BLACK ROCK

Wage alles, oder gewinne nichts.

GEOFFREY DE CHARNEY, 1358


Die Nacht war kalt und der Himmel voller Sterne, als sie aus dem Flugzeug auf die nasse Rollbahn traten. Im Osten sah Marek unter tiefhängenden Wolken die Umrisse von Tafelbergen. Ein Stückchen entfernt wartete ein Landcruiser auf sie.

Bald fuhren sie auf einem Highway durch dichten Wald, der auf beiden Seiten bis an den Straßenrand heranreichte. »Wo genau sind wir?« fragte Marek.

»Eine Stunde nördlich von Albuquerque«, sagte Gordon. »Die nächste Stadt ist Black Rock. Und dort ist unsere Forschungseinrichtung.« »Sieht aus wie das Ende der Welt«, sagte Marek. »Nur bei Nacht. Tatsächlich gibt es in Black Rock fünfzehn Forschungsfirmen. Und natürlich liegt Sandia gleich um die Ecke. Los Alamos ist eine Stunde entfernt. Ein bißchen weiter weg White Sands und so weiter.«

Noch einige Kilometer fuhren sie die Straße entlang. Dann kamen sie zu einem auffälligen grünweißen Hinweisschild, auf dem stand: ITC BLACK ROCK LABORATORY. Der Landcruiser bog nach rechts ab und fuhr eine kurvige Straße in die bewaldeten Hügel hinauf. Vom Rücksitz her sagt Stern: »Sie haben uns zuvor gesagt, daß Sie Verbindungen zu anderen Universen herstellen können.« »Ja.« »Durch den Quantenschaum.« »Genau.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Stern.

»Warum? Was ist Quantenschaum überhaupt?« fragte Kate und unterdrückte ein Gähnen.

»Er ist ein Überbleibsel von der Geburt des Universums«, antwortete Stern. Er erklärte, daß das Universum als einzelner, unglaublich dichter, ausdehnungsloser Materiepunkt begonnen habe. Dann, vor achtzehn Milliarden Jahren sei dieser Punkt explodiert -der sogenannte Urknall. Nach der Explosion expandierte das Universum kugelförmig. Nur daß es keine absolut perfekte Kugel war. Das Universum innerhalb der Kugel war nicht absolut homogen — so daß wir jetzt Galaxien haben, die unregelmäßig über das Universum verstreut sind, und keine gleichmäßige Verteilung. Das Wichtige dabei ist, daß die expandierende Kugel winzige Störstellen im Kristallgitter zeigte. Und diese Störstellen wurden nie beseitigt. Sie sind noch immer Teil des Universums.« »Wirklich? Wo?«

»In subatomaren Dimensionen. Der Begriff >Quantenschaum< ist eine Beschreibung dafür, daß die Raumzeit in sehr kleinen Dimensionen Kräuselungen und Blasen hat. Aber der Schaum ist kleiner als ein einzelnes atomares Teilchen. Vielleicht gibt es Wurmlöcher in diesen Teilchen, vielleicht auch nicht.« »Es gibt sie«, sagte Gordon.

»Aber wie wollen Sie die zum Reisen benutzen? Man kann einen Menschen doch nicht durch ein so kleines Loch schicken. Man kann überhaupt nichts durchschicken.«

»Vollkommen richtig«, sagte Gordon. »Man kann auch kein Blatt Papier durch eine Telefonleitung schicken. Aber man kann ein Fax schicken.« Stern runzelte die Stirn. »Das ist ganz was anderes.« »Warum?« fragte Gordon. »Man kann alles übertragen, wenn man nur eine Methode hat, es zu komprimieren und zu verschlüsseln. Oder etwa nicht?«

»Theoretisch ja«, erwidert Stern. »Aber Sie reden davon, die

Information für ein ganzes menschliches Wesen zu komprimieren und zu verschlüsseln.«

»Richtig.«

»Das geht nicht.«

Jetzt lächelte Gordon amüsiert. »Warum nicht?«

»Weil die vollständige Beschreibung eines menschlichen Wesens — all die Milliarden Zellen, wie sie untereinander verbunden sind all die Chemikalien und Moleküle, die sie enthalten, ihr biochemischer Zustand - aus viel mehr Informationen besteht, als irgendein Computer verarbeiten kann.«

»Es sind nur Informationen«, erwiderte Gordon mit einem Achselzucken.

»Ja. Zu viele Informationen.«

»Wir komprimieren sie, indem wir einen verlustfreien fraktalen Algorithmus verwenden.« »Trotzdem ist es eine gigantische -«

»Entschuldigen Sie«, warf Chris dazwischen. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie einen Menschen komprimieren?«

»Nein, wir komprimieren die Information, die einem Menschen entspricht.«

»Und wie geht das?«

»Mit Kompressionsalgorithmen — einer Methode, Daten in einem Computer so zu verdichten, daß sie weniger Platz wegnehmen. Wie JPEG oder MPEG für Bilddaten. Sind Sie vertraut damit?« »Ich habe Software, die so was verwendet, das ist alles.« »Okay«, sagte Gordon. »Alle Komprimierungsprogramme funktionieren nach der gleichen Methode. Sie suchen nach Ähnlichkeiten in den Daten. Angenommen, Sie haben das Bild einer Rose, aufgebaut aus einer Million Pixel. Jedes Pixel benötigt Informationen über zwei Ortskoordinaten und eine Farbe. Das sind drei Millionen Informationen — eine Menge Daten. Aber die meisten dieser Pixel sind rot, umgeben von anderen roten Pixeln. Das Programm sucht deshalb das Bild Zeile um Zeile ab und prüft, ob nebeneinanderliegende Pixel dieselbe Farbe haben. Wenn es solche Gruppen findet, schreibt es eine Anweisung an den Computer: Mache dieses Pixel rot, und die nächsten fünfzig Pixel in der Zeile ebenfalls. Dann schalte auf Grau und mache die nächsten zehn Pixel grau. Und so weiter. Es speichert nicht die Information für jeden einzelnen Punkt. Es speichert nur Informationen für die Wiederherstellung des Bildes. Und so wird die Datenmenge auf ein Zehntel der ursprünglichen reduziert.«

»Trotzdem«, sagte Stern, »Sie reden nicht von einem zweidimen-sionalen Bild, Sie reden von einem dreidimensionalen lebendigen Wesen, und dessen Beschreibung erfordert so viele Daten —« »Daß man massive Parallelverarbeitung braucht«, sagte Gordon mit einem Nicken. »Das stimmt.«

Chris runzelte die Stirn. »Was ist Parallelverarbeitung?« »Man verbindet mehrere Computer miteinander und teilt die Arbeit unter ihnen auf, damit es schneller geht. Ein großer parallelverarbeitender Computer hat etwa sechzehntausend miteinander verbundene Prozessoren. Ein wirklich großer zweihundertdreißigtausend. Wir haben zweiunddreißig Milliarden parallele Prozessoren.« »Milliarden?« fragte Chris.

Stern beugte sich vor. »Das ist unmöglich. Auch wenn man nur versuchen würden, einen zu bauen...« Er starrte zur Decke und rechnete. »Sagen wir, einen Zoll Abstand zwischen den Haupt-platinen ... das ergibt einen Stapel von äh... zweitausendsechshundert ... das ergibt einen Stapel von achthundert Metern Höhe. Auch rekonfiguriert zu einem Würfel ergibt das ein riesiges Gebäude. Sie könnten die Maschine nie bauen. Sie könnten sie nie kühlen. Und sie würde nie funktionieren, weil viele von den Prozessoren zu weit entfernt liegen.« Gordon saß da und lächelte. Er sah Stern abwartend an. »Die einzige Möglichkeit, so viel Verarbeitungsleistung zu erreichen«, fuhr Stern fort, »wäre, die Quantencharakteristika von Elektronen zu nutzen. Aber dann würden wir hier von einem Quantencomputer sprechen. Und noch niemand hat je einen gebaut.« Gordon lächelte nur. »Haben Sie?« fragte Stern.

»Ich will Ihnen erklären, wovon David spricht«, sagte Gordon zu den anderen. »Gewöhnliche Computer rechnen, indem sie zwei elektronische Zustände benutzen, die man Null und Eins nennt. So funktionieren alle Computer, indem sie Nullen und Einsen herumschieben. Aber vor zwanzig Jahren regte Richard Feynman an, daß es möglich sein könnte, einen extrem leistungsstarken Computer zu bauen, indem man alle zweiunddreißig Quantenzustände eines Elektrons benutzt. Viele Labors versuchen inzwischen, diese

Quantencomputer zu bauen. Ihr Vorteil ist ihre unvorstellbar große Leistungsfähigkeit - so groß, daß man damit tatsächlich ein lebendiges Wesen als einen Informationsstrom beschreiben und komprimieren kann. Genau wie ein Fax. Diese Kette von Elektronen kann man durch ein Wurmloch im Quantenschaum in ein anderes Universum schicken. Und genau das tun wir. Es ist keine Ouantenteleportation. Es geht nicht um verschränkte Quantenzustände der Teilchen. Es ist eine direkte Übertragung in ein anderes Universum.«

Die Gruppe starrte ihn nur schweigend an. Der Landcruiser fuhr auf eine Lichtung, wo eine Reihe zweistöckiger Gebäude aus Ziegeln und Glas stand. Sie sahen überraschend gewöhnlich aus. Es hätte irgendeines dieser kleinen Gewerbegebiete sein können, wie sie sich überall in den Außenbezirken amerikanischer Städte finden. »Und das ist ITC?« fragte Marek.

»Wir versuchen, so unauffällig wie möglich zu bleiben«, sagte Gordon. »Und diesen speziellen Ort haben wir gewählt, weil es hier eine alte Mine gibt. Gute Minen sind inzwischen schwer zu finden, weil so viele Physikprojekte sie benötigen.«

Etwas abseits waren einige Männer zu sehen, die im grellen Licht von Scheinwerfern einen Wetterballon zum Start vorbereiteten. Der Ballon maß knapp zwei Meter im Durchmesser und war fahlweiß. Sie sahen zu, wie er sich, mit einem kleinen Instrumentenbündel an der Unterseite, schnell in die Luft erhob. »Wozu ist das gut?« fragte Marek. »Wir kontrollieren jede Stunde die Wolkendecke, vor allem wenn es stürmisch ist. Das ist ein laufendes Forschungsprojekt; wir wollen herausfinden, ob das Wetter Interferenzen produziert.« »Interferenzen womit?« fragte Marek.

Das Auto hielt vor dem größten Gebäude. Ein Wachmann öffnete die Tür. »Willkommen bei ITC«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Mr. Doniger erwartet Sie bereits.«

Doniger ging schnellen Schritts mit Gordon den Gang hinunter. Krämer folgte ihnen. Im Gehen überflog Doniger ein Blatt Papier mit Namen und Hintergrundinformationen zu jedem der Besucher. »Was für einen Eindruck machen sie, John?«

»Einen besseren, als ich erwartet habe. Sie sind in gutem körperlichem

Zustand. Sie kennen die Gegend. Sie kennen die Zeit.«

»Und wieviel Uberredungsarbeit wird nötig sein?«

»Ich glaube, Sie sind bereit. Du mußt nur vorsichtig sein, wenn du über die Risiken sprichst.«

»Willst du damit andeuten, daß ich nicht völlig ehrlich sein soll?« fragte Doniger.

»Du mußt nur aufpassen, wie du es formulierst«, sagte Gordon. »Sie sind sehr intelligent.«

»Wirklich? Na, dann wollen wir mal sehen.« Und er stieß die Tür auf.

Kate und die anderen saßen in einem sachlichen, spärlich möblierten Konferenzraum - ein zerkratzter Resopaltisch und Klappstühle. An einer Wand hing eine große, mit Formeln vollgekritzelte Tafel. Die Formeln waren so lang, daß sie die gesamte Breite der Tafel einnahmen. Für Kate waren sie völlig unverständlich. Sie wollte eben Stern fragen, was diese Formeln bedeuteten, als Robert Doniger in den Konferenzraum rauschte.

Kate war überrascht, wie jung er war. Er sah nicht viel älter aus als sie und ihre Begleiter, vor allem, da er Turnschuhe, Jeans und ein Quicksilver-T-Shirt trug. Obwohl es mitten in der Nacht war, schien er voller Energie zu sein; er ging schnell um den Tisch her-um gab jedem die Hand und begrüßte ihn mit Namen. »Kate«, sagte er und lächelte sie an. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe Ihren

Zwischenbericht über die Kapelle gelesen. Sehr beeindruckend.«

Sie war so überrascht, daß sie gerade noch »Danke« herausbrachte,

aber Doniger hatte sich bereits dem nächsten zugewandt.

»Und Chris. Freut mich, Sie wiederzusehen. Mir gefällt, was Sie mit dieser Mühlenbrücke machen. Die Herangehensweise mit der

Computersimulation wird sich bestimmt auszahlen.«

Chris hatte nur Zeit zu nicken, bevor Doniger sagte: »Und David Stern.

Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Aber soweit ich weiß, sind Sie ebenfalls Physiker, wie ich.«

»Das stimmt...«

»Willkommen an Bord. Und Andre. Sie werden aber auch nicht kleiner! Mit Ihrem Paper über die Turniere Edwards I. haben Sie es Monsieur Contamine aber gezeigt. Gute Arbeit. Nun aber, bitte setzen Sie sich.« Sie nahmen Platz, und Doniger ging zum Kopfende des Tisches. »Ich will gleich zur Sache kommen«, sagte er. »Ich brauche Ihre Hilfe. Und ich will Ihnen auch sagen, warum. Seit zehn Jahren arbeitet meine Firma an der Entwicklung einer revolutionären neuen Technologie. Es ist keine militärisch nutzbare Technologie. Es ist auch keine kommerziell verwertbare Technologie, aus der sich Profit schlagen läßt. Im Gegenteil, es ist eine völlig menschenfreundliche und friedliche Technologie, die uns allen von großem Nutzen sein wird. Von wirklich sehr großem Nutzen. Aber ich brauche Ihre Hilfe.« »Überlegen Sie nur einen Augenblick«, fuhr Doniger fort, »wie ungleich sich die Technik im zwanzigsten Jahrhundert auf die unterschiedlichen Wissensgebiete ausgewirkt hat. Die Physik benutzt allermodernste technische Errungenschaften - darunter Teilchenbeschleuniger von vielen Kilometern im Durchmesser. Dasselbe gilt für die Chemie und die Biologie. Vor hundert Jahren hatten Faraday und Maxwell winzige private Labors. Darwin arbeitete mit Notizblock und Mikroskop. Aber heute kann keine wichtige wissenschaftliche Entdeckung mehr mit so einfachen Mitteln gemacht werden. Die Naturwissenschaft ist völlig von modernster Technik abhängig. Aber was ist mit den Geisteswissenschaften? Was ist in dieser Zeit mit ihnen passiert?«

Doniger legte eine rhetorische Pause ein. »Die Antwort lautet: nichts. Es gibt keine nennenswerten technischen Hilfsmittel. Der Literaturwissenschaftler oder der Historiker arbeitet noch genau so wie seine Vorgänger vor hundert Jahren. Oh, natürlich gab es einige kleinere Veränderungen bei der Echtheitsprüfung von Dokumenten, es gibt CD-ROMS als Speichermedien und so weiter. Aber die grundlegende alltägliche Arbeit des Forschers ist genau dieselbe geblieben.«

Er sah jeden einzeln an. »Es liegt hier also ein Ungleichgewicht vor. Er herrscht keine Balance zwischen den verschiedenen Bereichen menschlichen Wissens. Die Mediavisten sind stolz darauf, daß in ihrem Forschungsgebiet im zwanzigsten Jahrhundert eine Revolution stattgefunden hat. Aber die Physik hat im selben Jahrhundert drei Revolutionen erlebt. Vor hundert Jahren diskutierten die Physiker über das Alter des Universums und die Quelle der Energie der Sonne. Kein Mensch auf Erden kannte die Antwort. Heute kennen sie sogar Schulkinder. Heute haben wir das Universum der Länge und der Breite nach durchmessen, wir verstehen es von der Ebene der Galaxien bis hinunter zur Ebene subatomarer Teilchen. Wir haben so viel gelernt, daß wir detailliert über das sprechen können, was in den ersten Minuten nach der Geburt des explodierenden Universums passiert ist. Was haben Mediävisten dem an Fortschritten in ihrem Bereich entgegenzusetzen? Niemand hat je eine Technologie entwickelt, die den Historikern nützt — bis jetzt.«

Eine meisterhafte Vorstellung, dachte Gordon. Eine von Donigers besten — charmant, dynamisch, zuweilen fast euphorisch. Tatsache war aber, daß Doniger ihnen eben nichts anderes geliefert hatte als eine aufregende Begründung für das Projekt, ohne auch nur ein Wort über seinen wahren Zweck zu verlieren. Ohne ihnen zu sagen, was wirklich los war.

»Aber wie gesagt, ich brauche Ihre Hilfe. Ich brauche sie wirklich.« Donigers Stimmung schien sich zu ändern. Er sprach jetzt langsam, ernst, besorgt. »Sie wissen, daß Professor Johnston zu uns kam,

weil er glaubte, wir würden ihm Informationen vorenthalten. In gewisser Weise haben wir das sogar getan. Wir hatten Informationen, die wir nicht weitergegeben haben, weil wir nicht erklären konnten, woher wir sie hatten.«

Und, dachte Gordon, weil Kramer Mist gebaut hat. »Professor Johnston hat uns bedrängt«, fuhr Doniger fort. »Sie kennen ja seine Art. Er drohte uns sogar mit der Presse. Und schließlich zeigten wir ihm die Technologie, die wir Ihnen jetzt gleich zeigen werden. Als er es sah, war er sehr aufgeregt — wie Sie es gleich sein werden. Aber er bestand darauf, in diese Zeit zurückzureisen und sich alles selbst anzusehen.«

Doniger hielt inne. »Wir wollten nicht, daß er geht. Wieder drohte er uns. Schließlich hatten wir keine andere Wahl, als ihn gehenzulassen. Das war vor drei Tagen. Er ist noch immer dort. Er hat Sie um Hilfe gebeten, mit Hilfe einer Nachricht, von der er wußte, daß Sie sie finden würden. Sie kennen die Gegend und die Zeit so gut wie sonst niemand auf der Welt. Sie müssen zurückgehen und ihn holen. Sie sind seine einzige Chance.«

»Was genau ist mit ihm passiert, nachdem er zurückging?« fragte Marek.

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Doniger. »Aber er hat sich nicht an die Regeln gehalten.« »Welche Regeln?«

»Sie müssen verstehen, daß diese Technologie noch immer sehr neu ist. Wir waren bis jetzt sehr vorsichtig in der Art, wie wir sie benutzen. Seit zwei Jahren schicken wir nun schon Beobachter zurück in die Vergangenheit, und wir nehmen dazu Ex-Marines, militärisch geschulte Leute. Aber die sind natürlich keine Historiker, und wir haben sie immer an der kurzen Leine gehalten.« »Das heißt?«

»Wir haben unseren Beobachtern nicht gestattet, die Welt zu betreten.

Wir haben sie nie länger als eine Stunde dortgelassen. Und wir haben ihnen nicht gestattet, sich mehr als fünfzig Meter von der Maschine zu entfernen. Kein Mensch hat je diese Maschine hinter sich gelassen und ist in die Welt marschiert.«

»Aber der Professor hat es getan?« fragte Marek.

»Offensichtlich,ja.« »Und wir müssen es auch tun, wenn wir ihn finden wollen. Wir müssen die Welt betreten.« »Ja«, sagte Doniger.

»Und Sie sagen, daß wir die ersten Menschen sind, die das tun? Die ersten, die die Welt betreten?«

»Ja. Sie, und vor Ihnen der Professor.«

Schweigen.

Doch plötzlich zeigte sich auf Mareks Gesicht ein breites Grinsen.

»Großartig«, sagte er. »Ich kann's nicht erwarten!«

Aber die anderen sagten nichts. Sie sahen verkrampft, nervös aus.

Stern sagte: »Dieser Mann, der in der Wüste gefunden wurde...«

»Joe Traub«, entgegnete Doniger. »Er war einer unserer besten

Wissenschaftler.«

»Was wollte er in der Wüste?«

»Offensichtlich fuhr er einfach dorthin. Inzwischen wurde sein Auto gefunden. Aber wir wissen nicht, warum er es tat.« Stern sagte: »Angeblich stimmte mit ihm irgendwas nicht, irgendwas mit seinen Fingern...«

»Davon stand nichts im Autopsiebericht«, sagte Doniger. »Er starb an einem Herzanfall.«

»Dann hatte sein Tod also nichts mit Ihrer Technologie zu tun?« »Überhaupt nichts«, sagte Doniger.

Wieder entstand ein Schweigen. Chris rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. »Für einen Laien - wie sicher ist diese Technologie?« »Sicherer als Auto fahren«, antwortete Doniger ohne Zögern. »Man wird Sie gründlich über alles informieren, und wir geben Ihnen unsere erfahrensten Beobachter als Begleitung mit. Der Ausflug wird maximal zwei Stunden dauern. Sie gehen einfach zurück und holen ihn.« Chris Hughes trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Kate biß sich auf die Unterlippe. Keiner sagte etwas.

»Sehen Sie, das ist alles freiwillig«, sagte Doniger. »Es liegt völlig an Ihnen, ob Sie gehen oder nicht. Aber der Professor hat Sie um Hilfe gebeten. Und ich glaube nicht, daß Sie ihn im Stich lassen würden.« »Warum schicken Sie nicht einfach die Beobachter?« fragte Stern.

»Weil sie nicht genug wissen, David. Wie Ihnen sicher bewußt ist, handelt es sich um eine von der unseren völlig verschiedenen Welt. Sie haben den Vorteil Ihres Wissens. Sie kennen das Gelände, und Sie wissen detailliert über die Zeit Bescheid. Sie kennen die Sprache und die Gebräuche.«

»Aber unser Wissen ist theoretisch«, sagte Chris. »Jetzt nicht mehr«, sagte Doniger.

Die Gruppe verließ das Zimmer zusammen mit Gordon, der ihnen nun die Maschinen zeigen sollte. Doniger sah ihnen nach und drehte sich dann um, als Kramer den Raum betrat. Sie hatte alles über die interne Videoanlage beobachtet.

»Was nieinst du, Diane?« fragte Doniger. »Werden sie es tun?« »Ja. Sie gehen.« »Schaffen sie es?«

Kramer zögerte. »Ich würde sagen, die Chancen stehen fifty-fifty.«

Sie gingen eine breite Betonrampe hinunter, die groß genug für einen Lastwagen war. Am Ende befand sich ein mächtiges Stahltor. Marek sah ein halbes Dutzend Überwachungskameras, die in verschiedenen Positionen in der Umgebung der Rampe montiert waren. Die Kameras folgten ihnen, als sie auf das Tor zugingen. Unten angekommen, sah Gordon zu den Kameras hoch und wartete. Das Tor öffnete sich.

Gleich dahinter lag ein kleiner Raum. Sie traten ein, das Tor schloß sich wieder. Gordon ging zu einer inneren Tür und wartete wieder. »Können Sie die Türen nicht selbst öffnen?« fragte Marek. »Nein.«

»Warum nicht? Trauen sie Ihnen nicht?«

»Sie trauen niemandem«, sagte Gordon. »Glauben Sie mir, hier kommt niemand rein, außer wir wollen, daß er reinkommt.« Die Tür öffnete sich.

Sie betraten einen industriell wirkenden Metallkäfig. Die Luft war kalt und leicht modrig. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Mit einem Surren begann der Käfig nach unten zu gleiten.

»Jetzt geht es dreihundert Meter nach unten«, sagte Gordon. »Haben Sie ein wenig Geduld.«

Der Aufzug hielt an, und die Tür öffnete sich. Sie gingen einen langen Betontunnel entlang, in dem ihre Schritte hallten. Gordon sagte: »Das ist die Kontroll- und Wartungsebene. Die eigentlichen Maschinen sind noch einmal hundertfünfzig Meter unter uns.« Sie kamen zu einer schweren Doppeltür, die dunkelblau und transparent war. Zuerst dachte Marek, sie sei aus extrem dickem Glas. Doch als die Tür dann automatisch aufglitt, sah er eine leichte Bewegung unter der Oberfläche. »Wasser«, sagte Gordon. »Wir benutzen hier Wasser zur Abschirmung. Die Quantentechnologie reagiert sehr empfindlich auf zufallige äußere Störungen — kosmische Strahlen, elektrische Streufelder und dergleichen. Das ist auch der Grund, warum wir überhaupt hier unten sind.« Vor sich sahen sie etwas, das aussah wie eine Tür zu einem ganz gewöhnlichen Laborgang. Nach einer weiteren Glastür kamen sie in einen aseptisch weißgestrichenen Gang, von dem zu beiden Seiten Türen wegführten. Auf der ersten Tür links stand prepack, auf der zweiten fieldprep. Und auf der dritten stand schlicht transit. Gordon rieb sich die Hände. Er sagte: »Dann wollen wir mal mit dem Prepacking anfangen.«

Der Raum war klein und erinnerte Marek an ein Krankenhauslabor, was ihm ein leichtes Unbehagen bereitete. In der Mitte stand eine vertikale Röhre, gut über zwei Meter hoch und einen Meter fünfzig im Durchmesser. Sie war geöffnet. Im Inneren waren matte Streifen zu erkennen. »Ein Solarium?« fragte Marek. »Nein, ein sehr fortschrittliches Bildgebungssystem. Im Grunde genommen ist es ein extrem leistungsstarker Kernspintomograph. Aber Sie werden sehen, daß er eine gute Vorübung für die Maschine selbst ist. Vielleicht sollten Sie als erster gehen, Dr. Marek.« »Da hinein?« Marek deutete auf die Röhre. Aus der Nähe sah sie eher aus wie ein weißer Sarg.

»Ziehen Sie sich einfach aus und gehen Sie hinein. Es ist genau wie ein Kernspintomograph - Sie spüren überhaupt nichts. Der ganze Vorgang dauert ungefähr eine Minute. Wir sind nebenan.« Sie traten durch eine Seitentür mit einem kleinen Fenster in ein angrenzendes Zimmer. Marek konnte nicht sehen, was sich dort befand. Die Tür fiel zu.

In der Ecke sah er einen Stuhl. Er ging dorthin, zog seine Kleider aus und betrat dann den Scanner. Aus der Gegensprechanlage kam ein Klicken, und dann hörte er Gordon sagen: »Dr. Marek, wenn Sie bitte auf Ihre Füße schauen würden.« Marek sah zu seinen Füßen hinunter.

»Sehen Sie den Kreis auf dem Boden? Ihre Füße müssen vollständig innerhalb dieses Kreises sein.« Marek veränderte seine Position. »Gut so, vielen Dank. Die Tür schließt sich jetzt.«

Mit einem mechanischen Summen schwang die Tür zu. Marek hörte ein Zischen, als sie versiegelt wurde. »Luftdicht?« fragte er. »Ja, das muß sein. Sie werden gleich spüren, daß kalte Luft hereinkommt. Wir geben Ihnen zusätzlichen Sauerstoff, während wir kalibrieren. Sie haben doch keine Platzangst, oder?« »Bis jetzt noch nicht.« Marek sah sich um. Die matten Streifen, das erkannte er jetzt, waren mit Plastik abgedeckte Öffnungen. Hinter dem Plastik sah er Lichter, kleine surrende Maschinen. Die Luft wurde deutlich kühler.

»Wir kalibrieren jetzt«, sagte Gordon. »Bitte nicht bewegen.« Plötzlich fingen die Streifen um ihn herum an zu rotieren, die Maschinen klickten. Immer schneller rotierten die Streifen und hielten dann plötzlich an.

»Gut so. Alles in Ordnung?«

»Ich komme mir vor wie in einer Pfeffermühle«, sagte Marek. Gordon lachte. »Die Kalibrierung ist abgeschlossen. Der Rest ist abhängig von exaktem Timing, die Sequenz läuft deshalb automatisch. Folgen Sie einfach den Anweisungen, die Sie hören. Okay?« »Okay.«

Ein Klicken. Marek war allein.

Eine Stimme vom Band sagte: »Die Scan-Sequenz hat begonnen. Wir schalten die Laser an. Bitte sehen Sie geradeaus. Auf keinen Fall nach oben.«

Nun erstrahlte das Innere der Röhre in einem hellen, strahlenden Blau. Die Luft selbst schien zu leuchten.

»Die Laser polarisieren das Xenon, das jetzt in die Röhre gepumpt wird. Fünf Sekunden.« Xenon? dachte Marek.

Das Blau wurde noch intensiver. Er schaute auf seine Hände und konnte sie in der flirrenden Luft kaum erkennen.

»Wir haben die Xenon-Konzentration erreicht. Jetzt werden wir Sie gleich bitten, tief einzuatmen.«

Tief einatmen? dachte Marek. Xenon?

»Bitte dreißig Sekunden lang nicht bewegen. Bereit? Stillhalten — Augen offen - tief einatmen - anhalten ... jetzt\«

Die Streifen rotierten nun wieder, und dann fing einer nach dem anderen an, hin- und herzuzucken, als würden sie ihn anstarren und müßten hin und wieder noch einmal zurück, um genauer hinzusehen. Jeder Streifen schien sich gesondert zu bewegen. Marek hatte das unheimliche Gefühl, von Hunderten von Augen beobachtet zu werden. Die Stimme vom Band sagte: »Bitte völlig bewegungslos. Noch zwanzig Sekunden.«

Die Streifen um ihn herum surrten und schwirrten. Und plötzlich blieben alle stehen. Einige Sekunden Stille. Die Maschinerie klickte. Nun bewegten sich die Streifen vor und zurück sowie seitwärts.

»Bitte völlig bewegungslos. Zehn Sekunden.«

Jetzt drehten sie sich wieder im Kreis und glichen sich langsam einander an, bis sie schließlich alle völlig synchron rotierten.

»Der Scan ist abgeschlossen. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.«

Das blaue Licht ging aus, und mit einem Zischen öffnete sich die Tür.

Marek trat heraus.

Im Nebenzimmer saß Gordon vor einem Computerterminal. Die anderen hatten sich Stühle herangezogen und saßen um ihn herum. »Den meisten Leuten«, sagte Gordon, »ist gar nicht bewußt, daß ein ganz gewöhnlicher Kernspintomograph im Krankenhaus funktioniert, indem er den Quantenzustand der Atome in Ihrem Körper verändert — im allgemeinen den Eigendrehimpuls der Atomkerne. Die Erfahrung zeigt, daß die Veränderung des Quantenzustands keine schädigende Wirkung auf den Körper hat. Man merkt überhaupt nicht, daß es passiert. Aber ein normaler Kernspintomograph macht das mit einem sehr starken Magnetfeld - sagen wir, 1,5 Tesla, was etwa fünfundzwanzigtausendmal stärker ist als das Magnetfeld der Erde. Wir brauchen das nicht. Wir benutzen supraleitende Quanteninterferometer, sogenannte squids, die so empfindlich sind, daß ihnen für die Resonanzmessung das Erdmagnetfeld ausreicht. Wir haben in der Maschine überhaupt keine Magneten.« Marek kam ins Zimmer. »Wie sehe ich aus?« fragte er.

Auf dem Monitor war ein durchscheinendes Bild von Mareks Gliedern in gesprenkeltem Rot zu sehen. »Hier sehen Sie das Mark in den langen Knochen, die Wirbelsäule und den Schädel«, sagte Gordon. »Jetzt wird der Körper aufgebaut, beginnend mit den inneren Organen. Hier sind die Knochen -«, sie sahen ein komplettes Skelett, »- und jetzt werden die Muskeln hinzugefügt... «

Als die Organe erschienen, sagte Stern: »Ihr Computer ist unglaublich schnell.«

»Ach, wir haben die Sache ziemlich verlangsamt. Ansonsten würden Sie gar nicht sehen können, wie es passiert. Die tatsächliche Verarbeitungszeit ist im Grunde genommen Null.« Stern starrte ihn an. »Null?«

»Eine andere Welt«, sagte Gordon mit einem Nicken. »Alte Hypothesen treffen nicht mehr zu.« Er wandte sich den anderen zu. »Wer ist der nächste?«

Sie gingen den Korridor hinunter bis zu der Tür mit der Aufschrift transit. Kate fragte: »Warum mußten wir das alles tun?« »Wir nennen das Prepacking«, sagte Gordon. »Eine Art Vorab-speicherung. So können wir schneller übertragen, weil ein Großteil der Informationen über Sie bereits in der Maschine gespeichert ist. Wir machen dann nur noch einen letzten Scan zum Abgleich der Unterschiede, und dann übertragen wir.« Sie betraten einen anderen Aufzug, gingen durch eine weitere wassergefüllte Flügeltür. »Okay«, sagte Gordon. »Wir sind da.« Sie betraten einen riesigen, hell erleuchteten, höhlenartigen Saal. Geräusche hallten. Die Luft war kalt. Sie bewegten sich auf einem metallenen Laufsteg, der etwa dreißig Meter über dem Boden hing. Als Chris nach unten schaute, sah er drei bogenförmige wassergefüllte Glaswände, die so angeordnet waren, daß sie einen kompletten Kreis bildeten, mit Lücken dazwischen, die so groß waren, daß ein Mensch hindurchgehen konnte. In diesem äußeren Kreis befanden sich drei kleinere dieser Bogenelemente, die eine zweite Wand bildeten. Und in dieser zweiten befand sich eine dritte. Die einzelnen Bogenelemente waren so versetzt angeordnet, daß die

Lücken nicht aufeinanderstießen, wodurch das Ganze ein wenig wie ein Labyrinth wirkte.

Der innerste dieser konzentrischen Kreise hatte einen Durchmesser von circa sieben Metern. Hier standen etwa ein Dutzend käfigartige Vorrichtungen, jede so groß wie eine Telefonzelle. Sie standen ohne erkennbare Ordnung herum. Die Deckel dieser Käfige bestanden aus mattem Metall. Weißer Dunst waberte durch den Kreis. Tanks lagen auf dem Boden. Überall schlängelten sich dicke, schwarze Stromkabel. Das Ganze sah aus wie eine Werkstatthalle. Und tatsächlich arbeiteten einige Männer an einem der Käfige. »Das ist unser Übertragungsbereich«, sagte Gordon. »Stark abgeschirmt, wie Sie sehen können. Da drüben bauen wir noch einen zweiten, aber der wird erst in ein paar Monaten fertig.« Er deutete ans andere Ende des Saals, wo ein weiteres System konzentrischer Kreise aufgebaut wurde. Diese Wände waren völlig durchsichtig, sie waren noch nicht mit Wasser gefüllt.

Von dem Laufsteg führte ein Kabelaufzug in den innersten Kreis. »Können wir da hinunter?« fragte Marek. »Noch nicht, nein.«

Ein Techniker sah zu ihnen hoch und winkte. Gordon fragte: »Wie lange noch bis zum Brenn-Check, Norm?«

»Ein paar Minuten. Gomez ist schon unterwegs.«

»Okay.« Gordon wandte sich an die anderen. »Dann wollen wir jetzt in den Kontrollraum gehen und zusehen.«

In dunkelblaues Licht getaucht, standen die Maschinen auf einer erhöhten Plattform. Sie waren stumpfgrau und summten leise. Weißer

Dunst wehte über den Boden und verhüllte die Sockel. Zwei Arbeiter in blauen Parkas knieten vor einer der Maschinen und arbeiteten im geöffneten Sockel.

Die Maschinen waren im wesentlichen offene Zylinder, mit Boden und Deckel aus Metall. Jede stand auf einem dicken Metallsockel. Drei Stangen stützten das Metalldach.

Techniker zogen ein Gewirr schwarzer Kabel von einem Gitter über ihren Köpfen und befestigten die Kabel am Dach einer Maschine, wie Tankwarte, die ein Auto betanken.

Der Raum zwischen Sockel und Dach war völlig leer. Genau-genommen sah die ganze Maschine enttäuschend gewöhnlich aus. Nur die Stangen waren merkwürdig, dreieckig und genoppt. Blauer Rauch schien unter dem Dach der Maschine hervorzukommen. Die Maschinen erinnerten Kate an nichts, was sie je gesehen hatte. Sie starrte die riesigen Bildschirme in dem kleinen Kontrollraum an. Hinter ihr saßen zwei Techniker in Hemdsärmeln an zwei Konsolen. Die Bildschirme vor ihr vermittelten den Eindruck, als würde man zu einem Fenster hinaussehen, obwohl der Kontrollraum eigentlich fensterlos war.

»Hier sehen Sie die jüngste Version unserer ctc-Technologie«, sagte Gordon. »Das steht für Closed Timelike Curve — geschlossene zeitartige Bahn —, die Topologie der Raumzeit, die wir benutzen, um zurückzugehen. Wir mußten völlig neue Technologien entwickeln, um diese Maschinen zu bauen. Was Sie hier sehen, ist bereits die sechste Version, da der erste funktionierende Prototyp vor drei Jahren gebaut wurde.«

Chris starrte die Maschinen an und sagte nichts. Kate Erickson sah sich im Kontrollraum um. Stern war nervös, er rieb sich die Oberlippe. Marek ließ ihn nicht aus den Augen.

»Die ganze wichtige Hardware«, fuhr Gordon fort, »befindet sich im Sockel, darunter der Indium-Gallium-Arsenid-Quantenspeicher, die computergesteuerten Laser und die Batterieelemente. Die Vaporisierungs-Laser befinden sich natürlich in den Metallstangen, die eigentlich Röhren sind. Das matte Metall ist Niob, die Drucktanks sind aus Aluminium, die Aufbewahrungsbehälter aus Plastik.« Eine junge Frau mit kurzen, dunkelroten Haaren und etwas martialischem Auftreten kam in den Saal. Sie trug eine Khakibluse, -shorts und Stiefel und sah aus, als ginge sie auf eine Safari. »Gomez gehört zu der Eskorte, die Sie auf Ihrer Reise begleitet. Sie geht jetzt zurück, um das zu machen, was wir einen Brenn-Check nennen. Sie hat sich ihren Navigationsmarker bereits gebrannt und das Zieldatum festgelegt, und jetzt wird sie überprüfen, ob es exakt ist.« Er betätigte die Gegensprechanlage. »Sue? Zeigen Sie uns doch bitte Ihren Navigationsmarker.«

Die Frau hielt ein weißes, rechteckiges Keramikplättchen, kaum größer als eine Briefmarke, in die Höhe. Es paßte problemlos in ihre Handfläche.

»Das benutzt sie, um zurückzugehen. Und um die Maschine für die Rückkehr zu rufen - zeigen Sie uns doch bitte den Knopf, Sue.«

»Der ist ein bißchen schwer zu sehen«, sagte sie und hielt das Plättchen hochkant. »Hier ist ein kleiner Knopf, den man mit dem Daumennagel drückt. Damit ruft man die Maschine, wenn man zurückkehren will.« »Danke, Sue.«

Einer der Techniker sagte: »Feldanomalie.«

Sie drehten sich zu ihm um. Einer der Bildschirme auf seiner Konsole zeigte eine sich wellenförmig bewegende, dreidimensionale Oberfläche mit einer steilen, zerklüfteten Erhebung in der Mitte, wie ein Berggipfel.

»Toll«, sagte Gordon. »Klassisch.« Dann erklärte er den anderen: »Weil unsere Magnetfeldsensoren auf squids beruhen, können wir auch äußerst schwache Diskontinuitäten im örtlichen Magnetfeld erkennen — die sogenannten Feldanomalien. Unsere Meßgeräte zeigen, daß sie ungefähr zwei Stunden vor einem Ereignis anfangen. Und diese hier haben vor zwei Stunden begonnen. Es bedeutet, daß eine Maschine zurückkehrt.«

»Was für eine Maschine?« fragte Kate. »Sues Maschine.«

»Aber sie ist doch noch gar nicht weg.«

»Ich weiß«, sagte Gordon. »Das erscheint Ihnen unsinnig. Aber

Quantenereignisse widersprechen jeder Intuition.«

»Sie wollen damit sagen, daß Sie einen Hinweis auf ihre Rückkehr bekommen, bevor sie überhaupt aufgebrochen ist?«

»Ja.«

»Warum?« fragte Kate.

Gordon seufzte. »Das ist kompliziert. Sagen wir einfach, in der normalen Welt haben wir bestimmte Ansichten über Ursache und Wirkung. Zuerst kommt die Ursache, dann die Wirkung. Aber in der Quantenwelt gilt diese Reihenfolge der Ereignisse nicht immer. Wirkungen können gleichzeitig mit Ursachen auftreten, und Wirkungen können den Ursachen vorangehen. Dies ist nur ein kleines Beispiel dafür.«

Die Frau, Gomez, stieg nun in eine der Maschinen. Sie schob das weiße Plättchen in einen Schlitz im Sockel zu ihren Füßen. »Sie hat jetzt ihren Navigationsmarker installiert. Der führt die Maschine hin und wieder zurück.«

»Und woher weiß man, daß man zurückkommt?« fragte Stern. »Ein Multiversumstransfer«, erwiderte Gordon, »erzeugt eine Art potentieller Energie, ein bißchen wie eine gedehnte Feder, die zurückschnellen will. Heim kommen die Maschinen also relativ einfach. Die andere Richtung ist das Knifflige. Dazu wird die Keramik codiert.«

Er beugte sich vor und betätigte die Gegensprechanlage. »Sue? Wie lange bleiben Sie weg?« »Eine Minute, höchstens zwei.« »Okay. Synchronisierung abgelaufen.«

Jetzt fingen die Techniker an zu reden, bedienten Schalter an einer Konsole und lasen Daten von ihren Monitoren ab. »Heliumcheck.«

»Anzeige auf voll«, sagte ein Techniker mit Blick auf seine Konsole.

»EMR-Check.«

»Okay.«

»Bereitschaft zur Laserjustierung.« Einer der Techniker legte einen Schalter um, und aus den Metallröhren schoß ein dichtes Bündel grüner Laserstrahlen ins Innere der Maschine, die Gesicht und Körper der reglos und mit geschlossenen Augen dastehenden Frau mit Dutzenden grüner Punkte bedeckten.

Die Röhren begannen sich nun langsam zu drehen. Die Frau in der Mitte blieb bewegungslos. Die Laser malten grüne horizontale Streifen über ihren Körper. Dann kamen die Röhren wieder zum Stillstand. »Laser justiert.«

Gordon sagte: »Bis bald, Sue.« Dann wandte er sich den anderen zu. »Okay. Jetzt geht's los.«

Die bogenförmigen Wasserschilde um den Käfig herum begannen nun in einem schwachen Blau zu leuchten. Wieder fing die Maschine an, sich langsam zu drehen. Die Frau in der Mitte stand bewegungslos, die Maschine drehte sich um sie herum.

Das Summen wurde lauter. Die Rotation wurde schneller. Die Frau stand ruhig und entspannt da.

»Für diesen Ausflug wird sie nur eine oder zwei Minuten der verfügbaren Zeit brauchen. In ihren Batterieelementen hat sie aber insgesamt siebenunddreißig Stunden. Das ist die Maximalspanne, die diese Maschinen an einem Ort bleiben können, ohne zurückzukehren.« Die Röhren drehten sich jetzt schnell. Sie hörten ein schnelles Knattern, wie von einer Maschinenpistole.

»Das ist der Abstandscheck: Infrarotsensoren kontrollieren die Umgebung der Maschine. Ohne zwei Meter Sicherheitsabstand auf allen Seiten läuft das Programm nicht weiter. Kontrolliert wird auf beiden Seiten. Wir wollen ja nicht, daß die Maschine mitten in einer Steinmauer herauskommt. Okay. Jetzt wird Xenon freigesetzt. Jetzt geht die Reise los.«

Das Summen war inzwischen sehr laut. Die Drehbewegung war jetzt so schnell, daß die Röhren verschwammen. Die Frau im Inneren war deutlich zu sehen.

Sie hörten eine Stimme vom Band: »Stillhalten. Augen offen.Tief einatmen. Anhalten ... Jetzt!«

Vom Dach der Maschine sauste ein einzelner Ring nach unten, der sie schnell von Kopf bis Fuß scannte.

»Jetzt genau aufpassen. Es geht sehr schnell«, sagte Gordon. Kate sah violette Laserstrahlen von den Röhren ins Innere schießen. Einen Augenblick lang schien die Frau darin weiß aufzuglühen, und dann blitzte dort ein blendend weißes Licht auf. Kate schloß die Augen und wandte sich ab. Als sie wieder hinsah, tanzten ihr Sterne vor den Augen, und im ersten Augenblick konnte sie nicht erkennen, was passiert war. Dann sah sie, daß die Maschine kleiner wurde. Sie hatte sich von den Kabeln gelöst, die jetzt frei vom Gitter herunterbaumelten. Noch ein Laserblitz.

Die Maschine war kleiner. Die Frau darin war kleiner. Sie war jetzt knapp einen Meter groß und schrumpfte vor ihren Augen in einer Reihe heller Laserblitze immer weiter.

»O Gott«, sagte Stern und starrte gebannt hin. »Wie fühlt sich das an?« »Überhaupt nicht«, antwortete Gordon. »Sie spüren überhaupt nichts. Die Nervenleitungszeit von der Haut zum Hirn bewegt sich in der Größenordnung von hundert Millisekunden. Die Laservaporisierung dauert fünf Nanosekunden. Sie sind längst weg.« »Aber sie ist noch hier.«

»Nein, ist sie nicht. Sie war schon mit dem ersten Laserblitz verschwunden. Der Computer verarbeitet jetzt nur die Daten. Was Sie jetzt sehen, sind Artefakte der Kompressionsschritte. Die Kompression ist bei drei hoch minus zwei...«

Wieder gab es einen hellen Blitz. Der Käfig schrumpfte nun sehr schnell. Erst war er einen Meter hoch, dann sechzig Zentimeter. Jetzt war er schon dicht am Boden - weniger als dreißig Zentimeter hoch. Die Frau darin sah aus wie eine kleine Puppe in Khakis. »Minus vier«, sagte Gordon. Wieder ein heller Blitz, dicht über dem Boden. Jetzt konnte Kate den Käfig überhaupt nicht mehr sehen. »Was ist mit der Maschine passiert?« »Sie ist dort. So gut wie.«

Noch ein Blick, nur noch ein kleiner Lichtpunkt auf dem Boden. »Minus fünf.«

Die Blitze kamen jetzt sehr schnell, wie blinkende Leuchtkäfer, und wurden immer schwächer. Gordon zählte sie aus.

»Und minus vierzehn... Verschwunden.«

Jetzt kamen keine Blitze mehr.

Nichts.

Der Käfig war verschwunden. Der Boden aus dunklem Gummi war leer.

Kate fragte: »Und das sollen wir machen?« »Es ist keine unangenehme Erfahrung«, sagte Gordon. »Sie sind die ganze Zeit bei klarem Bewußtsein, was wir eigentlich gar nicht erklären können. Nach den letzten Datenkompressionen befinden Sie sich in sehr kleinen Raum-Zeit-Gebieten - in subatomaren Regionen -, und dort sollte Bewußtsein eigentlich gar nicht möglich sein. Und doch ist es so. Wir glauben, daß es vielleicht ein Artefakt ist, eine Halluzination, die den Übergang überbrückt. Falls das zutrifft, ist es so wie der Phantomschmerz, den Amputierte fühlen, obwohl das Glied gar nicht mehr da ist. Vielleicht ist es eine Art Phantomgehirn. Wir reden hier natürlich von sehr kurzen Zeitspannen, Nanosekunden. Und richtig verstehen kann das Bewußtsein sowieso niemand.«

Kate runzelte die Stirn. Einige Zeit lang hatte sie sich nun etwas angesehen, was sie als Architektur betrachtete, in Dimensionen der Entsprechung von Form und Funktion: War es nicht faszinierend, daß diese riesigen unterirdischen Konstruktionen eine konzentrische Symmetrie hatten, die ein wenig an mittelalterliche Burgen erinnerte, obwohl diese modernen Gebilde ohne jeden ästhetischen Plan gebaut wurden? Sie waren gebaut worden, einfach nur um ein wissenschaftliches Problem zu lösen. Sie fand das daraus entstandene Erscheinungsbild faszinierend.

Jetzt aber, da sie konfrontiert war mit dem, wozu diese Maschinen tatsächlich benutzt wurden, hatte sie Schwierigkeiten zu begreifen, was ihre Augen eben gesehen hatten. Und ihre Architekturausbildung half ihr da absolut nicht weiter. »Aber diese Methode des, äh, Verkleinerns einer Person, das setzt doch voraus, daß man sie zerlegt —«

»Nein. Wir zerstören sie«, erwiderte Gordon unverblümt. »Man muß das Original zerstören, damit es am anderen Ende wieder aufgebaut werden kann. Das eine ohne das andere geht nicht.«

»Dann ist sie also gestorben?«

»Das würde ich nicht sagen, nein. Sehen Sie —«

»Aber wenn man eine Person an einem Ende zerstört«, sagte Kate, »ist sie dann nicht tot?«

Gordon seufzte. »Das ist mit traditionellen Begriffen schwer zu umschreiben. Da man genau im selben Augenblick, in dem man zerstört wird, wiederaufgebaut wird, wie kann man da sagen, daß man gestorben ist? Man ist nicht gestorben. Man wurde einfach woandershin bewegt.«

Stern war sich sicher — es war ein körperliches Gefühl in der Magengrube —, daß Gordon über diese Technologie nicht ganz die Wahrheit sagte. Allein schon beim Anblick dieser bogenförmigen Wasserschilde und all der verschiedenen Maschinen, die auf dem Boden herumstanden, hatte er den Eindruck, daß hier noch einiges unerklärt geblieben war. Er versuchte es herauszufinden.

»Sie ist jetzt in dem anderen Universum?« fragte er.

»Genau.«

»Sie haben sie übertragen, und sie ist jetzt im anderen Universum angekommen. Wie ein Fax?«

»Genau.«

»Aber um sie wiederaufzubauen, brauchen Sie am anderen Ende ein Faxgerät.«

Gordon schüttelte den Kopf. »Nein, brauchen wir nicht«, sagte er.

»Warum nicht?«

»Weil sie bereits dort ist.«

Stern runzelte die Stirn. »Sie ist bereits dort? Wie kann das sein?« »Im Augenblick der Übertragung ist die Person bereits im anderen Universum. Und deshalb muß sie von uns nicht mehr aufgebaut werden.«

»Warum?« fragte Stern.

»Für den Augenblick betrachten Sie es einfach als ein Charakteristikum des Multiversums. Wenn Sie wollen, können wir später noch eingehender darüber sprechen. Ich weiß nicht so recht, ob man alle mit diesen Detailproblemen belästigen sollte«, sagte er und nickte zu den anderen.

Da ist wirklich noch mehr, dachte Stern. Etwas, das er uns nicht sagen will. Stern sah sich noch einmal den Übertragungsbereich an. Versuchte, das zu finden, was hier nicht stimmte. Denn er war sich ganz sicher, daß etwas nicht stimmte.

»Haben Sie uns nicht gesagt, daß Sie bis jetzt nur ein paar Leute zurückgeschickt haben?« »Das stimmt, ja.«

»Mehrere gleichzeitig?« . »Fast nie. Ganz selten zwei.«

»Wozu haben Sie dann so viele Maschinen?« fragte Stern. »Ich zähle da draußen acht. Würden zwei nicht reichen?«

»Was Sie hier sehen, sind nur die Resultate unseres

Forschungsprogramms«, sagte Gordon. »Wir versuchen beständig,

unser Design zu verbessern.«

Gordon hatte zwar sehr schlüssig geantwortet, aber Stern war überzeugt, daß er etwas — ein leichtes Unbehagen — in seinen Augen gesehen hatte.

Da steckt auf jeden Fall noch was dahinter.

»Ich hätte mir gedacht«, sagte Stern, »daß Sie Verbesserungen an existierenden Maschinen anbringen.«

Gordon zuckte die Achseln und schwieg.

Auf jeden Fall.

»Was tun denn diese Reparaturmechaniker da drin?« Stern ließ nicht locker. Er deutete zu den Männern, die auf Händen und Knien am

Sockel einer Maschine arbeiteten. »Ich meine bei der Maschine dort in der Ecke. Was genau reparieren die?«

»David«, setzte Gordon an. »Ich glaube wirklich -«

»Ist diese Technologie wirklich sicher!« fragte Stern.

Gordon seufzte. »Sehen Sie es sich selbst an.«

Auf dem großen Bildschirm war eine Reihe schneller Blitze auf dem

Boden des Transitraums zu sehen.

»Da kommt sie wieder«, sagte Gordon.

Die Blitze wurden heller. Dann war das Knattern wieder zu hören, zuerst leise, dann immer lauter. Und dann stand der Käfig wieder in voller Größe da, das Summen verstummte, weißer Dunst waberte über den Boden, und die Frau trat heraus und winkte den Zuschauern zu. Stern musterte sie. Sie schien völlig in Ordnung zu sein. Ihr Aussehen war genauso wie zuvor.

Gordon schaute ihn an. »Glauben Sie mir«, sagte er. »Es ist vollkommen sicher.« Er drehte sich zum Monitor. »Wie sieht's dort aus, Sue?«

»Ausgezeichnet«, antwortete sie. »Der Landeplatz liegt an der Nordseite des Flusses. Abgeschiedene Stelle, mitten im Wald. Und das Wetter ist ziemlich gut, für April.« Sie sah auf die Uhr. »Machen Sie IhrTeam fertig, Dr. Gordon. Ich brenne jetzt den Ersatzmarker. Und dann gehen wir zurück und holen den alten Knaben raus, bevor jemand ihm was tun kann.«

Bitte legen Sie sich auf die linke Seite.« Kate drehte sich auf dem Untersuchungstisch und sah mit leichtem Unbehagen zu, wie ein älterer Mann im weißen Labormantel etwas hob, das aussah wie eine Kleberpistole, und über ihr Ohr hielt. »Das fühlt sich jetzt etwas warm an.«

Warm? Sie spürte ein heftiges Brennen im Ohr. »Was ist das?« »Es ist ein organisches Polymer«, sagte der Mann. »Ungiftig und nicht allergen. Bleiben Sie acht Sekunden so. Gut, und jetzt machen Sie bitte Kaubewegungen. Wir wollen, daß es etwas lockerer sitzt. Sehr gut, kauen Sie weiter.«

Kurz darauf war er wieder bei ihr. Er bat sie, sich umzudrehen und injizierte ihr das Polymer ins andere Ohr. Gordon sah von einer Ecke des Zimmers aus zu. Er sagte: »Das ist zwar noch ein bißchen experimentell, aber bis jetzt hat es gut funktioniert. Das Polymer beginnt nach einer Woche, sich biologisch abzubauen.«

Etwas später ließ der Mann sie alle aufstehen und zog ihnen mit geschickten Fingern die Plastikimplantate aus den Ohren.

Kate sagte zu Gordon: »Mein Gehör ist sehr gut, ich brauche kein

Hörgerät.«

»Das ist kein Hörgerät«, sagte Gordon. Am anderen Ende des Zimmers bohrte der Mann Löcher in die Plastikohrstöpsel und baute Elektronik hinein. Er arbeitete überraschend schnell. Danach verschloß er die Löcher wieder mit Polymer.

»Es ist ein Sprachübersetzungscomputer und ein Funkmikrofon. Für den Fall, daß Sie verstehen müssen, was die Leute zu Ihnen sagen.« »Aber auch wenn ich verstehe, was sie sagen«, fragte Kate, »wie kann ich Ihnen antworten?«

Marek stieß sie an. »Mach dir keine Gedanken. Ich spreche Pro-venzalisch. Und Mittelfranzösisch.«

»Ach, dann ist es ja gut«, erwiderte sie sarkastisch. »Wirst du es mir in den nächsten fünfzehn Minuten beibringen?« Sie war nervös; gleich würde sie zerstört oder vaporisiert werden oder was immer die mit dieser Maschine machten, und die Worte sprudelten einfach aus ihr heraus.

Marek sah sie überrascht an. »Nein«, sagte er ernsthaft. »Aber wenn du bei mir bleibst, passe ich auf dich auf.« Etwas an seiner Ernsthaftigkeit beruhigte sie. Er war so ein grundanständiger Kerl. Wahrscheinlich wird er wirklich auf mich aufpassen, dachte sie und entspannte sich.

Kurz darauf wurden sie alle mit den fleischfarbenen Plastikohrstöpseln ausgestattet. »Sie sind jetzt ausgeschaltet«, sagte Gordon. »Um sie anzuschalten, brauchen Sie sich nur mit dem Finger ans Ohr zu tippen. Und wenn Sie jetzt bitte hierherkommen...«

Gordon gab jedem von ihnen einen kleinen Lederbeutel. »Wir arbeiten seit einiger Zeit an einer Erste-Hilfe-Ausrüstung. Da Sie die ersten sind, die diese Welt betreten, haben Sie vielleicht Verwendung dafür. Sie können den Beutel verdeckt tragen, unter der Kleidung.« Er öffnete einen Beutel und zog eine kleine Aluminiumdose hervor, etwa zehn Zentimeter hoch und gut zwei im Durchmesser. Sie sah aus wie eine kleine Rasierschaumdose. »Das ist die einzige Verteidigungswaffe, die wir Ihnen mitgeben können. Sie enthält zwölf Dosen Ethylendihydrid auf einem Proteinsubstrat. Wie es wirkt, können wir Ihnen an unserer Katze, H. G., demonstrieren. H. G., wo bist du?« Eine schwarze Katze sprang auf den Tisch. Gordon streichelte sie und sprühte ihr dann eine Ladung des Gases auf die Schnauze. Die Katze blinzelte, schniefte einmal und kippte dann zur Seite. »Bewußtlosigkeit innerhalb von sechs Sekunden«, sagte Gordon, »und es hinterläßt eine rückwirkende Amnesie. Aber vergessen Sie nicht, es wirkt nur kurz. Und Sie müssen dem Angreifer ins Gesicht sprühen, damit es wirkt.«

Die Katze zuckte bereits wieder und wachte auf, als Gordon noch einmal in den Beutel griff und drei rote Papiervvürfel herauszog, etwa so groß wie Zuckerwürfel und mit einer hellen Wachsschicht überzogen. Sie sahen aus wie Feuerwerkskörper. »Wenn Sie ein Feuer machen müssen«, sagte er, »damit schaffen Sie es. Ziehen Sie an der kleinen Schnur, und sie fangen Feuer. Sie sind beschriftet mit fünfzehn, dreißig, sechzig - das ist die Anzahl der Sekunden, bevor sie Feuer fangen. Gewachst, damit sie wasserdicht sind. Aber ich muß Sie warnen: Manchmal funktionieren sie nicht.« Chris Hughes fragte: »Warum nicht einfach ein Bic-Feuerzeug?« »Das paßt nicht in die Zeit. Sie können kein Plastik mitnehmen.« Gordon wandte sich wieder dem Beutel zu. »Dann haben wir ein paar einfache Medikamente, nichts Ausgefallenes. Gegen Entzündungen, gegen Durchfall, gegen Krämpfe, gegen Schmerzen. Sie wollen sich doch nicht in einer Burg übergeben«, sagte er. »Wir können Ihnen nämlich keine Reinigungstabletten fürs Wasser mitgeben.« Stern kam dies alles ein wenig unwirklich vor. Sich in einer Burg übergeben? »Hören Sie, äh -«

»Und schließlich ein Allzweck-Taschenwerkzeug, einschließlich

Messer und Dietrich.« Es sah aus wie ein Schweizer Offiziersmesser aus Stahl. Gordon steckte alles in den Beutel zurück. »Wahrscheinlich werden Sie nichts davon brauchen, aber wir geben es Ihnen für alle

Fälle mit. Und jetzt wollen wir Sie anziehen.«

Stern konnte sein unbehagliches Gefühl einfach nicht abschütteln. Eine freundliche, großmütterliche Frau war von ihrer Nähmaschine aufgestanden und gab ihnen nun ihre Kleidung: zuerst weiße Unterhosen aus Leinen - ein wenig wie Boxershorts, doch ohne Elastikbund -, dann einen Ledergürtel und schwarze wollene Leggings.

»Was ist das?« fragte Stern. »Sieht aus wie eine Strumpfhose.«

»Das sind Beinlinge, mein Lieber.«

Auch hier gab es keinen Elastikbund. »Und wie halten die?«

»Man klemmt sie sich unter den Gürtel, und zwar unter dem Wams.

Oder man befestigt sie an den Senkeln am Wams.«

»Senkel?« »Genau, mein Lieber. Am Wams.«

Stern sah zu den anderen hinüber. Sie legten seelenruhig die Kleidungsstücke, die man ihnen aushändigte, zu Stapeln zusammen. Sie schienen genau zu wissen, wozu die einzelnen Stücke dienten, und sie waren so gelassen wie in einem Kaufhaus. Stern dagegen ging es ganz anders, er fühlte Panik in sich aufsteigen. Jetzt erhielt er ein weißes Leinenhemd, das ihm bis zum Oberschenkel reichte, und einen größeren Kittel aus wattiertem Filz, der Wams genannt wurde. Und schließlich einen Dolch an einer Stahlkette. Er sah ihn zweifelnd an. »Jeder trägt einen. Sie brauchen ihn zum Essen, wenn schon für sonst nichts.« Abwesend legte er ihn oben auf den Rest und stöberte dann in dem Stapel, immer noch auf der Suche nach den »Senkeln«. Gordon sagte: »Diese Kleidungsstücke sollen statusneutral sein, weder teuer noch ärmlich. Wir wollen, daß Sie in etwa der Kleidung eines mäßig erfolgreichen Händlers, eines Pagen oder eines etwas heruntergekommenen Adligen entsprechen.« Stern erhielt nun Schuhe, die aussahen wie Lederslipper mit langer Spitze, nur daß sie mit einer Schnalle versehen waren. Wie die Schuhe eines Hofnarren, dachte er unglücklich.

Die großmütterliche Frau lächelte: »Keine Angst, die haben eingebaute Luftpolstersohlen, wie Ihre Nikes.«

»Warum ist alles schmutzig?« fragte Stern und betrachtete stirnrunzelnd sein Wams.

»Na, Sie wollen doch zu den anderen passen, oder?«

Die Männer zogen sich gemeinsam in einem Umkleideraum um. Stern sah den anderen zu. »Wie, äh, geht denn ...«

»Du willst wissen, wie man sich im vierzehnten Jahrhundert anzog?« fragte Marek. »Das ist ganz einfach.« Marek hatte sich bereits ganz ausgezogen und lief nackt, aber entspannt umher. Der Mann war das reinste Muskelpaket. Zögernd streifte Stern seine Hose ab. »Zuerst«, sagte Marek, »ziehst du die Unterhose an. Das ist sehr hochwertiges Leinen. Die hatten damals gutes Leinen. Damit die Unterhose hält, mußt du dir den Gürtel umschnallen und dann den oberen Rand der Shorts ein paarmal um den Gürtd wickeln. Okay?« »Der Gürtel kommt unter die Kleidung?«

»Genau. Der hält die Unterhose. Als nächstes ziehst du deine Beinlinge an.« Marek zog sich die schwarzen Wolleggings über die Beine. Die Beinlinge hatten angestrickte Füße, wie bei einem Ba-bypyjama. »Die haben hier oben Bänder, siehst du die?«

»Meine Beinlinge pludern«, sagte Stern, zog sie hoch und betastete sie an den Knien.

»Das macht nichts. Es sind keine Festtagsbeinlinge, die müssen nicht hauteng sein. Und jetzt dein Leinenhemd. Zieh es dir über den Kopf und laß es nach unten fallen. Nein, nein, David. Der Schlitz am Hals muß vorne sein.«

Stern zog die Arme aus den Ärmeln und drehte linkisch das Hemd um. »Und schließlich«, sagte Marek und nahm seine Filzkutte zur Hand, »ziehst du dein Wams an.« Eine Mischung aus Rock und Windjacke. »Man trägt es im Haus und draußen und zieht es nie aus, außer wenn es sehr heiß ist. Siehst du die Senkel? Das sind die Bändchen auf der Innenseite. Jetzt verknote die Bänder an den Beinlingen mit den Senkeln am Wams.«

Marek hatte das alles in wenigen Augenblicken geschafft; es war, als hätte er es jeden Tag seines Lebens getan. Chris brauchte deutlich länger, wie Stern mit Befriedigung feststellte. Stern selbst verdrehte sich linkisch, um die Bänder am Rücken zu verknoten. »Und das nennst du einfach?« fragte er ächzend. »Du hast dir wohl in letzter Zeit deine eigene Kleidung nicht genau angeschaut«, sagte Marek. »Der westliche Durchschnittsmensch im zwanzigsten Jahrhundert trägt täglich neun bis zwölf Kleidungsstücke. Hier sind es nur sechs.«

Stern schob sich sein Wams über den Kopf und zog es an der Taille nach unten, so daß es ihm bis zu den Oberschenkeln reichte. Dabei legte er sein Hemd in Falten, und Marek mußte ihm schließlich helfen, es wieder glattzustreichen und die Beinlinge fester zu binden. Als Abschluß hängte Marek ihm die Kette mit dem Dolch locker um die Hüfte und trat dann einen Schritt zurück, um ihn zu bewundern. »So«, sagte Marek mit einem Nicken. »Wie fühlst du dich?«

Stern verdrehte die Schultern, als wäre ihm alles zu eng. »Wie ein dressiertes Hähnchen.«

Marek lachte. »Du gewöhnst dich daran.«

Kate war gerade mit dem Anziehen fertig, als Susan Gomez, die junge Frau, die eben die Reise bereits gemacht hatte, in den Umkleideraum trat. Gomez trug Kleidung der damaligen Zeit und eine Perücke. Eine zweite warf sie Kate zu. Kate verzog das Gesicht.

»Sie müssen sie tragen«, sagte Gomez. »Kurze Haare bei einer Frau sind ein Zeichen von Schande oder von Ketzerei. Sie dürfen nie irgend jemand da drüben Ihre echte Haarlänge sehen lassen.«

Kate zog die Perücke über, dunkelblonde Haare, die ihr bis zu den

Schultern reichten. Sie drehte sich zum Spiegel und sah das Gesicht einer Fremden. Sie sah jünger aus, weicher. Schwächer.

»Entweder die Perücke«, sagte Gomez, »oder Sie schneiden Ihre Haare ganz kurz, wie ein Mann. Ihre Entscheidung.«

»Ich trage die Perücke«, sagte Kate.

Diane Kramer sah Victor Baretto an und sagte: »Aber das ist schon immer die Vorschrift gewesen, Victor. Sie wissen das.« »Ja, aber das Problem ist«, sagte Baretto, »daß Sie uns jetzt mit einer neuen Mission beauftragen.« Baretto war ein schlanker, hart und zäh wirkender Mann, ein Ex-Ranger, der seit zwei Jahren für die Firma arbeitete. In dieser Zeit hatte er sich einen Ruf als kompetenter, allerdings auch etwas kapriziöser Sicherheitsmann erworben. »Jetzt verlangen Sie von uns, daß wir die Welt betreten, aber Sie lassen uns keine Waffen mitnehmen.«

»Das ist richtig, Victor. Keine Anachronismen. Keine modernen Gegenstände auf einer Reise in die Vergangenheit. Das war die Vorschrift von Anfang an.« Kramer versuchte, ihren Ärger zu verbergen. Diese militärischen Typen waren schwierig, vor allem die Männer. Frauen, wie Gomez, waren ganz okay. Aber die Männer versuchten auf den Reisen in die Vergangenheit immer »ihre Ausbildung anzuwenden«, wie sie es nannten,und das funktionierte nie richtig. Insgeheim dachte Kramer, daß die Männer hinter diesem Getue nur ihre Angst versteckten, aber so etwas durfte sie natürlich nie sagen. Es war schwierig genug für diese Männer, Befehle von einer Frau wie ihr entgegenzunehmen.

Die Männer hatten auch mehr Probleme damit, ihre Arbeit geheimzuhalten. Den Frauen fiel das leichter, aber die Männer wollten mit ihren Reisen in die Vergangenheit prahlen. Natürlich war ihnen das vertraglich strengstens verboten, aber nach ein paar Drinks in einer Bar konnte man Verträge schon einmal vergessen. Das war der Grund, warum Kramer sie alle von der Existenz von gewissen, speziell gebrannten Navigationsmarkern unterrich-tet hatte. Diese Marker waren in die Mythologie der Firma eingegangen, einschließlich ihrer Namen: Tunguska, Vesuv, Tokio. Der Vesuv-Marker brachte einen in die Bucht von Neapel am 35. August des Jahres 79 nach Christus um sieben Uhr morgens, kurz bevor glühende Asche alle tötete. Tunguska setzte einen in Sibirien 1908 ab, kurz bevor der riesige Meteor einschlug und eine Druckwelle auslöste, die im Umkreis von mehreren hundert Kilometern alles Leben auslöschte. Tokio brachte einen im Jahr 1923 in diese Stadt, kurz bevor das Beben sie dem Erdboden gleichmachte. Es ging das Gerücht, falls etwas über das Projekt an die Öffentlichkeit gelangte, könne es passieren, daß man für die nächste Reise einen falschen Marker ausgehändigt bekam. Aber keiner der Ex-Militärs wußte, ob etwas Wahres daran war oder ob es sich nur um eine Firmenlegende handelte. Und genauso wollte Kramer es auch haben.

»Das ist eine neue Mission«, sagte Baretto noch einmal, als hätte sie ihn zuvor nicht gehört. »Sie verlangen von uns, daß wir die Welt betreten — hinter die feindlichen Linien gehen, sozusagen —, und zwar ohne jede Bewaffnung.«

»Aber Sie sind doch alle im Nahkampf ausgebildet. Sie, Gomez, Sie alle.«

»Ich glaube nicht, daß das reicht.« »Victor.«

»Bei allem Respekt, Ms. Kramer, aber ich glaube nicht, daß Sie den Ernst der Lage hier begreifen«, sagte Baretto stur. »Sie haben bereits zwei Personen verloren. Drei, wenn Sie Traub mitrechnen.« »Nein, Victor. Wir haben nie jemanden verloren.« »Traub auf jeden Fall.«

»Wir haben Traub nicht verloren«, entgegnete sie. »Traub reiste aus eigener Entscheidung, und Traub hatte Depressionen.« »Sie nehmen an, daß er Depressionen hatte.« »Wir wissen es, Victor. Nach dem Tod seiner Frau war er sehr depressiv und selbstmordgefährdet. Und obwohl er sein Reiselimit bereits überschritten hatte, wollte er noch einmal gehen, um zu sehen, ob er die Technologie noch verbessern könnte. Er hatte eine Idee, wie er die Maschine so modifizieren könnte, daß sie weniger Transkriptionsfehler produziert. Aber anscheinend war seine Idee falsch. Das war der Grund, warum er in der Wüste von Arizona endete. Ich persönlich glaube ja, daß er gar nicht wirklich die Absicht hatte zurückzukehren. Ich glaube, es war Selbstmord.« »Und Sie haben Rob verloren«, sagte Baretto. »Das war verdammt noch mal kein Selbstmord.«

Kramer seufzte. Rob Deckard war einer der ersten Beobachter gewesen, die zurückgegangen waren, damals vor fast zwei Jahren. Und er war einer der ersten, die Transkriptionsfehler zeigten. »Das war viel früher im Projekt, Victor. Die Technologie war nicht so ausgereift. Und Sie wissen, was passiert ist. Nachdem Rob einige Reisen gemacht hatte, zeigten sich bei ihm gewisse kleinere Auswirkungen. Er bestand darauf weiterzumachen. Aber wir haben ihn nicht verloren.« »Er ging und kam nie mehr zurück«, sagte Baretto. »Um das geht's.« »Robert wußte genau, was er tat.« »Und jetzt der Professor.«

»Wir haben den Professor nicht verloren«, sagte sie. »Er ist noch am Leben.«

»Das hoffen Sie. Aber Sie wissen nicht, warum er nicht mehr zurückgekommen ist.« »Victor —«

»Ich will damit nur sagen«, warf Baretto dazwischen, »daß in diesem

Fall die Logistik nicht dem Anforderungsprofil der Mission entspricht.

Sie verlangen von uns, daß wir unnötige Risiken eingehen.«

»Sie müssen ja nicht gehen«, entgegnete Kramer sanft.

»Nein, verdammt. Das habe ich nie gemeint.«

»Sie müssen nicht.«

»Natürlich gehe ich.«

»Na gut, und das sind die Vorschriften. Keine moderne Technologie kommt in diese Welt. Verstanden?«

»Verstanden.«

»Und kein Wort von all dem zu den Akademikern.« »Nein, nein. Verdammt, ich bin Profi.« »Okay«, sagte Kramer.

Sie sah ihm nach. Er schmollte zwar, aber er fügte sich. Am Ende taten sie das immer. Und die Vorschrift ist wichtig, dachte sie. Obwohl Doniger immer wieder gerne darüber dozierte, daß man die Vergangenheit nicht ändern könne, wußte es niemand so ganz genau — und niemand wollte es riskieren. Sie wollten nicht, daß moderne Waffen oder Artefakte, vor allem aus Plastik, in die Vergangenheit gelangten.

Und bis jetzt war es auch noch nicht passiert.

Stern saß mit den anderen auf harten Stühlen in einem Zimmer mit Karten. Susan Gomez, die Frau, die eben mit der Maschine zurückgekehrt war, redete auf eine forsche, schnelle Art, die Stern übertrieben fand.

»Wir reisen«, sagte sie, »zum Kloster Sainte Mere, am Fluß Dor-dogne im Südwesten Frankreichs. Wir werden am Donnerstag, dem 7. April 1357, um acht Uhr vier dort eintreffen — das ist der Tag der Nachricht des Professors. Wir haben Glück, weil an diesem Tag in Castelgard ein Turnier stattfindet, das die Leute in Scharen aus der Umgebung anzieht, das heißt, man wird uns nicht bemerken.«

Sie klopfte auf eine Karte. »Nur zur Orientierung, hier ist das Kloster. Castelgard ist dort, am anderen Flußufer. Und die Festung von La Roque befindet sich auf diesem Steilufer hier, oberhalb des Klosters. Irgendwelche Fragen?« Sie schüttelten den Kopf.

»Na gut. Die Situation in diesem Gebiet ist ein bißchen unsicher. Wie Sie wissen, bedeutet April 1357, daß seit gut zwanzig Jahren der Hundertjährige Krieg herrscht. Es ist sieben Monate nach dem Sieg der Engländer bei Poitiers, bei dem der König von Frankreich gefangengenommen wurde. Der französische König wird nun als Geisel gehalten. Und Frankreich ohne König ist in Aufruhr. Im Augenblick ist Castelgard in den Händen von Sir Oliver de Vannes, einem englischen Ritter, der in Frankreich geboren wurde. Darüber hinaus hat Oliver La Roque eingenommen, wo er jetzt die Verteidigungsanlagen der Festung verstärkt. Sir Oliver ist ein unangenehmer Charakter mit notorisch aufbrausendem Gemüt. Man nennt ihn den Schlächter von Crecy, wegen seiner Exzesse in dieser Schlacht.«

»Dann kontrolliert Oliver also beide Städte?« fragte Marek. »Im Augenblick ja. Doch eine Kompanie abtrünniger Ritter, unter der Führung des amtsenthobenen Priesters Arnaut de Cervole —« »Dem Erzpriester«, sagte Marek.

»Ja, genau, dem Erzpriester, stößt in diese Gegend vor und wird zweifellos versuchen, Oliver die Burgen abzunehmen. Wir schätzen, daß der Erzpriester noch einige Tagesreisen entfernt ist. Aber die Kämpfe können jederzeit ausbrechen, wir werden uns deshalb beeilen.« Sie ging zu einer anderen Karte mit größerem Maßstab. Sie zeigte die Klostergebäude.

»Wir kommen ungefähr hier an, am Rand des Foret de Sainte Mere. Von diesem Punkt aus sollten wir genau auf das Kloster hinunterschauen können. Da die Botschaft des Professors aus dem Kloster kam, werden wir direkt dorthin gehen. Wie Sie wissen, nimmt man in einem solchen Kloster die Hauptmahlzeit um zehn Uhr vormittags ein, und der Professor dürfte um diese Zeit anwesend sein. Mit etwas Glück finden wir ihn dort und bringen ihn zurück.«

Marek fragte: »Woher wissen Sie das alles? Ich dachte, es hat noch niemand die Welt betreten.«

»Das stimmt. Das hat noch niemand. Aber Beobachter, die dicht bei ihren Maschinen geblichen sind, haben uns trotzdem soviel an Informationen zurückgebracht, daß wir über diese Zeit Bescheid wissen. Sonst noch Fragen?« Sie schüttelten den Kopf, nein.

»Nun gut. Es ist sehr wichtig, daß wir den Professor finden, solange er noch im Kloster ist. Wenn er nach Castelgard oder La Roque geht, wird es viel schwieriger. Wir haben ein sehr enges Missionsprofil. Ich gehe davon aus, daß wir zwischen einer und drei Stunden dort sind. Wir bleiben die ganze Zeit zusammen. Falls wir getrennt werden, benutzten Sie Ihre Ohrstöpsel, um wieder zusammenzufinden. Wir holen den Professor und kehren sofort zurück. Okay?«

»Verstanden.«

»Sie haben eine Eskorte, die aus zwei Leuten besteht. Ich selbst und Victor Baretto, dort drüben in der Ecke. Sag hallo, Vic.« Der zweite Begleiter war ein mürrischer Kerl, der aussah wie ein ExMarine - ein zäher und fähiger Mann. Barettos Kleidung wirkte eher wie die eines Bauern aus dieser Zeit, sie war weit geschnitten und schien aus einer Art Sackleinen zu bestehen. Er nickte nur und winkte knapp. Anscheinend war er schlechter Laune. »Okay«, sagte Gomez. »Weitere Fragen?« Chris sagte: »Professor Johnston ist jetzt seit drei Tagen dort?« »Stimmt.«

»Was glauben die Leute, wer er ist?«

»Das wissen wir nicht«, antwortete Gomez. »Wir wissen nicht, warum er die Maschine überhaupt verlassen hat. Er muß einen Grund gehabt haben. Aber da er in der Welt ist, dürfte es für ihn das einfachste sein, als Schreiber aufzutreten oder als Gelehrter aus London auf einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela in Spanien. Sainte-Mere liegt auf der Pilgerroute, und es ist nicht ungewöhnlich, daß Pilger ihre Reise unterbrechen und einen Tag oder eine Woche bleiben, vor allem, wenn sie sich mit dem Abt anfreunden, der ein ziemliches Original ist. Vielleicht hat der Professor das getan. Vielleicht auch nicht. Wir wissen es einfach nicht.«

»Einen Moment mal«, sagte Chris Hughes. »Wird seine Anwesenheit nicht die örtliche Geschichte ändern? Wird er nicht den Ausgang von

Ereignissen beeinflussen?«

»Nein, das wird er nicht.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil er es nicht kann.«

»Was ist mit den Zeitparadoxa?«

»Zeitparadoxa?«

»Genau«, sagte Stern. »Sie wissen schon, Sie reisen in die Vergangenheit und bringen Ihren Großvater um, so daß Sie nicht geboren werden und nicht zurückgehen können, um Ihren Großvater umzubringen —«

»Ach, das.« Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es gibt keine Zeitparadoxa.«

»Was soll das heißen? Natürlich gibt es die.«

»Nein, die gibt es nicht«, sagte nun eine entschiedene Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um, Doniger stand in der Tür. »Zeitparadoxa finden nicht statt.«

»Was soll das heißen?« fragte Stern. Es ärgerte ihn, daß man seine Frage so unwirsch abtat.

»Die sogenannten Zeitparadoxa«, sagte Doniger, »haben nicht wirklich mit der Zeit zu tun. Sie haben mit Theorien über die Geschichte zu tun, die verführerisch, aber falsch sind. Verführerisch, weil sie einem vorgaukeln, man könne Einfluß auf den Lauf der Ereignisse nehmen. Und falsch, weil man das natürlich nicht kann.« »Man kann keinen Einfluß auf Ereignisse nehmen?« »Nein.«

»Natürlich kann man das.«

»Nein. Das kann man nicht. Am einfachsten zu verstehen ist das, wenn wir ein zeitgenössisches Beispiel nehmen. Sagen wir, Sie gehen zu einem Baseballspiel. Die Yankees gegen die Mets — was die Yankees natürlich gewinnen werden. Sie wollen das Ergebnis ändern, so daß die Mets gewinnen. Was können Sie tun? Sie sind nur ein Mensch in einer Riesenmenge. Wenn Sie versuchen, zur Spielerbank zu gehen, wird man Sie stoppen. Wenn Sie versuchen, aufs Spielfeld zu laufen, wird man Sie wegschaffen. Die meisten Aktionen, die Ihnen zur Verfügung stehen, werden mißlingen und daher den Ausgang des Spiels nicht ändern. Sagen wir, Sie entscheiden sich für eine extremere Aktion: Sie wollen den Werfer der Yankees erschießen. Aber in dem Augenblick, da Sie die Waffe ziehen, werden Sie wahrscheinlich schon von Fans, die in der Nähe stehen, überwältigt. Auch wenn Sie einen Schuß abgeben können, werden Sie mit ziemlicher Sicherheit danebenschießen. Und falls Sie den Werfer wirklich treffen, was kommt dabei heraus? Ein anderer Werfer wird seinen Platz ein-nehmen. Und die Yankees gewinnen das Spiel.

Sagen wir, Sie greifen zu einer noch extremeren Aktion. Sie wollen ein Nervengas freisetzen und alle im Stadion töten. Auch das wird Ihnen wahrscheinlich nicht gelingen, aus denselben Gründen, warum Sie keinen Schuß abgeben können. Aber auch wenn Sie es schaffen, alle zu töten, haben Sie dennoch den Ausgang des

Spiels nicht verändert. Sie können jetzt einwenden, daß Sie der Geschichte eine andere Richtung gegeben haben - vielleicht stimmt das ja —, aber Sie haben die Mets nicht in die Lage versetzt, das Spiel zu gewinnen. In Wirklichkeit gibt es nichts, was Sie tun können, um den Mets zu einem Sieg zu verhelfen. Sie bleiben, was Sie immer waren: ein Zuschauer.

Und dieses Prinzip trifft auf die große Mehrheit geschichtlicher Umstände zu. Ein einzelner Mensch kann wenig tun, um die Ereignisse in bedeutsamer Weise zu verändern. Große Massen können natürlich >den Lauf der Geschichte verändernA Aber ein einzelner Mensch? Nein.«

»Das mag ja sein«, entgegnete Stern. »Aber ich kann meinen Großvater töten. Und wenn er tot ist, kann ich nicht geboren werden, ich würde nicht existieren und könnte ihn deshalb nicht erschossen haben. Und das ist ein Paradox.«

»Ja, das ist es - wenn man annimmt, daß Sie Ihren Großvater wirklich erschießen. Aber das könnte sich in der Praxis als schwierig erweisen. Vielleicht begegnen Sie ihm nicht zum richtigen Zeitpunkt. Vielleicht werden Sie unterwegs von einem Bus angefahren. Oder vielleicht verlieben Sie sich. Vielleicht verhaftet Sie die Polizei. Vielleicht töten Sie ihn zu spät, nachdem Ihre Mutter gezeugt wurde. Oder vielleicht stehen Sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber und merken, daß Sie den Abzug nicht drücken können.« »Aber theoretisch...«

»Wenn wir uns mit der Geschichte beschäftigen, sind Theorien wertlos«, sagte Doniger mit einem verächtlichen Winken. »Eine Theorie hat nur einen Wert, wenn sie zukünftige Ereignisse voraussagen kann. Aber Geschichte ist ein Bericht über menschliches Handeln - und keine Theorie kann menschliches Handeln voraussagen.« Er rieb sich die Hände.

»Nun denn. Sollen wir diese Spekulationen beenden und uns auf den Weg machen?«

Die anderen murmelten zustimmend.

Stern räusperte sich. »Um ehrlich zu sein«, sagte er, »ich glaube nicht, daß ich mitmache.« Marek hatte das schon erwartet. Er hatte Stern während der Bespre-chung beobachtet und gesehen, wie er auf seinem Stuhl hin und her rutschte, als könnte er es sich nicht bequem machen. Und er hatte bemerkt, wie Sterns Ängstlichkeit seit Beginn der Besichtigungstour ständig zugenommen hatte.

Marek selbst war sich sicher, daß er gehen wollte. Seit frühester Jugend war das Mittelalter sein ein und alles gewesen; er hatte sich vorgestellt, auf der Wartburg, in Carcassonne, Avignon und Mailand dabeizusein. Er hatte in den walisischen Kriegen mit Edward 1. gekämpft. Er hatte gesehen, wie die Bürger von Calais ihre Stadt aufgaben, hatte die Messen in der Champagne besucht. Er hatte an den prächtigen Höfen von Eleanor von Aquitanien und des Herzogs von Berry gelebt. Marek würde diese Reise unternehmen, unter allen Umständen. Was Stern anging...

»Tut mir leid«, sagte Stern eben, »aber eigentlich geht mich das alles nichts an. Zum Team des Professors bin ich nur gestoßen, weil meine Freundin in Toulouse einen Ferienkurs besucht. Ich bin kein Historiker. Ich bin Naturwissenschaftler. Und außerdem glaube ich nicht, daß es sicher ist.«

Doniger fragte: »Sie glauben, daß die Maschinen nicht sicher sind?« »Nein, der Ort. Und das Jahr 1357. Nach Poitiers herrschte in Frankreich Bürgerkrieg. Freie Soldatenhorden, die plündernd durchs Land zogen. Überall Banditen und Halsabschneider, und Gesetzlosigkeit pur.«

Marek nickte. Immerhin begriff Stern die Lage. Das vierzehnte Jahrhundert war eine untergegangene Welt und eine gefährliche. Es war eine religiöse Welt, die meisten Leute gingen einmal pro Tag zur Kirche. Aber es war auch eine unglaublich gewalttätige Welt, wo einfallende Armeen jeden töteten, wo Frauen und Kinder beiläufig in Stücke gehackt und Schwangere zum Vergnügen ausgeweidet wurden. Es war eine Welt, in der man das Bekenntnis zu den Idealen der Ritterlichkeit auf den Lippen trug, aber wahllos plünderte und mordete, in der Frauen als machtlos und schwach dargestellt wurden, gleichzeitig riesige Vermögen verwalteten und Burgen beherrschten, sich beliebig Bettgespielen nahmen und Attentate und Rebellionen planten. Es war eine Welt der sich ständig verändernden Grenzen und der sich ständig verändernden Allian-zen, oft von einem Tag zum anderen. Es war eine Welt des Todes, in der die Pest, Krankheiten und unaufhörlicher Krieg herrschten.

Gordon sagte zu Stern: »Ich will Sie auf keinen Fall zwingen.«

»Aber denken Sie daran«, sagte Doniger. »Sie werden nicht allein sein.

Ich gebe Ihnen eine Eskorte mit.«

»Tut mir leid«, sagte Stern noch einmal. »Tut mir leid.«

Schließlich sagte Marek: »Lassen Sie ihn hier. Er hat recht. Es ist nicht seine Zeit, und es geht ihn nichts an.«

»Jetzt, da du es erwähnst«, sagte Chris. »Ich habe nachgedacht: Eigentlich ist es auch nicht meine Zeit. Ich habe es eher mit dem späten dreizehnten als mit der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Vielleicht sollte ich bei David bleiben —«

»Vergiß es«, sagte Marek und legte Chris den Arm um die Schultern. »Du wirst sehen, dir wird schon nichts passieren.« Marek behandelte es als Witz, obwohl Chris es nicht unbedingt als Witz gemeint hatte. Nicht unbedingt.

Es war kalt in dem Raum. Feuchtkühler Dunst bedeckte ihre Füße und Knöchel. Sie verwirbelten den Dunst, als sie auf die Maschinen zugingen.

Vier Käfige waren an den Sockeln miteinander verbunden worden, ein fünfter stand etwas abseits. »Das ist meiner«, sagte Baretto und stieg in diesen einzelnen Käfig. Er stand aufrecht da, starrte geradeaus und wartete.

Susan Gomez stieg in einen der kombinierten Käfige und sagte: »Alle

übrigen kommen mit mir.« Marek, Kate und Chris stiegen in die Käfige neben ihr. Die Maschinen schienen auf Federn gelagert zu sein, beim

Einsteigen schwankten sie leicht.

»Sind alle soweit?«

Die anderen murmelten und nickten.

Baretto sagte: »Die Damen zuerst.«

»Wie recht du doch hast«, erwiderte Gomez. Die beide schienen sich nicht gerade innig zu mögen. »Okay«, sagte sie zu den anderen. »Los geht's.«

Chris' Herz fing heftig an zu pochen. Er war leicht benommen und fühlte Panik in sich aufsteigen, ballte die Hände zu Fäusten. Gomez sagte: »Entspannen Sie sich. Ich glaube, es wird Ihnen gefallen.« Sie steckte den Keramikmarker in den Schlitz zu ihren Füßen und richtete sich wieder auf.

»Und los. Nicht vergessen: ganz still stehen, wenn's soweit ist.« Die Maschinen begannen zu summen. Chris spürte eine leichte Vibration im Sockel, direkt unter seinen Füßen. Das Summen wurde lauter. Der Dunst wehte von den Sockeln der Maschinen weg. Die Maschinen fingen an zu ächzen und zu kreischen, als würde Metall verbogen. Das Geräusch wurde schnell lauter, bis es so beständig und schrill war wie ein Schrei.

»Das kommt vom flüssigen Helium«, sagte Gomez. »Das kühlt das Metall auf supraleitende Temperaturen ab.« Abrupt endete das Kreischen, und das Knattern begann. »Infrarotfreigabe«, sagte sie. »Jetzt.«

Chris spürte, wie sein ganzer Körper unwillkürlich zu zittern begann. Er versuchte es zu kontrollieren, aber seine Beine wollten ihm nicht recht gehorchen. Wieder spürte er Panik - vielleicht sollte er abbrechen -, aber dann hörte er die Stimme vom Band: »Stillhalten. Augen offen.« Zu spät, dachte er. Zu spät -»Tief einatmen. Anhalten... Jetzt«

Der Ring erschien oberhalb seines Kopfes und wanderte schnell bis zu den Füßen. Es klickte, als er den Sockel berührte. Einen Augenblick später gab es einen blendenden Lichtblitz - heller als die Sonne -, der von überallher zu kommen schien, doch er spürte überhaupt nichts. Genaugenommen hatte er unvermittelt das Gefühl kalter Distanziertheit, als würde er eine entfernte Szene betrachten. Die Welt um ihn herum war völlig still.

Er sah, daß Barettos Maschine größer wurde und plötzlich hoch über ihm aufragte. Baretto, ein Riese mit einem mächtigen Gesicht voller monströser Poren bückte sich und sah zu ihnen hinunter. Weitere Blitze.

Je größer Barettos Maschine wurde, desto weiter schien sie sich zu entfernen, und auch der Boden dazwischen schien sich zu weiten: eine riesige Ebene aus dunklem Gummiboden, die sich in die Ferne erstreckte. Wieder Blitze.

Der Gummiboden hatte ein Muster aus erhöhten Kreisen. Jetzt wuchsen diese Kreise um Chris herum in die Höhe, wie schwarze Klippen. Bald waren sie so hoch, daß sie wirkten wie Wolkenkratzer, die weit oben zusammenzuwachsen schienen und das Licht verdeckten. Schließlich berührten die Wolkenkratzer einander, und die Welt wurde dunkel. Wieder Blitze.

Einen Augenblick lang sah Chris nur Schwärze, doch dann erkannte er flackernde Lichtpunkte, die wie ein Gitternetz angeordnet waren und sich in alle Richtungen erstreckten. Es war, als befände er sich in einer riesigen, leuchtenden, kristallinen Struktur. Chris sah zu, wie diese Lichtpunkte heller und größer wurden und ihre Ränder verschwammen, bis jeder ein flauschiger, leuchtender Ball war. Er fragte sich, ob es Atome waren.

Jetzt konnte er das Gitter nicht mehr sehen, nur noch die Bälle in seiner nächsten Nähe. Sein Käfig bewegte sich direkt auf einen der leuchtenden Bälle zu, der zu pulsieren und in flackernden Mustern seine Form zu ändern schien.

Dann war er im Inneren des Balls, umgeben von einem strahlend hellen

Nebel, der vor Energie zu vibrieren schien.

Und dann verlöschte der Glanz und war verschwunden.

Er hing in formloser Schwärze. Im Nichts.

Schwärze.

Doch dann sah er, daß er noch immer sank, nun auf die tosende Oberfläche eines schwarzen Meers in einer schwarzen Nacht zu. Das Meer kochte und tobte und warf einen luftigen, blaugetönten Schaum. Je weiter er sank, desto größer wurde der Schaum. Chris sah, daß vor allem eine Blase in einem ganz besonders leuchtenden Blau erstrahlte. Immer schneller bewegte sich seine Maschine auf dieses Leuchten zu, sie raste, und er hatte das merkwürdige Gefühl, daß er mit dem Schaum kollidieren würde, und dann drang er in die Blase ein und hörte ein lautes, durchdringendes Kreischen. Dann Stille. Dunkelheit. Nichts.

Im Kontrollraum sah David Stern zu, wie die Blitze auf dem

Gummiboden immer kleiner wurden und dann verschwanden. Die

Maschinen waren weg. Die Techniker wandten sich sofort Baretto zu und begannen mit seinem Übertragungscountdown.

Aber Stern starrte weiter auf die Stelle auf dem Gummiboden, wo Chris und die anderen gewesen waren.

»Und wo sind sie jetzt?« fragte er Gordon.

»Oh, sie sind schon angekommen«, sagte Gordon. »Sie sind jetzt dort.«

»Sie wurden wiederaufgebaut?«

»Ja.«

»Ohne Faxmaschme am anderen Ende.« »Genau.«

»Erklären Sie mir, warum«, sagte Stern. »Sagen Sie mir die Details,

mit denen Sie die anderen nicht belästigen wollten.«

»Na gut«, sagte Gordon. »Es ist nichts Schlimmes. Ich dachte mir nur,

daß die anderen es vielleicht beunruhigend finden würden.«

»Aha.«

»Kehren wir noch einmal zurück«, sagte Gordon, »zu den Interferenzmustern, die uns, wie Sie sich erinnern werden, zeigen, daß andere Universen unser Universum beeinflussen können. Wir müssen überhaupt nichts tun, um zu erreichen, daß ein solches Interferenzmuster auftritt. Das passiert von ganz allein.« »Ja.«

»Und diese Interaktion ist sehr verläßlich; sie tritt immer auf, wenn man ein Paar Schlitze aufstellt.«

Stern nickte. Er versuchte herauszufinden, wohin das führen sollte, aber er konnte die Richtung nicht erkennen.

»Wir wissen also, daß wir uns in gewissen Situationen darauf verlassen können, daß andere Universen etwas passieren lassen. Wir stellen diese Schlitze auf, und die anderen Universen machen das Muster, das wir sehen, und zwar jedesmal.« »Okay...«

»Und wenn wir durch ein Wurmloch übertragen, wird die Person am anderen Ende immer wiederaufgebaut. Wir können uns auch darauf verlassen.«

Eine Pause entstand.

Stern runzelte die Stirn.

»Moment mal«, sagte er dann. »Soll das heißen, wenn Sie übertragen,

wird die Person von einem anderen Universum wiederaufgebaut?«

»Im Grunde genommen, ja. Ich meine, es muß so sein. Wir können sie ja schlecht wiederaufbauen, weil wir nicht dort sind. Wir sind hier in diesem Universum —«

»Sie bauen sie also nicht wieder auf...«

»Nein.«

»Weil Sie nicht wissen, wie«, sagte Stern.

»Weil wir es nicht für notwendig halten«, erwiderte Gordon. »So wie wir es nicht für notwendig halten, Teller auf einen Tisch zu kleben, um sie darauf zu halten. Sie bleiben von alleine auf dem Tisch. Wir nutzen einfach ein Wesensmerkmal des Universums, die Schwerkraft. Und in diesem Fall nutzen wir ein Wesensmerkmal des Multiversums.« Stern runzelte die Stirn. Er mißtraute dieser Analogie, sie war zu offensichtlich, zu einfach.

»Schauen Sie«, sagte Gordon, »das Wesentliche der Quantentechnologie ist doch, daß sie sich einer Universenüberlagerung bedient. Wenn ein Quantencomputer rechnet — wenn alle zweiunddreißig Quantenzustände des Elektrons benutzt werden —, führt dieser Computer diese Berechnungen theoretisch ja in anderen Universen aus, oder?« »Ja, theoretisch, aber —« »Nein. Nicht theoretisch.Tatsächlich.«

Wieder entstand eine Pause.

»Es ist vielleicht einfacher zu verstehen«, sagte Gordon, »wenn man es aus dem Blickwinkel des anderen Universums betrachtet. Dieses Universum sieht plötzlich eine Person ankommen. Eine Person aus einem anderen Universum.« »Ja...«

»Und genau das ist passiert. Die Person ist wirklich aus einem anderen Universum gekommen. Nur nicht aus unserem.« »Sagen Sie das noch mal.«

»Die Person kam nicht aus unserem Universum«, sagte Gordon. Stern riß die Augen auf. »Woher dann?«

»Sie kam aus einem Universum, das fast identisch ist mit unserem -identisch in jeder Hinsicht, außer daß man dort weiß, wie man die Person am anderen Ende wiederaufbauen kann.« »Das soll wohl ein Witz sein.« »Nein.«

»Dann ist die Kate, die dort landet, nicht die Kate, die von hier abgereist ist. Sie ist eine Kate aus einem anderen Universum.« »Ja.«

»Was ist sie dann? Eine Art von Kate? Eine Fast-Kate? Eine Vier-fünftel-Kate?«

»Nein, sie ist Kate. Soweit wir das bei unseren Tests feststellen konnten, ist sie absolut identisch mit unserer Kate. Weil unser

Universum und ihr Universum fast identisch sind.«

»Aber sie ist nicht die Kate, die von hier verschwunden ist.«

»Wie könnte sie das sein? Sie wurde zerstört und wiederaufgebaut.«

»Fühlt man sich irgendwie anders, wenn das passiert?«

»Nur für eine oder zwei Sekunden«, antwortete Gordon.

Schwärze.

Stille, dann in der Ferne ein gleißend helles Licht. Das schnell näher kam.

Chris schauderte, als ein starker elektrischer Schlag durch seinen Körper jagte. Seine Finger zuckten. Einen Augenblick lang spürte er plötzlich seinen Körper, so wie man Kleidung spürt, wenn man sie anzieht; er spürte das ihn umgebende Fleisch, sein Gewicht, das Ziehen der Schwerkraft, den Druck seines Körpers auf die Fußsohlen. Ein stechender Kopfschmerz, ein einzelner Herzschlag, dann war das Gefühl verschwunden, und er war umgeben von einem intensiven purpurnen Licht. Er zuckte zusammen und blinzelte. Er stand in hellem Sonnenlicht. Die Luft war kühl und feucht. Vögel sangen in riesigen Bäumen, die um ihn herum in die Höhe ragten. Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Laubwerk und sprenkelten den Boden. Er stand in einem dieser Strahlen. Die Maschine stand neben einem schmalen schlammigen Pfad, der sich durch den Wald schlängelte. Direkt vor sich sah er durch eine Lücke in den Bäumen ein mittelalterliches Dorf.

Zuerst eine Ansammlung von Feldern und Bauernhäusern, aus deren Strohdächern grauer Rauch aufstieg. Dann eine Steinmauer und darin die dunklen Steindächer des Städtchens selbst, und schließlich, in der Entfernung, die Burg mit ihren runden Türmen.

Er erkannte sofort, was es war: Stadt und Festung von Castelgard. Es waren keine Ruinen. Die Mauern waren intakt. Er war hier.

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