« »Noch nicht, Bob. Außerdem gehört uns noch nicht alles Land.« »Wir haben genug Land.« »Bob.«

»Diane fliegt hin. Sie kann sie schön unter Druck setzen.« »Professor Johnston wird das sicher nicht gefallen.« »Ich bin mir sicher, daß Diana mit Johnston fertig wird.«

Einer der Assistenten öffnete die Tür des Konferenzsaals und schaute in die Halle. »Ich komme ja gleich!« sagte Doniger, ging aber sofort auf die Tür zu.

Er sah sich noch einmal um und sagte: »Tut es einfach.« Und dann betrat er den Saal und schloß die Tür.

Gordon ging mit Kramer den Korridor hinunter. Ihre hohen Absätze klapperten über den Boden. Gordon schaute nach unten und sah, daß sie unter ihrem sehr korrekten und geschäftsmäßigen Jil-Sander-Kostüm schwarze High-Heels trug. Es war der klassische Kramer-Look: verführerisch und unnahbar zugleich. »Wußtest du das schon vorher?« fragte er.

Sie nickte. »Aber erst seit kurzem. Doniger hat es mir vor einer Stunde gesagt.«

Gordon schwieg. Er unterdrückte seine Verärgerung. Gordon arbeitete seit zwölf Jahren für Doniger, seit den Tagen von Advanced Magnetics.Bei ITC hatte er ein wichtiges industrielles Forschungsprojekt geleitet, das auf zwei Kontinenten Dutzende von Physikern, Chemikern und Computerspezialisten beschäftigte. Er hatte sich erst schlau machen müssen über supraleitende Metalle, fraktale Kompression, Quantenbits und Hochfluß-Ionenaustausch. Bis zum Hals hatte er in theoretischer Physik der schlimmsten Art gesteckt und dennoch Erstaunliches geleistet: Die Entwicklung verlief planmäßig, die Kosten blieben beherrschbar. Doch trotz seines Erfolges vertraute ihm Doniger noch immer nicht so recht.

Kramer dagegen hatte schon immer eine besondere Beziehung zu Doniger genossen. Sie hatte als Anwältin in einer externen Kanzlei, die für die Firma arbeitete, begonnen. Für Doniger besaß sie sowohl Intelligenz als auch Klasse, und deshalb stellte er sie ein. Ein Jahr lang war sie seine Freundin gewesen, und obwohl das schon lange vorbei war, hörte er noch immer auf sie. Im Lauf der Jahre war es ihr gelungen, einige potentielle Katastrophen abzuwenden. »Zehn Jahre lang«, sagte Gordon, »haben wir diese Technologie geheimgehalten. Was eigentlich ein Wunder ist, wenn man es sich überlegt. Die Sache mit Traub war der erste Vorfall, den wir nicht unter Verschluß halten konnten. Zum Glück ist er in den Händen eines vertrottelten Bullen gelandet, und von da geht's nicht weiter. Aber wenn Bob jetzt in Frankreich Druck macht, fangen die Leute vielleicht an, eins und eins zusammenzuzählen. Wir haben ja jetzt schon diese Reporterin in Paris, die uns im Nacken sitzt. Bob riskiert, daß alles bekannt wird.«

»Ich weiß, daß er sich das alles überlegt hat. Das ist das zweite große Problem.«

»An die Öffentlichkeit zu gehen?« »Ja. Daß alles bekannt wird.« »Macht ihm das keine Sorgen?«

»Doch, es macht ihm Sorgen. Aber er scheint einen Plan zu haben, wie er damit fertig wird.«

»Das hoffe ich«, sagte Gordon. »Weil wir uns nicht darauf verlassen können, daß es immer ein vertrottelter Bulle ist, der in unserer schmutzigen Wäsche kramt.«

Am nächsten Morgen kam Officer James Wauneka ins McKinley Hospital und suchte nach Beverly Tsosie. Er wollte sich nach den Ergebnissen der Autopsie des alten Mannes erkundigen. Doch man sagte ihm, daß sie in der Tomographieabteilung im dritten Stock sei. Also ging er nach oben.

Beverly saß in dem kleinen, sandfarben gestrichenen Zimmer neben dem weißen Kernspintomographen und unterhielt sich mit Calvin Chee, dem MRI-Techniker. Er hockte an der Computerkonsole und holte sich schwarzweiße Bilder auf den Monitor, eins nach dem anderen. Die Bilder zeigten fünf Kreise in einer Reihe. Auf jedem Bild, das Chee anklickte, wurden die Kreise kleiner.

»Calvin«, sagte sie gerade. »Das ist unmöglich. Das muß ein Artefakt sein.«

»Erst bitten Sie mich, die Daten noch einmal zu überprüfen«, sagte er, »und dann glauben Sie mir nicht? Ich sag's Ihnen, Bev, das ist kein Artefakt. Das ist echt. Hier, sehen Sie sich die andere Hand an.«

Chee tippte auf die Tastatur, und jetzt erschien ein horizontales Oval mit fünf hellen Kreisen darin auf dem Monitor. »Okay? Das ist die

Mittelhand links, ein Schnitt ziemlich genau durch die Mitte.« Er wandte sich an Wauneka. »Ziemlich genau das, was Sie sehen würden,

wenn Sie Ihre Hand auf einen Hackklotz legen und gerade durchhacken.«

»Sehr anschaulich, Calvin.«

»Ich will ja bloß, daß Sie sich's vorstellen können.«

Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Okay, anatomische Merkpunkte. Die fünf runden Kreise sind die fünf Mittelhandknochen, Diese Dinger da sind die Sehnen, die zu den Fingern fuhren. Nicht vergessen, die Muskeln, die die Hand bewegen, befinden sich vorwiegend im Unterarm. Dieser kleine Kreis da ist die Pulsschlagader, die die Hand an der Gelenkinnenseite entlang mit Blut versorgt. Okay. Jetzt bewegen wir uns vom Gelenk weg, in Schnitten.« Die Bilder wechselten. Das Oval wurde schmaler, und die Knochen entfernten sich voneinander, wie Amöben bei der Teilung. Jetzt waren nur noch vier Kreise zu sehen. »Okay, jetzt haben wir die Mittelhand verlassen und sehen nur noch die Finger. Kleine Arterien in jedem Finger, die sich verzweigen und immer dünner werden, aber man kann sie noch sehen. Sehen Sie, hier und hier. Okay. Jetzt bewegen wir uns auf die Fingerspitzen zu. Die Knochen werden dicker, das ist das proximale Glied, der Knöchel... und jetzt... achten Sie auf die Arterien, wie sie verlaufen ... bei jedem Schnitt... und jetzt.« Wauneka runzelte die Stirn. »Sieht aus wie ein Defekt. Als wäre was gesprungen.«

»Etwas ist gesprungen«, sagte Chee. »Die Arteriolen sind verschoben. Sie laufen nicht zusammen. Ich zeig's Ihnen noch einmal.« Er ging zum vorherigen Schnittbild, dann wieder zum folgenden. Es war eindeutig -die Kreise der winzigen Arterien schienen zur Seite zu springen. »Das ist der Grund, warum der Kerl Gangräne in seinen Fingern hatte. Er hatte keine Durchblutung, weil seine Arteriolen nicht aufemanderpassen. Es ist eine Fehlbildung oder so was.« Beverly schüttelte den Kopf. »Calvin.«

»Wenn ich's Ihnen sage. Und nicht nur hier, er hatte es auch an anderen Stellen im Körper. Im Herzen zum Beispiel. Der Kerl ist doch an einem massiven Koronarinfarkt gestorben, oder? Kein Wunder, weil seine Herzkammerwände auch nicht aufemanderpassen.« »Wegen altem Narbengewebe«, entgegnete sie kopfschüttelnd. »Calvin, kommen Sie. Was mit seinem Herz auch nicht gestimmt haben mag, es hat auf jeden Fall über siebzig Jahre funktioniert. Mit seinen Händen ist es dasselbe. Wenn diese Arterienverschiebung tatsächlich vorhanden gewesen wäre, dann wären ihm die Finger schon vor Jahren abgefallen. Aber das sind sie nicht. Auf jeden Fall war das eine neue Verletzung, der Befund wurde nämlich schlimmer, während er im Krankenhaus war.«

»Was wollen Sie mir damit sagen? Daß die Maschine einen Fehler gemacht hat?«

»Es muß einfach so sein. Stimmt es denn nicht, daß es manchmal zu Fehlern in der Datenerfassung kommt, an denen die Hardware schuld ist? Oder zu Programmierfehlern in der Skalierungssoftware?« »Ich habe die Maschine überprüft, Bev. Alles okay.« Sie zuckte die Achseln. »Tut mir leid, aber das kaufe ich Ihnen nicht ab. Irgendwo ist da der Wurm drin. Aber hören Sie, wenn Sie so sicher sind, daß Sie recht haben, warum gehen Sie dann nicht runter in die Pathologie und schauen sich den Kerl an?«

»Das habe ich schon versucht«, sagte Chee. »Aber die Leiche war bereits abgeholt worden.«

»Wirklich?« fragte Wauneka. »Wann?«

»Heute morgen fünf Uhr. Jemand von seiner Firma.«

»Hm, diese Firma ist doch drüben bei Sandia«, sagte Wauneka.

»Vielleicht sind sie mit der Leiche noch unterwegs -«

»Nein.« Chee schüttelte den Kopf. »Wurde heute morgen verbrannt.«

»Wirklich? Wo?«

»Im Krematorium in Gallup.«

»Sie haben ihn hier verbrannt?« fragte Wauneka.

»Ich sag's Ihnen ja«, erwiderte Chee. »Irgendwas ist komisch mit diesem Kerl.«

Beverly Tsosie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie musterte die beiden Männer. »Da ist überhaupt nichts komisch«, sagte sie. »Seine Firma hat das so gemacht, weil sie alles telefonisch arrangieren konnte. Man hat im Krematorium angerufen, und die haben ihn abgeholt und verbrannt. Passiert ziemlich häufig, vor allem, wenn es keine Angehörigen gibt. Und jetzt lassen Sie den Blödsinn«, sagte sie, »und rufen Sie den Wartungsdienst an, damit der die Maschine repariert. Mit ihrem Kernspintomographen stimmt was nicht - das ist alles.«

Jimmy Wauneka wollte den Traub-Fall so schnell wie möglich abschließen, doch als er wieder in der Notaufnahme stand, entdeckte er eine Plastiktüte mit den Kleidern und der persönlichen Habe des alten Mannes. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als noch einmal bei ITC anzurufen. Diesmal sprach er mit einer Vizepräsidentin, einer Ms. Kramer. Dr. Gordon war in einer Besprechung und nicht zu erreichen. »Es geht um Dr. Traub«, sagte er.

»Ach ja.« Ein trauriges Seufzen. »Der arme Dr.Traub. So ein netter Mann.«

»Seine Leiche wurde heute kremiert, aber wir haben immer noch seine persönliche Habe. Ich weiß nicht, was ich damit tun soll.« »Dr. Traub hat keine Angehörigen«, sagte Ms. Kramer. »Ich bezweifle, ob irgend jemand Interesse an seinen Kleidern oder sonst was hat. Was für Dinge sind denn sonst noch dabei?«

»Na ja, er hatte ein Diagramm in seinerTasche. Sieht aus wie eine Kirche oder vielleicht ein Kloster.«

»Aha.«

»Wissen Sie, warum er ein Diagramm eines Klosters in der Tasche hatte?«

»Nein, das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Aber um ehrlich zu sein, Dr. Traub war in letzter Zeit ein wenig merkwürdig. Seit dem Tod seiner Frau litt er an Depressionen. Sind Sie sicher, daß es ein Kloster ist?«

»Nein, bin ich nicht. Ich weiß nicht, was es ist. Wollen Sie dieses Diagramm zurückhaben?«

»Wenn es Ihnen keine Mühe macht, es uns zu schicken.« »Und was ist mit diesem Keramikding?« »Was für ein Keramikding?«

»Er hatte so ein Stück Keramik. Ungefähr zweieinhalb Quadratzentimeter, und es steht >ITC< darauf.«

»Ach so. Okay. Das ist kein Problem.«

»Ich habe mich nur gefragt, was das sein könnte.«

»Was es sein könnte? Das ist eine Kennkarte.«

»So eine habe ich noch nie gesehen.«

»Es ist eine neue Art. Wir benutzen sie, um durch die Sicherheitstüren zu kommen und so weiter.«

»Wollen Sie die auch zurück?«

»Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht. Wissen Sie was, ich gebe Ihnen unsere FedEx-Nummer, dann können Sie alles in einen Umschlag stecken und losschicken.«

Jimmy Wauneka legte auf und dachte: Blödsinn.

Er rief Father Grogan an, den katholischen Priester am Ort, und erzählte ihm von dem Diagramm und der Abkürzung am unteren Rand: klo.ste.mere.

»Das dürfte das Kloster Sainte-Mere sein«, erwiderte der Priester prompt.

»Dann ist es also wirklich ein Kloster.«

»Auf jeden Fall.«

»Wo?«

»Keine Ahnung. Es ist kein spanischer Name. >Mere< ist Französisch für >Mutter<. Und heilige Mutter bedeutet die Jungfrau Maria.

Vielleicht liegt es in Louisiana.«

»Wie kann ich das herausfinden?« fragte Wauneka.

»Ich habe irgendwo ein Klosterverzeichnis. Geben Sie mir ein oder zwei Stunden Zeit, ich suche es heraus.«

»Tut mir leid, Jimmy. Ich sehe da nichts Rätselhaftes.«

Carlos Chavez war der stellvertretende Leiter der Polizei in Gallup und stand kurz vor der Pensionierung. Zu ihm konnte Jimmy Wauneka immer gehen, wenn er Rat brauchte. Jetzt lümmelte Chavez in seinem Sessel,

die Füße auf dem Schreibtisch, und hörte Wauneka mit sehr skeptischem Blick zu.

»Also folgendes«, sagte Wauneka. »Dieser Kerl wird draußen beim Corazon Canyon gefunden, völlig durchgedreht und wirres Zeug plappernd, aber er hat keinen Sonnenbrand, keine Dehydration, absolut keine Expositionssymptome.«

»Dann wurde er ausgesetzt. Seine Familie hat ihn aus dem Auto geworfen.«

»Nein. Keine lebenden Verwandten.« »Okay, dann ist er selber da rausgefahren.« »Die Leute konnten kein Auto entdecken.« »Welche Leute?« »Das Paar, das ihn aufgelesen hat.«

Chavez seufzte. »Sind Sie selber zum Corazon Canyon rausgefahren und haben nach einem Auto gesucht?« Wauneka zögerte. »Nein.«

»Dann haben Sie sich also auf die Aussage dieser Leute verlassen.« »Ja. Schätze schon.«

»Sie schätzen. Das heißt, das Auto könnte noch da draußen sein.« »Vielleicht. Ja.«

»Okay. Was haben Sie als nächstes getan?« »Ich habe seine Firma angerufen, ITC.« »Und was haben die Ihnen gesagt?«

»Daß er Depressionen hatte, weil seine Frau gestorben war.« »Paßt.«

»Ich weiß nicht recht«, erwiderte Wauneka. »Ich habe nämlich in dem Wohnblock angerufen, wo Traub wohnte, und mit dem Verwalter gesprochen. Seine Frau starb vor einem Jahr.«

»Dann ist es also um ihren ersten Todestag herum passiert, richtig? Das ist genau die Zeit, wo so etwas passiert, Jimmy.« »Ich denke, ich sollte da rüberfahren und mit ein paar Leuten von ITC Research reden.«

»Warum? Die Firma ist über vierhundert Kilometer von der Stelle entfernt, wo der Kerl gefunden wurde.« »Ich weiß, aber —«

»Aber was? Wie oft haben wir es mit Touristen zu tun, die draußen in den Reservaten stranden? Drei-, viermal im Jahr? Und in der Hälfte der Fälle sind sie tot, nicht? Oder sterben danach, richtig?« »Ja...«

»Und es passiert immer aus zwei Gründen. Entweder sind es New-Age-Spinner aus Sedona, die hierherkommen, um mit dem Adlergott zu kommunizieren, und dann mit einem kaputten Auto liegenbleiben. Oder es sind Leute mit Depressionen. Das eine oder das andere. Und dieser Kerl hatte Depressionen.« »Angeblich ...«

»Weil seine Frau gestorben war. He, glauben Sie es einfach.«

Carlos seufzte. »Die einen sind deprimiert, die anderen zu euphorisch.« »Aber es gibt schon noch ein paar unbeantwortete Fragen«, sagte

Wauneka. »Wir haben da eine Art Diagramm und einen Keramikchip — «

»Jimmy. Es gibt immer unbeantwortete Fragen.« Chavez sah ihn prüfend an. »Was ist denn los mit Ihnen? Wollen Sie diese hübsche kleine Ärztin beeindrucken?«

»Welche kleine Ärztin?«

»Sie wissen genau, wen ich meine.«

»Verdammt, nein. Für sie ist an der ganzen Sache nichts dran.« »Sie hat recht. Vergessen Sie es.« »Aber —«

»Jimmy.« Carlos Chavez schüttelte den Kopf. »Hören Sie auf mich.

Vergessen Sie die Geschichte.«

»Okay.«

»Ich meine es ernst.«

»Okay«, erwiderte Wauneka. »Ich vergesse es.« Am nächsten Tag stoppte die Polizei in Shiprock eine Gruppe dreizehnjähriger Jungs, die in einem Auto mit Kennzeichen aus New Mexico eine Spritztour machten. Die Zulassung im Handschuhfach lautete auf den Namen Joseph Traub. Die Jungs gaben an, sie hätten das Auto hinter dem Corazon Canyon am Straßenrand gefunden, mit den Schlüsseln noch in der Zündung. Die Jungs hatten getrunken, und im Auto herrschte der reinste Saustall, alles klebte vor verschüttetem Bier. Wauneka machte sich nicht die Mühe, hinzufahren und es sich anzusehen.

Tags darauf rief Father Grogan ihn zurück. »Ich habe für Sie nachgeforscht«, sagte er, »und es gibt kein Kloster Sainte-Mere, auf der ganzen Welt nicht.«

»Okay«, sagte Wauneka. »Vielen Dank. Ich hatte schon so was erwartet. Noch eine Sackgasse.«

»Früher gab es einmal ein Kloster mit diesem Namen in Frankreich, aber das wurde im vierzehnten Jahrhundert niedergebrannt.

Es ist jetzt nur noch eine Ruine. Die allerdings im Augenblick von Archäologen aus Yale und von der Universität von Toulouse ausgegraben wird. Aber ich schätze, das bringt nicht viel.« »Aha ...« Doch dann erinnerte sich Jimmy an etwas, das der alte Mann vor seinem Tod gesagt hatte. Einen der Unsinnsreime. »Yale in Frankreich ist nicht glorreich.« So in der Richtung. »Wo ist das?« fragte er.

»Irgendwo im Südwesten Frankreichs, am Fluß Dordogne.« »Dordogne? Wie schreibt man das?« fragte Wauneka.

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