KAPITEL ZWEI EIN TAG WIE JEDER ANDERE IM PARLAMENT

Die Sonnenschreiter II fiel aus dem Hyperraum und trat in einen Orbit über Golgatha ein, Hauptwelt und Regierungssitz des Imperiums. Owen und Hazel hätte es nicht weniger bedeuten können. Virimonde hatte ihnen viel geraubt. Nach den körperlichen und seelischen Prügeln, die sie in der alten Todtsteltzer-Burg bezogen hatten, konnten sie gerade eben noch aufrecht in ihren Sesseln sitzen und Antworten auf die Landeinstruktionen vom Zentralraumhafen brummen. Owen tippte die Koordinaten ein und überließ es den Navigationslektronen, die Landung auszuführen. Sie konnten das besser, als jemals von ihm zu erwarten stand, und er war so furchtbar müde.

Und wenn er schon ehrlich zu sich selbst war: Die Sonnenschreiter II schüchterte ihn ein. Die Hadenmänner, diese rätselhaften aufgerüsteten Menschen, hatten das Schiff gebaut und es dem zerstörten Original so nah wie möglich angeglichen. Der Versuchung, es zu ›verbessern‹, konnten sie jedoch nicht widerstehen. Owen kam mit Türen klar, die sich schon öffneten, wenn er nur daran dachte, sich ihnen zu nähern, ebenso mit Lebensmittel-Synthetisierern, die schon vor ihm wußten, was er sich zum Abendessen wünschte, aber eine Navigationssteuerung, die nach demselben beunruhigenden Prinzip funktionierte, war einfach zuviel für ihn. Es war zu ein paar bedauerlichen Zwischenfällen gekommen, als er vor sich hinträumte und damit Landungen ruinierte, die ansonsten völlig sicher verlaufen wären, und daraufhin hatte er sich mit großer Bestimmtheit entschieden, diese Dinge den Lektronen zu überlassen und sich wichtigeren Aufgaben zu widmen. Wie Schmollen. Er saß zusammengesunken auf seinem Platz, sah zu, wie der dunkelblaue Planet vor ihm langsam größer wurde, und hatte ein fast nostalgisches Gefühl. Als er zuletzt nach Golga-110 tha gekommen war, hatten hier die letzten brutalen Wirren der Rebellion getobt, und praktisch alle Bewohner des Planeten hatten auf Owen geschossen. Jetzt war er nur ein Besucher unter vielen, nicht wichtiger als irgend jemand sonst. Er hatte das starke Gefühl, daß ihm die alten Verhältnisse lieber gewesen waren. Wenigstens wußte er damals, wer und wo seine Feinde waren. Er blickte voller Zuneigung zu Hazel hinüber, die auf ihrem Platz wütend vor sich hinbrütete. Auch wenn sich Hazel D’Ark angeblich entspannte, erweckte sie den Eindruck, als wäre sie jeden Augenblick auf dem Sprung, irgend jemandem die Kehle aufzureißen. Owen machte das nichts aus. Er war es gewöhnt.

»So«, sagte Hazel brüsk. Irgendwie spürte sie, ohne sich auch nur umzudrehen, daß er sie anschaute. »Wo geht es als nächstes hin? Hast du irgendwelche Pläne?«

»Warum bleibt das immer an mir hängen?« protestierte Owen zurückhaltend. Sie hatten dieses Gespräch schon oft.

»Wie kommt es, daß Ihr nie irgendwelche Ideen habt?«

»Ich habe jede Menge Ideen«, erwiderte Hazel. »Aber du bist immer zu feige, sie aufzugreifen.«

»Nur, weil Eure Ideen eine bestürzende Tendenz zu Gewalt, Mord und blutigem Gemetzel aufweisen sowie dazu, alles zu stehlen, was nicht festgenagelt ist. Mit dergleichen kommen wir heute nicht mehr durch. Wir sind keine Rebellen und Gesetzlosen mehr; wir gehören zum Status quo. Verdammt, rein technisch gesehen sind wir Polizeikräfte.«

»Langweilig«, meinte Hazel. »Du bist inzwischen richtig langweilig, Todtsteltzer.«

»Tatsächlich ist mir klar, was ich als nächstes in Angriff nehmen möchte«, sagte Owen und ignorierte die Beleidigung mit einer Leichtigkeit, die aus langer Übung resultierte. »Sobald wir gelandet sind und dem Parlament Bericht erstattet haben, ziehe ich schnurstracks wieder los, um Valentin Wolf zu jagen. Die Spur ist noch warm. Er wird nicht weit kommen.«

»Das hast du früher schon gesagt, Owen, und er ist immer wieder davongekommen. Schon immer war der Wolf woanders, als man ihn vermutete. Deshalb ist er trotz vieler Feinde so lange am Leben geblieben. Hat mal ausgespannt, sich ausgeruht, die Batterien wieder aufgeladen. Er wird früh genug wieder auftauchen und irgendwas Schlimmes anstellen, und dann können wir erneut probieren, ihn zu fassen.«

Owen mußte lächeln. »Wir sind weit gekommen, wenn Ihr schon die Stimme der Vernunft seid, die meine Hitzköpfigkeit zügelt.«

Hazel schniefte. »Denk bloß nicht, das wäre mir noch nicht aufgefallen. Es zeigt nur, wie mitgenommen wir sind. Wir brauchen Zeit, um uns auszuruhen, Todtsteltzer. Virimonde hat uns schwer getroffen.«

»Wahrhaftig. Keine großartige Heimkehr, alles in allem.«

Eine Pause trat ein, und Hazel blickte zu ihm hinüber, Gesicht und Tonfall sorgsam ruhig und gelassen. »Owen, wie kommt es, daß du mir nie zuvor etwas von Katie erzählt hast?

Ich meine, sie war deine Geliebte. Sie muß dir wichtig gewesen sein.«

»Das war sie«, bestätigte Owen. »Ich habe sie nicht erwähnt, weil sie Euch nichts anging. Ihr könntet nie die Art Beziehung verstehen, die uns verband.«

»Du härtest mit mir reden können«, fand Hazel. »Ich hätte mich bemüht, es zu verstehen. Erzähle mir von dieser Katie.

Wie war sie? Wie hast du sie kennengelernt?«

Owen schwieg so lange, daß Hazel beinahe schon vermutete, er würde überhaupt nicht antworten, aber endlich tat er es doch – mit einer ruhigen, fast emotionslosen Stimme, als wäre es die einzige Möglichkeit für ihn, sich auf solch schmerzliche Erinnerungen einzulassen. Er sah Hazel dabei nicht ein einziges Mal an.

»Ihr Name war Katie DeVries, und sie war sehr schön. Ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch war sie eine Kurtisane der einen oder anderen Art gewesen, vom Hau s der Freuden besonders ausgebildet und angepaßt, um jeden Wunsch zu erfüllen und dabei zu helfen, daß man neue Wünsche entwickelte.

Sie diente als Überraschungsgast bei einem Winterball auf Golgatha, und als sie mir zum ersten Mal vorgestellt wurde, hielt ich sie für das Wundervollste, was ich je gesehen hatte.

Wir tanzten und redeten miteinander, und sie hörte mir zu, schien zu verstehen, was ich sagte, und sich etwas daraus zu machen – was so viele andere nicht taten. Sie fand sogar meine Witze lustig. Sie war vollkommen. Also erwarb ich ihren Kontrakt zu einem absoluten Wucherpreis, und sie wurde meine Geliebte.

Natürlich stellte sich heraus, daß sie nicht vollkommen war.

Ihre Tischmanieren konnte man nur als grauenhaft beschreiben.

Schon früh morgens zeigte sie sich viel zu froh und munter, und obendrein war sie eine Agentin des Imperiums und hatte die Aufgabe, mich auszuspionieren. Alles, was ich sagte und tat, meldete sie einem Kontakt auf Golgatha. Oz fand es heraus und berichtete mir davon, aber mir war es egal. Ich war damals nur ein kleiner Gelehrter, ohne Interesse an Politik. Ihre Berichte mußten eine sehr langweilige Lektüre gewesen sein. Gelegentlich gab ich etwas Kontroverses zum besten, damit niemand auf die Idee kam, Katie von mir abzuziehen. Wir waren so glücklich. Ich denke nicht, daß wir je einen Streit hatten.

Sieben Jahre blieben wir zusammen. Manchmal denke ich, daß ich damals zum letzten Mal glücklich war. Daß ich es so hoch schätzte, weil ich irgendwo tief im Herzen wußte, daß mir eines Tages alles genommen würde.

Ich habe sie so sehr geliebt. Ich hätte nie erwartet, sie einmal töten zu müssen. Ihr ein Messer zwischen die Rippen zu stecken, es herumzudrehen und sie dann in den Armen zu halten, während sie verblutete.«

»Jesus, Owen…«

»Ich hätte sie gerettet, wäre es mir möglich gewesen.«

»Sie hat versucht, dich umzubringen.«

»Manchmal denke ich, daß es so war. Ich habe sie nie gefragt, ob sie mich liebte. Ich fürchtete mich vor der Antwort.

Wenn ich sie gekannt hätte, dann hätte Katie vielleicht nicht so viel von mir mitgenommen, als sie starb.«

»Hör sofort auf damit, Todtsteltzer! Wenn du mir rührselig kommst, dann stehe ich noch auf und haue dir ein paar auf die Ohren!«

Owen lächelte kurz. »Das würdet Ihr, nicht wahr?«

»Verdammt richtig! Zieh dich nie selbst runter, Owen; es gibt immer reichlich andere Leute, die nur auf eine Gelegenheit warten, es zu tun. Katie gehört zur Vergangenheit. Laß sie auf sich beruhen und geh weiter deinen Weg.«

»Ihr wart es, die das Thema zur Sprache brachte«, gab Owen nachsichtig zu bedenken. »Und ich weiß gar nicht, warum Ihr Euch auf einmal so für meine romantische Vergangenheit interessiert. Ihr seid diejenige, die in dieser Hinsicht mit den ganzen Überraschungen aufwarten kann. Ich bin immer noch nicht darüber hinweg, daß sich in Nebelhafen dieser Wampyr namens Abbott als einer Eurer Ehemaligen entpuppte.«

»Er war ein Fehler.«

»Und nicht annähernd der erste oder der letzte – nach allem, was man hört.« Hazel funkelte ihn an. »Wer hat da geplaudert?« »Praktisch jeder. Die Klatschkolumnisten lieben Euch.

Ihr habt Euer eigenes Magazin im Matrix-Internet. Wird täglich aktualisiert.«

»Du hast diesen Müll doch nicht gelesen, oder?«

»Nee. Ich sehe mir immer nur die Bilder an.«

Als sie endlich in der großen Stadt, die Parade der Endlosen genannt wurde und Sitz der Restregierung von Golgatha war, von Bord gingen, fanden sich Owen und Hazel durch eine Menge Reporter bedrängt. Die meisten größeren Nachrichtenunternehmen waren vertreten und auch alle kleineren, die Korrespondenten auf Golgatha unterhielten. Owens und Hazels Abenteuer waren stets nachrichtenwürdig, und die Meldungen, die schon von ihren Entdeckungen und Taten auf Virimonde durchgesickert waren, hatten die Erwartungshaltung der Journalisten bis zum Siedepunkt angeheizt. Sie drängten sich um Owen und Hazel, brüllten Fragen, während über ihnen Kameras auf der Suche nach dem besten Blickwinkel herumschwebten. Die Journalisten versuchten, sich gegenseitig mit den Ellbogen aus dem Weg zu schubsen, und weiter hinten kam es zu Schlägereien. Aber selbst in diesem Tumult kam niemand den beiden Helden zu nahe. Sie hatten die entsprechende Lektion gelernt, normalerweise auf die harte Tour. Hazel hatte zwar noch keinen Reporter wirklich umgebracht, aber die Cleveren wetteten lieber auf das Wann als das Ob. Was einige der widerwärtigeren Boulevardreporter anging, so hatten sich schon Wettgemeinschaften gebildet.

Owen wartete geduldig, bis sie sich etwas beruhigt und ihre Rangordnung geklärt hatten, während Hazel wütend in alle Richtungen funkelte und die Hände besorgniserregend nahe an ihren Waffen hielt. Es besserte ihre Laune überhaupt nicht, daß die meisten Fragen, die ihr heutzutage gestellt wurden, gezielt ihrer Beziehung zu dem verehrten Todtsteltzer galten. Sie hatte es mit spöttischen Antworten probiert, aber die Reporter meldeten einfach alles, was sie sagte, als Fakt. Sie versuchte, jeden anzugreifen, der das Thema ansprach, aber die anderen filmten sie dann einfach dabei. Heutzutage beließ sie es meist bei dem Spruch ›kein Kommentar‹ oder einer ähnlichen Bemerkung aus zwei Worten, wobei das zweite normalerweise ›dich‹ hieß. Bei all dem half ihr auch gar nicht, daß Owen das alles ungeheuer amüsant fand und immer in die Kameras blinzelte, wenn er sein ›kein Kommentar zum besten gab. Und dann brachte einer der Reporter den jüngsten Todtsteltzer-Film zur Sprache und trieb die Spannung erneut ein Stück weit höher.

Der Sieg der Rebellion war noch keine Woche alt, als die ersten Dokumentationen über die Holoschirme liefen – ausgewachsene Beiträge, zusammengesetzt aus Aufnahmen unterschiedlicher Klarheit und Zuverlässigkeit. Aber da die Leute die Tröstungen der Romantik schon immer den trockenen Fakten der Geschichte vorgezogen hatten, dauerte es nicht lange, bis der erste Todtsteltzer-Spielfilm die Dokumentationen rüde von den Holoschirmen schubste. Dieser aktionsgeladene und ungeheuer vereinfachende Streifen brachte allen Beteiligten Milliarden Kredits ein, außer denen, auf deren Leben er beruhte. Rasch folgten ihm weitere von unterschiedlicher Qualität und Genauigkeit. Und die Öffentlichkeit verschlang alles – von Toby Shrecks preisgekrönter Berichterstattung bis hin zu wüsten Phantasien, die nicht einmal immer die korrekten Namen verwendeten.

Der jüngste und populärste dieser Spielfilme beanspruchte, die Biographie Owen Todtsteltzers zu sein, in der er durchgängig als heiliger und selbstloser Held dargestellt wurde, seine Gefährtin Hazel D’Ark hingegen als mörderische Psychopathin, von ihrer unerschütterlichen, hündischen Hingabe an Owen knapp daran gehindert, in einem fort zu metzeln und zu massakrieren.

Owen und Hazel erhielten Freikarten zur Premiere zugeschickt, also gingen sie arglos hin. Owen mußte dermaßen lachen, daß es ihm weh tat, und wurde schließlich von einem Platzanweiser aufgefordert zu gehen, weil er das übrige Publikum störte. Hazel hielt bis zum Ende durch und hielt dabei die Armlehnen ihres Sitzes so fest umklammert, daß ihr die Hände schmerzten. Als der Film schließlich zu Ende war, zündete sie das Kino an. Zum Glück erwischte Owen sie, ehe es die Stadtgarde tat, und brachte sie weg, während die Feuerwehr noch versuchte, den Brand einzudämmen. Dann nahm er ihr alle Waffen ab, rang sie zu Boden und setzte sich so lange auf sie, bis sie versprach, nicht alle an der Herstellung des Spielfilms beteiligten Personen zu jagen und umzubringen. Wie Owen ihr vernünftig erklären konnte, hätte ein solches Vorgehen nur dazu beigetragen, ihre Charakterisierung durch den Streifen zu rechtfertigen.

Insgesamt erwies sich nicht gerade als hilfreich, daß Owen von einem führenden Star und Frauenschwarm gespielt wurde, Hazel jedoch von einem ehemaligen Pornostar mit mehr Aussehen als Begabung und einem ganz erstaunlichen Dekollete.

Als jetzt ein Reporter in voller Gefechtsrüstung die Frage nach dem Film stellte, wichen alle hastig zurück, damit kein Blut auf sie spritzte. Hazel riß eine Schwebekamera mitten aus der Luft und schleuderte sie mit verheerender Genauigkeit. Sie traf den Reporter mitten zwischen die Augen, so daß er bewußtlos zusammenbrach. Owen trat rasch hinzu und drückte Hazel von hinten die Arme an die Seiten. Die Reporter sahen interessiert zu, hofften dabei, auf sichere Distanz zu sein, bis Owen Hazel mehr oder weniger beruhigt hatte. Dann rückten sie wieder vor und stiegen über die bewußtlose Gestalt ihres Mitstreiters im Kampf um Wahrheit und Quoten hinweg. Vernünftigerweise wechselten sie das Thema. Unglücklicherweise entschieden sie sich dabei für das Stichwort Vermarktung.

Da der Appetit des Massenpublikums auf Stars nun einmal so war, wie er war, reichte nicht einmal die endlose Folge von Spielfilmen und Dokumentationen, um das Interesse der Leute an den neuen Helden zu befriedigen. Das Publikum zeigte sich unersättlich in seiner Wut, soviel allgemeinen Plunder zu erstehen, der auf den Filmen und den Rollen beruhte, daß man damit einen kleinen Mond mehrere Kilometer tief hätte zuschütten können. Der besagte Plunder reichte vom wahrhaft Geschmacklosen bis zum entsetzlich Billigen und Scheußlichen, und Owen und Hazel taten ihr Bestes, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen, solange ihre Tantiemen eintrudelten. In diesem Punkt stand jedoch ein Umschwung kurz bevor.

»Ob wir was gesehen haben?« fragte Owen und wünschte sich gleich, er hätte es nicht getan, als der Reporter eine kleine Plastikfigur hochhielt.

»Es gibt eine ganze Produktreihe davon«, verkündete der Reporter vergnügt. »In der Haltung komplett einstellbare Figuren aller Hauptteilnehmer an der Rebellion. Sie sind sehr populär. Besonders die Figur der Imperatorin. Die Leute stellen gern schreckliche Sachen damit an.«

Er brachte weitere Figuren zum Vorschein und reichte sie an Owen und Hazel weiter, damit sie sie in Augenschein nehmen konnten. Sie waren in hellen Grundfarben gehalten, alle gleichmäßig muskulös und mit höflich allgemein gehaltenen Gesichtern ausgestattet. Sicherlich ähnelten sie niemandem, den Owen kannte. Er sah Hazel an.

»Haben wir die genehmigt?«

»Wer weiß?« fragte Hazel und funkelte die kolossalen Brüste der Figur an, die sie darstellen sollte. »Wir haben die verschiedenste Verträge unterschrieben. Ich habe den Überblick verloren.«

»Sie sind eigentlich ganz harmlos«, fand Owen. »Billig, aber harmlos.«

»Was auch immer, wir sollten der Sache jedenfalls auf den Grund gehen«, sagte Hazel. »Dieser Markt soll verdammt viel Knete abwerfen, und falls das zutrifft, möchte ich meinen Anteil einstreichen. Welche soll Ruby darstellen?«

»Ah, die mit den ganzen Knarren«, sagte der Reporter.

»Sieht ihr gar nicht ähnlich«, meinte Hazel. »Und sie könnte gar nicht so viele Waffen auf einmal tragen. Sie würde umkippen. Mit Brüsten dieses Formats täte sie es wahrscheinlich sowieso. Verdammt, niemand hat solche Brüste, der nicht zum Hau s der Freuden gehört.«

»Kursiert viel von diesem Zeug?« erkundigte sich Owen und gab dem Reporter die Spielsachen zurück.

»Nun, ja, Sir Todtsteltzer. Dazu gehören Imbißschachteln, Poster, Spiele… Diese hier sind zur Zeit sehr populär.«

Er grub in der Tasche herum, die er mitführte, und brachte zwei dreißig Zentimeter lange Puppen von Owen und Hazel zum Vorschein. Die Kleidung stimmte einigermaßen, wenn auch nicht die Gesichter, und wenigstens die Proportionen entsprachen schon eher der menschlichen Norm. Der Reporter drückte Sprechtasten auf den Rückseiten. Die Owenpuppe sagte: »Kämpft für die Gerechtigkeit!« Die Hazelpuppe sagte:

»Töten! Töten! Töten!« Irgendwie gelang es Hazel, sich zu beherrschen. Sie hatte gelernt zu erkennen, wenn man sie provozieren wollte. Owen brachte genügend Verstand auf, sein ansatzweises Gelächter in ein nicht ganz überzeugendes Husten umzuwandeln. Der enttäuschte Reporter beschloß, daß jetzt Zeit wurde, seine Trumpfkarte auszuspielen. Falls er Hazel damit nicht in Fahrt brachte, wollte er seinen Gewerkschaftsausweis fressen. Er steckte die Puppen in die Tasche zurück und holte beiläufig die letzten Posten hervor.

»Und dann gibt es natürlich noch die.« Er hielt zwei knuddelige Plüschfiguren in Owen- und Hazelkostümen hoch.

»Eine Plüschfigur?« fragte Hazel in einem Ton, der eine unmittelbar bevorstehende Kernschmelze ankündigte. »Sie haben eine Plüschfigur aus mir gemacht?«

Alle hielten die Luft an und überlegten sich, in welche Richtung sie fliehen wollten, sobald ihnen die Scheiße um die Ohren flog. Die Kameras würden weiterhin die optimalen Bilder für sie machen. Vorausgesetzt, sie überlebten, was an Entsetzlichem geschah. Und dann griff Owen nach den Plüschfiguren und nahm je eine in beide Hände.

»Ich finde sie ganz niedlich.«

»Du magst diese Monstrositäten?« fragte Hazel.

»Na ja, ich möchte mir nicht unbedingt eins davon aufs Kopfkissen legen, aber ich möchte definitiv etwas davon haben. Wir sprechen hier von bedeutsamen Einkünften.«

Hazel beruhigte sich sichtlich, als sie darüber nachdachte.

»Ja. Möglich. Die Kleinen sind ganz verrückt nach solchem Mist. Ein gutes Weihnachtsgeschäft, und wir könnten für den Rest unseres Lebens ausgesorgt haben.«

Owen lächelte innerlich. Im Zweifel konnte man Hazel immer ablenken, indem man Geld zur Sprache brachte.

Die Reporter gelangten widerwillig zu dem Schluß, daß doch nichts passieren würde, und seufzten lautlos und enttäuscht.

Einige riefen sogar ihre Kameras zurück. Der Provokant nahm mürrisch seine Plüschfiguren zurück, stopfte sie wieder in den Sack und fragte sich, ob er alle Quittungen aufbewahrt hatte, um sein Geld zurückzufordern. Alle gingen allmählich auseinander. Und dann tauchte der Parlamentsbevollmächtigte auf, und die ganze Situation ging zum Teufel.

Es war alles in allem ein recht typischer Bevollmächtigter.

Ein Emporkömmling aus dem öffentlichen Dienst, über alle Erwartungen hinaus befördert, da einfach nicht genug Leute vorhanden waren, auf die man zurückgreifen konnte. Er versuchte, alle Welt zu überzeugen, daß er so wichtig war wie die Meldungen und Anweisungen, die er überbrachte. Dieser spezielle Bursche war weit über seine Verhältnisse gekleidet, gekrönt von der traditionellen roten Schärpe eines Kuriers und einer entschieden pampigen Einstellung. Die Reporter wichen zurück, als er heranmarschierte und sich vor Owen und Hazel aufbaute. Er reckte die Nase hoch in die Luft und funkelte die beiden an, nur um sie an ihren tatsächlichen Platz in der Ordnung der Dinge zu erinnern, und ließ dann seine vorbereitete Ansprache vom Stapel, ohne sich die Mühe zu machen und sich ihnen vorzustellen.

»Sir Todtsteltzer, Miss d’Ark, Ihr erhaltet hiermit den Befehl, Euch zur abendlichen Sitzung des Parlaments einzufinden und über Euren Einsatz auf Virimonde Bericht zu erstatten. Das Parlament möchte bereits im voraus sein äußerstes Mißfallen darüber ausdrücken, daß Ihr nicht nur keinen der aufsässigen Lords lebendig zurückgebracht habt, sondern Euch auch der höchst verabscheuungswürdige Schurke Valentin Wolf vollständig entkommen konnte. Man erwartet von Euch, diese Fehlschläge umfassend zu erläutern. Des weiteren könnt Ihr jeden Bonus vergessen.«

Alle Kameras zoomten sich wieder auf die Szene ein. Die Reporter erkannten schließlich einen heraufziehenden Sturm, wenn sie ihn sahen. Deshalb entschied sich Owen, vernünftig mit dem Mann zu reden – nur, um sie zu ärgern.

»Wir haben den abscheulichen Praktiken auf Virimonde ein Ende bereitet«, erklärte er nachsichtig. »Das Haus der Gebeine existiert nicht mehr. Die Toten wurden gerächt. Und wir haben eine höchst gefährliche Intrige gegen das Imperium im Keim erstickt. Nicht schlecht für einen Arbeitstag.«

Der Bevollmächtigte schniefte. Es war ein lautes, arrogantes und vollkommen unausstehliches Geräusch. Er übte es anscheinend gründlich. »Es zählt nur, daß Ihr es verabsäumt habt, die Forderungen des Parlaments zu erfüllen. Was Ihr über Eure Instruktionen hinaus getan oder nicht getan habt, ist gänzlich bedeutungslos.«

Owen und Hazel sahen sich an. »Nach dir«, sagte Hazel großzügig.

»Danke«, sagte Owen. Er trat vor, lächelte den Parlamentsdiener an und schlug ihn bewußtlos. Der bedauernswerte Bursche kippte der Länge nach auf den unnachgiebigen Asphalt der Landefläche und zuckte lautlos. Owen lächelte die Reporter an. »Man muß einfach wissen, wie man mit solchen Leuten redet. Haben alle ihre Bilder gemacht, oder soll ich ihn aufheben und es wiederholen?«

Die Reporter sagten, sie hätten gleich beim ersten Mal alles prima im Kasten gehabt, vielen Dank auch, und feuerten dann Fragen auf Owen und Hazel ab, Fragen nach diesen neuen Einzelheiten ihres zurückliegenden Einsatzes. Insbesondere verlangte es sie zu erfahren, was zum Teufel diese Haus-der-Gebeine-Intrige gewesen war und was der berüchtigte Valentin Wolf damit zu tun gehabt hatte. Das Gruppeninterview degenerierte rasch zu einem Angebotskrieg um die Exklusivrechte an der kompletten Geschichte. Es kam zu Schlägereien zwischen den Reportern, und Owen und Hazel nutzten die Chance zu einem leisen Abgang. Der Bevollmächtigte regte sich allmählich wieder, also trat ihm Hazel an eine besonders empfindliche Stelle, nur aus grundsätzlichen Erwägungen.

»Wißt Ihr, man könnte eigentlich glauben, sie hätten inzwischen gelernt, eine Körperpanzerung zu tragen«, sagte Owen.

»War wohl ein neuer.«

»Nun, falls er sich nicht schnell bessere Manieren aneignet, wird er nie zum alten werden. Wartet mal; ich möchte nur nachsehen, ob er irgendwelche schriftlichen Befehle mitführt.«

Owen kniete neben dem leise stöhnenden Mann nieder und filzte ihn gründlich. Er brachte einen Satz versiegelter Befehle mit seinem Namen darauf zum Vorschein. Hazel runzelte die Stirn.

»Das ist noch so ein Punkt. Wie kommt es, daß mein Name nie auf diesen Dingern steht?«

»Das würden sie nicht wagen«, sagte Owen. Er brach das Wachssiegel, las die kurze Nachricht durch, die modisch mit echtem Füller und Tinte geschrieben war, und machte ein finsteres Gesicht. »Verdammt! Sie haben eine weitere Parade für uns organisiert. Gleich jetzt auf unserem Weg ins Parlament.

Ich hasse Paraden.«

»Na ja, die Leute lieben sie aber.« Hazel zuckte die Achseln, während Owen aufstand und die Befehle auf die Brust des Bevollmächtigten fallenließ. »Das ist doch keine große Sache, Owen. Lächle einfach und winke und bemühe dich, eine heroische Figur zu machen. Und denk daran, man erwartet von dir, die Babies zu küssen und ihnen den Kopf zu tätscheln. Nicht einen spontanen Exorzismus durchzuführen, mit der Begründung, eines wäre übernatürlich häßlich

Owen kicherte. »Ich hatte mich nur gelangweilt. Ihr mögt diesen ganzen Mist mit den öffentlichen Feiern, aber ich wünschte mir, alle würden verschwinden und mich in Ruhe lassen. Ich mag keine Menschenmassen. Ich mag es nicht, wenn man mich anstarrt. Und es ist mir zuwider, Autogramme zu geben. Letztes Mal hat meine Hand eine Woche lang weh getan.«

»Entspanne dich einfach und genieße es. Wir haben das alles verdient. Sollen sie uns ruhig verehren, wenn sie möchten.«

»In Ordnung, bringen wir es hinter uns«, sagte Owen resigniert. »Dann können wir dem Parlament Bericht erstatten, eine Menge dummer und überflüssiger Fragen beantworten und es uns heroisch verkneifen, einen ganzen Haufen Leute zu erschießen, die einfach zu dumm fürs Leben sind. Vielleicht erlauben sie uns dann, nach Hause zu gehen und endlich mal eine Runde zu pofen.«

»Richtig«, pflichtete ihm Hazel bei. »Ich könnte eine Woche lang schlafen.«

»Er hatte recht, wißt Ihr?« sagte Owen. »Es war nicht gerade unser erfolgreichster Einsatz.«

»Still, Owen«, entgegnete Hazel. »Dein Volk wurde gerächt.

Laß es damit bewenden. Jetzt sollten wir lieber gehen. Unsere Verehrer warten.«

Sie gab ihm einen Klaps auf die Schulter und ging voraus, von der Landefläche hinunter. Owen folgte ihr, und auf dem ganzen Weg waren ihm die Füße schwer. Die Organisatoren der Parade waren so aufmerksam gewesen, einen Gravschlitten für sie bereitzustellen, und Owen und Hazel schwebten die Hauptstraße entlang, gerade hoch genug, um außer Reichweite der Hände zu sein, die ihnen die Menge entgegenstreckte. Früher war es zu bedauerlichen Zwischenfällen gekommen, als Hazel eine verständliche, aber beklagenswert gewalttätige Art des Umgangs mit Fans entwickelte. Danach entschied man, daß es für alle Beteiligten sicherer wäre, die Helden der Menge außer Armreichweite zu halten.

Owen lächelte und winkte wie ein Automat und ging nach besten Kräften auf Distanz zu Lärm und Chaos, indem er sich auf den Bericht konzentrierte, den er dem Parlament vortragen wollte. Vor einer Menschenmenge hatte er sich noch nie wohl gefühlt. Wenn ihn Menschen anstarrten, wurde er nervös und befangen. In seinem früheren Leben hatte er sich einmal vor einer Rede, die er vor einer Versammlung von Geschichtsgelehrten halten sollte, so lange auf der Toilette eingeschlossen, daß man jemanden schickte, der sich erkundigte, ob es ihm auch gutginge. Heute hätte es anders sein sollen. Er war ein Mann mit Macht und Bestimmung. Alle behaupteten es. Er hatte sich den Weg durch ganze imperiale Armeen hindurch freigekämpft und nie einen Augenblick gezögert.

Es machte keinen Unterschied. Er verabscheute es immer noch, wenn man ihn anstarrte.

Ihm half auch nicht, daß Hazel richtig Spaß an der Sache hatte und winkte und lächelte und sich hin und her drehte, damit jeder sie gut zu sehen bekam. Eine ganze Gruppe von Hazel-Doppelgängern sang ihren Namen und kreischte jedesmal ekstatisch, wenn Hazel in ihre Richtung blickte. Einige waren sogar Frauen. Jemand warf ihr eine langstielige Rose zu. Sie fing sie geschickt auf, ohne sich an den Dornen zu stechen, und warf dem Verehrer eine Kußhand zu. Die Menge liebte das.

Owen gab vor, er hätte es nicht bemerkt, während er gleichzeitig mürrisch zur Kenntnis nahm, daß niemand Rosen nach ihm warf. Nicht, daß er sich welche gewünscht hätte! Es ging nur ums Prinzip.

Überall ringsherum ging der Wiederaufbau voran. Häuser, Geschäfte und Büros, die in der letzten großen Schlacht in der Stadt beschädigt oder zerstört worden waren, wurden repariert.

Arbeiter, die in Gravschlaufen hoch an den Gebäudeflanken tätig waren, lehnten sich gefährlich weit aus ihren Geschirren, um Hazel derbe Bemerkungen zuzurufen. Sie schrie noch derbere zurück. Sie liebten es! Kameras zuckten darüber hin und her und rempelten sich gelegentlich im Kampf um die besten Blickwinkel.

Owen lächelte, bis ihm die Kiefer schmerzten – und behielt ständig voller Argwohn die unfertigen Gebäude der Umgebung im Auge, um auf mögliche Heckenschützen zu achten. Die Anbetung der Menge war ja gut und schön, aber vielen Leuten da draußen wäre es nur recht gewesen, Owen und Hazel tot zu sehen, wofür es die verschiedensten Gründe gab. Außerdem konnte ihn die Verherrlichung durch die Menge nicht täuschen.

Er wußte, was teilweise dahintersteckte. Bei so vielen Toten auf beiden Seiten waren zum ersten Mal überhaupt Spenderorgane für jedermann erhältlich. Sogar in Anbetracht langer Wartelisten hatten nun Menschen eine neue Hoffnung, die früher hätten sterben müssen. Und all das wegen der vielen Toten, die auf Owen und Hazel zurückgingen.

Die öffentliche Bewunderung wies auch einen noch dunkleren Aspekt auf. Inspiriert von Owens und Hazels übermenschlichen Fähigkeiten, sahen sich viele Menschen bewegt, sich mit allen erdenklichen Mitteln zu »verbessern«. Diese LabyrinthMöchtegerne stürzten sich auf Blut, Techimplantate und Transplantationschirurgie, mit einer Begeisterung, die ans Makabre grenzte. Owen war nicht damit einverstanden und gab sich Mühe, den Trend im Auge zu behalten. Er hatte die Menschheit nicht vor Imperatorin Löwenstein gerettet, um mitzuerleben, wie sich alle in Miniatur-Hadenmänner verwandelten.

Die Parade schien sich ewig hinzuziehen, aber endlich erreichte sie das jahrhundertealte Bauwerk, das Sitz des Parlaments war. Da seit Jahrhunderten niemand mehr das Parlament ernstgenommen hatte, stand das große eckige Bauwerk heute in einem normalerweise ruhigen Bezirk, an dem die Kämpfe und die allgemeine Zerstörung zum großen Teil vorübergegangen waren. Die hohen Steinmauern waren von dicken Efeumatten überwachsen, die niemand je zu stutzen wagte, weil durchaus die Möglichkeit bestand, daß nur noch der Efeu das alte Mauerwerk zusammenhielt.

Als Owen und Hazel aus dem Gravschlitten stiegen und ins Foyer des alten Bauwerks eilten, traten Soldaten hinzu, um die Menge zurückzuhalten. Die großen Eichentüren schlossen sich nachdrücklich hinter den beiden Helden, und Owen stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Sich dem zweifellos feindselig gestimmten Parlament zu stellen, das bekümmerte ihn nicht annähernd so stark wie eine hysterische Menschenmenge, die brüllte, daß sie ihn liebte und von ihm Kinder haben wollte.

Bereitstehende Diener verneigten sich und führten Owen und Hazel in die große Vorhalle, wo alle, die etwas mit dem Parlament zu besprechen hatten, mit mehr oder weniger viel Geduld darauf warteten, daß die abendliche Plenarsitzung begann. Das Parlament lockte noch mehr Möchtegerne der Macht an als früher Löwensteins Hof nicht zuletzt, weil das Parlament Antragsteller nicht gleich umbrachte, falls es der Meinung war, daß sie dort nichts verloren hatten. Es langweilte sie höchstens zu Tode.

Alle Welt wußte, daß das Parlament die Alltagsgeschäfte des Imperiums mehr oder weniger zufällig geerbt hatte. Alle übrigen in Frage kommenden Instanzen bekämpften sich dermaßen untereinander, daß sie sich wechselseitig neutralisierten. Bislang tat das Parlament seine Arbeit auch nicht schlechter, als von jeder anderen Institution zu erwarten gewesen wäre. Die zweihundertfünfzig Abgeordneten waren von den Bürgern gewählt, die ein jährliches Mindesteinkommen erzielten und mit solchen Dingen behelligt werden konnten, hatten aber seit Jahrhunderten keine echte Macht mehr ausgeübt. Sie reagierten mit unterschiedlicher Begeisterung auf den neuen Status. Manche stürzten sich genußvoll in die Arbeit, entschlossen zu zeigen, was sie konnten, wenn man ihnen nur eine Gelegenheit gab. Andere schreckten merklich schon vor dem Gedanken zurück, tatsächlich für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, und verkrochen sich so tief in ihre Schneckenhäuser, daß man sie mit nichts mehr daraus hervorlocken konnte. Die meisten boten ihre Dienste fröhlich dem Meistbietenden an. Einige gingen dazu sogar an die Börse. Sicherlich herrschte keinerlei Mangel an Organisationen, Fraktionen und mächtigen Einzelpersonen, die Einfluß auf die Abgeordneten zu nehmen versuchten; tatsächlich waren es sogar so viele, daß bewaffnete Posten im und um das Parlament aufziehen mußten, um die Ordnung zu wahren. Besonders bei Haushaltsdebatten.

Außerhalb des Parlaments nahm die Lage inzwischen wirklich gewalttätige Züge an. Diverse Gruppierungen hatten zu spät erkannt, daß sich das Parlament des einzig wichtigen politischen Instrumentariums bemächtigt hatte, und waren dazu übergegangen, ihre Streitigkeiten mit brutaler Gewalt auszutragen. Die Zahl der Toten stieg täglich, während Schwerter, Schußwaffen, Bomben und Gift entschieden, wer aktuell die Oberhand hatte. Die Behörden versuchten inzwischen gar nicht mehr, die Ordnung zu wahren, außer während der Stoßzeiten morgens und abends. Beide Seiten gingen großzügig mit dem Wort Terroristen um, während sie jeweils selbst Greueltaten planten. Owen und Hazel hatten darüber nachgedacht, sich einzumischen und eine Menge Leute umzubringen, bis die anderen endlich begriffen, aber Jakob Ohnesorg hatte es ihnen in aller Stille ausgeredet. Niemand wollte diesen Gruppierungen den einzigen Grund liefern, sich zusammenzuschließen, nämlich die Ermordung von Owen Todtsteltzer und Hazel D’Ark.

Als einzigen echten Konkurrenten des Parlaments in der Funktion einer regierenden Körperschaft konnte man die laufenden Kriegsverbrecherprozesse anführen, die von den Führungspersönlichkeiten der verschiedenen Untergrundbewegungen geleitet wurden. Unter Löwensteins korrupter Herrschaft waren Greueltaten jeder Art alltäglich geworden. Leute verschwanden einfach aus einem beliebigen oder gar keinem Grund und tauchten nie wieder auf. Folter und Mord waren unter der Eisernen Hexe alltägliche Aufgaben der Staatspolitik.

Als die Rebellenführer nach dem Sturz der Herrscherin die Palastunterlagen in die Hand bekamen, wurden die Namen dieser üblen Folterknechte und Mörder bekannt, und die lange erwartete Vergeltung nahm ihren Lauf. Die Untergrundbewegungen brachten die Gesichter dieser Leute mitsamt Adressen auf die Holoschirme, und man zerrte die Übeltäter aus ihren Luxuswohnungen oder jagte sie auf den Straßen. Viele fanden ein blutiges und scheußliches Ende, und die übrigen stellten sich eilig den Behörden. Nach wie vor glaubten sie, Absprachen treffen zu können, indem sie sich gegenseitig verrieten, und erkannten zu spät, daß man ihnen auch nicht mehr Gnade erweisen würde, als sie es ihren zahllosen Opfern gegenüber getan hatten. Die Kriegsverbrecherprozesse begannen nur Stunden nach Löwensteins Sturz und wurden täglich in voller Länge über Holovision ausgestrahlt, damit die Leute verfolgen konnten, wie Gerechtigkeit geübt wurde. Die Verfahren zogen sich endlos hin, und es schien keinen Mangel an Beschuldigten zu geben, egal wie schnell die Gerichte sie an den Galgen schickten. Die öffentlichen Hinrichtungen lockten riesige, meist stille Menschenmengen an, als müßten die Leute die Verbrecher selbst sterben sehen, um zu glauben, daß es tatsächlich geschah.

Die Gerichte veröffentlichten so schnell wie möglich Einzelheiten über das Schicksal der Opfer. Es waren halt nur so viele.

Das Parlament verfolgte die Kriegsverbrecherprozesse mit mehr als nur ein bißchen Eifersucht. Das lag sowohl an der Macht, die sie ausübten, als auch an der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie von den Parlamentsdebatten ablenkten. Die Abgeordneten waren jedoch zu klug, um sich einzumischen.

Mehr noch als Gerechtigkeit benötigte das Volk Rache.

Owen und Hazel erreichten die große Halle, den letzten Raum vor dem eigentlichen Plenarsaal. In den letztgenannten führte eine alte, massive Eichentür, die, einer alten Tradition folgend, immer nur von innen geöffnet wurde. Die Abgeordneten nutzten dieses Privileg, um die Leute so lange wie möglich warten zu lassen und sie damit an ihren Platz in der neuen Ordnung zu erinnern – eine von Löwenstein entlehnte Praxis, obwohl man das natürlich nie laut aussprach. Wie immer war die große Halle gedrängt voll, und es herrschte ein betäubender Lärm. Jeder suchte nach Kontakt, um ein neues Abkommen zu treffen oder über eine neue Gelegenheit zu reden. Holographien waren nicht zugegen; jeder mußte persönlich anwesend sein. In der heutigen Zeit der Klone, Fremdwesen und jener falschen Vertreter, die man Furien nannte, wußte man gern, mit wem man sprach. An versteckten Stellen waren ESP-Blocker installiert, damit alle ehrlich blieben, und zum Teufel damit, falls es die Esper schockierte.

Als Owen und Hazel eintraten, erstarrte alles. Aller Augen richteten sich auf sie, und das Geschnatter erstarb rasch vollständig. Owen und Hazel blickten sich in der Stille gelassen um und senkten höflich die Häupter. Aller Augen wandten sich wieder ab, und das Gebrabbel der Gespräche nahm seinen Fortgang. Niemand wünschte, mit dem Todtsteltzer und der d’Ark zu konversieren. Es wäre unsicher gewesen. Aus den verschiedensten Gründen. Owen und Hazel gingen ohne Eile in die Halle hinein, und jedermann machte ihnen Platz.

»Der übliche warmherzige Empfang«, stellte Owen fest und scherte sich nicht darum, ob jemand mithörte.

»Undankbare Bastarde«, sagte Hazel und sah sich hoffnungsvoll um, ob nicht einer der Anwesenden so dumm war, sich beleidigt zu geben.

»Sie haben wirklich Gründe, uns nicht zu mögen«, sagte Owen leiser. »Helden und Rollenvorbilder sollten rein und makellos sein. Ich fürchte, wir haben uns in dieser Hinsicht als enttäuschend erwiesen.«

»Mir blutet das Herz«, sagte Hazel. »Ich habe nie behauptet, ich wäre eine Heldin. Es fehlt nicht viel, und ich gehe fort, und das Parlament kann seinen Bericht in den Wind schreiben.

Verdammt, es fehlt kaum mehr, und ich brenne das Haus nieder, ehe ich gehe.«

»Sachte, sachte«, murmelte Owen und lächelte unbekümmert, damit es jeder sehen konnte. »Zeigt Euren Widerwillen nicht. Sie würden es als Zeichen der Schwäche betrachten.«

Hazel schniefte. »Wenn mich jemand als schwach betrachtet und versucht, daraus einen Vorteil zu schlagen, kann er seine Innereien gleich im Eimer mit nach Hause tragen.«

»Nehmt die Hand vom Schwert, verdammt! Ihr könnt hier niemanden umbringen. Duelle sind verboten. Trefft nur Anstalten, das Schwert zu ziehen, und ein halbes Hundert Wachtposten tauchen aus allen Ritzen auf. Auch für uns wird da keine Ausnahme gemacht. Ich wünschte wirklich, Ihr würdet Euch über die Veränderungen hier auf dem laufenden halten.«

»Ach, weißt du, du liebst es wirklich, mir bei jeder Gelegenheit eine Rede zu halten. Außerdem würde ich mit einem halben Hundert Wachen fertig.«

Owen seufzte. »Ja, das würdet Ihr wahrscheinlich, aber das ist nicht der Punkt. Wir versuchen, einen guten Eindruck zu machen.«

»Seit wann?«

»Seit wir es wiederum nicht geschafft haben, Valentin Wolf vor Gericht zu bringen.«

Hazel zuckte die Achseln. »Ist es okay, wenn ich jemanden nur halb umbringe?«

»Falls Ihr müßt. Versucht nur, es zu tun, während die Holokameras gerade nicht hinsehen. Wir können wirklich nicht noch mehr schlechtes Ansehen gebrauchen.«

Hazel sah sich um. »Ich denke nicht, daß ich hier je so viele Kameras gesehen habe. Entweder hat das Parlament heute etwas wirklich Interessantes auf dem Programm, oder jemand hat Bescheid gesagt, daß wir kommen. Hallo, ich entdecke da ein vertrautes Gesicht!«

Und sie stürzte sich in die Menge und drängte die Leute mit der Schulter zur Seite, wenn sie nicht rechtzeitig Platz machten. Owen folgte ihr und murmelte unterwegs höfliche Entschuldigungen. Daran gewöhnte er sich immer mehr. Das vertraute Gesicht erwies sich als das von Tobias Shreck, wie immer in Gesellschaft seines Kameramanns Flynn. Owen folgte Hazels Beispiel und begrüßte die beiden, und lächelte zum ersten Mal aufrichtig, seit er die Halle betreten hatte. Toby Shreck hatte schon im Verlauf der Rebellion als Reporter gearbeitet und dabei eine unheimliche Begabung demonstriert, immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort aufzutauchen, Flynn stets eng im Gefolge, um alles live zu übertragen. Sie hatten viele der Kämpfe von Owen und Hazel gesendet und waren sogar zugegen gewesen, als die Rebellen schließlich die Imperatorin Löwenstein stürzten und den Eisernen Thron für immer zerstörten.

Toby sah größtenteils aus wie immer, ein schwitzender Fettkloß mit geschniegeltem blonden Haar, den man leicht zum Lächeln bringen konnte. Er trug modische Kleidung von allerfeinstem Zuschnitt, so geschneidert, daß sie so viel wie möglich von seiner Leibesfülle verbarg. Passen tat sie ihm allerdings nicht. Er war mehr die Lässigkeit von Kampfanzügen gewöhnt, und das zeigte sich. Flynn war von der hochgewachsenen, schlaksigen Art mit täuschend ehrlichem Gesicht. Als ruhiger Typ neigte er dazu, bei der Arbeit mit der Umgebung zu verschmelzen, ein nützlicher Wesenszug, wenn die anderen Leute in der Gegend wild herumballerten.

Sein Privatleben war eine gänzlich andere Geschichte.

»Du siehst aber gut aus, Toby«, sagte Hazel vergnügt und stach verspielt mit dem Finger in seinen fälligen Leib. »Hast wohl ein paar Pfunde verloren, wie?«

»Ich wünschte, es wäre so«, antwortete Toby. »Seit ich zugelassen habe, daß sie mich ins Management beförderten, sitze ich immer nur hinter dem Schreibtisch, statt vor Ort zu arbeiten, wo ich hingehöre.«

»Rede lieber nicht so«, warf Flynn ruhig ein. »Bei deinen Einsätzen vor Ort hast du immer nur gejammert und geschimpft, was du alles an Komfort vermißt.«

Toby funkelte ihn an. »Eine unverblümte Ausdrucksweise dieser Art ist dafür verantwortlich, daß du nach wie vor als Kameramann arbeitest, während ich jetzt im Management sitze. Und wenn du mir noch einmal öffentlich widersprichst, weise ich jemanden in der Buchhaltung an, einmal genau unter die Lupe zu nehmen, was du letztes Jahr alles an Spesen abgerechnet hast.«

»Tyrann«, beschwerte sich Flynn.

»Ihr seht wirklich schick aus, Toby«, warf Owen rasch ein, ehe die beiden ihr übliches Gezänk fortsetzen konnten. »An vorderster Front der Mode.«

»Fangt bloß nicht damit an«, entgegnete Toby. »Ich weiß genau, wie ich aussehe. Wieso, denkt Ihr, habe ich früher immer eine Kampfuniform getragen? Jedesmal, wenn ich gute Sachen anziehe, sehe ich so aus, als hätte ich sie gestohlen.«

»Und was sucht das Management hier?« fragte Hazel. »Das Parlament plant etwas Besonderes, nicht wahr? Vielleicht etwas, wovon wir erfahren sollten?«

»Richtig«, sagte Owen. »Was könnt Ihr uns Neues erzählen?«

»Bände«, antwortete Toby blasiert. »Dieses eine Mal tappe ich jedoch genauso im Dunkeln wie Ihr. Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich das dringende Bedürfnis hatte, mal eine Zeitlang in die wirkliche Welt hinauszugehen. Ich habe mich in letzter Zeit richtig gelangweilt, um die Wahrheit zu sagen. Alles hat sich verändert. Meine Arbeit mit Flynn aus der Zeit der Rebellion wird schon als klassisch gefeiert, und man kann sich darauf verlassen, daß die Aufnahmen zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt auf irgendeinem Sender laufen. Die Öffentlichkeit bekommt nicht genug davon. Die Tantiemen rollen schneller an, als ich sie ausgeben kann. Soviel Geld, daß nicht mal die Buchhalter der Firma alles verstecken können. Flynn und ich müssen nie wieder arbeiten, wenn wir nicht möchten. Aber…«

»Ja?« hakte Hazel nach.

»Wir sind zu jung für den Ruhestand«, sagte Flynn. »Ich wüßte nicht, was ich mit mir anfangen sollte.«

»Richtig«, pflichtete Toby ihm bei. »Und ich werde irgendwie den schrecklichen Verdacht nicht los, daß ich die beste Arbeit meines Lebens womöglich schon erbracht habe. Daß alles, was ich jetzt noch tue, zwangsläufig in die zweitbeste Kategorie fällt. Für mein Alter ein scheußliches Gefühl! Ich brauche eine richtige Story, etwas, woran ich mich festbeißen kann. Etwas, was zählt! «

»Wir bauen zur Zeit ein komplettes Imperium neu auf, praktisch von Grund auf«, sagte Owen. »Unsere ganze politische und soziale Ordnung ändert sich täglich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß da keine Story auf Euch wartet, die es wert wäre, gebracht zu werden.«

»Oh, es herrscht kein Mangel an Nachrichten! Zeugen der Geschichte und all sowas. Aber das ist alles so verdammt achtbar und offen und ehrlich und langweilig. Wo bleibt der Spaß?

Wo das Drama? Sogar die Schurken sind heutzutage zweitklassig.«

»Nein«, erwiderte Owen. »Das finde ich nicht. Valentin Wolf treibt sich immer noch irgendwo herum.«

»Ah ja«, sagte Toby. »Ich habe schon gehört, daß Ihr eine weitere Auseinandersetzung mit ihm hattet. Ich freue mich schon auf Euren Bericht darüber. Wenigstens seid Ihr beide noch da und schlagt Wellen. Alle anderen sind weitgehend abgetaucht. Jakob Ohnesorg befaßt sich zu intensiv mit Politik, um noch in echte Schwierigkeiten zu geraten, und Ruby Reise verläßt nur noch selten ihr Haus. Obwohl geflüstert wird, daß beide womöglich heute hier auftreten. Vielleicht ist ihnen etwas zu Ohren gekommen. Gott, ich habe tolle Aufnahmen von Euch vieren im Einsatz während der Rebellion, Bilder, die noch nicht das Tageslicht erblickt haben! Vielleicht, wenn wir alle gestorben und in Sicherheit sind…«

»Ja«, sagte Hazel. »Vielleicht. Ich denke jedoch, daß bis dahin manche Dinge geheim bleiben sollten. Die Leute müssen nicht alles erfahren, was passiert ist.«

Alle nickten dazu. Niemand sprach von dem falschen Jungen Jakob Ohnesorg, der sich als Kyborg im Dienst der abtrünnigen KIs von Shub entpuppt hatte. Alle wußten jedoch, daß sie gerade gemeinsam an den Augenblick dachten, in dem Flynns Kamera die Demaskierung der Maschine aufzeichnete. Und noch weitere, dunklere Geheimnisse lagen vor. Die Rebellion war nicht annähernd so einfach verlaufen, wie die meisten Leute dachten.

»Also«, sagte Toby forsch und beendete damit den Augenblick der Verlegenheit, »hat jemand von Euch noch mal über mein Angebot nachgedacht, offizielle Dokumentationen von Eurem Leben anzufertigen? Über die Texte braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen; dafür haben wir Leute. Sprecht einfach in einen Recorder, und wir arrangieren das Material und graben Aufnahmen aus, die wir dazu einspielen. Wir können auch Verbindungen fälschen, um Dinge zu überbrücken, über die Ihr nicht sprechen wollt. Ihr braucht nicht mehr zu tun, als die abschließenden Aufnahmen zu kommentieren. Leichtverdientes Geld. Verdient es Euch, solange das Eisen heiß ist.

Wer weiß, wie lange sich die Leute noch für Euch interessieren?«

»Je früher alle das Interesse an uns verlieren, desto besser«, fand Hazel. »Keine Biographien, Toby. Wir haben ohnehin schon wenig genug Privatsphäre. Außerdem ist viel von meiner Lebensgeschichte ohnehin nicht für ein Massenpublikum geeignet.«

»Das glaube ich gern«, sagte Owen. »Wechseln wir doch lieber rasch das Thema. Wie steht es um Euer Leben, Toby? Tut Ihr irgendwas Interessantes?«

»Er?« Flynn schniefte laut. »Er hat außer seinem Beruf gar kein Leben. Kommt als erster, geht als letzter und nimmt noch Arbeit mit nach Hause. Typisch Manager. Ich bleibe immer nur für die tarifliche Stundenzahl, und sobald ich mich erst ausgestempelt habe, denke ich nicht mal mehr an die Arbeit, bis ich mich morgens wieder einstemple. Du hättest einfacher Arbeiter wie ich bleiben sollen, Boß. Viel weniger Druck.«

»Du warst nie ehrgeizig«, sagte Toby.

»Verdammt richtig, und ich bin stolz darauf. Mit Ehrgeiz bringt man sich nur in Schwierigkeiten, und er frißt das ganze Leben auf. Wie kommt es, daß du Säcke unter den Augen und beginnende Magengeschwüre hast, während ein wundervoller neuer Liebhaber in mein Leben getreten ist?« Flynn strahlte Owen und Hazel an. »Ihr müßt wirklich mal zu Besuch kommen und ihn kennenlernen! Er heißt Reinhold, Reinhold Vomwalde. Betreibt Recherchen für den Abgeordneten Johann Avon, eines der wenigen ansatzweise ehrlichen Parlamentsmitglieder. Mein Reinhold leistet natürlich die ganze wirkliche Arbeit, damit Avon im Plenarsaal gut dasteht, aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Reinhold sieht sehr gut aus und ist ein wundervoller Koch. Was er mit einem frischen Braten und ein paar Sorten Gemüse alles anstellt! Problematisch ist nur seine Schuhgröße von fünfundvierzig. Ihr glaubt ja nicht, wie schwierig es ist, Stöckelschuhe zu finden, die ihm passen!«

»Die Liebe scheint dir zu bekommen«, sagte Hazel. »Sie hat dich eindeutig schwatzhaft gemacht.«

»Als ob ich das nicht wüßte«, sagte Toby. »Mir liegt er mit diesem verdammten Reinhold seit Wochen in den Ohren.« Er lächelte Owen und Hazel boshaft an. »Und wie kommt Ihr zwei Turteltauben miteinander klar, hm?«

»Falls Ihr es herausfindet, sagt es mir«, antwortete Owen.

»Wir nehmen jeden Tag, wie er kommt«, versetzte Hazel entschieden. »Wie sieht es mit dir aus, Toby? Jemand Besonderes in Sicht?«

»Ich denke in jüngster Zeit über eine Clanheirat nach«, räumte Toby widerstrebend ein. »Weil ich nicht jünger werde und die Familie mir Druck macht, woher wohl die nächste Generation des Hauses kommen soll. Da sich Onkel Gregor versteckt, Grace eine erklärte alte Jungfer ist und Evangeline die Familie leugnet, endet die Linie so ziemlich bei mir. Aber wer würde schon einen Shreck heiraten? Onkel Gregor hat mit seiner entsetzlichen Art unseren Familiennamen für alle Kreise, auf die es ankommt, in den Dreck gezogen.«

»Aber, aber, Schluß damit, Boß!« sagte Flynn entschieden.

»Du bist Toby der Troubadour, reicher, berühmter und bedeutender Journalist, nicht nur ein Shreck. Arbeit ist ja schön und gut, aber letztlich geht nichts darüber, sich umzutun und ein nettes Mädchen kennenzulernen. Oder einen Jungen. Oder was auch immer.«

Owen war so sehr in den Anblick vertieft, wie Toby vor Verlegenheit hellrot wurde, daß er den näherkommenden jungen Aristo erst bemerkte, als dieser ihn fast schon umrannte. Hazel entdeckte ihn. Es erforderte schon eine Menge, Hazel abzulenken. Sie tippte Owen verstohlen auf den Arm, während sie die andere Hand auf die Pistole an der Hüfte senkte. Owen drehte sich ohne Eile um und hielt den Aristo mit festem Blick und hochgezogener Braue an. Der junge Mann verbeugte sich formgerecht und hielt die Hand ein gutes Stück von dem Schwert an seiner Seite entfernt. Er war gut, aber phantasielos gekleidet, das lange Haar in metallischem Glanz längst aus der Mode. Auf dem gutaussehenden Dutzendgesicht sorgte er für einen bemüht undeutbaren Ausdruck.

»Sir Todtsteltzer, bitte verzeiht, wenn ich Euch belästige, aber hier ist jemand, der Euch gern kennenlernen würde.«

»Das dürfte ihn in dieser Gesellschaft ziemlich einzigartig machen«, sagte Owen gelassen. »Wer könnte es sein?«

»Es ist die Dame Konstanze Wolf. Sie möchte dringend über eine Angelegenheit von beiderseitigem Interesse mit Euch reden. Darf ich Euch zu ihr führen?«

Hazel runzelte die Stirn. »Konstanze Wolf? Ich denke nicht, daß ich sie kenne. In welcher Beziehung steht sie zu Valentin?«

»Technisch ausgedrückt, ist sie seine Mutter«, sagte Owen und ließ den Aristo warten. »Sie hat Valentins Vater Jakob geheiratet, als er schon sehr alt war. Da Valentin auf der Flucht ist, Daniel vermißt wird und Stephanie diskreditiert ist, führt Konstanze den Wolf-Clan heute. Ich bin ihr nie begegnet; kann mir gar nicht denken, was wir womöglich gemeinsam haben.

Trotzdem sollte ich mich lieber erkundigen, was sie möchte.

Man weiß ja nie, wann man vielleicht etwas Nützliches erfährt.«

»Sei vorsichtig«, mahnte ihn Hazel. »Sie ist schließlich eine Wolf.«

Owen grinste, verabschiedete sich mit einem Nicken von Toby und Flynn und gestattete dem zunehmend ungeduldigen Aristo, ihn durch die Menge zu Konstante Wolf zu führen. Wie immer war sie von männlichen Bewunderern umlagert, von den höchsten gesellschaftlichen Kreisen bis zu den bloß superreichen. Konstanze war gerade erst in den Zwanzigern und schon eine atemberaubende Schönheit – auf einem Planeten, der für seine schönen Frauen berühmt war. Sie war groß und blond und hatte den Körperbau und die Grazie einer Göttin.

Trotz des fröhlichen Geschnatters um sie herum blieb ihr Gesicht kühl und unbewegt, und das gelegentliche Lächeln war reine Formsache. Sie blickte auf, als Owen näherkam, und er glaubte für einen Augenblick, in den tiefblauen Augen so etwas wie Erleichterung zu erkennen, während sie sich bei ihren Bewunderern entschuldigte und Owen entgegenschwebte.

Owen verneigte sich, und sie knickste. Dann sahen sie sich für einen Moment gegenseitig an. Ohne den Kopf zu wenden, entließ Konstanze ihren Sendboten mit einem kurzen Wink. Er verbeugte sich steif und entfernte sich widerstrebend, um sich einer kleinen Schar Bewunderer anzuschließen, die sich sofort in eine leise, aber lebhafte Diskussion stürzten, während sie Owen ganz offen mit finsteren Blicken bedachten. Er beschloß, sich nicht um sie zu kümmern, wohl wissend, daß er sie damit am meisten ärgerte. Konstanze seufzte.

»Das ist Percy Wüthrich. Er bewundert mich, und ich nutze es auf skandalöse Weise aus. Aber mir haben seit Jakobs Tod so viele Männer ihre unsterbliche Liebe geschworen, daß es mir schwerfällt, irgend jemanden von ihnen ernst zu nehmen.

Wenn man so reich und gut ausgestattet ist wie ich, dann ist es schon erstaunlich, als wie bewundernswert man sich entpuppt.

Ich habe nur einen Mann jemals geliebt, meinen geliebten Jakob, und sein Tod hat daran nichts geändert. Aber eine alleinstehende Frau kann nicht hoffen, in diesem sich wandelnden Imperium ohne mächtige Freunde und Anhänger lange zu überleben – also dulde ich, daß sie sich um mich sammeln, und belohne sie gelegentlich mit einem Lächeln oder aufmunternden Nicken. Solange sie glauben, daß sie eine Chance bei mir haben, sind meine Feinde auch ihre, woraus sich ein gewisses Maß an Absicherung für mich ergibt, wenn nicht gar Sicherheit. Ich hoffe doch, daß ich Euch mit meiner Offenheit nicht schockiere, Sir Todtsteltzer?«

»Keineswegs«, versicherte ihr Owen, der unwillkürlich bezaubert war. »Eine solche Ehrlichkeit ist heutzutage richtig erfrischend. Vielleicht könntet Ihr damit fortfahren und mir präzise erläutern, was ich für Euch tun kann. Ich gestehe, daß ich mir nicht ganz sicher bin, welche Gemeinsamkeiten Ihr in jemandem erblickt, der geschworen hat, Euren Sohn zu töten.«

»Valentin? Bringt diesen degenerierten Menschen um; Ihr habt meinen Segen dazu. Er hat dem Haus Wolf schon immer Schande bereitet. Ich habe Grund für die Überzeugung, daß er auch den eigenen Vater ermordet hat.«

Owen zog eine Braue hoch. »Das hatte ich noch nicht gehört.

Obwohl ich nicht behaupten kann, daß es mich überrascht. Ich gehe seit eh und je davon aus, daß Valentin zu allem fähig ist.«

»Ich bin heute die Wolf«, fuhr Konstanze fort. »Auch wenn ich nur durch Heirat Familienmitglied geworden bin. Niemand sonst steht zur Verfügung. Es ist jedoch schwer, Oberhaupt eines weitgehend diskreditierten Clans zu sein. Meine Leute sind weiterhin loyal, nicht weniger mir persönlich als der Familie, aber wie lange halten sie noch durch in Anbetracht ständig wachsenden Drucks und von Bestechungssummen, deren Höhe ich nicht kenne? Ich brauche Eure Hilfe, Sir Todtsteltzer.«

»In welcher Hinsicht?« fragte Owen. »Ihr müßt wissen, daß ich bei den derzeitigen Machthabern nicht gerade beliebt bin.

Mein Einfluß ist eng begrenzt. Und falls Ihr nichts weiter wünschen solltet als einen Leibwächter, gestattet mir den Hinweis, daß es ausgezeichnete Kämpfer in beliebiger Zahl gibt, die seit dem Ende der Rebellion Arbeit suchen.«

»Nein, das ist es nicht, was ich von Euch wünsche.« Konstanze runzelte die Stirn und schüttelte langsam den Kopf. »Es fällt mir nicht leicht, Sir Todtsteltzer, also bitte… Seid großzügig und gestattet mir, mich dem Thema auf meine Weise zu nähern.«

»Natürlich. Aber nennt mich doch Owen. Ich habe nie viel auf Förmlichkeiten gegeben.«

Konstanze lächelte kurz. »Das habe ich gehört. Sehr schön. Es erleichtert die Sache. Und Ihr müßt mich Konstanze nennen.« Sie wandte sich kurz ab, ordnete ihre Gedanken und wandte sich mit ruhiger, entschlossener Miene wieder ihm zu.

»Mein Leben… ist nicht so verlaufen, wie ich ursprünglich erwartet hatte. Sicherlich könnt Ihr ein solches Gefühl verstehen. Als ich Jakob Wolf heiratete, erwartete ich, mein Werdegang wäre nun vorgezeichnet: Ich würde Kinder von ihm bekommen, sie für ihn großziehen und für den Rest meines Lebens an seiner Seite stehen. Und dann war er auf einmal tot, ermordet, und meine neue Familie schwankte unter Schlägen, die ihr ein ums anderemal versetzt wurden. Und ich… stand allein da, mußte selbst die Verantwortung übernehmen. Dafür war ich nicht gerüstet. Allerdings ist es erstaunlich, was man leisten kann, wenn man sich dazu gezwungen sieht. Ich lernte durch die Praxis. Und ich entwickelte mich rasch, denn die Alternativen lauteten auf Armut oder Tod oder gar beides. Das machte mich stärker. Es machte mich auch hart und rücksichtslos, eine Entwicklung, die ich nicht recht einzuschätzen weiß.

Seht Ihr, Owen, wir haben letztlich doch viel gemeinsam. Deshalb möchte ich auch, daß Ihr mich heiratet.«

Owen starrte sie an. Er war überzeugt, daß sein Mund offenstand, aber er schien nicht in der Lage, etwas daran zu ändern.

Was immer er auch erwartet hatte, als er beiläufig zu Konstanze hinübergeschlendert war, dergleichen war es nicht gewesen, verdammt sicher nicht. Der Impuls, wegzulaufen und in der Menge unterzutauchen, war überwältigend, aber er rang ihn nieder. Abgesehen davon, daß es ein Zeichen von schockierend schlechten Manieren gewesen wäre, ging einfach nicht an, daß später erzählt wurde, er würde vor irgend etwas flüchten. Er brachte es fertig, den Mund zuzuklappen, und schluckte schwer.

»Warum ich?« fragte er schließlich, und es klang doch ein bißchen wehleidig.

Konstanze zuckte die Achseln. »Es ist klar, daß ich jemanden heiraten muß, und nach reiflicher Überlegung habe ich entschieden, daß Ihr die beste Wahl seid. Wir beide haben viel gemeinsam und entstammen alten, etablierten Linien. Und ich brauche jemanden, der unberührt geblieben ist von dem Bösen und der Korruption, die soviel von unserer gesellschaftlichen Schicht verschluckt haben. Ich brauche jemanden, dem ich trauen kann. Meine Stellung als Oberhaupt des Clans Wolf ist… prekär, und ohne Jakob hält mich sonst nichts in dieser Familie. Es wäre keine Liebesheirat, soviel ist mir klar, aber wir sind beide verpflichtet, standesgemäß zu heiraten und unsere Linien fortzusetzen. Wir würden ein starkes Bündnis bilden, Owen. Ihr habt Euren Familiennamen wieder zu Ehre geführt.

Ich wäre stolz, eine Todtsteltzer zu sein.«

Sie hörte auf zu reden und musterte ihn erwartungsvoll. Dieses eine Mal hatte Owen nicht die leiseste Idee, was er sagen sollte. Er dachte angestrengt nach. »Ich habe Jakob Wolf gekannt«, stellte er schließlich fest. »Mein Vater… hatte mit ihm zu tun. Soweit ich mich entsinne, hielt Jakob Wolf nicht viel von mir.«

Konstanze lächelte. »Jakob hat von niemandem viel gehalten.

Er war ein harter Mann. Er mußte es sein. Aber ich habe noch einen anderen Jakob gekannt, die Seite von ihm, die er nie jemandem zu zeigen wagte, nicht mal seinen Kindern. Vielleicht besonders nicht ihnen. Er war stark und standhaft und setzte sich für das ein, woran er glaubte. Euch sehr ähnlich, Owen.«

»Jetzt wartet mal«, sagte Owen und hob abwehrend beide Hände. »Falls es eine Sache gibt, derer wir beide absolut gewiß sein sollten, dann die, daß ich Jakob Wolf in keinerlei Hinsicht ähnlich bin. Ich habe nie gewünscht, Krieger zu werden. Ich war ein stiller Gelehrter und vollkommen glücklich damit, bis Löwenstein mich zum Gesetzlosen erklärte. Ich wurde in die Rebellion hineingezerrt und habe dabei die ganze Zeit gestrampelt und geschrien.«

»Dann macht es Euch umso mehr Ehre, daß Ihr auf diesem Gebiet soviel erreicht habt«, sagte Konstanze ernst. »Aber was wollt Ihr jetzt, da die Rebellion vorüber ist, mit Eurem Leben anfangen? Ihr könnt nicht wieder zum bloßen Gelehrten werden, nach allem, was Ihr gesehen und getan habt. Der Schmetterling kann nicht wieder zur Raupe werden. Und obwohl die Kopfgeldjagd zweifelsohne ein Bedürfnis stillt, das Ihr zur Zeit empfindet, ist es kein Beruf, auf dem man ein Leben aufbauen kann. Ob es Euch gefällt oder nicht, Ihr seid für viele Menschen zum Symbol geworden, von dem sie Anleitung erwarten.

Was bedeutet, daß Ihr in die Politik gehen müßt. Andernfalls könntet Ihr zwar die Schlacht gewonnen, den Krieg hingegen verloren haben. Sicherlich habt Ihr nicht all das durchgemacht, was Euch widerfuhr, nur um dann zu erleben, wie Löwenstein durch jemand noch Schlimmeren ersetzt wird?«

»Nein«, antwortete Owen, »das habe ich nicht. Aber ich bin nicht an Macht um ihrer selbst willen interessiert. Ich war es nie.«

»Das sind die besten. Politiker«, fand Konstanze. »Die nach Macht streben, auf die muß man achtgeben. Hier geht es um die Pflicht, Owen. Nicht um persönliche Wünsche. Das Imperium braucht Euch.«

»Das habe ich schon so oft gehört«, sagte Owen. »Und von so vielen Leuten. Sie hatten jedoch alle ganz unterschiedliche Vorstellungen von dem, was ich tun sollte, falls ich an die Macht käme. Ich habe immer erwartet, von all dem frei zu sein, sobald die Rebellion erst mal vorüber wäre und ich deutlich gemacht hätte, daß ich weder an der Krone noch dem Thron interessiert bin. Ich dachte, ich könnte mich dann von all dem Blut und Tod abwenden und wieder ein eigenes Leben führen.

Ich hätte es besser wissen sollen. Die Pflicht wird mir im Nacken sitzen, bis ich sterbe, wie der Alte vom Meer, den man nicht wieder absetzen kann, sobald man ihn erst huckepack genommen hat.«

»Oder die Zauberschuhe«, ergänzte Konstanze nickend.

»Man wird zum phantastischen Tänzer, aber sobald man sie angezogen hat, kann man sie nicht wieder ausziehen und nicht wieder aufhören zu tanzen. Als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, entschied ich, daß ich einfach so schön tanzen müßte, wie ich nur kann, falls mir dergleichen einmal widerfahren sollte. Damit man sich eher daran erinnert, was ich vollbrachte, als an den Fluch, der mich trieb. Geht in die Politik, Owen. Werdet zum Staatsmann. Macht etwas Neues und Wunderbares aus Euch. Ich kann Euch Rat geben, Euch anleiten, Euch den richtigen Persönlichkeiten vorstellen. Wir wären gute Partner.«

»Dahinter steckt mehr als Eure Bewunderung für mich oder Euer Bedürfnis, Euch vom Clan Wolf zu befreien«, sagte Owen plötzlich. »Ihr fürchtet etwas. Etwas ganz Bestimmtes.

Was?«

»Sehr gut, Owen! Ihr seid so scharfsinnig, wie alle behaupten. Der Schwarze Block ist zur wahren Macht geworden, der die Clans folgen. Der Schwarze Block sagt etwas, und alle hören zu. Er unterbreitet Vorschläge, und alle beeilen sich, sie umzusetzen. Ich traue dem Schwarzen Block jedoch nicht. Ich traue seinen Motiven nicht. Ich möchte frei von ihm sein. Ich möchte, daß die Familien von ihm frei sind. Aber dank Euch sind sie verschreckt und gespalten. Die Clans brauchen einen Helden, hinter dem sie sich sammeln können. Selbst nach allem, was Ihr getan habt, würden sie Euch akzeptieren. Sie wissen, daß Ihr stets eher mit Löwenstein Streit hattet als mit den Clans. Sie respektieren die Idee der Vendetta. Und sie hatten schon immer Verständnis für Ehrgeiz. Schließlich wurdet Ihr als Aristokrat geboren und aufgezogen, genau wie sie.«

»Nein!« erwiderte Owen scharf. »Ich bin ihnen in keiner Weise ähnlich! Ich habe nicht nur für den Sturz Löwensteins gekämpft, sondern auch der Ordnung, die sie trug. Ich wurde Zeuge der Greuel und Übeltaten, für die die Familien verantwortlich waren. Ich habe gesehen, was für ein schauderhaftes Leben die vielen führen mußten, damit es sich die wenigen im Luxus bequem machen konnten.«

»Ihr habt Euch verändert. Das können die übrigen Aristokraten auch. Helft ihnen. Verwandelt sie ihn das, was sie sein könnten, sein sollten… Eine Führungsmacht, die das Imperium fair regiert und wieder stark und sicher macht.«

»Ich weiß nicht recht, Konstanze. So einfach ist es nicht.

Heute findet man eine Menge Leute in Amt und Würden, die der Meinung sind, nur ein toter Aristo wäre ein guter Aristo.«

»Ihr könntet das ändern. Owen, die Aristokratie verfügt über zuviel Potential des Guten, um einfach zuzusehen, wie es verlorengeht! Wir verkörpern ein Erbe der Besten, das Jahrhunderte zurückreicht. Generationen der Partnerwahl und Gentechnik, um Perfektion zu erzielen. Ihr seid der letzte Todtsteltzer. Möchtet Ihr, daß Eure Abstammungslinie mit Euch endet?

Falls nicht, müßt Ihr eine Aristokratin heiraten, um das Erbe Eurer Familie weiterzugeben. Alles andere wäre Verrat an Eurem Clan.« Sie brach ab und musterte Owen forschend. »Getrennt sind wir beide Personen mit großen Fähigkeiten. Wenn wir uns zusammenschließen, könnte unsere Familie unschlagbar werden.«

Owen schüttelte langsam den Kopf. »Konstanze… Ich kenne Euch nicht. Ich liebe Euch nicht.«

Sie lächelte. »Wir werden einander kennenlernen. Mir gefällt, was ich von Euch gehört habe. Ich denke, wir würden uns… vertragen.«

»Konstanze, ich bin stets davon ausgegangen, daß ich zu gehöriger Zeit entweder aus Liebe heiraten würde oder gar nicht.

Ich wünsche mir eine Ehe, keinen geschäftlichen Zusammenschluß.«

»Liebe kann ich Euch nicht versprechen, Owen. Ich weiß nicht, ob ich je wieder lieben werde. Aber meine frühere Ehe war arrangiert, und Jakob war mir fremd, als wir unser Eheleben begannen. Wir brauchen einander nicht zu lieben, um uns als Partner und Bundesgenossen zu unterstützen, aber… vielleicht entwickelt sich die Liebe später noch.« Sie musterte ihn nachdenklich, den Kopf leicht auf die Seite gelegt. »Oder liebt Ihr bereits jemanden? In den Medien und den gesellschaftlichen Kreisen spekuliert man ständig über Eure Beziehung zu dieser d’Ark. Eine… eindrucksvolle Persönlichkeit. Niemand bezweifelt, daß Sie eine Heldin der Rebellion ist, aber Euch muß klar sein, daß Ihr sie niemals ehelichen könnt. Ihr beide entstammt verschiedenen Welten und werdet stets verschiedenen Welten angehören. Und was auch immer die Lieder behaupten, Liebe überwindet keineswegs alle Schranken.«

»Hazel… wollte nie aussprechen, ob sie mich liebte«, sagte Owen stockend, wußte nicht recht, was er sagen würde, bis es herauskam. »Wir stehen uns so nahe, wie Menschen einander nur stehen können, haben Seite an Seite gegen alles gekämpft, was das Imperium gegen uns ins Feld warf, sahen uns mit dem Tod und Schlimmerem konfrontiert… Sie hat jedoch nicht einmal gesagt, sie würde mich lieben.«

»Ich kann Euch Kinder schenken«, sagte Konstanze. »Sie zu Mitgliedern des Clans Todtsteltzer erziehen. Könnte sie das für Euch tun? Würde sie es tun?«

»Nein«, antwortete Owen. »Ich denke, nicht. Sehr gut, Konstanze, unsere Eheschließung soll arrangiert werden. Sorgt Ihr bitte dafür; ich war so lange fort, daß ich weitgehend den Kontakt zu den nötigen Formalitäten verloren habe.«

»Natürlich«, sagte Konstanze. »Ich kümmere mich um alles.

Ihr könnt mich jetzt küssen, wenn Ihr wünscht.«

Sie kam in seine Arme und wandte ihm die Lippen entgegen.

Es war ein sehr höflicher, beinahe zurückhaltender Kuß, aber Owen spürte trotzdem, wie sich damit sein ganzes Leben veränderte, wie er sich auf eine Zukunft festlegte, die er kaum erkannte oder begriff. Ein Kapitel seines Lebens endete hier und jetzt, und ein neues nahm seinen Anfang. Er hoffte nur, daß er dieses eine Mal die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie lösten sich voneinander und blickten sich für einen Moment gegenseitig in die Augen, wobei Owens Hände leicht auf Konstanzes Hüften ruhten. Sie erwiderte seinen Blick offen und vertrauensvoll, band sich an ihn. Allerdings war überhaupt keine Liebe im Spiel, und beide wußten es. Konstanze trat einen Schritt zurück, und Owens Hände sanken an seine Seiten.

Sie lächelte ihn an, knickste und entfernte sich in die Menge, und Owen blieb allein zurück. Er bemerkte, daß ihn Menschen ringsherum mit erneuertem Interesse ansahen, aber für den Augenblick dachte er an nichts anderes, als wie er Hazel D’Ark die Nachricht überbringen sollte.

Hazel hatte inzwischen die Bar gefunden, einen stillen, abgesonderten Winkel mit glänzenden Fliesen, Reihen interessant aussehender Flaschen und einer langen Holztheke. Sie hatte dort auch Jakob Ohnesorg und Ruby Reise entdeckt. Die drei tranken in freundschaftlichem Schweigen. Keiner wirkte besonders glücklich, Jack trug eine schlichte blaue Latzhose, die seine neuerdings wieder jugendfrische Gestalt vorteilhaft zur Geltung brachte. Man hatte ihm die verschiedensten Medaillen verliehen, aber er trug sie nie. Ruby war wie üblich in schwarzes Leder unter weißen Fellen gekleidet. Sie sagte, es würde ihr dabei helfen, sich zu erinnern, wer sie eigentlich war. Sie trug allerdings auch soviel Gold und Silber und Schmuck an Armen, Handgelenken und Hals, daß sie nicht die allerkleinste Bewegung machen konnte, ohne daß all diese Klunker aneinander rasselten und bimmelten. Alle drei genossen den stärksten Weinbrand, den die Bar anzubieten hatte. Jeder hatte eine Flasche vor sich stehen und machte sich nicht die Mühe mit einem Glas. Der Barkeeper wirkte eindeutig schockiert über einen solch ungenierten Umgang mit gutem Weinbrand, aber er verfügte über genügend Verstand und Überlebensinstinkt, um keinen Mucks von sich zu geben.

»Zu den Nachteilen unserer im Labyrinth verbesserten Körper«, sagte Jakob traurig, »gehört, daß wir verdammt viel Alkohol brauchen, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen. Aber sich diesem wunderbaren neuen Imperium zu stellen, zu dessen Errichtung wir beigetragen haben, ist eine zu ehrfurchtgebietende Aufgabe, um es völlig nüchtern zu tun.«

»Richtig«, sagte Ruby. »Natürlich hilft es, daß wir uns heute die allerbesten Getränke leisten können. Kann allerdings nicht feststellen, daß dieses Zeug so viel besser schmeckt als der Fusel, den ich früher getrunken habe.«

»Du hast einfach keinen Gaumen«, behauptete Jakob.

»Doch, habe ich«, widersprach Ruby. »Ich rede ganz deutlich.«

Hazel erkannte, daß sich hier ein Streit anbahnte, und mischte sich schnell ein. »Also, was habt ihr beiden eigentlich getrieben, während Owen und ich die bösen Jungs gejagt haben?

Wart ihr beschäftigt?«

»Ab und zu«, antwortete Jakob Ohnesorg. »Seit ich das Abkommen ausgehandelt habe, mit dem der Aristokratie die Zähne gezogen wurden und sie ihre Kapitulation erklärt hat, kommt alle Welt immer zu mir gerannt, wenn ein Aristo über die Stränge schlägt. Als ob ich etwas ändern könnte, außer die Beschwerden ans Parlament weiterzureichen. Ich habe meine eigenen Probleme, versuche praktisch ganz allein, ein neues politisches System zu errichten. Die Leute erwarten so viel von mir. Meine Legende ist durch die Rebellion auf fast übermenschliche Proportionen angewachsen. Die Leute waren von den beiden Jakob Ohnesorgs überrascht, also überlegten sie sich, daß es nur einen gegeben haben durfte, und schrieben alles mir zu. Zusammen mit einer ganzen Menge reiner Erfindungen. Niemand sieht heute mehr mich, mein eigentliches Ich – nur die verdammte Legende. Man glaubt, ich brächte einfach alles zustande, könnte jedes Problem lösen und hätte dann noch den Nerv, obendrein wütend zu werden.« Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Natürlich macht meine Legende nicht viel her, verglichen mit Rubys. Ich habe schon erlebt, wie sich Leute bekreuzigten, wenn sie sie kommen sahen.«

»Völlig richtig«, sagte Ruby lebhaft. »In vielen Fällen brauche ich heute nicht mehr zu bezahlen. Ich gehe einfach irgendwo rein, zeige, was ich haben möchte, schaue dabei ein bißchen ernst drein, und die Leute stolpern über die eigenen Füße vor lauter Eifer, es mir als Geschenk zu geben. Ich wette, daß wir nicht mal etwas für diese Getränke werden bezahlen müssen. Wahrscheinlich kann ich den Barkeeper mit einem Blick dazu bringen, daß er sich in die Hose pißt.«

»Da nehme ich dich beim Wort«, sagte Hazel rasch. Sie drehte sich um, blickte zu Konstanze und Owen hinüber und machte ein finsteres Gesicht. »Ich frage mich, was er mit dem hübschen Fräulein Vollkommen zu bereden hat. Ich mag es nicht, wenn er sich mit anderen Aristos unterhält. Sie haben einen schlechten Einfluß auf ihn. Und er ist immer so leicht zu überreden.«

»Du mußt es ja wissen«, meinte Ruby. »Was ist los? Hast du Angst, sie könnte ihn dir ausspannen?«

Hazel schnaubte. »Nicht nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben. Zwischen uns besteht ein Band, stärker als alles, was diese Leute je verstehen könnten.«

»Klar doch«, sagte Ruby. »Aber hast du ihn schon im Bett gehabt?«

»Kümmere dich um deinen Kram!«

»Das dachte ich mir.«

»Es würde… ihm zuviel bedeuten«, meinte Hazel. »Er würde es zu ernst nehmen. Er würde anfangen, über Beziehung und Vertrauen und den Aufbau eines gemeinsamen Lebens zu reden, und für Scheiß dieser Art bin ich einfach nicht bereit.«

»Kann nicht behaupten, daß ich von dir je was anderes erwarten würde«, warf Jakob ein.

»Und du kannst auch gleich die Klappe halten.«

»Du solltest lieber schnell zuschlagen, Mädchen«, fuhr Ruby gelassen fort. »Sonst schnappt ihn dir noch jemand weg. Ich könnte mir vorstellen, es selbst mal zu probieren. Gut gebaut.

Hübscher Hintern. Und er hat diesen unschuldigen Blick eines verirrten Jungen, bei dem es mir immer in den Fingern juckt.«

»Gib gut auf deine Finger acht, Ruby Reise!« erwiderte Hazel entschieden. »Sollte ihn je eine anfassen außer mir, sorge ich dafür, daß sie für einen Monat im Streckverband landet.«

»Klar, aber liebst du den Mann nun oder nicht?« fragte Ruby hartnäckig weiter.

»Wir… verstehen uns.«

»Verständnis hält einen nicht warm in den frühen Morgenstunden. Du hast einfach Angst davor, dich festzulegen. Hazel.

Hattest du schon immer.«

»Das ist wirklich gut, von jemandem, der sein Leben lang noch keine persönliche Beziehung mit irgend wem hatte!«

»Wir reden nicht über mich«, versetzte Ruby gelassen. »Wir reden von dir. Und Owen. Er wird nicht ewig warten, weißt du? Der Krieg hat euch zusammengeführt, aber er ist vorbei.

Owen ist das Beste, was dir je passiert ist, Hazel D’Ark, und du wärst eine verdammte Idiotin, wenn du ihn dir durch die Lappen gehen läßt. Stimmt’s, Jakob?«

»Sieh mich nicht an«, sagte er. »Ich knabbere immer noch an der Frage herum, welche Art Beziehung wir haben. Außerdem war ich schon sieben Mal unter verschiedenen Namen verheiratet, und keine dieser Ehen hat funktioniert. Die Arbeit als Berufsrebell hat viel Zeit verschlungen. Nicht immer blieb Zeit für jemand anderen übrig, egal, welche Gefühle ich für die betreffende Person hegte.«

»Aber deine Arbeit ist jetzt getan«, fand Hazel.

»Nicht, daß es mir aufgefallen wäre«, gab er zu bedenken. Er traf Anstalten, die Flasche an die Lippen zu setzen, stoppte und setzte sie wieder ab. »Ich war der Mann, der gegen das System kämpfte. Jedes System. Ich habe mich selbst nur in Bezug auf Löwenstein und ihr korruptes Imperium definiert. Jetzt, wo beides nicht mehr ist, weiß ich nicht mehr, was ich mit mir anfangen sollte und was auch nur einen Furz wert wäre.«

»Du mußt einfach eine neue Art Kriegsführung lernen«, sagte Ruby. »Man nennt sie Politik.«

»Ich bin zu alt für neue Tricks«, sagte Jakob. »Obwohl ich einen neuen jungen Körper habe, habe ich das ganze Leben darauf verwandt, zu einer ganz bestimmten Person zu werden, nur um dann festzustellen, daß niemand mehr so jemanden benötigt. Statt dessen dreht sich alles um Konferenzen und Komitees und endlose verdammte Kompromisse. Ständig muß ich mich bemühen, alte Feinde davon abzuhalten, daß sie sich gegenseitig an die Gurgel fahren. Und ich frage mich die ganze Zeit, ob irgendwas davon den Aufwand lohnt…« Er seufzte tief. »Ich schätze, ich könnte mich um Arbeit als Kopfgeldjäger bewerben wie du und Owen, kann mich aber nicht von dem Gefühl befreien, daß hier alles zusammenbricht, wenn ich nicht mehr anwesend bin und die Veränderungen im Auge behalte.

Man vertraut mir, versteht ihr? Ich bin der legendäre Berufsrebell. Der Mann, der ihnen endlich die Freiheit gebracht hat.

Wie soll ich ihnen klarmachen, daß mir ihre alltäglichen kleinen Probleme einen Scheiß bedeuten?«

»Ich weiß, was du meinst.« Ruby nickte weise. »Weiß genau, was du meinst. Der Erfolg ruiniert uns. Ich meine, seht mich an. Endlich bin ich so reich, wie ich es mir immer erträumt hatte. Vielleicht sogar noch reicher… Verdammt, ich behalte nicht mal mehr den Überblick darüber! Dafür habe ich Buchhalter. Sie schicken mir die Kontoauszüge, und ich kapiere nichts davon. Ich wußte früher nie, daß es so große Zahlen gibt.

Ich verfolge reiche Verbrecher, finde ihre versteckte Beute, konfisziere sie und übergebe sie dem Parlament, abzüglich meiner saftigen Provision. Nicht, daß ich viel von der eigentlichen Arbeit selbst tun würde… Ein ganzer Haufen Kyberratten arbeitet für mich. Sie stöbern die Gelder und den Aufenthaltsort des Mistkerls auf, und dann bahne ich mir einen Weg dorthin und verhafte den bösen Buben. Sie liefern mir selten einen nennenswerten Kampf, sobald ich ihre Abwehrsysteme erst mal überwunden habe. Verdammt, die meisten brechen in Tränen aus, wenn sie sehen, wie ich hereinspaziere.«

»Jetzt mal langsam«, wandte Jakob ein. »Verhaften? Wann härtest du dir je die Mühe gemacht, jemanden zu verhaften?«

»Oh, in Ordnung, ich breche also ein und bringe die bösen Buben um, wenn du auf Genauigkeit bestehst. Sie würden vom Kriegsverbrechertribunal ohnehin gehängt, und ich brauche mich so nicht mit dem Papierkram herumzuschlagen. Worauf ich hinauswill: Ich wälze mich in Geld. Mehr, als ich in einem ganzen Leben ausgeben kann. Habe ein großes Haus, Diener und den ganzen modernen Komfort und Luxus. All das, was ich mir immer gewünscht habe – wie ich dachte. Aber man kann diese Sachen wirklich schnell satt haben. Wenn man es genau nimmt, sind es nur Spielsachen. Sogar die Diener anzuschreien hat seinen Reiz verloren. Es macht keinen Spaß, jemanden einzuschüchtern, wenn man ihn selbst dafür bezahlt, sich einschüchtern zu lassen. Und außerdem beschleicht mich der Verdacht, daß ich verweichliche, meinen Biß verliere. Immer lauert jemand hinter den Kulissen auf eine Gelegenheit, einem alles wegzunehmen.«

»Ja«, sagte Jakob seufzend. »Das Problem mit der Erfüllung aller Wünsche besteht darin, daß man anschließend aufwacht und sich in der Wirklichkeit wiederfindet.«

»Oh, sehr tiefsinnig«, fand Ruby. »Sehr philosophisch. Was zum Teufel soll das heißen?«

Jakob zuckte die Achseln. »Ich will verdammt sein, wenn ich es wüßte. Aber für einen Moment hat es sich ganz gut angehört.« Er blickte durch die volle Halle zu Owen hinüber. »Was macht er da? Unterhält sich mit dieser Wolf?«

»Vielleicht hat sie einen Hinweis, wo wir Valentin finden«, sagte Hazel.

»Vielleicht«, sagte Jakob. »Aber ich würde keinem Wink trauen, der aus dieser Ecke stammt. Das letzte, was ich gehört habe, war, daß Konstanze Wolf mit den Chojiros untereiner Decke steckt. Üble Familie. Üble Leute.«

Hazel sah ihn nachdenklich an. »Es hatte so einen Unterton, als du Chojiro gesagt hast. Irgendwie kalt… und wütend. Welche Verbindung hast du zu den Chojiros?«

»Richtig«, fiel Ruby ein. »Nicht zum ersten Mal habe ich gehört, wie du sie heruntermachst. Was macht die Chojiros so viel schlimmer als den übrigen aristokratischen Abschaum?«

Jakob starrte auf die Flasche vor ihm, damit er nicht Ruby oder Hazel ansehen mußte. »Meine Mutter war eine Chojiro«, sagte er leise. »Sie haben sie ausgestoßen und ihr den Geldhahn komplett abgedreht, nur weil sie den Mann geheiratet hatte, den sie liebte, und nicht den, den die Familie für sie ausgewählt hatte. Sie waren damals allesamt Arschlöcher und sind es heute noch. Traue niemals einem Chojiro.«

»Du hast aber recht schnell ein Abkommen mit ihnen geschlossen«, gab Ruby zu bedenken. »Du hast jedes Prinzip verkauft, das dir je was bedeutet hat, als du den Aristos den Arsch gerettet hast.«

»Es war nötig«, erklärte Jakob. »Es hat die Familien und ihre Privatarmeen aus dem Krieg entfernt. Ohne ihre Beteiligung sind Millionen noch am Leben, die andernfalls hätten umkommen können. Kein schlechter Handel. Was sind schon ein paar Prinzipien im Vergleich zu Menschenleben?«

»Selbst wenn es heißt, daß die meisten Schuldigen an generationenlangen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungestraft ausgehen?«

Jakob drehte sich um und sah sie böse an. »Das sind ganz schön anspruchsvolle Worte für eine professionelle Killerin!

Wann hast du dir je etwas aus der Menschlichkeit gemacht?

Wann hattest du je Prinzipien?«

»Nie«, antwortete Ruby. »Und ich habe auch nie was anderes behauptet. Vielleicht habe ich mich aber mal anders gefühlt.

Ich habe an dich geglaubt, Jakob. Und dann hast du dich als jemand ganz anderes entpuppt.«

Es war ein alter Streit, ohne daß ein Ende absehbar gewesen wäre. Hazel wandte sich ab und ließ sie fortfahren. Sie blickte durch die Halle, und die Menge schien sich gerade im richtigen Augenblick vor ihr zu teilen, damit sie sehen konnte, wie Owen Konstanze Wolf in die Arme nahm und küßte.

Finlay Feldglöck, der erneut auf dem Höhepunkt der Mode war, durchquerte gewandt die dichtgedrängte Menge, wie ein Hai, der mit den Strömungen schwamm und sich an einem Meer voller Beute ergötzte. Sein zerknitterter Samtgehrock war erstklassig geschneidert, saß perfekt wie eine zweite Haut und war in einem strahlenden Blau gehalten, so hell, daß es in den Augen schmerzte. Finlay trug lederne Stulpenstiefel über kanariengelben Beinlingen und eine rosenrote Krawatte, gerade unordentlich genug gebunden, um zu zeigen, daß er es selbst getan hatte. Solche Einzelheiten waren wichtig. Darüber hinaus trug er eine Nasenkneiferbrille, die er im Grunde nicht brauchte, und hatte das lange Haar zu einem einzelnen, komplizierten Zopf gebunden. Früher hätte ihm eine solche Meisterung der Mode, dieser Inbegriff des Geckenhaften bewundernde Blicke von aller Welt eingetragen, vielleicht sogar einen kurzen Applaus im Vorbeigehen. Aber das lag lange zurück, in einem anderen Leben.

Finlay hatte sich in den Jahren als Rebell verändert. Das früher jungenhafte Gesicht war dünn und abgehärmt und um Mund und Augen von scharfen Falten geprägt. Das Haar war verblaßt, fast weiß geworden. Er war erst Ende zwanzig, wirkte aber mehr als zehn Jahre älter. Trotz angestrengter Bemühungen zeigte er eher die Gangart eines Soldaten als die eines Müßiggängers, und der Ausdruck seiner Augen war erschreckend kalt. Er sah so aus, wie er auch war, hartgesotten und gefährlich, und seine hübschen Sachen wirkten wie ein Clownskostüm an einem Killer. Die Leute wichen ihm rasch aus, selbst wenn er andeutete, daß er gern mit ihnen reden würde. Obwohl er nicht mehr der Feldglöck war, das Oberhaupt des Clans, hatte er sich in vielerlei Hinsicht zu einem Ebenbild seines toten Vaters entwickelt, dieses gefürchteten und gefährlichen Mannes ein Gedanke, bei dem Finlay stets unwohl wurde.

Die Unfähigkeit, wieder in die alten Maße zu passen, machte ihm Sorgen. Er hatte erwartet, einfach wieder seine alte geckenhafte Persönlichkeit überstreifen zu können und von aller Welt wieder akzeptiert zu werden, wie früher auch. Er hatte sich jedoch zu sehr verändert; Jugend und Unschuld waren zu vielen Attentaten zum Opfer gefallen, die er für die Untergrundbewegung durchgeführt hatte. Auch fiel es ihm heute zu schwer, die alte Persönlichkeit vorzuführen; die kleinlichen politischen Machenschaften des Parlaments und seines Anhangs verblaßten neben den mörderischen Schlachten der Rebellion. Damals hatte alles, was Finlay tat, eine Bedeutung gehabt. Jetzt war er nur noch ein kleiner Held, aus dem Krieg heimgekehrt, auch nicht wichtiger als tausend andere.

Nur ein weiterer Killer, der zu früh pensioniert worden war.

Früher mal hatte er sein Bedürfnis nach blutiger Erregung in der Arena austoben können, als unbesiegter Champion, als der Maskierte Gladiator. Dann mußte er aus der Gesellschaft fliehen, diese Maske ablegen und sich Evangeline, seiner Geliebten, in der Klon- und Esperbewegung anschließen. Sein Mentor, der ursprüngliche Maskierte Gladiator, übernahm in Finlays Abwesenheit diese Rolle erneut, so daß niemand eine Verbindung herstellen konnte zwischen dem vermißten Feldglöck und einem vermißten Gladiator. Während der Rebellion kam der ursprüngliche Maskierte Gladiator dann ums Leben; Flynns Kamera filmte sein blutiges Ende live, als der Esper Julian Skye in der Arena grausame Rache nahm für den Tod seines Bruders Auric.

Somit konnte Finlay auch in diese Rolle niemals zurückkehren. Schlimmer noch, Auric Skye war in Wahrheit von Finlays Hand gestorben, als er noch die Maske des Gladiators trug. Das durfte er Julian nie erzählen. Es hätte ihre Freundschaft für immer zerstört.

Auch ohne Maske konnte er nicht in die Arena zurückkehren.

Die Fans würden seinen Kampfstil schnell wiedererkennen.

Julian erführe es und wüßte, daß er einen Unschuldigen getötet hatte. Und so schlüpfte Finlay wieder in die ganz feinen Klamotten und begab sich aufs gesellschaftliche Parkett, wo er sich Mühe gab, die freiwillig, wenn auch widerstrebend übernommene Aufgabe als Diplomat und Botschafter der Klon- und Esperbewegungen zu erfüllen. Denn sie brauchten ihn. Zumindest hatte Evangeline ihm das eingeredet. Manchmal ertappte er sich bei der Frage, ob sie ihm vielleicht seine Stellung in der Untergrundbewegung mit Hilfe ihres Einflusses verschafft hatte, nur damit er beschäftigt war und sich… nützlich fühlte.

Fragen konnte er sie nicht. Sie war fortlaufend mit eigener Arbeit beschäftigt, um der Klonbewegung einen Platz im öffentlichen Leben zu verschaffen, als Teil der neuen politischen Szene. Das war eine wichtige Arbeit. Zuzeiten sah er Evangeline tagelang nicht. Zum ersten Mal brauchte er wirklich ihren Trost, und sie war nicht mal bei ihm.

Es war ein kleinlicher Gedanke, und er bemühte sich, ihn zu verbannen.

Er wußte nicht, daß Evangeline die wachsende Verzweiflung in seinem Blick gesehen hatte und ihm soviel Arbeit zuschanzte, wie sie nur konnte – denn sie fürchtete, er könnte sich das Leben nehmen, wenn er keine Richtung, keine Zielvorstellung in seinem Leben hatte. Dabei wußte sie nicht mal, daß er von den dicken Adern an seinen Handgelenken träumte, von der scharfen Schneide eines Messers oder von einer Schlinge, die im Mondlicht baumelte – und davon, wie leicht es wäre, alles hinter sich zu lassen und endlich Frieden zu finden.

Finlay sah, daß Owen Todtsteltzer für den Moment allein war, und ein alter Zorn regte sich in ihm. Nicht nur Liebe war es, die ihn am Leben hielt; auch ein ungestillter Haß brannte weiterhin in seinem Herzen. Er schritt zum Todtsteltzer hinüber, der sich umdrehte und formell verneigte. Finlay überwand sich, sich seinerseits zu verbeugen. Die Form wußte gewahrt bleiben. Owen und Finlay hatten in der Rebellion vielleicht auf derselben Seite gefochten, aber als Menschen hatten sie nie entsprechende Gemeinsamkeiten gehabt. Owen hielt Finlay für einen verrückten Mörder, der sich jederzeit von der Leine lösen und sich gegen Freund und Feind gleichermaßen wenden konnte. Finlay erachtete seinerseits Owen für einen gefährlichen Amateur, der zuviel nachdachte. In der Öffentlichkeit pflegten sie einen sehr höflichen Umgang miteinander.

Gewöhnlich.

»Ich habe ein Hühnchen mit Euch zu rupfen, Todtsteltzer.«

»Stellt Euch an«, erwiderte Owen ruhig. »Wie lautet Euer Problem, Feldglöck?«

»Valentin Wolf. Ich habe gerade erfahren, daß Ihr seinen Aufenthaltsort kanntet und verabsäumtet, ihn mir mitzuteilen.

Er hat meine Familie vernichtet, verdammt!«

»Valentin hat eine Menge Familien vernichtet. Deshalb hat mich das Parlament losgeschickt, um ihn zu fangen. Falls Ihr so gute Verbindungen hättet, wie Ihr angeblich habt, hättet Ihr das ebenfalls erfahren. Ich kann es auch nicht ändern, wenn Ihr in jüngster Zeit ein wenig… besorgt gewesen seid.«

»Kommt mir nicht gönnerhaft, Todtsteltzer!«

»Und spielt Euch mir gegenüber nicht auf, Feldglöck. Mein Anspruch auf Valentin ist eher noch besser begründet als Euer.

Er hat meinen ganzen Planeten vernichtet.«

»Ich werde ihn töten«, sagte Finlay. »Ebenso jeden, der mir dabei in die Quere kommt. Und sei es der allgewaltige Owen Todtsteltzer.«

Owen lächelte. »Ihr könntet es versuchen«, sagte er höflich, wandte sich ab und entfernte sich ohne Eile. Finlay blickte ihm nach und ballte die Fäuste an den Seiten. Und dann legte ihm jemand die Hand auf den Arm und wirbelte er wütend herum, nur um Evangeline Shreck lächelnd vor sich zu sehen. Die Wut schwand sogleich aus ihm, als er Evangelines Lächeln erwiderte.

»Ich bin vorzeitig zurückgekommen«, sagte Evangeline und nahm seine Hände in ihre. »Hatte mir überlegt, dich zu überraschen. Und wenn ich dich so ansehe, denke ich, daß ich keinen Augenblick zu früh erschienen bin. Wer hat dich diesmal aufgebracht?«

»Oh, nur der Todtsteltzer«, sagte Finlay, der sich wieder beruhigt hatte. All seine Dunkelheit war vertrieben durch den Sonnenschein von Evangelines Lächeln und den Glanz ihrer Augen. Sie umarmten sich, als könnten sie alles, was sie trennte, durch die Kraft ihrer Liebe verdrängen. Und vielleicht war das wirklich möglich. Nach geraumer Weile gaben sie sich wieder frei und traten jeder einen Schritt zurück, um sich wechselseitig gründlich anzusehen.

»Gott, du siehst reizend aus«, sagte Finlay. Sie tat es wirklich. Sie trug ein langes Kleid von funkelndem Silber, an einer Schulter offen, um ihren zierlichen Körperbau zu zeigen. Das dunkle Haar trug sie kurz geschnitten, der aktuellen Mode zum Trotz. Ihr Gesicht war durch hohe Wangenknochen und große Augen charakterisiert und wirkte verletzlich, aber entschlossen.

Allein ihr Anblick festigte Finlay in seinem Entschluß, sie vor allen Gefahren und Grausamkeiten der Welt zu schützen. Sie war der Grund für ihn weiterzuleben, das Blut, das in seinen Adern kreiste, das Herz, das in seiner Brust nur für sie schlug.

Zuzeiten, wenn sie abwesend war, vergaß er das, aber jetzt war sie zurückgekehrt, und er fühlte sich von neuem lebendig und wach. Am liebsten wäre er hinausgerannt und hätte ein paar Drachen erschlagen, nur um sie ihr zu Füßen zu legen.

»Du siehst… schick aus«, sagte Evangeline. »Wäre es nur noch ein bißchen bunter, würde alles andere im Vergleich schwarz und weiß wirken.«

»Ich kleide mich nur nach meiner Rolle«, antwortete Finlay.

»Alles Subtile ist derzeit außer Mode. Allerdings hättest du mal ein paar von den Sachen sehen sollen, die ich anhatte, als ich vorgab, einer der heimlichen Vorkämpfer von Stil zu sein, und deshalb ständig modisch auf der Höhe sein mußte.«

»Ich habe Holos davon gesehen. Die Bilder sind unwiderruflich in meine Netzhäute eingebrannt. Nun, worüber bist du im Moment so böse? Doch wohl nicht darüber, daß Robert an deiner Stelle als Clanoberhaupt der Feldglöcks weitermacht, oder?«

»O verdammt, nein! Soll er ruhig der Feldglöck sein, wenn er möchte. Er wird es viel besser machen, als ich je könnte. Nein, die Familien finden sich in einer neuen Welt wieder, und er ist viel besser geeignet, den Clan darin zu führen. Ein guter Mann, dieser Robert. Es hilft, daß er zu den wenigen Leuten gehört, die für das Imperium gekämpft haben und trotzdem noch als Helden gelten. Der als letzter von Bord ging, sein Schiff bis zuletzt gegen eine überwältigende Übermacht verteidigte…

Vielleicht kann er dieses Image nutzbar machen, um die Familie neu aufzubauen, wieder zu dem zu machen, was sie war, ehe Valentin sie vernichtet hat.«

Evangeline nickte langsam, als sie hörte, wie giftig Finlays Ton wurde, als er den Namen seines Feindes aussprach. »Deshalb bist du so wütend auf Owen. Spare deinen Zorn für deine wirklichen Feinde auf, Liebster. Du erhältst schon noch Gelegenheit, Valentin zu erwischen.«

Finlay zwang sich zu einem Lächeln. »Sprechen wir lieber von glücklicheren Dingen. Was führt dich so unerwartet zurück?«

»Mein Einsatz hat sich als Reinfall erwiesen. Alles war schon vorbei, als ich eintraf – die Vereinbarungen unterzeichnet und alle Beteiligten glücklich. So läuft es manchmal. Also bin ich hier. Freust du dich, mich zu sehen?«

»Gestatte mir, dich aus diesem Irrenhaus zu geleiten und nach Hause zu bringen, und ich zeige dir, wie sehr ich mich freue«, knurrte Finlay und zog sie fest an sich.

Ihr gemeinsames Lachen war ein Augenblick echter Wärme in der künstlichen Kälte höflicher Gesellschaft.

Von einer Stelle nicht weit entfernt sah ihnen Robert Feldglöck zu. Er trug die neue Kapitänsuniform mit einer gewissen Steifheit. Die hohe Todesrate der imperialen Raumflotte hatte dazu geführt, daß die wenigen würdigen Überlebenden abrupt und schnell befördert wurden, und Robert hatte sich noch nicht an seine neue Position gewöhnt. Er kam sich ein bißchen wie ein Betrüger vor und erwartete ständig, jemand würde gleich hereinplatzen und sagen, alles wäre ein grauenhafter Irrtum gewesen, und ob er die Uniform bitte sofort zurückgeben würde, weil der richtige Kapitän auf sie wartete.

Er lächelte leise, als ihm der gewohnte Gedanke wieder mal durch den Kopf ging. Robert war groß und gutaussehend, hatte einen festen Blick und kurzgeschorenes Haar. Sowohl Haare als auch Gesicht waren von den Bränden versengt worden, die über die Brücke der belagerten Dauerhaft tobten. Robert war mit einer Fluchtkapsel entkommen, aber es hatte lange Sitzungen in einer Regenerationsmaschine erfordert, die Verletzungen am Gesicht zu heilen, und das Haar wuchs erst jetzt wieder allmählich. Er fand, daß er heute älter wirkte, verantwortungsbewußter, und er nahm gern jedes bißchen Hilfe an, das er nur bekommen konnte. Sein neues Kommando war die Elementar, einer der wenigen Sternenkreuzer der E-Klasse, die die Rebellion überstanden hatten, und er war darauf erpicht, sie möglichst rasch offiziell zu übernehmen und mal zu sehen, was sie leisten konnte. Aber… als Feldglöck und Oberhaupt seines Clans war er verpflichtet, einen bestimmten Anteil seiner Zeit auf Golgatha zu verbringen und sich zuerst um die Interessen der Familie zu kümmern. Und das bedeutete, mit den richtigen Leuten im Parlament Umgang zu pflegen, die nötigen Verbindungen zu knüpfen und Absprachen zu treffen, die sicherstellten, daß niemand seine Leute schikanierte, während er unterwegs war und auf seinem Schiff Dienst tat. Eines Tages würde er sich endgültig zwischen den Bedürfnissen der Familie und seiner Militärkarriere entscheiden müssen, aber das… lag noch in der Zukunft.

Sein Vetter Finlay sah tatsächlich ganz zivilisiert aus, jetzt, wo Evangeline eingetroffen war und ihn beruhigt hatte. Eines Tages würde dieser Mann jedoch durchdrehen, und selbst Evangeline würde ihn nicht mehr aufhalten können. Und es würde zu Blutvergießen und Todesfällen kommen und einem Skandal, den zu bereinigen kein Einfluß ausreichen konnte.

Finlay war schlicht eine Katastrophe, die nur darauf lauerte einzutreten. Und als der Feldglöck und Clanoberhaupt lag es an Robert zu entscheiden, was er in dieser Hinsicht tun wollte. Ob er… Schritte unternehmen sollte. Er seufzte leise und schüttelte den Kopf. Eine militärische Ausbildung war ja ganz prima, was die meisten Dinge anging, aber sie half überhaupt nicht beim Umgang mit unberechenbaren Größen wie Finlay Feldglöck. Auf einmal spürte Robert jemanden neben sich.

»Mach dir keine Sorgen um Finlay, Junge. Bessere Leute als du haben versucht, mit ihm fertig zu werden, und sie sind tot und begraben, während dieser Mistkerl Finlay weiterhin ohne Kratzer dasteht. Es gibt keinen Gott.«

Robert drehte sich um und lächelte Adrienne Feldglöck an.

»Warum hast du ihn dann geheiratet?«

»Es war eine arrangierte Heirat, wie du sehr gut weißt. Mein Vater hat sie vereinbart. Er hat mich nie gemocht. Ich würde mich auf der Stelle von Finlay scheiden lassen, wären da nicht die Kinder. Du könntest doch nicht einen netten, stillen Mordanschlag für mich planen, oder, Liebster? Er würde so viele Probleme lösen.«

»Führe mich nicht in Versuchung«, sagte Robert. »Außerdem – wen sollten wir auf ihn ansetzen? Owen Todtsteltzer? Kid Death?«

»Führe mich nicht in Versuchung«, antwortete Adrienne.

»Nein, soll er weiterleben. Und sei es nur, weil sein Tod Evangeline so zu schaffen machen würde. Ich habe Evangeline sehr gern, abgesehen von ihrem grauenhaften Geschmack, was Männer angeht…«

Sie lächelten einander an. Adrienne Feldglöck hatte ein spitzes Gesicht, das von wilder Entschlossenheit kündete, unter einem Mop lockiger goldener Haare, die das einzig Engelhafte an ihr waren. Bei aller Welt galt sie als die grimmigste und gefährlichste Intrigantin der aktuellen politischen Landschaft und hatte entsprechend wenig echte Freunde und so viele Feinde, daß jeder, der sich ihnen anschließen wollte, auf eine Warteliste kam. Adrienne arbeitete hart, war erschreckend intelligent und verflucht viel ehrlicher, als gut für sie war; und obwohl niemand sie in eine offizielle Position gewählt hatte, repräsentierte sie eine Anzahl sehr einflußreicher Interessengruppen. Man konnte sich darauf verlassen, daß sie zu absolut jedem Thema eine präzise Meinung hatte.

»Und wie kommst du als Kapitän klar?« fragte sie.

»Ich gewöhne mich langsam, daran. Dabei hilft, daß die Besatzung mit meinen bisherigen Leistungen vertraut ist; sie weiß, daß ich meine Stellung eigenen Fähigkeiten und nicht plötzlichem Ruhm verdanke. Es ist ein großer Sprung vom Navigationsoffizier zum Kapitän, aber ich nehme dabei ja niemandem den Platz weg. Der Flotte mangelt es verzweifelt an erfahrenen Offizieren. Wenn es nur einen ähnlichen Mangel an Feinden gäbe…«

»Fang jetzt nicht damit an!« verlangte Adrienne. »Ich höre das täglich im Parlament. Zur Zeit haben wir weder das Geld noch die Ressourcen, um die Flotte auf den Stand auszubauen, den sie früher hatte. Die Fabriken arbeiten rund um die Uhr, nur um die Schiffe herzustellen, die wir brauchen, um unsere Planeten zu versorgen, und Leute, die jetzt Hunger leiden, müssen Vorrang vor möglichen Gefahren in der Zukunft genießen. Die Rebellion war lange überfällig, aber manchmal drängt sich mir die Frage auf, ob wir keinen günstigeren Zeitpunkt hätten wählen können.«

»Sie war die Geburt einer neuen Ordnung«, sagte Robert.

»Und eine Geburt ist stets schmerzhaft.«

Adrienne schniefte. »Zitiere mir gegenüber nicht die Propaganda, mein Junge. Ich habe sie zum größten Teil selbst mitverfaßt. Oh, verdammt, sieh nur, wer da kommt! Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte!«

Robert drehte sich um und gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken, als er Finlay und Evangeline näher kommen sah.

Evangeline machte ein freundliches Gesicht, und Finlay tat ebenfalls sein Bestes. Robert spürte, wie Adrienne neben ihm kochte, und flüsterte ihr ins Ohr: »Nimm es gelassen. Es wird dich nicht umbringen, wenn du freundlich zu ihm bist.«

»Möchtest du wetten? Immerhin, ihr beide solltet euch unterhalten, Robert. Ich weiß, daß ihr euch nicht viel auseinander macht, aber ihr gehört beide zur Familie. Das bedeutet immer noch etwas, selbst in unserer verwirrten Zeit.«

»Er hat die Familie verlassen und sich den Rebellen angeschlossen, als der Clan ihn am meisten brauchte, so daß ich als der Feldglöck antreten mußte. Ein Privileg, mit dem ich nie gerechnet hatte und wofür ich keinerlei Erfahrung mitbrachte.«

»Er hatte keine Wahl. Er mußte seinem Herzen und damit Evangeline folgen.« Plötzlich schnaubte Adrienne. »Ich kann nicht glauben, daß ich ihn tatsächlich verteidige! Auch wenn er mir einmal das Leben gerettet hat. Sieh mal, er wollte nie der Feldglöck sein. Er wußte, daß er damit nur Schaden anrichten würde. Du bist der Aufgabe viel mehr gewachsen. Du hast die Familie am Leben gehalten, in einer Situation, in der sie unter Finlay aus allen Rohren feuernd untergegangen wäre. Nimm hin, was geschehen ist, und geh weiter deinen Weg. Versuche, ein paar Brücken wieder zu reparieren. Heutzutage brauchen wir alle Freunde, die wir nur finden können.«

Die vier begegneten sich auf einer kleinen Freifläche, die sich wie von selbst um sie herum bildete. Alle in der Nähe erkannten einen möglichen Siedepunkt, wenn sie ihn erblickten.

Und sei es nur, um keine Blutspritzer auf ihre besten Sachen zu bekommen. Evangeline und Adrienne begrüßten sich herzlich.

Adrienne hatte Finlay seine Geliebten nie verübelt, solange er beharrlich über ihre eigenen vielen Affären hinwegsah. Die beiden Frauen hatten in der Untergrundbewegung enge Freundschaft geschlossen und hinter Finlays Rücken Skandalgeschichten über ihn ausgetauscht. Finlay und Robert nickten sich mit ausdruckslosen Gesichtern formell zu. Dann streckte Finlay plötzlich die Hand aus, und Robert ergriff sie nach einem Augenblick der Überraschung. Beide entspannten sich etwas.

»Meinen Glückwunsch zu deinem neuen Kommando«, sagte Finlay. »Der erste Feldglöck seit dreihundert Jahren, der es zum Kapitän gebracht hat.«

»Ich werde mein Bestes tun, um der Familie Ehre zu machen«, sagte Robert. »Du siehst… sehr gut aus, Finlay.«

Finlay zuckte die Achseln. »Wenn man mit den ganz Großen Umgang pflegt, muß man sich entsprechend kleiden. Es ist eine ganze Weile her, seit ich meine Schlachten noch mit scharfen Worten und bissigen Bonmots geschlagen habe statt mit kaltem Stahl, aber ich denke, ich finde mich wieder hinein. Wir haben uns… einander zu sehr entfremdet, Robert. Freunde und Bundesgenossen kommen und gehen, aber die Familie ist ewig.«

»Du warst es, der nie viel Zeit für die Familie hatte.«

»Ich versuche, das zu ändern.«

Robert erwiderte Finlays festen Blick und nickte leicht. »Du warst es, der auf Distanz blieb. Und ich war zu sehr damit beschäftigt, die Familie zusammenzuhalten und im Militär zu dienen, um dich ausfindig zu machen.«

»Ich weiß. Ich bin dir dankbar für das, was du getan hast.

Wir haben während der Rebellion auf verschiedenen Seiten gestanden, aber das ist alles vorüber. Wir müssen zusammenstehen, oder unsere Feinde überwältigen uns.«

Robert zog eine Braue hoch. »Und welche Feinde genau haben wir womöglich gemeinsam?«

»Vielleicht Leute wie den Schwarzen Block. Leute, die die Uhr zurückdrehen möchten. Du hast keinen Grund, die alte Ordnung zu lieben. Du hast mehr unter ihr gelitten als die meisten. Der Schwarze Block stand daneben und blieb untätig, als die Wolfs unsere Familie abgeschlachtet haben.«

»Und meine Letitia mußte an dem Tag sterben, der unser Hochzeitstag werden sollte. Ermordet vom Shreck im Namen der Familienehre. Während du danebenstandest und nichts tatest.«

»Das war falsch von mir«, räumte Finlay ein. »Damals habe ich noch an die Familien geglaubt. An die Ehre, von der ich glaubte, sie hielte uns zusammen. Ich mußte erst auf die harte Tour lernen, daß ich darin irrte. Ich habe aber nicht in der Rebellion gekämpft und geblutet, um dann mitzuerleben, wie die Familien in neuer Maske wieder die Macht übernehmen. Ich werde tun, was nötig wird, um sie aufzuhalten. Kann ich dabei auf dich zählen? Das Parlament macht vielleicht nicht viel her, aber es ist unsere einzige Hoffnung.«

»Ich habe dich mir nie als Politiker vorgestellt«, sagte Robert.

Finlay zuckte die Achseln. »Die Politik ist das neue Schlachtfeld. Und ich mußte entweder eine neue Art zu kämpfen lernen oder vor Langeweile umkommen. Also, stehst du auf meiner Seite?«

»Ich denke darüber nach. Wir unterhalten uns später wieder und sehen mal, ob wir wirklich so viel gemeinsam haben, wie du denkst. Falls ja… Dann denke ich, werde ich stolz darauf sein, den legendären Streiter Finlay Feldglöck an meiner Seite zu wissen.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Finlay und lächelte zum ersten Mal. Sie schüttelten einander wieder die Hände.

»Gott helfe uns, als nächstes verbrüdern sie sich noch«, sagte Adrienne. »Betrinken sich in zweifelhaften Kneipen und erzählen einander diese Witze, die nur Männer komisch finden.«

»Ich finde das sehr süß«, sagte Evangeline entschieden.

»Hallo, Adrienne«, sagte Finlay und demonstrierte sein höflichstes Gesicht und seinen höflichsten Tonfall. »Du siehst… ganz so aus wie immer.«

»Ich vermute, das dürfte so ziemlich das größte Kompliment sein, das von dir zu erwarten ist«, sagte Adrienne. »Wie ich sehe, hast du immer noch denselben Schneider. Habe ich nicht erzählen gehört, er hätte inzwischen einen neuen Blindenhund?«

»Du bist dermaßen schneidend, daß du dir irgendwann mal selbst eine Schnittwunde zufügst. Du und Evangeline, ihr habt einen schönen Klatsch, nicht wahr?«

»Ich habe gehört, du würdest versuchen, in der großen Politik Fuß zu fassen, Finlay. Ein guter Rat: Tu es nicht. Ich zweifle nicht daran, daß du es gut meinst, aber das letzte, was wir brauchen, ist noch ein enthusiastischer Amateur, der alle auf die Palme bringt und alles noch verworrener macht. Besonders jemand mit deinem Naturell. Du kannst deine Widersacher nicht einfach umbringen, nur weil du im Begriff stehst, die Debatte zu verlieren. Heutzutage gibt es Gesetze gegen dergleichen Verhalten. Obwohl es die Haushaltsdebatten etwas aufregender gestalten würde, wie man zugeben muß… Sieh mal, Finlay, ich kenne dich, auch wenn ich mir oft wünschte, ich täte es nicht. Du hast ein zu weiches Herz für die Politik.

Sie würde dir zuviel bedeuten. Du könntest es nicht ertragen, einen Streit verloren zu geben und dann in einem späteren zu punkten. Du übernimmst dich, wenn du dich auf dieses Glatteis wagst, und ich werde nicht in der Lage sein, dich zu retten.

Auch niemand sonst wird es können, ungeachtet all deiner Heldentaten während der Rebellion. Helden bekommt man heute im Dutzend billiger.«

»Du klingst wieder ganz nach dir«, meinte Finlay. »Irgendwann mal sagst du noch etwas Nettes zu mir, und ich falle vielleicht vor Schreck in Ohnmacht. Ich habe alles überlebt, was das Imperium gegen mich ins Feld schickte, und auch das Grauen von Hakeldamach. Ich denke, mit ein paar Politikern werde ich schon fertig. Mach dir keine Sorgen; falls ich jemanden umbringen muß, achte ich darauf, es zu tun, wenn gerade niemand hinsieht.«

»Das Problem ist: Er meint das ernst«, sagte Adrienne. »Das ist seine Vorstellung davon, diplomatisch aufzutreten.«

»Inzwischen«, sagte Finlay, »möchte ich unsere Kinder sehen.«

Alle sahen ihn überrascht an, einschließlich Evangeline.

Adrienne schüttelte langsam den Kopf. »Finlay, du hast die Kinder noch nie sehen wollen. Noch nicht mal, als sie gerade auf die Welt gekommen waren. Ich muß dich immer daran erinnern, ihnen Geburtstagsgeschenke zu schicken. Dein Gesicht kennen sie nur von Holoschirmen. Und wo warst du, als Gregor Shreck damit drohte, sie umzubringen, nur um dich zu fassen? Nenn mir nur einen guten Grund, warum ich dulden sollte, daß du in ihre Nähe kommst!«

»Ich spüre… in letzter Zeit, daß ich sterblich bin«, antwortete Finlay. »Wenn ich tot bin, bleiben von mir nur die Reputation und die Kinder. Ich sehe mir an, wie die Nachrichtenleute und die Dokudramas meine Vergangenheit darstellen, und ich erkenne mich darin nicht wieder. Damit bleiben nur die Kinder, und ich hätte gern, daß sie wenigstens eine Vorstellung davon bekommen, wer ich wirklich war. Ich weiß, daß ich… Fragwürdiges getan habe, aber immer glaubte ich, einen guten Grund dafür zu haben. Früher habe ich zwei Leben zugleich geführt, und ich habe mir weiszumachen versucht, daß in keinem davon Platz für Kinder wäre. Sie wären nur zu Schaden gekommen. Bei dir waren sie sicherer. Außerdem wußte ich nicht, was ich mit Kindern anfangen sollte. Ich weiß es immer noch nicht recht. Aber ich… würde jetzt gern mal versuchen, mit ihnen Bekanntschaft zu schließen. Falls sie mich sehen möchten…«

Adrienne zeigte sich für einen Augenblick erstaunt. In all ihren Ehejahren hatte sie nie zuvor gehört, wie Finlay sich dermaßen öffnete. »Ich frage sie«, sagte sie endlich. »Aber es liegt an ihnen. Ich äußere mich selbst nicht, weder in der einen noch der anderen Hinsicht.«

»Mehr verlange ich nicht«, sagte Finlay.

Die vier unterhielten sich noch ein wenig länger, aber sie hatten im Grunde nicht genügend Gemeinsamkeiten für lockere Konversation, und die geschäftlichen Fragen waren schon abgehandelt. Schließlich entschuldigten sich Adrienne und Robert und verschwanden in der Menge, und Finlay und Evangeline blieben allein zurück.

»Wir haben noch nie über… Kinder gesprochen«, sagte Evangeline leise. »Wenn man bedenkt, was wir während der Rebellion für ein Leben führten, war es einfach nicht möglich.

Immer wieder haben wir uns in die Gefahr eines plötzlichen Todes gestürzt. Und später… hast du das Thema nie zur Sprache gebracht.«

»Ich denke in jüngster Zeit über vieles nach, was ich nie zuvor getan habe«, stellte Finlay fest. »Ich wollte nie Kinder von Adrienne haben, aber mein Vater verlangte es im Interesse der Familie. Heute sieht es anders aus.«

»Ich konnte mich nicht überwinden, das Thema anzusprechen«, sagte Evangeline, ohne ihn anzusehen. »Ich hatte immer Angst, du würdest nicht davon sprechen, weil ich nur ein Klon bin. Du bist Aristokrat, ich dagegen nicht. Nicht wirklich.

Manche würden sogar sagen, ich wäre kein richtiger Mensch.

Und selbst in unserer wunderbaren neuen Ordnung wäre eine Eheschließung zwischen Aristokrat und Klon ein Skandal, Kinder daraus eine Geschmacklosigkeit. Falls irgend jemand davon erführe…«

»Du bist menschlicher als die meisten Leute, mit denen ich zu tun habe«, erklärte Finlay. »Du bist Hunderte von ihnen wert! Tausende.« Sie sank in seine Arme und drückte das Gesicht an seine Schulter, damit er ihre Tränen nicht sah. Er wußte jedoch, daß sie da waren, redete allerdings weiter, als ahnte er nichts davon, und bemühte sich um einen gleichmäßigen Ton. »Ich kann dich nicht heiraten, Evangeline. Nicht weil du ein Klon bist, sondern weil eine Scheidung von Adrienne mich Persönlichkeiten entfremden würde, mit denen ich gezwungen bin, engen Umgang zu pflegen. In unseren Kreisen wird Politik nach wie vor weitgehend von alten Familienbindungen bestimmt, und meine Stellung ist auch so schon prekär genug.

Aber du bist meine Liebe, mein Leben – die einzige Frau, aus der ich mir je etwas gemacht habe. Natürlich können wir Kinder haben, wenn du möchtest. Die Leute werden Zugeständnisse machen. Das haben sie immer.«

Evangeline drückte ihn so fest, daß sie glaubte, sie täte ihm weh, aber er sagte keinen Ton. Als sie überzeugt war, daß ihre Tränen getrocknet waren, ließ sie ihn los und wich zurück. Und dann tauchte jemand auf und holte Finlay zu wichtigen Geschäften ab, und Evangeline blieb allein zurück. Sie blickte ihm hinterher, ein tapferes, leises Lächeln im Gesicht, aber dahinter stürzten ihre Gedanken wild durcheinander. Ehe sie auch nur davon träumen konnte, mit Finlay eine Familie zu gründen, mußte sie vieles in ihrem Leben in Ordnung bringen –

überwiegend Dinge, von denen Finlay nichts wußte und nie etwas erfahren durfte.

Finlay wußte, daß Evangeline aus einem toten Original geklont worden war, aber den Grund kannte er nicht. Gregor Shreck hatte seine Evangeline mehr wie ein Mann als wie ein Vater geliebt und sie schließlich in einem Wutanfall ermordet, als sie zu fliehen versuchte. Um das Verbrechen zu vertuschen und seine Tochter wieder ins Bett zu bekommen, ließ er sie unter strengster Geheimhaltung klonen, und dieser Klon war die Evangeline, die Finlay kennen und lieben lernte. Er rettete sie vor ihrem Vater und half ihr dabei, ein eigenes Leben aufzubauen. Er erfuhr jedoch nie, wovor genau er sie gerettet hatte, und Evangeline brachte es nie über sich, ihm alles zu erklären. Falls er es je herausfand, würde er Gregor ermorden und einen Dreck auf die Folgen geben. Das konnte Evangeline nicht hinnehmen. Zwar wollte sie Gregor tot sehen, wünschte es sich aus tiefster Herzensverzweiflung, aber Finlay durfte nie davon erfahren. Es täte ihm zu weh. Und vielleicht fürchtete sie in einem versteckten Winkel, seine Gefühle ihr gegenüber könnten sich ändern, wenn er die Wahrheit erfuhr.

Außerdem war Gregor Shreck ein mächtiger und gefährlicher Mann, auch wenn er in letzter Zeit viel Ansehen verloren hatte.

Er umgab sich mit einer Armee privater Wachleute, und nicht mal Finlay Feldglöck konnte es allein mit einer ganzen Armee aufnehmen.

Evangeline brachte es einfach nicht über sich, das Risiko einzugehen, daß sie ihn verlor. Nicht, nachdem sie soviel durchgemacht hatten, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt waren.

Geheimnisse! So viele Geheimnisse zwischen zwei Menschen!

Und es gab noch mehr. Ehe sich Gregor hinter seine Privatarmee und genügend Einfluß auf korrupte Instanzen zurückzog, um selbst das Parlament auf Distanz zu halten, hatte er mit Evangeline Kontakt aufgenommen und sie informiert, daß er ihre beste Freundin, Penny DeCarlo, gefangengenommen hatte.

Und daß die liebe Penny unter scheußlichen Schmerzen sterben würde, falls Evangeline nicht zu ihm zurückkehrte. Auch davon wußte Finlay nichts. Sie hatte es ihm nicht erzählt. Denn auch in diesem Fall wäre er als ihr Held losgestürzt und hätte sich um Kopf und Kragen gebracht. Bislang hielt Evangeline Gregor mit diversen Listen hin, die ihr aber jetzt allmählich ausgingen. Bald mußte sie einen Weg finden, Penny ohne Finlay zu retten, oder sich wieder in Gregors Hand geben und hoffen, eine Art Abkommen zu treffen. Jeder Weg brachte Gefahren mit sich, aber ihre Zeit in der Rebellion hatte Evangeline abgehärtet. Sie war nicht mehr das schwache, hilflose Opfer, an das sich Gregor erinnerte. Und vielleicht war das die Waffe, die sie gegen ihn einsetzen konnte.

Nicht weit entfernt war noch jemand, der Finlay Feldglöck im Auge behielt. Der Esper Julian Skye war sein bester Freund und Schüler, seit der Feldglöck ihn aus den Folterkerkern der imperialen Verhörspezialisten gerettet hatte. Julian war immer noch von den Narben der Dinge gezeichnet, geistigen wie körperlichen, die man ihm angetan hatte, aber er schuldete Finlay sein Leben und hatte es dem Dienst am Feldglöck gewidmet.

Der Feldglöck selbst erhielt dabei kein Mitspracherecht. Nur hatte Finlay jetzt ein neues Leben in der Politik begonnen und brauchte keinen Kämpfer mehr, an seiner Seite. Und Julian verstand nichts von Politik und machte sich noch weniger daraus.

Zur Zeit spielte er sich selbst in Dokudramas über seine Mitwirkung an der Rebellion. Zwar hatte er sich nie für einen Schauspieler gehalten, aber dem Publikum hatte es wirklich gefallen, sich ihn in den Reportagen anzusehen, die Toby und Flynn gefilmt hatten, und anscheinend reichte dergleichen schon, um jemanden zum Star zu machen, wenn schon nicht zum Schauspieler. Er würde sicher nie zu einer großen Attraktion werden, aber er hatte sein Publikum und seine treuen Anhänger und verdiente dabei mehr als genug Geld für seine wenigen Laster. Dabei half, daß das, was er den Drehbuchautoren diktierte, fast durchgängig erfunden war. Die Öffentlichkeit wollte eine Legende, keine Fakten, und nach wie vor konnte er über vieles aus seiner Vergangenheit bislang einfach nicht reden. Ganz eindeutig gehörte dazu die Frau, die in diesem Augenblick nicht weit von ihm stand, diese zierliche, dunkelhaarige orientalische Schönheit SB Chojiro.

Früher hatte er sie geliebt. Und war von ihr an die imperialen Folterknechte verraten worden. Weil er Rebell war und das SB in ihrem Namen für den Schwarzen Block stand, den geheimen inneren Kreis junger Aristos, die darauf konditioniert waren, den Familien bis in den Tod und darüber hinaus die Treue zu halten. Sie liebte ihn immer noch, mußte aber ihrer Konditionierung folgen. Das hatte sie in der Zelle der Folterknechte zu ihm gesagt.

Heute schwang der Schwarze Block aus eigenem Interesse das Zepter über die Familien. Und SB Chojiro war das nette öffentliche Gesicht dieses inneren Kreises. Wie üblich war sie im Parlament erschienen, um sich still im Hintergrund zu halten und allem zu lauschen. Alle wußten, daß sie, wenn sie sprach, dies als Stimme des Schwarzen Blocks tat, und alle hörten zu. Vorausgesetzt, sie wußten, was gut für sie war.

Heute hatte sich Julian zum ersten Mal in die große Halle gewagt. Und SB Chojiro so nahe zu sein… Ein Teil von ihm wünschte sich nach wie vor sehnlichst, sie für das zu töten, was sie ihm angetan hatte und was ihm ihretwegen angetan worden war. Für den Verrat an allem, was seiner Überzeugung nach zwischen ihnen gewesen war. Und ein Teil von ihm fragte sich, ob er selbst heute noch alles vergessen und vergeben würde, falls sie ihn nur wieder in die Arme nahm und ihn küßte und ihn wieder liebte.

Und so blieb er ängstlich auf Distanz. Aber jetzt stand er hier, gerade drei Meter von ihr entfernt, und wollte verdammt sein, wenn er den Grund dafür wußte. Vielleicht war es nur eine unerledigte Aufgabe. Wie auch immer, er hatte das Parlament aufgesucht, um sie zu sehen und womöglich mit ihr zu reden. Und falls er sie nicht umbrachte, lernte er vielleicht, wie er von ihr frei werden konnte. Falls es das war, was er sich wirklich wünschte. Julian mußte lächeln. Er war dermaßen durcheinander im Kopf, soweit es SB Chojiro anbetraf, daß die Alternativen lauteten, entweder zu lachen oder durchzudrehen.

Sie stand gelassen zwischen ihren Ratgebern, lächelte und lauschte und sagte wenig. Ein winziges Püppchen von einer Frau mit hellrotem Kimono, der exakt die gleiche Schattierung aufwies wie ihre Lippen. Dunkle, glatte, schulterlange Haare.

Große, dunkle, glänzende Augen. Die schönste Frau, die Julian je gesehen hatte. Er verlangte danach, sie wieder in die Arme zu nehmen – ein körperliches Bedürfnis wie Hunger oder eine Sucht. Ihre Lippen auf seinen zu spüren, ihren warmen Atem in seinem Mund… Und dann tötete er sie vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Er wußte es nicht. Er hatte sich noch nicht entschieden.

Neben SB Chojiro stand, unbemerkt von dem besessenen Julian, Stephanie Wolf, Valentins Schwester und Konstanzes Stieftochter – groß, blond, jungenhaft schmal, randvoll von mühsam unterdrücktem Groll. Als ihr verstorbener Vater Jakob noch der Wolf gewesen war, hatte der Clan zu den mächtigsten des Imperiums gehört. Dann starb Jakob und übernahm Valentin die Familie, und alles ging zum Teufel. Jetzt war Valentin auf der Flucht, hatten die abtrünnigen KIs von Shub Jakobs Leiche in einen Geistkrieger verwandelt und hatte sich ihr geliebter Bruder Daniel auf die Suche nach ihm gemacht. Womit nur Konstanze und Stephanie zurückblieben, um den Clan Wolf in den höchsten Kreisen zu vertreten.

»Ich sollte die Wolf sein«, sagte Stephanie nicht zum ersten Mal.

»Natürlich solltet Ihr das«, sagte SB Chojiro und schenkte ihr ein Lächeln, das überhaupt nichts ausdrückte. »Und werdet Ihr auch sein. Der Schwarze Block hat es Euch versprochen.«

»Ihr redet und redet, aber nichts ändert sich.« Stephanie schnitt ein finsteres Gesicht. »Konstanze kann nicht die Wolf sein. Sie hat kein Recht dazu. Ich bin von Jakobs Blut. Sie hat ihn nur geheiratet.«

»Habe ich in letzter Zeit schon erwähnt, wie besessen Ihr von diesem Thema seid, Stephanie? Das ist nur einer der Gründe, warum so viele Angehörige Eurer Klasse zur Zeit Konstanze als Clanoberhaupt vorziehen. Sie betrachten sie als… zugänglicher. Wir beide begegnen uns so selten, wie ich irgend einrichten kann, und trotzdem kenne ich Euren Refrain so gut, daß ich ihn praktisch mitsingen könnte. Wechseln wir doch bitte das Thema, ehe mir die Ohren bluten. Schon irgendein Zeichen von Daniel?«

»Nein.« Stephanies Miene verdunkelte sich weiter, als ehrliche Besorgnis ihren Mund von einer mürrischen Schnute in eine flache, gepreßte Linie verwandelte. Daniel war der einzige andere Mensch, auf den sie überhaupt etwas gab. »Zuletzt wurde er gesehen, wie er in den Verbotenen Sektor flog. Anscheinend weiß niemand, wie er an den Quarantäneschiffen vorbeigekommen ist. Das einzige Ziel, das jetzt noch vor ihm liegt, ist Shub. Armer verdammter Idiot.«

»Ja. Wünschen wir ihm den Trost eines schnellen Todes.«

»Nein! Er ist keine Gefahr für Shub. Sie werden es dort erkennen und ihn zurückschicken. Was nützte es ihnen, jemandem weh zu tun, der so harmlos ist?«

Sie tun uns weh, weil sie es können, dachte SB. W eil s ie künstliche Wesen aus lebendem Metall sind und nur Haß auf alles empfinden, was aus Fleisch ist. »Ja«, sagte sie laut. »Hoffen wir auf ein Wunder. Hoffen kostet nichts.«

Stephanie schniefte. »Was auch passiert, Daniel wird überleben. Schließlich ist er ein Wolf. Aber falls der Clan überleben soll, muß ich ihn führen. Eurem Vorschlag folgend habe ich mich in den unteren Kreisen der Familie umgeschaut und Unterstützung mobilisiert. Viele sind unzufrieden mit einer Außenseiterin als Clanoberhaupt. Sie würden mich unterstützen, wenn ich es zum Wohle der Familie für nötig hielte… bestimmte Schritte zu unternehmen.«

Zum ersten Mal wandte sich SB direkt Stephanie zu und bannte sie mit festem Blick. »Wie ich schon einmal gesagt habe, werdet Ihr Konstanze nicht töten oder töten lassen, wenn dadurch irgendeine Spur zurückbleibt, die auf Euch weist. Das Abkommen, das wir mit Ohnesorg getroffen haben, untersagt solche Maßnahmen.«

»Uns bleibt vielleicht keine andere Wahl«, entgegnete Stephanie hartnäckig. »Ihr habt gesehen, wie Konstanze mit Owen gesprochen hat. Ihr wißt so gut wie ich, worüber sie diskutiert haben. Eine Eheschließung zwischen ihr und dem Todtsteltzer brächte das ganze Haus Wolf unter ihre gemeinsame Kontrolle.

Der Clan Todtsteltzer könnte den Clan Wolf womöglich gar schlucken, und unser Name wäre für immer dahin! Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen gegen Konstanze losschlagen, solange wir noch können. Wenn erst Owen über sie wacht, kommen wir nie mehr an sie heran.«

»Wie immer denkt Ihr zu kleinkariert, Stephanie. Wenn diese Ehe erst geschlossen ist, dürfte es nicht allzu schwierig sein, Owen zu steuern, indem wir Drohungen gegen Konstanze aussprechen. Vielleicht liebt er sie nicht, aber als ihr Gatte wäre er gezwungen, sie zu schützen oder vor der Gesellschaft weitgehend das Gesicht zu verlieren. Owen ist Realist genug, um die Verhältnisse zu begreifen. Er wird die Herrschaft über den Clan Wolf an Euch abtreten, und dann haben wir sowohl den Clan Wolf als auch den Clan Todtsteltzer in der Hand.«

»Wartet mal eine Minute!« sagte Stephanie. »Was meint Ihr damit, den Clan Todtsteltzer in die Hand zu bekommen? Nur Owen gehört dazu. Er ist der letzte Todtsteltzer.«

»Ihr müßt wirklich lernen, an die Zukunft zu denken, Stephanie. Falls er heiratet, wird es schließlich Kinder geben. Im Schwarzen Block denken wir immer langfristig.«

»Ich hasse es, wenn Ihr mir Vorlesungen haltet!« raunzte Stephanie. »Ich bin kein Kind mehr! Ich bin nicht dumm, aber mir liegt eben nur daran, die Familie wieder groß zu machen.

Euch hat man jedoch den Stolz auf die eigene Familie ausgetrieben, als Ihr dem Schwarzen Block übergeben wurdet. Verdammt, man hat Euch sogar den Namen genommen!«

SB Chojiro lächelte sanft. »Ich habe wenig verloren und viel gewonnen. Der Schwarze Block ist die Summe aller Familien.

Es erfüllt mich mit Stolz, dazuzugehören.«

»Nun, das liegt nur daran, daß Ihr ein durch und durch konditionierter Zombie seid, der einen eigenen Gedanken nicht mal erkennen würde, wenn er darüber stolperte. Was haben sich die Familien nur dabei gedacht, als sie den Schwarzen Block gründeten? Er sollte unsere ultimative Waffe sein, uns die Macht über den Thron einbringen. Und jetzt verneigen wir uns alle vor Euch. Wir haben uns selbst in Ketten gelegt.«

»Ruhig!« sagte SB Chojiro. »Seid jetzt bitte ruhig, oder ich ziehe Eure Leine an. Ein alter Freund nähert sich. Vielleicht hat er gute Nachrichten für uns.«

Kardinal Brendan hatte einmal einem Kommandotrupp der Jesuiten angehört, der im Dienst der Kirche von Christus dem Krieger stand. Er hatte die Ketzer und die Gottlosen umgebracht und überhaupt jeden, der es wagte, die Stärke oder die Stellung der Kirche zu gefährden. Sie war die Staatsreligion des Imperiums gewesen und eng mit Imperatorin Löwenstein verknüpft. Als dann der Eiserne Thron schließlich stürzte, widerfuhr der Kirche das gleiche. Aus der Asche der gefallenen Kirche entstand die kleinere, aber mehr respektierte Kirche von Christus dem Erlöser, eine gewaltlose, der Wohltätigkeit gewidmete Kirche, die von der Obersten Mutter Beatrice Cristiana geführt wurde, der Heiligen von Technos III. Ihre erste Amtshandlung hatte darin bestanden, die krassesten Sünder der alten Kirche und ihre übelsten Elemente hinauszuwerfen – wobei sie jedoch Brendan übersah. Er gehörte zum Schwarzen Block, und dieser kümmerte sich um die seinen. Jetzt war er Kardinal Brendan, der Vertreter der Kirche auf Golgatha und der wichtigste Agent des Schwarzen Blocks in der neuen Kirche.

Leibhaftig wirkte er nicht gerade unvergeßlich: Groß, dunkel, mit sardonischem Lächeln und Augenbrauen, die stets im Begriff schienen, sich zu wölben. Er kleidete sich schlicht, aber gut, und da er darauf achtete, allen Gesprächspartnern die gleiche Aufmerksamkeit und Gunst zu schenken, fiel niemandem auf, daß er zuzeiten ganz offen mit der berüchtigten SB Chojiro sprach. Er verbeugte sich tief vor ihr und nicht ganz so tief vor Stephanie Wolf.

»Ein gutes Arrangement, meine Damen. Wem verdanke ich das Vergnügen dieser Einladung? Das Parlament kommt normalerweise ganz gut ohne meine illustre Gegenwart aus.«

SB gab ihren Ratgebern mit einem Wink zu verstehen, daß sie ein wenig auf Distanz gehen sollten. Sie verneigten sich und folgten widerspruchslos ihrem Geheiß, bis sie gerade eben außer Hörweite waren. Sie wußten, daß Intrigen über Intrigen liefen, in die selbst sie nicht immer eingeweiht wurden. SB lächelte Kardinal Brendan an.

»Ihr seid zugegen, weil Owen und seine Freunde alle hier sind. Die Überlebenden des Labyrinths. Falls der Schwarze Block überleben und gedeihen soll, müssen sie entweder in den Schoß der Gemeinde zurückkehren oder eliminiert werden.

Und da wir Eure Meinung schätzen, wurdet Ihr gerufen, um diese vier Personen als mögliche künftige Freunde oder Feinde einzuschätzen. Wen kann man umdrehen oder unter Druck setzen, überreden oder bestechen?«

»Und falls sie wirklich die sind, für die man sie hält, und sie kein Interesse zeigen, sich uns anzuschließen?« fragte Brendan.

»Dann benötigen wir Euren höchst kundigen Rat dazu, wie man sie am besten umbringt oder anderweitig beseitigt«, antwortete SB ruhig.

»Ihr verlangt nicht gerade viel, wie?« fragte Brendan. »Nicht einmal Löwenstein mit all ihren Leuten und Ressourcen ist mit diesen vieren fertig geworden, und Ihr denkt, wir könnten es?«

»Alles ist möglich, wenn man genug Zeit hat und ausreichend plant«, behauptete SB Chojiro. »Diese Leute denken nach wie vor in Begriffen der offenen Kriegsführung und zusammenprallender Armeen. An Disruptor und Schwert und die einfachen Freuden des Metzelns. In subtileren Formen des Konflikts haben sie bislang keine Erfahrung. Und schließlich sind sie inzwischen… viel besser erreichbar als früher.«

»Sie haben den Krieg gegen die Familien gewonnen«, stellte Stephanie fest. »Ihr habt verloren. Erinnert Ihr Euch?«

»Wir haben eine Schlacht verloren«, entgegnete SB. »Der Krieg geht auf anderen Feldern weiter.«

»Trotzdem solltet Ihr lieber auf Euer Fell achtgeben, Kardinal«, riet ihm Stephanie. »Solltet Ihr gar zu offen die Partei des Schwarzen Blocks ergreifen oder einen unserer großen Rebellenhelden verärgern, wirft Euch die Heilige Bea ruckzuck aus der Kirche, genau wie all die anderen.«

»Unserem höchst loyalen Kardinal wird nichts widerfahren«, sagte SB. »Man wird Meldungen falsch ablegen, Dokumente verlieren, die falschen Gerüchte hören. Mutter Beatrice bekommt nur zu hören, was wir möchten.«

»Ihr wärt nicht der erste, der Sankt Bea unterschätzt«, sagte Stephanie. »Und die meisten davon sind tot oder wünschen, sie wären es.«

»Sie kann nicht ewig leben«, meinte Brendan. »Und sollte sie eines plötzlichen und unerwarteten Todes sterben, würde die neue Kirche in völligem Chaos versinken. Genau die Art Situation, von der der Schwarze Block schon immer am meisten profitiert hat. Und die Reste der alten Ordnung, die Bruderschaft des Stahls, ist immer noch da – wenn auch versteckt –, und wartet nur auf eine Gelegenheit, die Kirche wieder zu übernehmen. Ihr wärt überrascht zu erfahren, wie viele von denen, die heute Macht und Einfluß genießen, sich insgeheim der Bruderschaft beugen.«

»Und der Schwarze Block steuert die Bruderschaft des Stahls«, stellte SB Chojiro fest. »Sankt Bea sonnt sich vielleicht derzeit in öffentlicher Zuneigung, aber die Öffentlichkeit ist von der wankelmütigen Sorte. Sie kann es sich jeden Augenblick anders überlegen. Oder hinnehmen, was über ihren Kopf hinweg entschieden wird.«

»Und dann leitet der Schwarze Block sowohl die Kirche als auch das Parlament«, sagte Brendan.

»Das Parlament gehört Euch noch nicht«, entgegnete Stephanie. »Es zeigt sogar betrübliche erste Anzeichen eines eigenen Willens.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit«, sagte SB ruhig. »Wieso sucht Ihr beide Euch jetzt nicht ein möglichst unbedenkliches Gesprächsthema, während ich mich um einige persönliche Geschäfte kümmere?«

Sie bewegte sich anmutig durch die Menge, bis sie vor Julian Skye stand. Er sah sie kommen und traf zunächst Anstalten, sich zu entfernen, aber letztlich blieb er doch stehen und wartete auf sie. Sie blieb unmittelbar außer Armesreichweite stehen und blickte lächelnd zu ihm auf. Mit regloser Miene nickte er ihr kurz zu.

»Hallo Julian«, sagte sie mit ihrer süßesten Stimme. »Es ist lange her, seid ich dich zuletzt sah. Du siehst gut aus.«

Der letzte Satz war eine höfliche Lüge, und sie beide wußten es. Julian hatte sich nie richtig von den scheußlichen Verletzungen erholt, die er in den Verhörzellen erlitt.

Der verstorbene Giles Todtsteltzer hatte auf der Alptraumwelt Hakeldamach so etwas wie eine Wunderheilung bei ihm bewirkt, aber sie war nicht von Dauer. Julian Skye klammerte sich mit Hilfe grimmiger Entschlossenheit an die Reste seiner Gesundheit, und das sah man.

»Hallo SB«, antwortete er schließlich. »Du bist so schön wie immer. Hast du in letzter Zeit Verrat an jemandem verübt, der interessant sein könnte?«

SB schüttelte den Kopf. »Du hast es nie verstanden, aber ich konnte nicht anders. Sobald du mir sagtest, du wärst ein Rebell, übernahm meine Konditionierung. Ich konnte dich nicht einmal davor warnen, daß sie kamen. Ich habe danach geweint.«

»Ja«, sagte Julian. »Und in der Verhörzelle hast du mich zu überreden versucht, meine Freunde und Mitkämpfer zu verraten. Du hast mich als Abschaum bezeichnet, als den letzten Dreck. Und hast mich den Folterknechten überlassen. Und bei all meinen Schreien dachte ich immer an dich.«

»Ich mußte diese Worte sagen. Wir wurden belauscht.«

»Was möchtest du, SB?« fragte Julian rauh.

»Ich wollte sehen, ob wir noch miteinander reden können.

Der Schwarze Block ist mein Leben, aber nie hat etwas mein Herz so berührt, wie du es tatest. Ich möchte alles wieder so haben, wie es früher war.«

»Du mußt mich für verrückt halten! Ich weiß alles über den Schwarzen Block und über dich. Du hast mich einmal getäuscht, Schande über dich. Sollte es dir zum zweiten Mal gelingen, Schande über mich. Du bedeutest mir nichts mehr, SB.

Es hat weh getan, aber ich fühle mich so viel besser, seid ich dich nicht mehr im Herzen trage.«

»Nein, bitte nicht.« Sie streckte beide Hände nach ihm aus, aber er schrak zurück, wollte sie nicht berühren. Sie ließ die Hände sinken, und ihre Augen füllten sich mit unvergossenen Tränen. »O Julian! Meine Gefühle für dich waren echt, auch wenn ich ihnen nicht nachgeben konnte. Jetzt ist alles anders.

Ich habe mich verändert. Aufgrund meiner Stellung hat mir der Schwarze Block mehr Freiraum für persönliche Initiativen eingeräumt. Endlich steht es mir frei, meinem Herzen zu folgen!

Menschen können sich verändern; du mußt es einfach glauben!

Wir könnten wieder zusammen sein, und keine Geheimnisse stehen mehr zwischen uns.«

»Geheimnisse wird es immer geben, solange du den Schwarzen Block repräsentierst.« Julian schüttelte ruckhaft den Kopf und rang um einen gleichmäßigen Tonfall. »Verschwinde, SB.

Egal, was du hier für ein Spiel treibst, ich möchte daran nicht teilhaben. Was wir hatten, was wir zu haben glaubten, war nie mehr als ein Traum. Und ich bin erwacht. Ich habe lange gebraucht, um über dich hinwegzukommen, SB. Ich mache das nicht noch einmal durch. Nur… Geh jetzt bitte.«

»Das tue ich«, sagte SB. »Ich gehe und komme dir nie wieder unter die Augen, wenn du mir sagst, daß du mich nicht liebst.«

»SB…«

»Sag es, und ich gehe. Obwohl ich dich liebe. Weil ich eher sterben würde, als wieder zu sehen, wie du verletzt wirst. Sag nur… daß du mich nicht liebst.«

»Ich liebe dich nicht.«

»Lügner«, sagte SB Chojiro leise.

»O Gott, natürlich liebe ich dich, SB! Ich werde dich immer lieben.«

Sie hob die Hände, legte ihm die Fingerspitzen auf den Mund. »Du brauchst nichts weiter zu sagen, mein Liebling. Ich weiß, wie schwer dir das gefallen sein muß. Aber vertraue mir, es wird diesmal anders. Viele alte Einschränkungen gelten für mich nicht mehr. Immerhin, ich denke, wir haben zunächst genug geredet. Wir haben Zeit… alle Zeit, die wir brauchen.

Lebwohl, mein Liebster. Für den Augenblick.«

Und sie drehte sich um und ging fort, zurück zu Brendan und Stephanie und den Ratgebern. Julian blickte ihr nach und wußte nicht, was er sagen oder denken sollte. Sie hatte einen rundherum ehrlichen und aufrichtigen Eindruck gemacht, aber es bedeutete nichts, denn sie war vom Schwarzen Block. Alles, was er mit Sicherheit wußte, war, daß sein Herz wieder so klopfte wie früher, als er noch wußte, was Glück bedeutete, als seine Liebe noch etwas anderes gewesen war als eine Straße in die Verdammnis. Julian Skye blickte SB nach und verfluchte sich als Idiot, weil er noch immer glaubte, daß Dinge glücklich enden konnten.

Toby Shreck und sein Kameramann Flynn machten in der Halle die Runde und begrüßten alle Welt überschwenglich. Es schien, als suchte jeder Tobys Zuspruch, da er jetzt Chef der Imperialen Nachrichten war. Er führte spontane Interviews mit praktisch jedermann und hoffte dabei, daß er später im Bearbeitungsraum ein paar Goldkrümel aus den endlosen einstudierten Geräuschfetzen herauspicken konnte. Politiker wurden mit der Fähigkeit geboren, viel zu sagen und sich dabei auf möglichst wenig festzulegen, aber Toby brachte ausreichend Erfahrung mit und konnte sie dazu bringen, mehr zu bestätigen, als sie eigentlich wollten, und mehr zu sagen, als sie ahnten.

Bis sie es später in den Nachrichten sahen. Toby blieb viel länger, als er ursprünglich geplant hatte, einfach weil er soviel Spaß hatte. Das hier war echte journalistische Arbeit, die Nachrichten erbrachte. Alte Freunde und alte Feinde wurden mit dem gleichen freundlichen Lächeln bedacht, während er die Wahrheit aufstöberte, egal womit sie ihm dabei in die Quere kamen.

Endlich entschieden die Abgeordneten, daß sie soweit waren, warfen sich in ihre eindrucksvollsten Posen und gaben Befehl, die Tür zur Halle zu öffnen. Alle stürmten von dort in den Plenarsaal und trampelten dabei über die hinweg, die zu langsam liefen. Die beiden Sitzreihen beiderseits des offenen Parketts waren gedrängt voll mit Abgeordneten, die sich dabei fast gegenseitig auf dem Schoß saßen. Früher hatte an ein Wunder gegrenzt, wenn ein Viertel der Plätze zu Debatten besetzt war, aber heutzutage waren die Abgeordneten einfach zu erpicht darauf, daß man sie in den Nachrichten sah. Die meisten mußten an bevorstehende Wahlen mit dem neuen allgemeinen Wahlrecht denken und entsprechend auf den Eindruck achten, daß sie etwas taten.

Das Parkett füllte sich rasch mit Menschen, und die Luft schwirrte von Flugkameras, die sich gegenseitig wegzuschubsen versuchten, um jeweils selbst den besten Blickwinkel zu erhaschen. Die Abgeordneten saßen betont aufrecht und blickten auf alle Welt hinab. Ihre Werbeberater hatten sie vor den Risiken einer nachlässigen Körperhaltung gewarnt. Dergleichen machte auf dem Holoschirm einen schlechten Eindruck.

Die Abgeordneten hatten auch Forscher angeheuert, um alte Parlamentsbräuche auszugraben, die sie nutzen konnten. Dazu mußte man auf Zeiten zurückgreifen, als das Parlament noch etwas bedeutet hatte, aber bislang kapierten sie die meisten Verfahren noch nicht richtig. Zum Beispiel trugen die Abgeordneten heute durchweg stolz traditionelle schwarze und rote Gewänder und gepuderte weiße Perücken, aber bislang hatte niemand den Mut aufgebracht und ihnen erklärt, daß die Gewänder einerseits und die Perücken andererseits Traditionen waren, die Jahrhunderte auseinander lagen.

Die neueste Idee war, einen offiziellen Parlamentspräsidenten zu ernennen, jemanden, der sich keiner besonderen Partei oder Sache verpflichtet fühlte und demzufolge fähig war, völlig unparteilich für Ordnung zu sorgen. Prinzipiell eine gute Idee.

Leider hatte man Elias Gutmann für den Posten ausgewählt.

Angeblich, weil er zu unterschiedlichen Zeiten schon auf so vielen Seiten gestanden hatte, daß er wahrheitsgemäß behaupten konnte, jedermanns Interessen zu vertreten. Tatsächlich hatte man ihn gewählt, weil er die meisten Abgeordneten bestochen und die restlichen eingeschüchtert hatte, eine Praxis, die ihm schon immer sehr zustatten gekommen war.

Wie es hieß, hatte Elias Gutmann bei jeder schmutzigen Machenschaft im Imperium die Finger im Spiel, obwohl die Leute sorgfältig darauf achteten, wie laut sie das aussprachen. Die Familie Gutmann hatte Elias in seiner unfeinen Jugend von Golgatha verbannt und ihm regelmäßig Geld geschickt, solange er versprach, nicht nach Hause zurückzukehren – eine Vereinbarung, die beiden Parteien zupaß kam. Gutmann benutzte dieses Geld und die neue Freiheit, um sich zu dem erstrangigen Schurken zu entwickeln, den er schon immer in sich vermutet hatte. Er unterstützte sogar die Rebellion finanziell, nur um sich abzusichern.

Dann fielen so viele Angehörige seiner Familie in den Kämpfen auf Golgatha auf beiden Seiten, daß Elias sich ohne eigenes Zutun als ältester Überlebender wiederfand und schließlich doch zur Heimkehr aufgefordert wurde. Er verschwendete keine Zeit und stürzte sich kopfüber in die Politik, denn er spürte, daß man im neuen Imperium auf diesem Gebiet die eigentliche Quelle von Macht und Reichtum fand. Und jetzt war Elias Gutmann Parlamentspräsident und konnte entscheiden, wer im Parlament angehört wurde und wer nicht. Man hatte vernommen, daß viele Abgeordnete fragten, wie es nur soweit hatte kommen können, aber sie achteten sorgsam darauf, es ganz leise zu fragen.

Noch unglückseliger für alle Beteiligten war, daß das Parlament diese wichtige Ernennung vorgenommen hatte, während Owen Todtsteltzer gerade auf der Jagd nach Valentin Wolf und seinen Spießgesellen war. Alle warteten jetzt darauf, welche Reaktion er zeigen würde, und waren hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, einen guten Platz zu ergattern, und dem sehr realen Bedürfnis, den Kopf einzuziehen oder sich zumindest außer Schußweite zu halten. Owen enttäuschte sie nicht.

Kaum öffneten sich die Türen der Halle, da stürmte er wütend in den Plenarsaal, und Hazel marschierte fröhlich neben ihm her. Owen ignorierte die klagenden Rufe der Saaldiener, die versuchten, ihn in die richtige öffentliche Zone zu steuern, und nahm direkten Kurs auf Gutmann, der auf einer erhöhten Plattform zwischen den beiden Bankreihen saß.

Zwei bewaffnete Wachtposten traten vor, um ihm den Weg zu versperren. Owen schlug einen bewußtlos, trat dem anderen in die Leistengegend und setzte einfach seinen Weg fort. Hazel folgte ihm und stieg dabei anmutig über die stöhnenden Gestalten auf dem Boden hinweg. Gutmann regte sich ein wenig unbehaglich auf seinem Platz. Er hatte noch andere, verborgene Schutzvorkehrungen getroffen, aber Auge im Auge mit dem Todtsteltzer wußte er nicht mehr so recht, wie wirksam sie sein würden. Owen blieb direkt unterhalb von Gutmanns erhöhtem Sitz stehen und blickte böse zum Parlamentspräsidenten hinauf.

»In Ordnung, welcher geistig behinderte Haufen schwanzloser Wunder hat diesen Gauner zum Parlamentspräsidenten gewählt? Kaum wende ich Euch fünf Minuten den Rücken zu, da reißt Ihr die Türen auf und holt den Fuchs in den Hühnerstall.

Warum habt Ihr ihm nicht gleich noch die Kronjuwelen ausgehändigt, wo Ihr schon dabei wart? Ich sehe lieber gleich mal nach ihnen, sobald ich hier fertig bin, und sollte nur ein Stück fehlen, wird jemand dafür büßen, und das werde verdammt sicher nicht ich sein. Wieso in aller Welt nur Gutmann? Sollte irgendwo im Imperium ein mieses Geschäft laufen, von dem er noch nicht profitiert hat, dann nur, weil er noch nichts davon gehört hat. Dieser Mann macht Geschäfte mit Tod und Leid; Gott weiß, wieviel Blut an Gutmanns Händen klebt.«

»Und wie viele Menschen sind von Eurer Hand gestorben, Sir Todtsteltzer?« fragte Gutmann aalglatt. »Wir alle mußten betrübliche Dinge tun, um dorthin zu gelangen, wo wir heute sind. Aber es heißt, wir hätten inzwischen eine neue Ordnung.

Eine Chance für jeden, sich neu zu bewähren. Ein neues Leben und eine neue Karriere aufzubauen, gänzlich verschieden von dem, was früher womöglich war. Oder glaubt Ihr nicht an neue Chancen? An Wiedergutmachung?«

»Nicht, soweit es Euch anbetrifft«, sagte Owen rundweg.

»Eher werden Grendelkreaturen zu Vegetariern, als daß Ihr Euch bessert. Ich kenne Euch, Gutmann.«

»Jedoch bleibt die Tatsache bestehen«, erklärte Elias Gutmann locker, »daß die guten Männer und Frauen dieses Hauses mich aus freien Stücken zum Parlamentspräsidenten gewählt haben. Oder wollt Ihr Euch der Autorität der Abgeordneten widersetzen?«

»Verdreht jetzt nicht alles!« verlangte Owen und wurde unwillkürlich lauter. »Ich habe nicht Jahre auf der Flucht verbracht und bin auf den Straßen Golgathas durch Blut und Gemetzel gewatet, nur um dann zu sehen, wie die Macht Menschen wie Euch übergeben wird! Ich weiß nicht, wie es Euch gelang, einer Anklage als Kriegsverbrecher zu entgehen, Gutmann, aber mir entkommt Ihr nicht! Steigt jetzt von diesem Sitz herunter, oder ich komme hinauf und hole Euch!«

»Ihr könnt mir nichts anhaben. Ich genieße den Schutz des Parlaments. Der Leute, die Ihr selbst an die Macht gebracht habt. Habt Ihr kein Zutrauen zu Eurer eigenen Schöpfung?«

»Nicht, wenn sie so übel verpfuscht wird.«

»Also stellt Ihr Euch über die Autorität des Parlaments? Genau wie die Aristokraten, die Ihr gestürzt habt, weil Ihr sagtet, sie mißbrauchten ihre Macht. Erkennt irgend jemand die Ironie? Ihr seid kein Held mehr, Todtsteltzer, der unterwegs seine eigenen Regeln aufstellen kann. Ihr seid ein gewöhnlicher Bürger des Imperiums und unterliegt der Autorität des Volkes, wie sie ihren Ausdruck durch das Parlament findet.«

»Zum Teufel damit! Ich habe nie ein Parlament gebraucht, das mir sagte, wie man richtig und falsch unterscheidet. Steigt jetzt herunter, oder ich bringe Euch auf Eurem Sitz um!«

»Ihr trotzt dem Willen des Parlaments!«

»Zur Hölle damit! Notfalls reiße ich das ganze Gebäude ein!«

Bewaffnete Wachleute stürzten von allen Seiten heran, während unter den Abgeordneten aufgeregtes Geplapper ausbrach.

Bei irgend jemand anderem wären es vielleicht nur leere Drohungen gewesen, was sie eben gehört hatten, aber das hier war Owen Todtstelzer. Vielleicht setzte er sie einfach in die Tat um. Gutmann packte fest die Armlehnen seines Sitzes, aber sein Gesicht blieb ruhig. Er hatte den Todtsteltzer so manipuliert, daß dieser die Beherrschung verlor und damit sein Heldenimage untergrub. Jetzt brauchte Gutmann das nur noch zu überleben.

»Typische Todtsteltzer-Drohung«, sagte er gelassen und achtete darauf, laut genug zu sprechen, um den zunehmenden Tumult zu übertönen. »Zum Teufel damit, wie viele es das Leben kostet, solange er nur seinen Willen bekommt. Ich schätze, wir dürften nicht überrascht sein. Schließlich war es sein Vorfahre, der erste Todtsteltzer, der den Dunkelwüsten-Projektor aktivierte und ungezählten Milliarden Unschuldiger den Tod brachte.«

Hazel umklammerte grimmig Owens Arm, damit er nicht den Disruptor ziehen konnte. Die umstehenden Wachleute sahen besorgt zu. Hazel packte mit einer Hand Owens Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. »Tu es nicht, Owen. Du müßtest eine Menge unschuldiger Menschen töten, ehe du Gutmann erwischen würdest.«

Owen befreite sein Kinn mit einem Ruck und funkelte sie an.

Er atmete schwer. »Ich dachte, wenigstens Ihr würdet mich verstehen.«

»Das tue ich, Owen, das tue ich. Aber dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort.«

Es war ganz still geworden im Plenarsaal. Alle warteten ab, was der Todtsteltzer unternahm. Die Wachleute achteten darauf, nichts zu tun, was ihn provozieren könnte. Owen blickte sich langsam um, und die Wut floß aus ihm heraus. Er nahm die Hand vom Disruptor an seiner Seite. Man hörte, wie viele Menschen angehaltene Luft wieder herausließen. Owen nickte Hazel zu.

»Was ist nur passiert, daß Ihr mir Vorträge über Selbstbeherrschung halten müßt? Aber Ihr habt recht; es wird sich eine bessere Gelegenheit finden.«

Er wandte Gutmann den Rücken zu und marschierte davon, um sich der Zuschauermenge in der zugewiesenen Zone anzuschließen. Hazel bedachte Gutmann mit einem harten Blick und lief dann Owen nach – nur für alle Fälle. Nicht weit von der Szene spendeten Jakob Ohnesorg und Ruby Reise Beifall.

Viele andere erweckten den Eindruck, sie hätten es auch gern getan. Die Wachleute senkten die Waffen, hoben ihre zwei zu Boden gestreckten Kameraden auf und zogen sich so rasch zurück, wie es die Ehre gestattete. Toby Shreck grinste von einem Ohr zum anderen, zuversichtlich, daß Flynn alles auf Film hatte.

Elias Gutmann wartete kurz, bis er sicher war, daß er die Stimme wieder unter Kontrolle hatte, und eröffnete die Plenarsitzung mit einer gefühlsbetonten Rede, die lediglich aus aufrüttelnden Geräuschfetzen bestand. Alle spendeten der Rede Beifall aufgrund des Vorzuges, daß sie kurz war, und das Parlament widmete sich endlich der Tagesordnung. Darauf stand als erstes ein Bericht der Kyberratten, die zur Zeit die Lektronenmatrix von Golgatha nach Spuren einer Infiltration durch die abtrünnigen KIs von Shub untersuchten.

Vor den Abgeordneten und den Zuschauern tauchte ein Sichtschirm auf, der mitten in der Luft schwebte. Kräftige Farben zuckten darüber hinweg und formierten sich schließlich zu Kopf und Schultern desjenigen, der heute für die Kyberratten sprach. Diese erwiesen sich in solchen Fragen als eher locker, denn sie kümmerten sich wenig um die Belange der Welt außerhalb ihrer kostbaren Rechner. Die Kyberratten lebten ganz für die Zeit, die sie eingetaucht in der kybernetischen Welt verbrachten, und traten nie öffentlich in Erscheinung, solange sie es vermeiden konnten. Jeder, der mal einen dieser Leute zu sehen bekam, verstand gleich den Grund. Sie waren mit genügend Techimplantaten, Zusätzen und modernsten Optionen ausgestattet, um formell als Kyborgs durchzugehen, und ihre persönlichen Angewohnheiten grenzten oft ans Abstoßende.

Sie interessierten sich nur für Tech und für das, was diese für sie leisten konnte, und oft vergaßen sie die Bedürfnisse des bloßen Fleisches, in dem sie lebten.

Der heutige Vertreter, der sich des Kodenamens Kabelhase erfreute, sah aus, als wäre er schon vor Tagen gestorben und nur dazu ausgegraben worden, um heute Bericht zu erstatten.

Die Hautfarbe war Staubgrau, und das Gesicht so spitz und knochig, daß es an Auszehrung grenzte. Ein Nährstoffschlauch steckte in einer Ader am Hals, und ein Lektronenstecker war in die leere rechte Augenhöhle eingestöpselt. Kabelhase lächelte die Menge verschwommen an und zeigte dabei Zähne, die in wirklich grauenhaftem Zustand waren.

»O Mann, so viele Leute auf einem Haufen! Ich kriege die Atmosphäre von hier aus mit. Grüße, ihr Fleischmenschen; hier spricht der echte Schwermetalltyp Kabelhase und wünscht euch alles Gute! Halleluja, laßt uns in fremden Zungen reden!

Alle Macht den Leuten, die sich für wirklich halten, aber auch denen, die noch darüber nachdenken. Für alle anderen besteht das Geheimnis darin, die Neuronen zusammenzuknallen, Leute! Ich und meine total vollgedröhnten Kumpels sind durch das Silikon der Matrix gesurft und haben nach diesen absolut bösen Metallfreaks von dem Ort gesucht, über den wir nicht reden, und soweit muß ich euch sagen, daß wir absolut garnix gefunden haben. Zero, nada, weniger als null. Ne Menge Spuren, daß was Megamäßiges da war und wieder weg ist, aber fragt nicht, wer oder was oder wohin, es sei denn, ihr wollt eine Menge Technosprech, den selbst wir oft nicht kapieren, weil wir ihn spontan selbst aushecken müssen. Wir sind an der Grenze unterwegs, Leute, und es ist wirklich merkwürdig hier draußen.

Türlich war es auch nicht hilfreich, daß große Gebiete von den größeren Geschäftskonstrukten als Sperrzone markiert wurden. Die Stadt der Paranoia, Freunde. Wir werden dort schließlich einbrechen, sei es auch nur, weil wir eine echte Aufgabe so lieben, aber die Sache bremst uns doch etwas ab.

Vermutlich wollt ihr dicken Geschäftsfreaks nicht freiwillig mit den Zugangskodes rausrücken, oder? Nein? Hatte ich auch nicht erwartet. Verdammt, diese negativen Schwingungen knabbern wirklich an mir! Wartet nen Moment, während ich meine Endorphine frisch hochpusche. Uuuh… echt irre! Leute, plaudert mal eine Zeitlang miteinander. Ich denke, ich leg mich für ne Runde hin und röste ein paar Hirnzellen, die ich zur Zeit nicht brauche. Möönsch, diese Farben, Mann!«

»Wartet!« sagte Elias Gutmann. »Habt Ihr uns nichts Brauchbares zu sagen?«

»O sicher, großer Typ, hätte ich beinahe vergessen. Ich hab es irgendwo notiert… Ah. Hütet euch vor den Drachenzähnen.

Cool! Aus und Ende und bin schon weg, Mann.«

Der Sichtschirm verschwand und die Kyberratte mit ihm. Eine lange Pause trat ein. Gutmann sah Owen an. »Soweit ich mich entsinne, habt Ihr diese… Leute empfohlen, Sir Todtsteltzer.«

Owen zuckte die Achseln. »Sie sind seltsam, aber ich bin mit ihrem Geschäft vertraut. Jeder, der genügend Zeit in der Matrix verbringt, wird verrückt, und diese Leute suchen sie zum Spaß auf. Falls die KIs irgendwelche Spuren von dem hinterlassen haben, was sie dort tun, dann haben nur die Kyberratten eine Chance, sie zu entdecken. Und wir müssen es erfahren. Die KIs sagten, sie hätten alle bedeutenden Unternehmen infiltriert und wären dabei, unsere Wirtschaft in ihrem Interesse zu manipulieren. Womöglich haben sie das nur wegen der Panik gesagt, die sie damit erzeugten, aber wir können kein Risiko eingehen.

Falls es zutrifft, müssen wir erfahren, wie weit die Infiltration reicht und wie lange sie schon läuft, ehe wir auch nur damit anfangen können, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.«

Gutmann nickte widerstrebend und verzog keine Miene.

»Aber Euer eigener… Experte sagte, keine der Kyberratten wäre fähig gewesen, irgendeine Spur einer Einmischung von außen zu finden.«

»Falls es etwas gibt, womit Shub sich besser auskennt als mit uns, dann sind es Lektronen. Sie haben ihre Spuren sicher an Stellen versteckt, wo nachzusehen einem normalen Menschen nicht mal einfallen würde. Zum Glück sind die Kyberratten auch nicht annähernd normal.«

»Endlich seid Ihr zufällig auf etwas gestoßen, worin wir übereinstimmen können«, sagte Gutmann schwer. »Ich wünschte nur, ich könnte Euer Vertrauen in diese… Leute teilen. Vielleicht könntet Ihr nun dem Hohen Haus Eure klügsten Mutmaßungen unterbreiten, was diese Drachenzähne sind, vor denen wir uns hüten sollen.«

»Ich hätte eigentlich gedacht, das wäre selbst für Euch ersichtlich, Gutmann. Die KIs haben nämlich auch behauptet, sie hätten Leuten beim Eintreten in die Matrix das Bewußtsein herausgerissen und ihre eigenen Gedanken dafür eingesetzt.

Die Drachenzähne sind die mitten unter uns wandelnden Personen, die keine Menschen mehr sind – die zwar Menschenantlitz zeigen, aber Shubs Gedanken denken. Die perfekten Spione, noch schwieriger zu enttarnen als Furien. Wir können unmöglich wissen, wie viele sich davon herumtreiben oder wie stark unsere Sicherheitsvorkehrungen bereits unterlaufen wurden.«

»Was eine sehr schöne Überleitung zu der Petition ist, die ich dem Hohen Haus vorzulegen habe«, sagte eine barsche Stimme aus der Menge. Die Leuten sahen sich um, wollten herausfinden, wer das war, und wichen dann hastig zurück, als sie die kleine blonde Frau entdeckten, deren Augen kalt wie der Tod waren. Früher einmal hatte sie Johana Wahn geheißen, ein Avatar der geheimnisvollen und rätselhaften Superesperin Mater Mundi, der Weltenmutter. Macht über alle Hoffnung und Vernunft hinaus brannte damals in Johana Wahn, und die Luft um sie herum knisterte vor Spannung. Heute verkörperte sie nicht mehr alles, was sie früher gewesen war, denn Mater Mundi hatte sie verlassen, und Johana trug wieder den alten Namen Diana Vertue. Trotzdem war sie immer noch eine Macht, mit der man rechnen mußte, und die meisten Leute hatten genug Verstand, in ihrer Nähe sehr nervös zu werden. Heute repräsentierte sie die Esper-Bewegung im Parlament, vor allem deshalb, weil alle anderen Mitglieder der Bewegung zu viel Angst hatten, um ihr das abzuschlagen. Sie bahnte sich jetzt einen Weg nach vorn durch die Menge, und die Leute beeilten sich, ihr auszuweichen. Sie blieb vor Owen stehen, der sich höflich vor ihr verbeugte.

Um die Wahrheit zu sagen: Auch er hatte ein bißchen Angst vor ihr, aber er hielt nichts davon, solche Dinge vor aller Welt zu zeigen.

»Hallo Diana, Ihr seht ganz normal aus. Was für eine Petition könnte das sein?«

»Alle ESP-Blocker aus dem Parlament zu entfernen, damit wir die Gedanken aller Anwesenden lesen und herausfinden können, ob auch jeder das ist, was er vorgibt.« Dianas Stimme klang barsch und rauh und absolut einschüchternd. Die Kehle war geschädigt von den Schreien, die Diana in den Gefängniszellen von Golgatha ausgestoßen hatte, und hatte sich nie wieder ganz erholt. »Die ESP-Blocker müssen weg. Nicht nur Shub liefert uns Gründe, besorgt zu sein. Erinnert Ihr Euch noch an das gestaltwandelnde Fremdwesen, das bei Hofe erschien? Es ahmte einen Mann so exakt nach, daß nicht einmal seine Freunde den Unterschied erkennen konnten. Wirkliche Sicherheit im Parlament können wir nur wahren, indem wir die Gedanken aller lesen und keine Ausnahmen erlauben. Klingt für mich absolut vernünftig.«

»Das liegt daran, daß Ihr so seltsam seid«, fand Gutmann, und praktisch alle nickten beifällig. »Euer Antrag ist völlig inakzeptabel. Jeder hier hat ein Recht auf Unverletzlichkeit der Gedanken.«

»Dieses eine Mal muß ich Euch zustimmen«, sagte Owen.

»Wir alle kennen Geheimnisse, die gewahrt bleiben müssen.

Selbst wenn sie nur für uns wirklich wichtig sind. Oder vielleicht besonders die. Aber ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt.

Vielleicht könnten wir ein System ausarbeiten, das auf Freiwilligkeit beruht…«

»Nur zu«, sagte Gutmann. »Ihr zuerst.«

Owen mußte unwillkürlich lächeln. »Geben wir diese Frage an die Kirche weiter. Sie hat Erfahrung mit Beichten.«

»Wir werden es ins Auge fassen«, sagte Gutmann. »Und falls Euch das nicht reicht, Esper Vertue, fühlt Euch frei, Euer Anliegen dem zuständigen Unterausschuß vorzulegen. Zu einem späteren Zeitpunkt. Allerdings führt uns dieses Thema nahtlos zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung. Im Rahmen des Abkommens, das Jakob Ohnesorg mit den Familien ausgehandelt hat, gelten Klone und Esper nicht mehr als Besitztum, sondern als Bürger aus eigenem Recht. So lobenswert und gerecht das scheinen mag, hat es doch zu unerwarteten Problemen geführt. Seit Jahrhunderten beruhten Handel und Industrie im ganzen Imperium auf der unbegrenzten Verfügbarkeit der Arbeitskraft von Klonen und Espern. Jetzt müssen sie durch bezahlte Arbeiter oder neue Techniken ersetzt werden, was beides äußerst teuer ist. Veränderungen sind immer kostspielig, und jemand muß dafür aufkommen.

Da wir die Lektronen der Steuerbehörde endlich wieder in Gang bringen konnten…« Und an diesem Punkt legte Gutmann eine Pause ein, um wie alle anderen im Saal böse die Personen anzuschauen, die für die Zerstörung der Rechner verantwortlich waren, nämlich Owen und Hazel, die lächelten und bescheiden nickten. »… war unser erster Gedanke, die Einstiegsrate der Einkommenssteuer zu erhöhen. Die breite Masse der Bürger machte jedoch rasch ausgesprochen deutlich, daß sie dies als sehr schlechte Idee betrachtet. Sie schlug vor, daß die Aristokraten als die Wohlhabendsten unter uns die Last schultern sollten. Die Clans ihrerseits wiesen nicht zu Unrecht darauf hin, daß viele von ihnen durch den Verlust an Macht und Lenkungsmöglichkeiten, wie ihn Ohnesorgs Abkommen mit sich brachte, schon fast verarmt wären; sie hielten es für im Grunde nicht fair, noch mehr gestraft zu werden. Dunkle Andeutungen sprachen vom drohenden Zusammenbruch von Industrien in Familienhand und von der Massenarbeitslosigkeit, die daraus entstünde. Umfangreiche Diskussionen und Verhandlungen und Ausschüsse in beliebiger Zahl erbrachten bislang keine brauchbaren Ergebnisse.«

»Er hält sogar noch längere Ansprachen als du, Owen«, murmelte Hazel. »Ich bin beeindruckt.«

»Und Ihr braucht Euch auch nicht an die Untergrundbewegungen zu wenden«, warf Diana ein. »Wir müssen schon die Klon- und Esperfamilien unterstützen, die durch neue Techniken ihre Arbeit verloren haben. Solange sie noch Eigentum waren, kamen die Clans für ihren Unterhalt auf. Seit sie freie Bürger sind, waschen die Clans ihre Hände in Unschuld. Freiheit ist ja sehr schön, aber sie bringt noch keine Mahlzeiten auf den Tisch.«

Owen fand, daß er noch nie so viel Undankbarkeit von so vielen Menschen gehört hatte, und ihm war danach, sich entsprechend zu äußern. Er nahm jedoch wieder Abstand davon, weil er nur zu gut wußte, daß sie eine Möglichkeit finden würden, ihm an allem die Schuld zu geben. Und weil auch er nicht wußte, wer für alles bezahlen sollte. Wirtschaft war nie seine starke Seite gewesen. Er war Krieger, nicht Buchhalter. Er sah Hazel an, die mit den Achseln zuckte.

»Frag mich nicht. Um eine gerechtere Verteilung des Reichtums zu erzielen, ist mir nichts Besseres eingefallen, als Piratin und Klonpascherin zu werden. Keins von beiden hat besonders gut funktioniert.«

»Das Problem besteht in der Geschwindigkeit, mit der sich das Imperium verändert«, fand Diana Vertue. »Es geht zu langsam.«

»Das Problem ist, daß es zu schnell geht«, entgegnete Gutmann.

»Klar, daß Ihr das behauptet«, sagte Diana. »Ihr und Euresgleichen habt schließlich am meisten zu verlieren.«

»Wir sind einfach besorgt, es könnte ein zu schneller Wechsel von einem System, das auf Menschen beruht, zu einem System stattfinden, das auf Technik basiert. Wir möchten nicht, daß es wie auf Shub endet.«

Diana runzelte die Stirn, was einschüchternd wirkte. »Ihr verbreitet nur Nebel, Gutmann. Der Untergrund möchte nicht, daß Klone und Esper durch Tech ersetzt werden, sondern verlangt einfach bessere Arbeitsbedingungen und gerechten Lohn.«

»Was uns wunderbar wieder zum Thema Geld führt«, sagte Gutmann, lehnte sich auf seinem Sitz zurück und blickte über die versammelte Menge hinweg. »Durch die Unruhen und die Tatsache, daß niemand mehr lenkend auf die Wirtschaft einwirkt, galoppiert inzwischen die Inflation, sogar auf den stabilsten Planeten. Ersparnisse werden aufgezehrt. Banken brechen zusammen. Die Familien tun, was sie können, sind sich aber nur darin einig, daß die Lage zwangsläufig erst noch schlechter wird, ehe es wieder zum Aufschwung kommt. Was immer man über die alte Ordnung behaupten konnte, sie hat die Währung stabil gehalten – auch wenn die Imperatorin ein paar Banker aufhängen mußte, um sich klar auszudrücken.«

»Wie wäre es mit einer Steuer auf aufgeblasene Schwätzer?« fragte Hazel zuckersüß. »Oder eine Glücksfallsteuer für Leute, die es geschafft haben, aus den Veränderungen hübsch Profit zu schlagen? Das sollte ordentlich Zaster einbringen.«

Viele Anwesende knurrten und brummelten untereinander, aber niemand brachte den Mut auf, von Hazel zu fordern, sie möge ihren Kommentar zurücknehmen.

»Bitte, wir wollen uns doch alle bemühen, von persönlichen Angriffen Abstand zu nehmen«, sagte Gutmann ernst. »Ich denke, es wäre das beste, zum nächsten Punkt der Tagesordnung überzugehen.«

»Aber es hat keine Entscheidung zur letzten Frage gegeben!« protestierte Owen.

»Ich sagte, wir machen weiter«, sagte Gutmann. »Als Parlamentspräsident bin ich für die Tagesordnung zuständig.«

»Ich habe Euch gewarnt!« sagte Owen und funkelte ihn an.

»Ich könnte Euch hinauswerfen lassen«, erwiderte Gutmann.

»Ihr könntet es versuchen«, sagte Owen.

»Bitte, tut es«, bat Hazel.

»Wir fahren mit dem nächsten Punkt auf der Tagesordnung fort«, verkündete Gutmann. »General Beckett, verantwortlicher Offizier für die Imperiale Flotte, wartet schon höchst geduldig darauf, sich an uns zu wenden.«

Ein schwebender Bildschirm tauchte fast sofort mitten in der Luft auf, als hätte er nur aufs Stichwort gewartet, und General Shaw Beckett bedachte von dort aus mit finsterer Miene unparteilich alle Anwesenden. Sein großer, eckiger Kopf hockte auf massigen Schultern, obwohl der größte Teil seiner einschüchternden Körpermasse außer Sicht blieb. Die Uniform spannte sich über seiner wuchtigen Gestalt und war mit mehr Orden behangen, als man zählen konnte. Der breite Mund bildete eine strenge Linie, die dunklen Augen blickten fest. Wie immer rauchte Beckett eine dicke Zigarre und brach gelegentlich ab, um Rauch in die Kamera zu blasen.

»Wird aber auch Zeit, daß Ich an die Reihe komme. Paßt also auf und macht Euch notfalls Notizen, denn ich will verdammt sein, wenn ich die Sache noch mal durchkaue. Seit die Flotte bei der Rebellion durch Schiffe der Gesetzlosen und dieser verdammten Hadenmänner auseinandergenommen wurde, kämpfen wir darum, den nötigsten Dienst aufrechtzuerhalten.

Die meisten Sternenkreuzer der D- und E-Klasse sind futsch, und wir müssen uns auf Zerstörer und aufpolierte Fregatten verlassen, die nie für eine solche Belastung gedacht waren. Wir sind auch knapp an Besatzungsmitgliedern. Wir haben reichlich Freiwillige, aber es braucht Zeit, echte Raumschiffer auszubilden. Man kann nicht jeden auf ein Sternenschiff loslassen.

Mit den größeren Schiffen schützen wir die Transportrouten für Lebensmittel zu den Planeten, die es am schwersten erwischt hat. Wir haben eine Menge hungriger Leute da draußen, aber bislang gelang es uns, in weiten Bereichen echte Hungersnöte zu vermeiden. Piraten bilden dabei ein Problem; sie greifen die Geleitzüge an, um ihre Schwarzmärkte zu speisen. Wir bringen sie so schnell um, wie wir sie zu fassen kriegen, aber es tauchen immer neue auf. Was wir darüber hinaus an Schiffen übrig haben, fährt Patrouille, meist draußen am Abgrund, und gibt auf Insektenschiffe acht.«

Sein Gesicht verschwand vom Schirm und wich dem vertrauten Anblick eines Schiffs der Fremdwesen. Es ähnelte einem großen, sehr kompakten Ball aus verworrenen klebrigen Spinnfäden. Es war mit Waffen und Kraftfeldern unbekannter Bauart ausgestattet, auch wenn man sie nicht sehen konnte. Ein solches Schiff hatte die Besatzung eines isolierten imperialen Stützpunktes restlos niedergemetzelt und dann beinahe die großen Städte Golgathas zerstört, ehe es selbst von Kapitän Schwejksam und seiner Besatzung vernichtet wurde. Niemand wußte, woher es stammte oder was diese Wesen wollten. Das einzig Sichere an ihnen waren die mörderischen Absichten.

Das Bild des Schiffs wich wieder dem Gesicht General Becketts.

»Bei der begrenzten Anzahl meiner Schiffe kann ich keinen Präventivschlag führen. Mir bleibt lediglich, auf die Angriffe der Extraterrestrier zu reagieren, ihre Schiffe abzuwehren und den Schlamassel zu beheben, den sie hinterlassen. Bislang hatten wir Glück und konnten die umfangreichen Verwüstungen und das Gemetzel vermeiden, die das erste Schiff nach Golgatha brachte, aber Glück hat die häßliche Angewohnheit, einem irgendwann auszugehen. Fazit: Menschen sterben da draußen am Abgrund, und ich kann verdammt wenig dagegen unternehmen! Ich brauche mehr Schiffe!«

»Wir bauen so schnell neue, wie wir können, General«, entgegnete Gutmann scharf. »Aber wir haben Schwierigkeiten.

Schiffe der E-Klasse wird es solange nicht mehr geben, bis wir eine neue Fabrik für Hyperraumantriebe errichtet haben, um die zu ersetzen, die während der Rebellion zerstört wurden.

Und bis wir wissen, wie wir die Klone ersetzen können, die früher für die gefährliche Aufgabe zuständig waren, die Triebwerke tatsächlich zu montieren. Und natürlich sind selbst Schiffe der D-Klasse fürchterlich teuer – und das zu einer Zeit, in der wir jede Ausgabe einzeln abwägen und rechtfertigen müssen. Solange die Schiffe der Fremdwesen keine unmittelbare Gefahr für die Kerngebiete des Imperiums darstellen…«

»Also opfert Ihr die Menschen auf den Planeten des Abgrunds, nur um den übrigen keine höheren Steuern aufbürden zu müssen«, knurrte Beckett offen in die Kamera. »Regierungen kommen und gehen, aber im Grunde ändert sich nichts.

Seht mal, die Insekten sind einmal bis Golgatha vorgedrungen, und im Moment haben wir keine Möglichkeit, sie an einem erneuten Besuch zu hindern. Wir wissen nach wie vor nicht, woher sie kommen; sie tauchen einfach aus dem Nirgendwo auf, greifen an und verschwinden wieder.«

»Solange wir sie nicht zu sehr gegen uns aufbringen, besteht eine reale Chance, daß sie ihre Angriffe auf den Abgrund beschränken«, sagte Gutmann. »Eine traurige Philosophie, wie ich einräumen möchte, aber in dieser verzweifelten Zeit bleibt uns nur, nach dem größten Wohl für die größte Mehrheit zu streben. Dabei geben wir den Abgrund nicht auf; wir erteilen Euch die Vollmacht, dort zu bleiben und die Region nach besten Kräften zu verteidigen. Sobald neue Schiffe verfügbar sind, schicken wir sie Euch. Wenn Ihr also nichts weiter vorzubringen habt…«

»Wie es sich trifft, habe ich das durchaus«, sagte Beckett.

»Irgend etwas… läuft hier draußen ab. Beunruhigende Meldungen treffen seit einiger Zeit von überall entlang des Abgrunds ein – Meldungen, die die Dunkelwüste betreffen und von… Dingen sprechen, die aus der Dunkelheit kommen. Von Stimmen der Toten, die Warnungen rufen. Visionen von Wundern und Alpträumen, von flüchtigen Kontakten mit Dingen, die innerhalb eines Augenblicks auftauchen und wieder verschwinden. Esper haben von einer Tür geträumt, die sich öffnete und wieder schloß, und von etwas Grauenhaftem, das hindurchspähte. Es sind zu viele Meldungen aus gewöhnlich zuverlässigen Quellen, als daß ich sie einfach abtun könnte. Ich sehe mich gezwungen, daraus den einzig möglichen Schluß zu ziehen: Etwas lebt in der Dunkelwüste

Eine ganze Weile blieb alles still. In den über neunhundert Jahren, seit der ursprüngliche Todtsteltzer den Dunkelwüsten-Projektor eingesetzt hatte, hatte niemand wirklich etwas über die riesige Zone aus tiefster Nacht erfahren, die man die Dunkelwüste nannte – außer daß Schiffe, die hineinflogen, nur selten zurückkehrten. Gutmann wandte sich an Owen und Hazel.

»Sir Todtsteltzer, Ihr und Miss d’Ark wart die letzten, die tief in die Dunkelwüste vorgedrungen und von dort zurückgekehrt sind. Vielleicht könntet Ihr… dieses Phänomen für uns ein wenig erhellen?«

»Für mich ist das alles ganz neu«, antwortete Owen. »Wir sind auf nichts dergleichen gestoßen. Daß es mein Vorfahr war, der den Dunkelwüsten-Projektor erbaute, heißt noch nicht, daß ich ein größerer Experte bin als irgend jemand sonst. Falls Giles irgendwelche Geheimnisse über die Dunkelwüste wußte, hat er sie nicht an mich weitergegeben. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie irgend jemand oder irgend etwas dort draußen leben könnte. Nichts in der Dunkelwüste ermöglicht Leben.

Kein Licht, keine Wärme, keine Nahrung… wie könnte irgendwas dort existieren?«

»Kein Leben, wie wir es kennen«, sagte Beckett vom Bildschirm herunter. »Aber wer weiß, welche in jenem Augenblick des Massensterbens und völligen Grauens geborenen Alpträume womöglich in der Dunkelheit lauern?«

»Das ist lächerlich!« versetzte Owen.

»Wirklich?« fragte Beckett. »Als Ihr die Dunkelwüste aufsuchtet, kamt Ihr mit den wiederbelebten Hadenmännern zurück, einem alten Grauen, von dem wir längst frei zu sein glaubten. Alles könnte in dieser Dunkelheit hausen. Einfach alles.«

Alle blickten Owen und Hazel an, aber sie sagten nichts. Sie wußten Dinge über das Wesen und die Ursache der Dunkelwüste, von denen niemand sonst etwas ahnte, aber sie hatten vor langer Zeit und aus sehr guten Gründen geschworen, diese Geheimnisse zu wahren. Außerdem bestand keine erkennbare Verbindung zwischen dem, was sie wußten, und dem Phänomen, das Beckett geschildert hatte. Das hofften sie jedenfalls.

»Wo wir schon von den Hadenmännern sprechen«, fuhr Beckett fort, nachdem sich das Schweigen eine Zeitlang hingezogen hatte. »Damit kommen wir zum abschließenden Teil meines Berichts. Ich denke, wir waren alle etwas überrascht, als sich die wiederbelebten Hadenmänner den Rebellen anschlossen, um die Imperatorin zu stürzen, und wir waren noch mehr überrascht, daß die aufgerüsteten Menschen tatsächlich Befehlen gehorchten und Gefangene nahmen, als sich die imperialen Truppen ergaben. Früher hatten die Hadenmänner einfach alle abgeschlachtet. Schließlich waren sie die offiziellen Feinde der Menschheit, bis die KIs von Shub sie in dieser Rolle ablösten.

Ihr habt uns versichert, sie hätten sich gebessert, Sir Todtsteltzer. Ihr sagtet, wir könnten mit ihnen zusammenarbeiten.

Wir hätten es besser wissen sollen! Wir hätten niemals Kyborgs trauen sollen, Menschen, die ihr Menschsein aufgegeben haben, um nach Vollkommenheit durch Technik zu streben, die den Großen Kreuzzug der Genetischen Kirche starteten, um die Menschheit zu vernichten und sich an ihre Stelle zu setzen. Die Menschenmaschinen in ihren goldenen Schiffen! Die Schlächter von Brahmin II. Nun, Sir Todtsteltzer, Eure alten Bundesgenossen sind nach Brahmin II zurückgekehrt, haben die Abwehr des Planeten zerstört und die Macht über ihn und seine Bevölkerung übernommen. Sie nennen ihn jetzt Neuhaden und blockieren ihn mit einer ganzen Flotte ihrer goldenen Schiffe.

Die wenigen Meldungen, die hinaus gelangten, ehe alle Kommunikation abgebrochen wurde, sprechen davon, daß die Hadenmänner mit ihren Gefangenen dort experimentieren und sie in neue verbesserte Hadenmänner verwandeln.

Wir haben keine Ahnung, was zur Zeit dort passiert. Und da wir einfach keine Möglichkeit haben, an den goldenen Schiffen vorbeizukommen, können wir auch die Menschen von Brahmin II nicht retten. Es sei denn natürlich, der Todtsteltzer hätte irgendwelche Ideen. Er ist schließlich derjenige, der die Hadenmänner wieder auf die Menschheit losgelassen hat!«

Aufgebrachtes Gemurmel lief durchs Parlament, von den Abgeordneten bis zu den Zuschauern auf dem Parkett, und wurde allmählich lauter. Es war ein beunruhigendes, gefährliches Geräusch und erstarb nur widerwillig, als Owen sich wütend umsah. »Sie waren ein notwendiges Übel«, erklärte er kategorisch. »Ohne sie hätten wir Löwensteins Flotte nicht besiegen können. Fragt General Beckett. Ich hatte… gehofft, die aufgerüsteten Menschen wären inzwischen über ihre alten Ziele hinausgewachsen. Ich kannte einen Hadenmann, der ein so feiner Mensch war, wie ich nie einen besseren getroffen habe. Wie es scheint, wurde ich jedoch wiederum von denen verraten, in die ich Vertrauen setzte. Trotzdem wollen wir doch die Gefahren der Situation nicht übertreiben. Sie halten nur einen Planeten, und bislang verfügen sie nicht über genug Kräfte für etwas anderes, als ihn zu verteidigen.«

»Möchtet Ihr damit vorschlagen, wir sollten die Menschen von Brahmin II aufgeben, damit man sie in Monstrositäten verwandelt?« fragte Gutmann. »Ich denke nicht, daß das Imperium sich das gefallenläßt.«

»Warum nicht?« fragte Owen. »Schlagt Ihr nicht das gleiche für die Bewohner der Welten am Abgrund vor? Die wenigen im Namen der vielen zu opfern? Aber nein, Gutmann, ich schlage nicht vor, die Bewohner von Brahmin II abzuschreiben, und sei es auch nur, weil die Hadenmänner letztlich aus ihnen eine komplett neue Armee aufstellen könnten. Hazel und ich werden nach Brahmin II reisen, allein, und nachsehen, was wir tun können, um den Schaden zu beheben. Schließlich trage ich die Verantwortung dafür.«

»Jetzt mal langsam!« warf Hazel ein. »Wann habe ich mich freiwillig für diesen Selbstmordeinsatz gemeldet?«

»Na ja, Ihr möchtet doch nicht den ganzen Spaß versäumen, oder?«

»Hat was für sich«, meinte Hazel. »Ich habe es nur gern, wenn man mich fragt, mehr nicht.«

»Das Hohe Haus nimmt Euren Vorschlag dankbar an«, sagte Gutmann. »Und wünscht Euch alles Gute. Ihr werdet es brauchen. Ist das für Euch akzeptabel, General Beckett?«

»Verdammt richtig«, sagte Beckett. »Er hat den Schlamassel angerichtet; soll er ihn auch wieder beheben. Aber nur für den Fall, daß sie scheitern, sollten wir darüber nachdenken, ob wir nicht den ganzen verdammten Planeten sengen können; hoffen wir, daß wir dabei so viele von den unmenschlichen Mistkerlen wir möglich erwischen, ehe sie Gelegenheit zur Flucht finden.

Beckett, Ende.«

Der Bildschirm verschwand und nahm Beckett mit. Die Parlamentarier murmelten durcheinander. Gutmann blickte lächelnd zu Owen hinab, der sich innerlich stählte. Etwas Übles kam auf ihn zu. Er spürte es. Gutmann beugte sich vor und redete in ganz vernünftigem Ton.

»Aber ehe Ihr uns verlaßt, Sir Todtsteltzer, möchten wir gern ein paar Fragen beantwortet haben. Es geht um die diversen Kriegsverbrecher, auf die Euch das Hohe Haus angesetzt hatte.

Wir sehen uns zu der Feststellung gezwungen, daß Ihr die Neigung habt, sie lieber tot als lebendig zurückzubringen.«

»Aus irgendeinem Grund scheinen sie nicht zu glauben, daß sie hier auf Golgatha ein faires Verfahren erhalten«, sagte Owen. »Die Tatsache, daß noch kein einziger mutmaßlicher Kriegsverbrecher bei Euren Prozessen für unschuldig befunden wurde, ist ihnen nicht entgangen. Somit kann nicht gänzlich überraschen, daß sie lieber bis zum Tod kämpfen, als sich gefangennehmen zu lassen. Gebt uns nicht die Schuld für eine Lage, die Ihr selbst herbeigeführt habt.«

»Wir bereiten unsere Fälle sehr gründlich vor«, versetzte Gutmann aalglatt. »Wir befinden sie für schuldig, weil sie schuldig sind. Sicherlich denkt Ihr doch nicht, ich würde zulassen, daß meine Mitaristokraten fälschlich beschuldigt werden?«

»Und das von einem Mann, der den eigenen Vater umgebracht hat, um Erfolg zu haben«, sagte Hazel. »Eine Pause für anhaltendes hohles Gelächter.«

Gutmann zuckte die Achseln. »Damals herrschten andere Umstände. Ich bin heute ein anderer Mensch. Oder glaubt Ihr nicht, daß Menschen sich ändern können, meine liebe Ex-Piratin und Ex-Klonpascherin?«

Hazel schnitt ein finsteres Gesicht, sagte aber nichts, wofür Owen sehr dankbar war.

»Die Kriegsverbrecherprozesse sollen dem Volk des Imperiums zeigen, daß Gerechtigkeit geübt wird«, fuhr Gutmann fort.

»Sie sollen ein populäres Bedürfnis befriedigen«, entgegnete Owen. »Die Menschen brauchen Sündenböcke. Was werdet Ihr unternehmen, wenn Euch die echten Schurken ausgehen, Gutmann? Ermittelt Ihr dann gegen jeden, der es wagt, Eure neue Ordnung zu mißbilligen?«

»Nur die Schuldigen müssen die Gerechtigkeit des Volkes fürchten«, behauptete Gutmann.

»Und Ihr entscheidet, wer schuldig ist.«

»Das Parlament entscheidet.«

»Und Ihr sprecht für das Parlament«, sagte Owen. »Wie durch und durch passend.«

»Fahren wir lieber fort«, sagte Gutmann. »Der nächste Punkt auf der Tagesordnung ist ein Vorschlag, der, so denke ich, eine lebhafte Debatte garantiert. Sicherlich brauche ich die meisten von Euch nicht daran zu erinnern, daß sich einige Abgeordnetensitze in Kürze den ersten freien Wahlen seit dem Sturz des Eisernen Throns stellen müssen. Was Ihr vielleicht noch nicht wißt, ist die Tatsache, daß viele ehemalige Aristokraten ihre Absicht verkündet haben, für etliche dieser Sitze zu kandidieren.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« warf Owen ein, und seine Stimme durchschnitt scharf das ansteigende Gemurmel ringsherum. »Ohnesorgs Abkommen ist eindeutig: Die Familien treten die politische Macht ab, um als finanzielle Institutionen fortbestehen zu dürfen. Duldet man sie erst im Parlament, höchstwahrscheinlich durch Bestechung und Einschüchterung, werden sie letztlich wieder alles in der Hand haben!«

»Ihr müßt wirklich noch lernen, Euren Verfolgungswahn zu beherrschen, Sir Todtsteltzer«, sagte eine frostige Stimme, und alle drehten sich um. Grace Shreck begegnete dem kollektiven Blick mit einem Ausdruck kühler Gleichgültigkeit und hielt die Nase beharrlich hochgereckt. Seit Gregors erzwungenem Rückzug aus der Öffentlichkeit übte seine ältere Schwester das Amt des Familienoberhauptes aus und leistete darin zu aller Welt Überraschung ausgezeichnete Arbeit. Toby und Evangeline waren beide zu beschäftigt und zu wenig motiviert gewesen, um die Funktion des Shrecks zu übernehmen, also war sie automatisch an Grace gefallen. Die Zeit im Rampenlicht schien ihr zu bekommen.

Grace gab ein eindrucksvolles Bild ab inmitten der farbenprächtigeren Raubvögel ringsherum – lang, groß, mehr als nur modisch dünn, mit bleichem Schwanenhals, abgehärmtem Gesicht und einer gewaltigen Masse weißen Haares, das sie in einem altmodischen und eindeutig prekär wirkenden Stil hochgesteckt trug. Die sehr alte und asketische Grace war seit Jahren nicht mehr regelmäßig in der Öffentlichkeit aufgetreten.

Sie hatte es verabscheut, bei Hofe zu erscheinen, und hatte es nur getan, wenn Gregor sie regelrecht zwang.

Im weniger förmlichen und unendlich weniger gefährlichen Parlament zu erscheinen, das hatte sie sich jedoch mit verblüffender Leichtigkeit angewöhnt. Inzwischen trat sie hier als Sprecherin vieler älterer Familien auf, die ihr genau deshalb vertrauten, weil sie so lange auf Distanz geblieben war und daher keine besonderen Verpflichtungen gegenüber einem besonderen Clan oder einer bestimmten Sache verspürte. Sie trug Kleider, die so altmodisch waren, daß sie schon wieder modisch wirkten, und zeichnete sich durch eine ruhige Haltung und eine spröde Schlagfertigkeit aus, die ihr vielerorts Respekt einbrachten. Das Holopublikum bewunderte sie als das annehmbare Gesicht der ehemaligen Aristokraten, und es hörte sich von ihr Argumente an, die es von Seiten eines anderen Aristos niedergebrüllt hätte.

»Jeder hat das Recht, für das Parlament zu kandidieren«, sagte Grace geziert. »Ein demokratisches Recht. Gehört das nicht zu den Idealen, für die Ihr zu kämpfen vorgabt, Sir Todtsteltzer? Daß alle gleich behandelt werden sollten? Ehemalige Aristokraten haben das gleiche Recht, Gehör zu finden, wie alle anderen auch. Schließlich wart Ihr selbst ein Lord. Möchtet Ihr sagen, daß man auch Euch bannen und Eure Stimme nicht mehr beachten sollte? Ihr seid nicht das einzige Mitglied einer Adelsfamilie, das die Vorstellungen des Ausgleichs und der Sühne versteht.«

Owen sah finster drein. »Ich hätte die Macht übernehmen können. Ich habe mich dagegen entschieden.«

»Wie außerordentlich… edel von Euch. Aber wer könnte sagen, ob Ihr es Euch in Zukunft nicht anders überlegt? Ich sehe wirklich nicht ein, was das ganze Theater soll. Wir sprechen von freien Wahlen, abgehalten unter Schutzvorkehrungen, die zu entwickeln Ihr selbst beigetragen habt – so daß jeder nach seinem Gewissen wählen kann. Sollten sich manche entscheiden, einem Aristokraten ihr Vertrauen zu schenken, ist das ihre Sache und geht sonst niemanden etwas an.«

»So einfach ist das nicht, und Ihr wißt es.« Diana Vertue funkelte Grace Shreck über das Parkett des Plenarsaals hinweg an. Grace erwiderte ihren Blick mit herablassendem Lächeln.

Dianas finstere Miene vertiefte sich, aber sie wahrte die Fassung. »Die Esper liefern sich nie mehr denen aus, die sie früher als Eigentum behandelten. Die sie nach Belieben mißhandelten und ermordeten.«

»Wir bedauern die Ausschreitungen der Vergangenheit zutiefst«, erklärte Grace gelassen. »Alle Familien begreifen, daß sie ihren Wert und ihre Stellung in der neuen Ordnung unter Beweis stellen müssen. Niemand von uns ist so dumm, diese Stellung aufs Spiel zu setzen, indem er eine alte und diskreditierte Praxis wiederaufnimmt. Wir alle müssen lernen, in die Zukunft zu blicken. Die Familien haben viel zu bieten. Jeder hier hat Verständnis für die körperlichen und geistigen Narben, die Ihr durch schreckliche Vorfälle erlitten habt, Esper Vertue, aber wir können nicht dulden, daß die Besessenheit einer einzelnen Frau dem Fortschritt im Weg steht.«

Diana wahrte grimmig die Fassung. Es geschah nicht zum ersten Mal, daß Grace versuchte, Dianas Argumente aus dem Feld zu schlagen, indem sie auf ihre Vergangenheit als Johana Wahn anspielte, deren geistige Stabilität… Schwankungen unterlegen war. Diana konnte nicht direkt auf die Anschuldigungen antworten (Ein Satz wie In Ordnung, ich war damals verrückt, aber heute weiß ich es besser hätte nicht gerade Vertrauen erzeugt), also reagierte sie wie immer, überging die Beleidigung und drängte weiter.

»Die Esper werden sich nie wieder der Aristokratie beugen.

Durch Blut und Leid und die Opferung vieler konnten wir unsere Ketten sprengen; wir lassen sie uns nicht noch einmal anlegen.«

»Eine hübsche Rhetorik«, fand Grace, »aber im wesentlichen inhaltslos. Dieses Gerede von Herren und Sklaven gehört der Vergangenheit an; soll es dort begraben bleiben. Wir anderen sind weitergezogen. Und wie ich schon früher vor diesem Hohen Haus festgestellt habe, bestreite ich Euren Anspruch, für alle Esper zu sprechen. Ihr habt Euch selbst von der offiziellen Untergrundführung distanziert, als Ihr offen Euer Mißtrauen gegen die Weltenmutter ausspracht, und Euer Gefolge an der Basis ist auch nicht mehr, was es mal war. Heute sprecht Ihr nur noch für Euch selbst, Esper Vertue.«

»Dann unterhalten wir uns doch über den Schwarzen Block«, schlug Finlay Feldglöck vor, und alle Köpfe im Saal fuhren zu ihm herum. Finlay sprach nicht oft im Parlament, aber wenn er es tat, hörte ihm jeder zu. Die Flugkameras in der Luft beeilten sich, sich auf ihn einzustellen. Finlay bedachte SB Chojiro und ihre Leute mit einem kalten Lächeln. »Wie können wir den Familien Vertrauen schenken, solange die meisten noch unter dem Einfluß einer früher geheimen Organisation stehen, des Schwarzen Blocks? Deren Zielsetzungen und Herkunft liegen immer noch weitgehend im Dunkeln.«

SB Chojiro trat vor, und ihre Stimme erklang süß in der Stille. »Die Tatsache, daß wir nicht mehr im Geheimen arbeiten, sollte die meisten Befürchtungen dieser Art gegenstandslos machen. Ja, wir wurden als persönliche Assassinen der Clans ins Leben gerufen, als Agenten des Todes für ihre Feinde, aber darüber haben wir uns hinausentwickelt. Und was ausgerechnet Euch angeht – Ihr habt kein Recht, uns zu kritisieren. Wieviel Blut klebt an Euren Händen, Sir Feldglöck? Wie viele sind unter Eurem Schwert gefallen?«

»Scheinbar nicht genug«, versetzte Finlay, und alle erschauerten über die Kälte, mit der er das sagte.

»Ich denke, wir haben diesen Streit so weit ausgetragen, wie für den Moment möglich ist«, mischte sich Gutmann ein. »Machen wir weiter, bitte. Wir haben eine Holonachricht von Ihrer Heiligkeit, der Obersten Mutter Beatrice Cristiana, erhalten.

Sie ist zu sehr damit beschäftigt, die Hilfseinsätze auf Lachrymae Christi zu leiten, um persönlich mit uns zu sprechen, aber sie hat folgende Botschaft vorab aufgezeichnet.«

Er gab ein Zeichen, und ein Sichtschirm tauchte mitten in der Luft auf. Beatrices Kopf und Schultern füllten ihn aus, und die weiße Kapuze umrahmte das müde Gesicht wie ein Heiligenschein. Sie hatte dunkle Flecken unter den Augen, und ihre Stimme klang rauh vor Erschöpfung. »Ich rede nur kurz, weil wir bis Oberkante Unterlippe in Arbeit stecken und rasch sinken. Seit dem Krieg kann die Hälfte der Planeten des Imperiums kaum noch für den eigenen Unterhalt aufkommen. Nur Becketts Lebensmittelschiffe verhindern eine massenweise Hungersnot. Die sozialen, politischen und geschäftlichen Strukturen sind überall zusammengebrochen, und die Menschen sterben am Mangel von Nahrung, Unterkunft und medizinischer Versorgung.

Die Kirche leitet Hilfseinsätze, wo sie nur kann, aber unsere Mittel und unser Personal sind begrenzt. Das Parlament muß uns mehr Geld bewilligen, damit nicht ganze Bevölkerungen in die Barbarei oder Schlimmeres zurückfallen. Millionen liegen schon im Sterben. Weitere Millionen werden sterben, wenn nicht bald etwas geschieht. Die Kirche befaßt sich zur Zeit ausschließlich mit karitativer Tätigkeit; Ihr habt meine persönliche Zusage, daß alle uns zugebilligten Mittel ausschließlich dazu dienen werden, das Leid der Bedürftigen zu lindern. Bitte helft uns! Versetzt uns in die Lage, denen zu helfen, die uns brauchen.«

Der Bildschirm verschwand. Man konnte ein gewisses Maß an unbehaglichem Herumrutschen feststellen. Golgatha hatte bei der Rebellion auch Wunden eingesteckt, war aber letztlich weitgehend unversehrt daraus hervorgegangen. Man konnte leicht vergessen, daß viele andere weniger Glück gehabt hatten.

Elias Gutmann beugte sich vor. »Natürlich werden wir über die Bitte Ihrer Heiligkeit nachdenken. Obwohl ich erneut darauf hinweisen muß, daß zahlreiche Forderungen an die begrenzten Mittel des Parlaments vorliegen. Wir werden die Sache weiter im Plenum diskutieren, sobald der zuständige Ausschuß seinen Bericht vorgelegt hat. Aber jetzt haben wir einen abschließenden Punkt zu diskutieren. Ich denke, praktisch jeder hier kann der These zustimmen, daß wir ein offizielles Staatsoberhaupt benötigen, jemanden, der persönlich den Staat gegenüber den Bürgern repräsentiert. Nach vielen Diskussionen in zahlreichen Ausschüssen wurde entschieden, daß wir einen konstitutionellen Monarchen einsetzen sollten.«

Sofort brach ein Tumult aus. Alle wollten gleichzeitig reden, und niemand zeigte sich bereit hintanzustehen. Gutmann winkte mit den Armen, um sie zum Schweigen zu bringen, wurde aber diesmal völlig ignoriert. Also lehnte er sich zurück und sah der Entwicklung der Dinge zu. Owen stand schweigend in der Mitte des Tohuwabohus und dachte darüber nach. Obwohl er den Eisernen Thron zerstört hatte, existierte die Krone noch, und wie er vermutete, bestanden keine rechtlichen Vorkehrungen, um das Parlament an der Berufung eines neuen Imperators zu hindern, falls es dumm genug war, so etwas zu tun. Er fühlte sich sehr müde. Er hatte soviel durchgemacht, um Löwenstein zu stürzen, und immer öfter fragte er sich, ob alle seine Bemühungen wohl vergebens gewesen waren.

Der Lärm erstarb schließlich, und Gutmann konnte sich wieder Gehör verschaffen. »Nichts wird ohne umfassende Zustimmung durch das Hohe Haus entschieden! Wir schlagen einen rein konstitutionellen Monarchen vor, der weder echte Macht noch rechtliche Vollmachten hat. Eine Galionsfigur, deren Amtspflichten ausschließlich öffentlicher und sozialer Natur wären. Natürlich müßte es jemand sein, der das Vertrauen und die Unterstützung aller genießt. Nach umfangreichen Diskussionen sind die Ausschüsse zu der, wie ich denke, einzig passenden Entscheidung gelangt: Owen Todtsteltzer!«

Ein neuer Tumult brach los, dazu auch eine Menge mehr oder weniger spontanen Beifalls – gespendet von Personen, die die Ehrung eines großen Helden billigten, bis hin zu solchen, die einen Vorteil darin erblickten, den Todtsteltzer ein für allemal von den politischen Entscheidungen auszuschließen.

Owen war so schockiert, daß er lange kein Wort herausbekam, und dann erhob sich seine Stimme über den allgemeinen Aufruhr und brach diesen sofort ab.

»Kommt überhaupt nicht in Frage! Hätte ich mich zum Imperator machen wollen, hätte ich es tun können, als ich Löwenstein stürzte. Ich wollte die Krone damals nicht, und ich möchte sie jetzt nicht!«

Gutmann lächelte gelassen. »Die meisten Anwesenden denken, daß es eine gute Idee ist und eine Ehre, die Ihr völlig verdient habt. Und wer ist besser zum konstitutionellen Monarchen geeignet als jemand, der offen kundgibt, kein Interesse an der Macht zu haben? Obwohl wir vielleicht unsere Differenzen haben, Sir Todtsteltzer, zögere ich nicht, meine Anerkennung für all das auszudrücken, was Ihr vollbracht habt, um unsere Demokratie möglich zu machen. Wer könnte sie besser repräsentieren? Und denkt mal über folgendes nach, Sir Todtsteltzer: Falls nicht Ihr, wer dann? Vielleicht ein Feldglöck? Oder ein Wolf? Oder ein Shreck? Ihr seid der womöglich einzige Aristokrat, der die Krone übernehmen könnte, ohne damit ein eigenes Programm zu verfolgen. Kommt schon, Owen, Ihr habt doch immer gewußt, was Eure Pflicht ist! Denkt darüber nach.«

Owen nickte steif, blickte aber weiterhin finster drein. Hazel musterte ihn, und ihre Miene verriet nichts, überhaupt nichts.

Da trat neue Unruhe hinter der Menschenmenge auf, und die Leute wichen aus, als sich zwei Männer hindurchdrängten und dabei unerbittlich auf das Parkett des Plenarsaals zuhielten.

Alle erkannten Kapitän Johan Schwejksam, aber die dunkle, grüblerische Gestalt an seiner Seite war allen ein Rätsel. Früher hatte man Schwejksam stets in Gesellschaft von Investigator Frost angetroffen, die ihm wie ein Schatten folgte, aber sie war bei der Verteidigung des Imperiums gefallen, niedergestreckt von dem notorischen Verräter Kit Sommer-Eiland. Diese neue Gestalt wirkte, falls überhaupt möglich, noch beunruhigender als Frost, und die Leute wandten den Blick ab, waren unfähig, dem Mann in die Augen zu sehen. Und dann erkannten einige, was der Mann in Schwarz in Händen hielt, und erschrockenes Murmeln lief durch den Saal. Es war eine Kraftlanze, eine gebannte Waffe aus der Frühzeit des Imperiums. Gebannt war sie, weil sie einen Esper so stark machen konnte, daß niemand mehr eine Chance hatte, ihm standzuhalten. Auf den bloßen Besitz schon stand der Tod.

Kapitän Schwejksam blieb vor der Menge stehen und nickte den Abgeordneten brüsk zu. Er war ein großer Mann in den späten Vierzigern, dessen Taille zunahm und dessen Haar zurückwich, mit Augen, die zuviel gesehen hatten und nie den Blick hatten abwenden können. Er gehörte zu den wenigen, die für das Imperium gekämpft hatten und heute trotzdem als echte Helden galten, aber seit dem Ende der Rebellion hielt er den Kopf eingezogen. Auf beiden Seiten fand man einfach zu viele, die eine solch mächtige Figur gern aus dem Spiel entfernt hätten, aber er war potentiell immer noch zu nützlich, um ihn vom Feld zu nehmen. Niemand wußte, wann man jemanden für einen allerletzten Selbstmordeinsatz benötigte. Und jetzt war er hier, weder angekündigt noch erwartet. Die Menge wurde ganz still und wartete darauf, daß er sich zu Wort meldete. Schwejksam nickte auch Gutmann forsch zu.

»Tut mir leid, daß wir so hereinplatzen, aber unser Anliegen duldet keinen Aufschub. Ich komme gerade vom Planeten Unseeli draußen am Abgrund zurück. Wir alle stecken in großen Schwierigkeiten.«

»Oh, verdammt«, sagte Gutmann. »Kommt heutzutage vom Abgrund nichts mehr außer schlechten Nachrichten? Worum geht es, Kapitän? Die Insektenschiffe?«

»Schlimmer«, antwortete Schwejksam. »Es ist Shub.« Er wartete einen Augenblick ab, während die Zuschauer und die Abgeordneten raunten, und fuhr fort: »Ich hatte eine reguläre Versorgungsfahrt zu der einsamen imperialen Basis auf Unseeli, wo Wissenschaftler ein abgestürztes fremdes Raumschiff unbekannter Herkunft untersuchten. Wir fielen aus dem Hyperraum und mußten feststellen, daß der ganze Planet zerstört worden war. Die Metallwälder, die den Planeten von Pol zu Pol bedeckten und uns die Schwermetalle für die traditionellen Hyperraumtriebwerke lieferten, waren komplett abgeerntet.

Milliarden Bäume, und alle dahin.

Die Basis ist ebenfalls zerstört, in Stücke geschossen. Jeder Mann und jede Frau tot. Das fremde Raumschiff ist verschwunden. Shub hat es sich angeeignet. Das einzige Lebewesen, das den Angriff von Shub überlebt hat, ist der Mann an meiner Seite – ein früherer Investigator, der als Gesetzloser auf Unseeli lebte. Sein Name lautet Carrion. Ich habe ihn hergebracht, damit er uns alles erzählt, und garantiere persönlich für seine Sicherheit. Ich hoffe doch, daß das akzeptabel ist?«

»Ja, ja«, sagte Gutmann ungeduldig. »Wir vertrauen wie immer Eurer Urteilskraft. Erzählt uns vom Shub- Angriff. Warum hat die Flotte nichts davon bemerkt?«

»Niemand sieht die von S hub, wenn sie nicht gesehen werden möchten«, sagte der Mann namens Carrion mit Grabesstimme. Die große und gertenschlanke Gestalt steckte in dunkler Lederkleidung unter einem sich bauschenden schwarzen Umhang. Das jugendliche Gesicht trat leichenblaß unter den kalten dunklen Augen und dem langen schwarzen Haar hervor.

»Sie kamen aus dem Nichts, Tausende von Schiffen, die metallenen Alpträumen glichen und den Himmel ausfüllten. Sie hämmerten das Kraftfeld der Basis nieder, als existierte es überhaupt nicht, und ebneten sie dann ein. Ich vernahm die Todesschreie von Männern und Frauen. Shub nahm das Schiff der Fremdwesen an sich, zusammen mit den Wissenschaftlern, die zu diesem Zeitpunkt gerade an Bord waren. Der Angriff war fast so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Dann setzte die Ernte ein.« Er machte eine Pause. »Früher hatte zwischen den Metallbäumen eine wunderbare fremdartige Lebensform existiert, genannt die Ashrai. Das Imperium rottete sie aus, um ungestörten Zugriff auf die Metallbäume zu erhalten. Aber die Seelen der Ashrai überlebten und banden sich an die Bäume.

Ich hörte sie schreien, als die Bäume aus der Erde gerissen wurden.

Ich überlebte, unter der Erde versteckt, geschützt und getarnt durch meine Psifähigkeiten. Ich bin der einzige Überlebende von Unseeli. Die Ashrai sind tot, die Menschen sind tot und die Bäume dahin. Mein Name lautet Carrion. Ich bringe Unglück.

Ich bin der Zerstörer von Nationen und Planeten.«

Er hörte abrupt auf zu reden, und die Stille dauerte für eine geraume Weile an, während sich alle gegenseitig anblickten, gefangen im Bann der Worte des dunklen Mannes und der schrecklichen Nachrichten, die er überbracht hatte. Schließlich räusperte sich Gutmann unsicher und blickte zu Carrion und Schwejksam hinunter.

»Wir… danken Euch für diese Informationen. Falls sich Shub all die Bäume angeeignet hat, müssen wir davon ausgehen, daß sie einen umfassenden Angriff auf die Menschheit planen. Die Schwermetalle aus dieser Ernte können den Treibstoff für eine verdammt große Armada liefern, während sie uns gleichzeitig versagt bleiben. Und falls sie das Schiff der Extraterrestrier haben, verfügen sie auch in absehbarer Zeit über den neuen Hyperraumantrieb – genau wie wir. Unsere Bemühungen, das neue Triebwerk zu perfektionieren und besser zu verstehen, sind dringlicher denn je. Danke, daß Ihr uns in Kenntnis gesetzt habt, Kapitän Schwejksam. Wie immer habt Ihr uns gute Dienste geleistet. Ihr dürft jetzt gehen, aber wir benötigen von Euch beiden später noch umfassende Berichte.«

»Verstanden«, sagte Schwejksam. »Wir halten uns zur Verfügung. Noch ein letzter Gedanke für Euch, um daran zu knabbern: Ein Esper hat mir einst berichtet, er hätte eine hellsichtige Vision dessen gehabt, was Shub für die Menschheit plante. Er wollte mir nicht schildern, was er sah, aber er hat sich lieber selbst umgebracht, als zu riskieren, daß er miterlebt, wie es wahr wird.«

Ein unbehagliches Murmeln lief durchs Parlament. Gutmann lehnte sich zurück und achtete darauf, mit ruhiger und vernünftiger Stimme zu reden. »Präkognition ist die am wenigsten verstandene und am wenigsten zuverlässige Esperfähigkeit, Kapitän. Welche Vision Euer Esper auch immer gehabt haben mag, ich denke nicht, daß wir ihr zuviel Glauben schenken sollten.

Klar ist jedoch, daß jemand untersuchen muß, was Shub im Schilde führt.«

»Ich melde mich freiwillig!« erklärte Jakob Ohnesorg lauthals. »Falls ein Angriff unmittelbar bevorsteht, müssen wir es erfahren. Und ich gehöre zu den wenigen Menschen, die überhaupt hoffen können, den Machenschaften Shubs nahe zu kommen und lebendig zurückzukehren, um Meldung zu machen.«

»Ach verdammt!« warf Ruby Reise ein. »Schätze, ich komme auch mit, des Spaßes halber.«

»Wir nehmen Euer Angebot dankbar an«, erklärte Gutmann.

»Damit bleibt uns nur, Kapitän Schwejksam und seinem Gefährten für die zeitige Benachrichtigung zu danken. Geht mit den besten Wünschen des Parlaments. Zweifellos seid Ihr begierig, auf Euer Schiff zurückzukehren. Carrion, Ihr werdet natürlich die Kraftlanze den zuständigen Behörden aushändigen, ehe Ihr geht.«

»Nein«, sagte Carrion. »Das denke ich nicht.«

Gutmann runzelte die Stirn. »Kraftlanzen unterliegen einem Bann, und das aus gutem Grund. Sie sind im ganzen Imperium verboten. Schwejksams Wort schützt Euch, Gesetzloser, also fordern wir nicht Euren Tod. Aber wir können Euch nicht gestatten, die Lanze zu behalten.«

Er winkte mit einer fetten Hand, und ein Dutzend bewaffnete Wachleute traten vor, die Waffen auf den Mann gerichtet, der Carrion hieß. Er blickte Schwejksam an, der die Achseln zuckte. Carrion bedachte Gutmann mit einem kalten Lächeln.

»Versucht nur, sie zu nehmen.«

Auf einmal schien es im ganzen Saal dunkler zu werden, und überall waren Schatten. Dinge regten sich in der Düsternis und schwebten außer Sichtweite bedrohlich über den Menschen, riesig und kalt und unsichtbar. Eindrücke entstanden von schartigen Zähnen und großen krummen Klauen. Ein schwerer Wind blies böig und heftig aus dem Nirgendwo. Etwas heulte, ein langgezogener wilder Laut ohne irgend etwas von Menschennatur darin. An den Seiten wisperten Stimmen. Eine unsichtbare, wachsame Präsenz war spürbar, von Wesen ohne Zahl, und alle im Saal spürten einen böswilligen Zorn, der wie eine Sturmwolke über ihnen lag. Die Wachleute umklammerten ihre Waffen, wußten aber nicht, wohin sie zielen sollten. Owen, Hazel, Jakob und Ruby standen Rücken an Rücken, bereit für alles, was ihres Weges kam. Menschen umklammerten einander und versuchten, in alle Richtungen zugleich zu blicken. Sie waren nur wenige Augenblicke vor einer Panik, einer Stampede zu den Türen, die eine Menge Menschenleben gekostet hätte.

Und dann war die Präsenz auf einmal weg, erstarb der Wind und war alles wieder ruhig und still. Auf seinem Stuhl, auf seinem Podest leckte sich Gutmann nervös die Lippen und räusperte sich.

Alle sahen ihn an, aber er hatte nur Augen für Carrion.

»Was… Was war das?«

»Die Ashrai«, antwortete Carrion. »Sie sind vor langer Zeit umgekommen, als Kapitän Schwejksam Befehl gab, Unseeli zu sengen, aber ihre Geister lebten fort. Einst suchten sie die metallenen Wälder heim, aber jetzt sind die Bäume dahin, und so suchen sie mich heim. Sie beschützen mich.«

»Oh, verdammt«, sagte Gutmann. »Behaltet die verfluchte Lanze. Seht jetzt, daß Ihr unverzüglich von hier verschwindet, und nehmt Eure unnatürlichen Freunde mit.«

Carrion nickte ruhig, drehte sich um und ging zur Tür, begleitet von Schwejksam. Hastig gaben ihnen die Leute den Weg frei. Alle außer einer. Diana Vertue trat den beiden in den Weg, und sie blieben vor ihr stehen. Diana nickte Carrion brüsk zu und richtete den Blick ihrer verwundeten Augen auf Schwejksam.

»Hallo Vater«, sagte sie.

»Hallo Diana«, sagte Schwejksam. »Ich habe schon gehört, daß du wieder deinen alten Namen angenommen hast. Ich bin froh. Johana Wahn hat mir im Grunde nie gefallen.«

»Sie war ein realer Teil von mir. Sie ist es nach wie vor, tief in mir. Ich habe mich nur… weiterentwickelt. Als die Weltenmutter noch durch mich wirkte, hielt ich mich für ihren Avatar, ihren Fokus, ihre Heilige auf Erden. Aber sie hat mich verlassen, mir die Gnade und den Ruhm genommen, damit ich den Rest meiner Tage als Wesen geringeren Ranges verbringe, das nicht länger vom Himmel berührt wird. Sie hat mich einfach im Stich gelassen, genau wie du es auf Unseeli getan hast.«

»So war es nicht«, sagte Schwejksam.

»Doch, war es«, erwiderte Diana. »Es war genau so.« Sie sah Carrion an. »Ich habe die Ashrai auf Unseeli singen gehört. Bin in ihren Gesang eingefallen. Sie vermittelten mir einen Eindruck vom Himmel und zogen sich dann zurück. Besser für immer blind, als für wenige Augenblicke die Farben des Regenbogens zu sehen und wieder ins Dunkel geworfen zu werden. Man hat mich so oft verraten; jetzt traue ich nur noch mir.

Wer immer das ist. Ich bin froh, daß Euer Planet tot ist, Carrion. Ich bin froh, daß die Wälder dahin sind. Ich wünschte nur, Ihr und die Ashrai wärt mit ihnen dahingeschieden. Haltet Euch fern von mir. Du auch, Vater. Weil ich dich töte, wenn du mir erneut weh tust.«

Schwejksam wollte etwas sagen, fand aber nicht die Worte, und schließlich verbeugte er sich nur und ging, Carrion an seiner Seite. Diana blickte ihnen nach, und für einen Moment knisterte etwas von ihrer bösartigen alten Persönlichkeit um sie herum wie ein Fliegenschwarm.

Danach fiel alles weitere dramaturgisch stark ab, und das Parlament ging bald auseinander. Owen und Hazel, Jakob und Ruby nahmen einen Seitenausgang, um den Medien und Menschenmassen auszuweichen. Ihnen war nicht danach, mit Fremden zu reden. In der Nähe lag eine Kneipe, nicht viel mehr als ein Loch in der Mauer, aber die Getränke waren genießbar und Privatsphäre wurde garantiert. Sie setzten sich an einen Tisch mit fleckiger und zerkratzter Platte, bedienten sich zurückhaltend von ihren Drinks und fragten sich, was sie einander sagen sollten. Sie hatten einen weiten Weg zurückgelegt, seit Owen sie auf Nebelwelt als gewöhnliche Heldengruppe organisiert hatte.

»Lange her, seit wir zuletzt zusammensaßen«, sagte Jakob Ohnesorg schließlich. »Aber schließlich waren wir jüngst alle sehr beschäftigt, vermute ich.«

»Im Grunde keine Überraschung«, sagte Hazel. »Ich meine, eigentlich hatten wir immer nur die Rebellion als Gemeinsamkeit.«

»Und die Freundschaft«, fand Owen. »Immer bleibt noch die Freundschaft.«

»Natürlich«, sagte Jakob, vielleicht ein bißchen zu herzlich.

»Man kann nicht das gleiche durchmachen wie wir, ohne sich dabei… nahezukommen. Aber ich weiß, was Hazel meint. Die Rebellion hat uns gemeinsame Ziele gesetzt, etwas, woran wir unser Leben orientieren konnten. Als sich die Lage veränderte, mußten wir uns neu definieren, und wir sind nicht mehr die Menschen, die wir früher waren.«

»Richtig«, bekräftigte Ruby. »Wie zum Teufel sind wir nur von hier nach dort gelangt? Ich weiß nicht, womit ich gerechnet habe, falls wir tatsächlich den Sieg davontragen sollten, aber verdammt sicher etwas anderes, als jetzt passiert. Ich vermisse… die klare Orientierung, die ich früher hatte.«

»Aber wir können nicht einfach wieder zum alten Ich zurückkehren«, meinte Owen, »zu den Menschen, die wir waren, ehe all das begann. Wir mußten uns verändern, um zu überleben.«

»Ich würde mich nicht zurückverwandeln, selbst wenn ich könnte«, stellte Hazel fest. »Es wäre mir zuwider.«

»Richtig«, fand Jakob. »Die Bedeutung der eigenen Wurzeln wird überschätzt. Wir sind wie Haie: Wir müssen in Bewegung bleiben oder sterben. Und manchmal bedeutet das, einfach weiterzuziehen.«

»Aber wir müssen in Berührung bleiben«, sagte Owen. »Mit wem sonst sollten wir uns unterhalten? Wer sonst könnte begreifen, was wir erlebt haben? Das Labyrinth hat uns in vielerlei Hinsicht verändert, und ich bin nicht überzeugt, daß der Wandlungsprozeß schon abgeschlossen ist.«

»Fang nicht wieder damit an!« verlangte Ruby ungeduldig.

»Es ist vorbei, Owen; laß es gut sein. Ich habe nicht vor, in der Vergangenheit zu leben. Jeden Abend in solchen Mistlöchern herumzusitzen, über alte Schlachten und Siege zu debattieren, mich über das Wer und Wann zu zanken wie alte Veteranen, denen nichts geblieben ist, als immer wieder die Tage zu erleben, in denen ihr Leben noch Sinn und Richtung hatte. Ich will verdammt sein, wenn mein Leben schon vorüber ist.«

»Richtig«, sagte Jakob. »Deshalb habe ich uns auch freiwillig für den Einsatz gegen Shub gemeldet.«

»Na ja«, sagte Ruby. »Ich weiß nicht recht, ob es das war, was ich mir vorgestellt habe.«

»Ach, komm schon«, versetzte Jakob. »Wo ist dein Sinn für Abenteuer geblieben? Du hast gesagt, du wolltest was erleben.

Also, morgen fangen wir damit an.«

»So bald?« fragte Owen. »Hazel und ich sind gerade erst zurückgekehrt. Wir hatten noch kaum Zeit zusammen.«

»Vielleicht ist es so am besten«, sagte Jakob freundlich. »Wir entwickeln uns zu neuen Menschen und entfernen uns dabei voneinander, ob wir das möchten oder nicht. Fremde werden zu Freunden und dann wieder zu Fremden. So ist das Leben.«

Sie redeten noch eine Zeitlang weiter, aber der Gesprächsstoff war ihnen bereits ausgegangen. Jakob und Ruby brachen auf. Owen starrte in sein Glas, und Hazel sah ihm dabei zu.

»Ich muß Euch etwas sagen«, sagte er endlich. »Ich werde heiraten.«

Hazels Herz machte einen Satz, aber sie hielt Stimme und Gesicht ruhig. »Ach ja? Jemanden, den ich kenne?«

»Konstanze Wolf. Es ist eine arrangierte Hochzeit.«

»Ich dachte, dergleichen wäre zusammen mit der Aristokratie verschwunden.«

»Sie ist nicht wirklich verschwunden«, sagte Owen. »Und manche der alten Wege sind nach wie vor… gültig.«

»Das kommt mir… sehr plötzlich vor.«

»Mich hat es auch überrascht«, räumte Owen ein. »Es war allein Konstanzes Idee. Sie hatte gute Gründe. Ich konnte nicht ablehnen.«

»Du warst schon immer leicht zu überreden. Liebst du sie?«

»Nein! Ich kenne sie kaum. Andererseits ist das bei arrangierten Hochzeiten oft so. Ich mußte schließlich irgendwann heiraten. Jemanden aus meiner Klasse. Es sind die Blutlinien, versteht Ihr?«

»Nein«, antwortete Hazel, »ich verstehe es nicht. Aber trotzdem Glückwunsch. Ich schätze, sie wird die Herrscherin an deiner Seite.«

»Ich wollte das nicht. Aber es erscheint mir… politisch notwendig. Ich kann es nicht ablehnen. Nicht, wenn so viele Alternativen so viel schlimmer wären.«

»Wir könnten fliehen«, meinte Hazel und blickte ihm zum ersten Mal in die Augen. »Dieses ganze Chaos zurücklassen.

Es wäre wieder wie in den alten Zeiten – du und ich auf der Flucht vor dem Imperium, mit keiner Sorge in der Welt, außer der um uns.«

»Klingt verlockend«, gab Owen zu. »Aber ich kann es nicht tun. Ich habe Pflichten, versteht Ihr? Das war mir immer klar.

Letztlich sind manche Dinge wichtiger als das eigene Glück.

Und Ihr habt nie gesagt, Ihr würdet mich lieben.«

»Nein«, sagte Hazel. »Das habe ich nicht.«

Sie warteten noch lange, aber keiner von ihnen hatte mehr etwas zu sagen. Und so saßen sie in der Taverne zusammen, tranken und versuchten, in der sich vor ihnen verdüsternden Zukunft ihren Weg zu erkennen.

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