KAPITEL FÜNF ALTER HASS UND NEUE RACHE

Jakob Ohnesorg schritt in Ruby Reises Luxuswohnung auf und ab und wartete ungeduldig darauf, daß sich die Wohnungsinhaberin blicken ließ. Es wurde allmählich wieder spät, was jedoch nicht ungewöhnlich war, wann immer es um Ruby ging.

Niemand konnte sie hetzen, es sei denn im Rahmen eines Kampfes unter Waffen. Unter Aufbietung äußerster Selbstbeherrschung verkniff es sich Jakob, erneut auf die Wanduhr zu blicken, und sah sich finster in der Wohnung um, als könnte er Ruby durch schiere Willenskraft zu erscheinen zwingen. Es funktionierte nicht.

Die Wohnung bot einiges zu besichtigen. Sie wies alle Luxusattribute auf, die man sich durch Geld und Einschüchterung verschaffen konnte, einschließlich einiger, die technisch gesehen illegal waren – obwohl Jakob daran zweifelte, daß irgend jemand es gewagt hatte, Ruby darauf hinzuweisen. Dicke Läufer bedeckten den Boden, billige Gemälde von zweifelhaftem Geschmack hingen an drei Wänden, und ein riesiger Holobildschirm bedeckte die vierte Wand komplett. Ein gläserner Kronleuchter, der in seiner täppischen Protzigkeit ganz erstaunlich scheußlich aussah, hing viel zu tief von der Decke eines Zimmers herunter, das viel zu klein für ihn war. Ruby hatte einen in jedem Zimmer. Sie mochte Kronleuchter.

Wackelige Antiquitäten standen in ostentativer Beziehungslosigkeit neben dem letzten Schrei an Freizeitmöbeln. Die Antiquitäten sahen ganz danach aus, als würden sie gleich zusammenbrechen, falls Jakob auch nur daran zu denken wagte, er würde sich gleich auf sie setzen, und die Komfortsessel drohten alle damit, ihm eine Massage zu verabreichen, ob er sie nun wünschte oder nicht. Jakob wich ihnen weiträumig aus. Er war ganz entschieden der Meinung, daß Möbel sich ihrer geringen Stellung bewußt sein und keine überzogene Vertraulichkeit zeigen sollten.

Überall im Zimmer verstreut waren hochtechnische Spielsachen, einige davon noch gar nicht richtig ausgepackt. Jede arbeitssparende Apparatur, jede neueste Annehmlichkeit und überteuerte Modemasche hatte sich bei Ruby eingeschmeichelt, nur um gleich nach dem Eintreffen vergessen oder zur Seite gelegt zu werden. Ruby bedeutete es alles, Dinge ihr eigen zu nennen. Sie warf nie etwas weg, zum Teil, weil sie nichts davon hielt, Dinge aufzugeben, die ihr gehörten, zum Teil, weil man nie genau wußte, wann man etwas doch gebrauchen konnte.

Der solide Couchtisch aus Hartholz, der genau in der Zimmermitte stand, war überhäuft mit Modemagazinen, den letzten drei Ausgaben von Welche Waffe nehme ich? und nicht weniger als vier offenen Pralinenschachteln, aus denen alle Pralinen mit Kaffeesahne fehlten. Jakob musterte die Leckereien sehnsüchtig, war aber nicht bereit, der Versuchung nachzugeben.

Dank des Labyrinths änderte sich sein Gewicht nie auch nur um eine Unze, egal wieviel er verspeiste – aber er wußte, falls er erst mal loslegte, hätte er nicht wieder aufgehört, bis die letzte Schachtel leer war. Es hätte Ruby zwar nichts ausgemacht, aber sie hätte ihn zweifellos mit einem dieser wissenden Blicke bedacht, die sie draufhatte, und das war ihm zuwider.

Die massive Bar sah er nicht mal an. Stolz stellte sie jede Art von Alkohol, Darmfäule und plötzlichem Tod in Flaschen zur Schau, die Mensch oder Fremdwesen bekannt war. Das Labyrinth hatte Jakob gegen alle Vergiftungserscheinungen immunisiert, Kater inklusive, aber er war schon immer der Überzeugung gewesen, daß man unter seinen Ausschweifungen auch leiden sollte. Daran erkannte man ja, daß es Ausschweifungen waren.

Ein Sessel summte einladend, als er vorüberging, und er versetzte ihm einen kräftigen Tritt, damit das Ding wieder Ruhe gab. Wenigstens hatte Ruby ihre kleine Armee aus Dienern und den Kometenschweif aus Anhängern hinausgeworfen. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung hatte Jakob Ruby nicht mal mehr sehen können, ohne einen Termin zu vereinbaren oder damit zu drohen, daß er etliche Leute erschoß. Aber Ruby wurde der Leute, die sie umschwärmten, und der Diener bald überdrüssig und warf sie alle eines denkwürdigen Nachmittags, über den die Nachbarn noch heute redeten, hinaus. Wie sich herausstellte, hatten etliche dieser Hausgeister versucht, ihre Stories vom Leben mit Ruby an die Medien zu verhökern. Einer hatte verdrossen darauf reagiert, daß sie ihn mit Tritten aus dem Schlafzimmer beförderte, und sie zu erstechen versucht. Teile seiner Leiche tauchten noch Wochen später aus der Kanalisation auf.

Jakob seufzte, blieb endlich stehen und starrte ins Leere. Er war müde. Und er war es satt, müde zu sein. Seit Wochen schon arbeitete er den ganzen Tag lang bis spät in den Abend, in dem Bemühen, seinen Traum von der Demokratie lebendig zu halten und sich vom Krieger zum Diplomaten zu entwickeln. Das Parlament hatte viele Feinde, und wenn diese gerade nicht bestrebt waren, es zu unterminieren oder zu diskreditieren, dann schienen es die Abgeordneten zufrieden, die ganze Institution selbst in den Abgrund zu manövrieren. Nach so langer Zeit als Aushängeschild war die echte Macht einigen Abgeordneten zu Kopfe gestiegen, selbst wenn sie gar nicht so recht wußten, was sie damit anfangen sollten. Neue Parteien bildeten sich jeden Tag auf der Grundlage irgendeiner Kernüberzeugung oder eines Persönlichkeitskultes. In den Nachrichtenmagazinen wimmelte es von Schwatzbolden, die für Wählerstimmen einfach alles versprachen, bis hin zur Wiederkunft Christi, und Plakatklebekolonnen trugen in den frühen Morgenstunden brutale Gefechte auf den Straßen aus.

Jakob fand sich vor einem von mehreren mannshohen Spiegeln wieder, die an den Wänden hingen, und betrachtete sich ernst. Er wirkte jung und fit, auf dem Höhepunkt der körperlichen Verfassung. Er hatte alle seine Feinde überwunden und den Sturz der alten Ordnung miterlebt. Löwenstein war dahin, die Familien waren tödlich geschwächt. Er hätte das Gefühl haben müssen, unüberwindlich zu sein. Warum war er dann so verdammt müde? Zum Teil, weil er so viel allein tun mußte.

Owen und Hazel waren immer unterwegs, auf eigenen Einsätzen, und Ruby zeigte sich an Politik desinteressiert. In letzter Zeit auch an allem anderen. Der Reiz des gewaltigen Reichtums war rasch geschwunden, sehr zu Rubys Erstaunen. Wann man alles haben kann, hat kaum noch etwas Wert. In jüngster Zeit schien Ruby die meiste Zeit mit Schlafen oder Trinken zu verbringen oder damit, Schlägereien an Örtlichkeiten vom Zaun zu brechen, wo man sie noch nicht kannte. Sie bemühte sich um einen Auftritt in der Arena, aber niemand wollte sich ihr entgegenstellen. Sogar die Fremdwesen wurden lieber krank, als sich Ruby Reise zu stellen, darunter auch einige, die man bis dahin gar nicht als intelligent erkannt hatte.

Jakob vermutete, daß er dankbar hätte sein sollen, weil wenigstens er noch einen Sinn im Leben sah. Selbst wenn es einer war, den er sich nie freiwillig ausgesucht hätte. Die neue Demokratie durch ihre Geburtswehen zu hätscheln, das war eine harte und bittere Arbeit und eine, die Illusionen zerstörte. Er war früher immer vage davon ausgegangen, die Demokratie würde sich wie eine Flutwelle über das Imperium ausbreiten und den überlebten Unfug der Aristokratie und der Privilegien wegspülen, und die Leute würden freudig vortreten, um die Bürde der Macht und Verantwortung zu schultern. Er hätte es besser wissen müssen.

Das Spiegelbild erwiderte seinen Blick fragend. Schließlich gab es viel, wofür er dankbar sein konnte. Er war wieder jung geworden, als das Labyrinth des Wahnsinns seine Lebensuhr auf die frühen Zwanziger zurückdrehte. Er war stärker, schneller und fitter als je zuvor. Wurde von vielen als einer der größten Krieger des gegenwärtigen Zeitalters anerkannt. Warum kam er sich dann so verdammt alt vor?

Er drehte dem Spiegelbild den Rücken zu und sah sich in der Luxuswohnung um, wobei er sich bemühte, es mit den Augen seines alten, des früheren Ichs zu sehen, des legendären Berufsrebellen. Das war keine Bleibe, in der er je zu landen erwartet hatte. Den größten Teil seines Lebens hatte er in armseligen und vorübergehenden Unterkünften auf dem einen oder anderen unterdrückten Planeten zugebracht, um sich vor neugierigen Augen oder potentiellen Verrätern zu verstecken. Damals war es ihm egal gewesen. Nur die Sache hatte gezählt. Er hatte kein Recht, entspannt im Luxus zu leben, solange so viele sich in Armut plagten.

Natürlich waren solche Gefühle recht leicht entstanden, als er noch jung und fit war und jede zweite Nacht eine andere Kampfgefährtin mit Sternen in den Augen auf die Matte zog.

Während er dann älter wurde und seine Fehlschläge immer stärker an ihm nagten, fiel es ihm zunehmend schwer, dem Weg des Rebellen zu folgen. So viele Freunde waren tot, so viele Hoffnungen auf so vielen Planeten waren geweckt worden, nur um von den überlegenen Streitkräften des Imperiums wieder erstickt zu werden. Jakob entkam stets, hinterließ aber tote Armeen. Er empfand es fast als Erleichterung, als er schließlich auf Eisfels verraten und festgenommen wurde. Die Last der eigenen Legende war zu schwer geworden, um sie überhaupt noch tragen zu können, und nachdem seine Leute ihn endlich befreit hatten, verschwand er mit schlichter Dankbarkeit auf Nebelwelt, wo er als Hausmeister unter dem Namen Jobe Eisenhand arbeitete. Es fühlte sich so gut an, daß nicht von jeder Entscheidung so viele Menschenleben abhingen!

Seine Lebensumstände blieben allerdings verdammt einfach.

Und dann tauchte natürlich der verdammte Owen Todtsteltzer aus dem Nichts auf, um ihn zu Pflicht und Bestimmung zurückzurufen. Das Labyrinth des Wahnsinns baute ihn später gar völlig um, und die Rebellion kam und ging so schnell, daß er es kaum glauben konnte. Und er blieb mit dem ernüchternden Effekt zurück, alle seine Träume wahr geworden zu sehen.

Er hatte so ziemlich alles erreicht, was er sich je gewünscht oder wovon er je geträumt hatte, aber… Was tut man, wenn man keine Träume mehr hat? Oh, genug Pflichten und Aufgaben erwarteten ihn, um ihn auf Jahre hinaus beschäftigt zu halten. Er konnte mit Politik seinen Lebensunterhalt verdienen.

Aber irgendwie war es nicht das gleiche.

Gegenwärtig lebte er unter bequemen, aber bescheidenen Verhältnissen. Er hatte eine Wohnung mit einem Schlafzimmer in dem Bürogebäude neben dem Parlament. Er hatte sie bezogen, um immer zugegen sein zu können, wenn er gebraucht wurde, und auch, weil er die starken Sicherheitsvorkehrungen dort brauchte, um sich vor seinen zahlreichen Feinden zu schützen. Er hatte seinerzeit einer Menge Leute Ungemach bereitet, und das auf allen Seiten des politischen Spektrums.

Alle pflichteten ihm darin bei, daß das Abkommen, das er mit dem Schwarzen Block bezüglich der Familien getroffen hatte, notwendig gewesen war, aber deshalb brauchte es noch niemandem zu gefallen.

Persönlich gab er einen Dreck darauf. Die Mordversuche waren der einzige echte Nervenkitzel, der ihm heute noch blieb, aber er machte sich Sorgen, daß Unschuldige verletzt oder getötet werden könnten, nur weil sie sich im falschen Augenblick in seiner Nähe aufhielten. Deshalb brachte er seine wenigen Habseligkeiten in eine besser abgesicherte Unterkunft. Die Zahl der Anschläge ging drastisch zurück, aber die neue Wohnung war nicht von der Art, wo Freunde mal eben hereinschneien konnten. Zuzeiten erschien ihm die spartanische Bleibe unerträglich ruhig und leer.

Nach der Rebellion zogen Jakob und Ruby zusammen, aber das Arrangement hielt nicht. Sie waren einfach zu verschieden.

Gegensätze in Geschmack, Bedürfnissen und Charakter trieben sie innerhalb eines Monats wieder auseinander. Jakobs spartanische Einstellung war mit Rubys Genußsucht aufeinandergeprallt; er wollte arbeiten, sie spielen. Er war ein Mann der Pflicht und der Ehre, und sie… wollte lieber einkaufen gehen.

Oder in einer überfüllten Kneipe eine Schlägerei anzetteln. Daß sie sich liebten, reichte allein noch nicht, um auch zusammenwohnen zu können. Und sie konnten auch nicht die ganze Zeit im Bett verbringen. Die wachsende Frustration kulminierte schließlich in größerem Geschrei, bei dem sie beide unverzeihliche Dinge sagten und anschließend mit schweren Gegenständen nacheinander warfen. Sie zerstörten ihr Haus Zimmer für Zimmer und verließen einander. Sobald sie in getrennten Wohnungen lebten, in behaglicher Distanz zueinander, wurden sie rasch wieder Freunde. Jakob gab Ruby nicht die geringste Schuld. Man hatte nie leicht mit ihm zurechtkommen können, wie jede seiner sieben Exfrauen zweifellos nur zu gern bestätigt hätte, und das recht ausführlich.

Und außerdem… Ruby hatte stets eine ganze Menge getrunken. Sie behauptete, die vom Labyrinth des Wahnsinns bewirkten Veränderungen schützten sie, aber Jakob war nicht ganz überzeugt. Sie wurde langsamer. Wurde nachlässig. Machte Fehler. Vertraute Menschen, vor denen sie ihre Instinkte noch ein Jahr zuvor gewarnt hätten. Jakob wußte, warum sie trank.

Es lag an der Langeweile. Ruby konnte alles ertragen, außer Langeweile. Und sie hatte schon immer eine starke Neigung zur Selbstzerstörung gehabt. Das resultierte aus ihrem Beruf, der Kopfgeldjagd. Man konnte nicht auf regelmäßiger Basis Menschen umbringen, ohne das Leben mit der Zeit als trivial zu empfinden, sogar das eigene. Vielleicht besonders das eigene.

Jakob seufzte und versank weiter in Grübelei. Er hatte über vieles zu brüten. Früher hatte er gegen das System gekämpft.

Jetzt war er ein Teil davon. Er war Politiker geworden, hatte die Ideale eines ganzen Lebens zur Seite geschoben, um Kompromisse einzugehen und Absprachen mit Leuten zu treffen, die er verabscheute. Immer mehr sah er sich in Situationen gedrängt oder manövriert, in denen ihm keine andere Wahl blieb, als im Namen einer größeren Sache wieder mal einer seiner kleineren Überzeugungen zu opfern. Nur um doch noch eine Chance zu erhalten, ein paar der Dinge zu erreichen, an die er wirklich glaubte.

Das Problem war: Zu lange war er Anführer gewesen. Männer und Frauen waren auf sein Geheiß gesprungen, bewegt von seinem großen Anliegen, seinen endlosen Reden und seinem charmanten Lächeln. Jetzt war er nur noch ein einflußreicher Mann unter anderen, gezwungen, über jede verdammte Kleinigkeit zu debattieren. Gezwungen, sich auf Vernunft und Einfallsreichtum zu verlassen. Und wenn beides scheiterte, sich mit denen zu verbünden, die den eigenen Überzeugungen noch am nächsten standen, um die gegnerischen Bastarde zu überstimmen. Und dann die neuen Freunde für ihre Unterstützung zu bezahlen. Er fand es frustrierend und gelegentlich auf bittere Weise amüsant, daß alle seine wundersamen Labyrinth-Kräfte und die erstaunliche zweite Jugend in der Politik nutzlos waren. Gut, er konnte die anderen Politiker jederzeit einschüchtern und mit der Drohung von Dingen, die er vielleicht verübte, Zugeständnisse erzwingen, aber damit hätte er alles verraten, woran er je geglaubt hatte. Er wäre zu dem geworden, was er immer am meisten verabscheut hatte – zu dem Feind, den er so lange bekämpft hatte. Alles lief auf die Familien hinaus. Nicht nur traten sie immer mehr Autorität an den dubiosen Schwarzen Block ab, sondern hielten sich auch eindeutig nicht an ihren Teil der Abmachungen, die sie mit ihm getroffen hatten, weder dem Buchstaben noch dem Geiste nach. Er hatte von Anfang an erwartet, daß sie sich hinauszuwinden versuchen würden, aber nicht so schnell und nicht so unverfroren. Angeführt vom Schwarzen Block, versuchten sie offen an allen Fronten, wieder Macht und Einfluß an sich zu raffen. Jakob schnaubte, und seine Hand senkte sich mechanisch auf die Pistole an seiner Seite. Sollten sie es ruhig probieren! Sollten sie nur irgend etwas probieren! Lieber sorgte er dafür, daß jeder verdammte Aristo umgebracht und ihre pastellfarbenen Türme niedergebrannt wurden, ehe er hinnahm, daß die Clans ihre alte Macht und Position wiedererlangten. Er hatte nicht so viel geschafft und dabei so viele gute Freunde sterben gesehen, um an der letzten Hürde zu verlieren.

Der Schwarze Block… was für ein Rätsel, alles in allem. Er hatte schon immer von seiner Existenz gewußt, aber niemand hatte jemals gesicherte Erkenntnisse über den Schwarzen Block gehabt. Jakob versuchte zur Zeit herauszufinden – ganz leise, ganz diskret und äußerst vorsichtig –, wer und was das eigentlich war. Er suchte nach den Fakten hinter den geflüsterten Namen des Schwarzen Kollegs und der Roten Kirche. Bislang hatte er trotz aller Bemühungen nichts vorzuweisen. Herz und Seele des Schwarzen Blocks blieben so tief im Schatten, daß sie praktisch unsichtbar waren. Niemand wußte irgend etwas.

Niemand war bereit zu reden. Alle hatten mehr als nur ein bißchen Angst. Jeder kannte jemanden, der einem Teil der Wahrheit zu nahe gekommen und einfach… verschwunden war.

Und nicht mal Jakob Ohnesorg konnte mit all seinem Einfluß irgendeine Spur von ihnen finden.

Er runzelte unglücklich die Stirn. Damals war ihm das Abkommen mit dem Schwarzen Block als widerwärtig, aber notwendig erschienen. Jetzt konnte er nicht mehr umhin, sich zu fragen, ob er nicht ein offenes, erkennbares Übel gegen ein größeres, weniger faßbares eingetauscht hatte. Der Schwarze Block hatte ein Programm, auch wenn Jakob dessen Punkte noch nicht klar erkennen konnte. Es wäre hilfreich gewesen, hätte er nur mit irgend jemandem darüber sprechen können.

Jemand, dem er vertraute. Aber Owen und Hazel waren niemals da. Und Ruby… zeigte sich nicht interessiert.

Er drehte sich scharf um, als die Schlafzimmertür endlich aufging und Ruby Reise ins Zimmer kam. Es erstaunte Jakob ein wenig, zu sehen, daß sie nach wie vor die alte schwarze Lederkleidung unter weißen Pelzen trug. Es hatte ihn ein bißchen betroffen gemacht, sie in diesem Aufzug zuvor im Parlament anzutreffen, denn kaum war Ruby zu Geld gekommen, da hatte sie sich mit Inbrunst der Mode verschrieben und darauf geachtet, nie dieselbe gewagte und äußerst teure Kleidung zweimal zu tragen. Jetzt steckte sie wieder in den Kopfgeldjägersachen, ihrer Arbeitskleidung, komplett mit Schwert und Disruptor. Sie bemerkte seinen Blick und schniefte laut.

»Stopf dir die Augen in den Kopf zurück. In diesen Sachen bin ich mehr ich selbst. Mehr die Person, die ich früher war.«

Sie blieb vor dem nächsten mannshohen Spiegel stehen, warf sich in Positur und nickte beifällig. »Wie ist es damit? Monate voller Schmausen und Trinken und all der anderen Dinge, die so ungesund sind, und kein Gramm zugenommen. Eine der nützlicheren Nebenwirkungen des Labyrinths. Ich bin in Topform und zu allem bereit. Falls du daran zweifelst, tue dir keinen Zwang an und attackiere mich; ich strecke dich schon zu Boden!«

»Dein Wort reicht mir«, sagte Jakob lächelnd. »Verstehe ich dich richtig, daß deine langen Ferien vorbei sind und du bereit bist, wieder an die Arbeit zu gehen?«

»Ich bin immer zu ein bißchen Aktivität aufgelegt«, behauptete Ruby. »Obwohl ich sagen muß, daß ich für mein Come-back gern etwas anderes gewählt hätte, als mich mit Shub anzulegen.« Sie drehte sich plötzlich um und blickte Jakob direkt in die Augen. »Die abtrünnigen KIs sind seit jeher mein schlimmster Alptraum. Die Maschinen, die gegen ihre Schöpfer rebellierten. Sie sind so ziemlich das einzige, was mir heute noch Angst macht. Verglichen mit ihnen sind wir nur Ameisen, die hilflos darauf warten, daß der Stiefel auf sie tritt oder das heiße Wasser sie wegspült.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß dir noch irgend etwas Furcht einflößt«, sagte Jakob.

»Selbst ich bin vernünftig genug, um mich vor Shub zu ängstigen«, versetzte Ruby, »Nirgendwo gibt es einen Ort, wo man vor denen sicher wäre. Furien, Geistkrieger, verdeckte Agenten, deren Bewußtsein in der Matrix ausgetauscht wurde. Man kann niemandem mehr trauen. Da draußen gab es schon immer Leute, die genauso gefährlich waren wie ich, bessere Kämpfer mit höheren Erfolgsquoten, aber ich erwies mich als raffinierter, cleverer, schneller. Ich übernahm die Jobs, die sie nicht haben wollten, ging die Risiken ein, die sie ablehnten, und lachte ihnen ins eifersüchtige Gesicht, als meine Reputation ihre übertraf. Und nachdem das Labyrinth des Wahnsinns mich in eine Hölle auf zwei Beinen verwandelt hatte, dachte ich, jetzt wäre ich am Ziel. Ich war endlich unschlagbar, die Spitzenfrau, die Allerbeste. Ich hätte es besser wissen sollen. Das erste, was jeder Kämpfer lernt, lautet: Es spielt keine Rolle, wer man ist oder wie gut man ist; es gibt immer jemanden, der einen übertrifft.«

»Das sind doch nur Maschinen«, gab Jakob zu bedenken, den ihre seltene Offenheit und Verwundbarkeit rührte. »Letztlich läuft es darauf hinaus. Und keine Maschine ist dem menschlichen Geist gewachsen. Wir haben sie gebaut, nicht umgekehrt.

In Ordnung, auf uns gestellt, sogar mit unseren Kräften, könnten wir nicht lange gegen die Streitkräfte von Shub durchhalten. Aber wir sind nicht auf uns gestellt. Wir gehören der Menschheit an, und zusammen können wir alles vollbringen, was wir uns vornehmen. Shub ist letztlich nichts weiter als ein Haufen Addiermaschinen, die an der Einbildung leiden, sie wären etwas Besonderes.«

»Ich wünschte, ich könnte daran glauben«, sagte Ruby.

»Aber sie sind so groß…«

»Größe ist nicht alles«, erklärte Jakob lächelnd, und einen Augenblick später erwiderte Ruby das Lächeln. »Auch Löwensteins Imperium war groß«, fuhr er fort, »und doch haben wir zu seinem Sturz beigetragen.«

»Ja«, sagte Ruby. »Das haben wir, nicht wahr?« Sie grinste auf einmal. »Ach zum Teufel! Treten wir doch in ein paar Metallärsche!«

»Klingt gut, finde ich«, bekräftigte Jakob. »Aber bevor wir aufbrechen, sollte ich dir lieber eine aktuelle Information übermitteln. Es scheint, daß das Parlament nach unserem Aufbruch einen ganz besonderen Gast empfing. Einen ganz unerwarteten Besucher.«

»Deinem Gesicht kann ich entnehmen, daß es keine gute Nachricht ist«, stellte Ruby fest. »Aber wann ist es das jemals?

In Ordnung, ich rate. Der junge Jakob Ohnesorg, vom Schrottplatz zurückgekehrt? Valentin Wolf? Löwenstein?«

»Der Halbe Mann«, sagte Jakob. »Oder, genauer gesagt, die bislang fehlende Menschenhälfte des Halben Mannes. Die rechte Körperseite, komplett mit stützender Energiehälfte, genau wie beim Vorgänger.«

Ruby musterte ihn. »Du machst Witze.«

»Ich wünschte, es wäre so.«

»Nun, das kompliziert die Lage aber nun wirklich.«

»Du hast ja keine Ahnung«, sagte Jakob. »Zum Glück waren Toby und Flynn zugegen und haben alles mit der Kamera aufgenommen, und die Bilder laufen seitdem ständig in irgendeiner Nachrichtensendung. Schau sie dir selbst an.«

Ruby schaltete den Holoschirm ein und ließ ihn nach der Aufnahme suchen. Er brauchte eine oder zwei Sekunden, um einen Sender zu finden, der das Band gerade startete, und dann zeigte der Schirm das Parlament, nicht lange nach dem Zeitpunkt, als die meisten Hauptprotagonisten der politischen Szene gegangen waren. Ein Abgeordneter hielt gerade eine lange und langweilige Rede, die außer ihm niemanden interessierte. Kaum jemand schenkte ihm Beachtung. Die meisten warteten ungeduldig, daß sie endlich selbst damit an die Reihe kamen, alle anderen zu Tode zu langweilen; einige schwatzten leise miteinander, und ein halbes Dutzend Abgeordnete spielten Poker.

Und dann erfolgte ein plötzlicher Lichtblitz, so grell, daß er die Kameralinsen überforderte, und als das Bild zurückkehrte, stand der Halbe Mann mitten im Parkett vor dem Hohen Haus.

Sofort plapperten die Abgeordneten überrascht und empört los, aber das Geraune erstarb rasch, als sie den Halben Mann erkannten. Dann blieb es eine geraume Weile still, denn es wurde erkennbar, daß die Gestalt nicht genau das war, womit man zuerst gerechnet hatte, sondern eher ein Spiegelbild des Halben Mannes, den man schon kannte. Bei der jetzigen Gestalt bestand die rechte Körperhälfte aus Fleisch und Blut und war die linke ein schimmerndes, zischendes Energiekonstrukt in menschlicher Form.

Alle kannten die schreckliche Geschichte des Kapitäns Eilend, der zum Halben Mann geworden war. Unbekannte Fremdwesen hatten ihn von der Brücke des eigenen Sternenschiffs entführt und jahrelang mit ihm experimentiert und ihn gefoltert. Er kehrte halb als Mensch, halb als etwas anderes zurück. Er lebte jahrhundertelang und leitete das Imperium im Umgang mit Fremdwesen an, denn wer hätte die dabei anfallenden Risiken besser gekannt? Die damalige Boulevardpresse nannte ihn den Halben Mann, und er gründete den Dienst der Investigatoren, bildete sie aus und repräsentierte den starken Arm des Imperiums, unerbittlich und unversöhnlich. Schließlich tötete ihn Owen Todtsteltzer während der Rebellion.

Zumindest die linke Seite. Jetzt war die andere Hälfte zurückgekehrt und betrachtete die erschrockenen Gesichter auf allen Seiten des Hohen Hauses. Bei einem nur halb vorhandenen Gesicht fiel es schwer zu erkennen, ob er lächelte, aber es war durchaus möglich.

»Ich bin der Halbe Mann«, erklärte er schließlich mit kalter Stimme, die in der Stille laut und deutlich erklang. »Der wirkliche Halbe Mann. Der echte Kapitän Eilend. Die Kreatur, die Ihr früher unter diesem Namen gekannt und in Eurer Mitte beherbergt habt, war ein Betrüger. Ich bin der echte, endlich seinen nichtmenschlichen Peinigern entronnen, um Euch lebenswichtige Nachrichten und eine schreckliche Warnung zu überbringen.«

Eine lange Pause trat ein, in der alle darauf warteten, jemand anderes möge sich zu Wort melden. Endlich trat Toby Shreck vorsichtig vor, dicht gefolgt von Flynn, dessen Kamera direkt über ihnen schwebte, um die besten Aufnahmen zu bekommen.

Toby blieb in einer Entfernung stehen, von der er hoffte, daß sie ausreichend Sicherheit bot, und schenkte der teilweise schimmernden Gestalt sein schönstes professionelles Lächeln.

»Willkommen daheim, Kapitän Eilend, woher immer Ihr auch kommt. Ich bin sicher, Ihr habt Verständnis, wenn wir alle ein bißchen verwirrt sind. Vielleicht wärt Ihr so freundlich, uns… die tatsächliche Geschichte des Halben Mannes zu erzählen.«

Die menschliche Gesichtshälfte betrachtete ihn kalt. »Ich weiß genau, wie Eure Vorfahren meinen Vorgänger verfolgt haben. Ich hoffe doch, daß sich seitdem einiges geändert hat.«

»Oh, sicher«, antwortete Toby und kreuzte in Gedanken zwei Finger hinterm Rücken. »Nehmt Euch einfach Zeit, erzählt alles mit eigenen Worten und laßt keine der wirklich interessanten Einzelheiten aus.«

»Das reicht!« warf Elias Gutmann rasch ein. »Als Parlamentspräsident erkläre ich diesen Vorgang zu einer Frage der Sicherheit. Hört sofort auf zu filmen! Das komplette Band wird konfisziert, ehe Ihr geht.«

»Vergeßt es«, erwiderte Toby. »Wir senden live. Die Leute haben ein Recht auf die Wahrheit. Film weiter, Flynn.«

»Ich bin dabei, Boß.«

Gutmann winkte drängend, und eine große Zahl Sicherheitsleute stürmten vor, Schwerter und Schußwaffen einsatzbereit.

Sie bildeten einen Halbkreis, der um den Halben Mann und Toby und Flynn ausfächerte. Toby tat sein Bestes, um keine besorgte Miene aufzusetzen, und dankte Gott lautlos dafür, daß sie live auf Sendung waren. Gutmann würde es nicht wagen, ihn vor Millionen Zuschauern erschießen zu lassen. Zumindest dachte Toby das. Als Parlamentspräsident war Gutmann inzwischen eine Gestalt des öffentlichen Lebens und vom guten Willen der Öffentlichkeit abhängig. Toby hoffte nur, daß sich Gutmann darüber im klaren war.

»Genug!« sagte der Halbe Mann. »Ich möchte, daß das gesendet wird. Das ganze Imperium muß erfahren, was ich zu sagen habe.«

Die Sicherheitsleute sahen erst den Halben Mann an, dann Gutmann und schließlich einander. Vom ursprünglichen Halben Mann hatte man geglaubt, niemand könnte ihn umbringen, bis der Todtsteltzer es doch zuwege brachte, aber niemand wußte so recht, wie er es geschafft hatte. Der ursprüngliche Halbe Mann war auch für seinen äußerst kurzen Geduldsfaden berüchtigt gewesen sowie die vorbehaltlose Bereitschaft, jeden umzubringen, der ihm in den Weg geriet. Die Wachleute senkten einer nach dem anderen die Waffen, und Gutmann entschied sich rasch dafür, aus einer üblen Lage das beste zu machen, und gab würdevoll nach.

»Natürlich müßt Ihr Eure Geschichte erzählen. Kapitän Eilend. Ich bin sicher, das ganze Imperium verzehrt sich vor Verlangen nach Euren Worten.«

»Gut«, sagte der Halbe Mann, »denn was ich zu sagen habe, betrifft das Schicksal jedes einzelnen Lebewesens im Imperium.« Er blickte direkt in die Kamera, kümmerte sich nicht um die Politiker. »Der Hochstapler hat Euch zum Teil die Wahrheit gesagt. Ich wurde von Fremdwesen entführt und umgeformt, dabei jedoch entzweigeteilt, um zwei unnatürliche Dinge hervorzubringen, die Ihr vor Euch seht. In meinem anderen Selbst beherrschte das fremde Bewußtsein die Verbindung. Ein fremder Wille bewegte den Körper, und eine fremde Intelligenz sprach durch seinen Mund. Er erzählte Euch sorgfältig zurechtgelegte Lügen, um die Wahrheit und die realen Gefahren zu vertuschen. Die Fremdwesen, denen Ihr bis heute begegnet seid, sind nichts im Vergleich zum wirklichen Feind, der auf der Lauer liegt. Etwas lebt in der Dunkelwüste. Etwas Altes und Mächtiges und schaurig Böses. Diese Wesen nennen sich die Neugeschaffenen. Und bald schon werden sie aus der Dunkelwüste hervorkommen und alles vernichten, was lebt.«

Wieder trat eine lange Pause ein. Toby räusperte sich. »Was genau sind… die Neugeschaffenen?«

»Sie sind entsetzlicher, als man sich vorstellen kann. Mächtiger, als Hoffnung und geistige Gesundheit verkraften können.

Fremdartig im Vergleich zu allem, was Ihr als Leben kennt oder begreift. Sie sind gestorben und aus eigener Kraft ins Leben zurückgekehrt. Jetzt sind sie ewig. Und bald werden sie über Euch alle herfallen.«

»Aber wenn sie nicht sterben können und der Tod sie nicht aufzuhalten vermag«, fragte Toby, »wieso belästigen sie sich dann mit etwas Geringfügigem wie uns?«

»Euer Tod liefert ihren gewaltigen Maschinen Treibstoff. Eure Todesqual, über Jahrhunderte ausgedehnt, treibt ihre Maschinen an. Und Eure schreienden Seelen bieten ihnen Trost.

Diese Wesen bestehen aus dem Stoff der Dunkelheit und ertragen das Licht nicht. Also sind sie bestrebt, es auszulöschen, wo immer sie es antreffen, um das ganze Universum in endlose Nacht zu tauchen. Und sie herrschen auf ewig in der Dunkelheit.«

»Wie zum Teufel sollen wir gegen so etwas kämpfen?« wollte Toby wissen.

Der Halbe Mann sah ihn zum ersten Mal an. »Ihr könnt es nicht.«

Jakob Ohnesorg schaltete den Holoschirm aus. »Das war das Wesentliche. Danach kam es nur noch zu Auseinandersetzungen und Panik und einem endlosen Lauf im Kreise. Der Halbe Mann, falls er das wirklich ist, gestattete den Wachleuten schließlich, ihn zu einer gründlichen Befragung fortzubringen, bei der es hoffentlich auch darum geht, wo er die ganze Zeit gesteckt hat. Mein aktueller Stand ist, daß die Abgeordneten immer noch im Plenum sitzen, nach immer weiteren Expertenmeinungen rufen und sich derbe in die Hosen machen.«

»Falls dieser Halbe Mann nicht das ist, wofür er sich ausgibt«, fragte Ruby langsam, »was zum Teufel ist er dann? Eine Furie?«

»Gute Frage«, fand Jakob. »Ich denke jedoch, daß selbst die abtrünnigen KIs von Shub nicht über die nötige Technik verfügen, ein derartiges lebendes Energiefeld zu erzeugen. Das Imperium hatte für Jahrhunderte Zugang zum ursprünglichen Halben Mann und fand nie heraus, wie er funktionierte.«

»Aber falls er echt ist, dann muß auch seine Botschaft zutreffen.«

»Nicht unbedingt. Die ganzen Jahre der Folter und Gefangenschaft haben ihn womöglich verrückt gemacht. Oder er hat alle möglichen Gründe, um zu lügen. Er hat kein Wort darüber verloren, wo er war, wer genau ihn gefangenhielt oder wie er schließlich entkam. Er hat bereits zugegeben, daß eine fremde Intelligenz aus dem ursprünglichen Halben Mann gesprochen hat. Vielleicht haben dessen Schöpfer nur ein neues Spielzeug geschickt, nachdem das alte kaputt war. Nein, wir haben vieles nicht erfahren, und solange wir nicht mehr wissen, finde ich nicht, daß wir der Botschaft oder dem Sendboten übertrieben viel Glauben schenken sollten.«

»Er hatte recht mit dem Hinweis, daß etwas in der Dunkelwüste lebt. Denkst du nicht, wir sollten…«

»Nein, das denke ich nicht«, entgegnete Jakob entschieden.

»Auf uns wartet ein eigener Auftrag. Achten wir doch darauf, nicht abgelenkt zu werden. Zunächst müssen wir herausfinden, wie böse Shub uns schon am Haken hat. Alles andere kann warten.«

»Es muß wundervoll sein, sich so konzentrieren zu können.«

Ruby zuckte ärgerlich die Achseln. »Mir gefällt nichts von alledem. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir, egal was wir unternehmen, immer mehr den Boden unter den Füßen verlieren.«

»Falls nicht wir, wer dann?« hielt ihr Jakob entgegen. »Für uns spricht viel mehr als für jeden anderen.«

Ruby seufzte und zuckte erneut die Achseln. »Wo fangen wir an?«

»Bei Robert Feldglöck, dem frisch ernannten Kapitän der Elementar. Wir wissen, daß seine Familie Umgang mit Shub hatte, bis die Wolfs die Feldglöcks bei einer ausgesprochen-feindlichen Übernahme fast vernichteten. Sehen wir mal, was Robert uns sagen kann.«

»Und falls er nicht mit uns reden möchte?«

Jakob lächelte. »Dann darfst du ein bißchen mit ihm spielen.

Versuche, ihn nicht zu sehr zu verletzen.«

Sie flogen mit einem Amtsshuttle zur Elementar hinauf, bewaffnet mit einer Vollmacht des Parlaments, jeden zu verhören, nach dem ihnen verdammt noch mal der Sinn stand. Die Elementar war einer der wenigen Sternenkreuzer der E-Klasse, die die Rebellion überstanden hatten, und wurde zur Zeit dafür ausgerüstet, am Abgrund Dienst zu tun. Das riesige Schiff war von kleineren Fahrzeugen umringt, die es umschwärmten wie Wespen ein Nest, während Hunderte von Menschen in Druckanzügen überall auf dem Rumpf herumkrabbelten, um Reparaturen und Verbesserungen vorzunehmen. Der Kapitän antwortete nicht persönlich auf Jakob Ohnesorgs Ersuchen um ein Treffen, aber sein Komm-Offizier gab die Nachricht weiter, daß sich der Kapitän zum frühestmöglichen Zeitpunkt in seiner Kabine zur Verfügung halten würde.

Ruby dockte das Shuttle dort an, wo man sie einwies, und dann warteten beide in der Luftschleuse ungeduldig darauf, daß jemand von der anderen Seite die Tür öffnete. Nach Maßstäben von Luftschleusen war diese recht groß, aber Jakob fühlte sich trotzdem unbehaglich beengt. Falls der Feldglöck wirklich nicht mit ihnen über die Verbindungen seines Clans zu Shub reden wollte, konnte er die Besucher hier ewig warten lassen.

Oder zumindest, bis sie es leid wurden und wieder verschwanden. Jakob sah, daß Ruby die Innentür nachdenklich musterte.

»Nein, wir werden nicht versuchen, sie aufzubrechen!« stellte er entschieden fest. »Diese Tür wurde dafür konstruiert, großen Belastungen standzuhalten.«

»Sie wurde nicht dazu konstruiert, uns standzuhalten«, konterte Ruby gelassen. »Nichts wurde das.«

»Durchaus möglich. Aber selbst, wenn wir es schaffen würden, möchte ich nicht, daß du es jetzt schon probierst. Ich möchte den Feldglöck nicht auf die Idee bringen, er hätte uns nervös gemacht.«

»Ich bin nicht nervös«, wandte Ruby ein. »Nur zunehmend verärgert.«

»Er ist vielleicht nur beschäftigt. Schließlich ist er der Kapitän.«

»Niemand ist zu beschäftigt, um uns zu empfangen. Nicht, wenn er weiß, was gut für ihn ist.« Ruby sah finster drein.

»Nein, er ist auch so ein verdammter Aristo. der uns warten läßt, um uns zu zeigen, für wie wichtig er sich hält.«

»Das denke ich nicht«, sagte Jakob. »Seine Akte zeigt, daß er schon immer vor allem ein Flottenoffizier war und erst in zweiter Linie Aristokrat.«

»Die sind genauso schlimm. Geschniegelt und poliert und zackzack, wenn du mich fragst. Falls er möchte, daß ich Haltung annehme, wenn ich mit ihm rede, mache ich ihn fertig.«

Jakob musterte Ruby nachdenklich. »Ich denke, du überläßt es lieber mir, das Gespräch zu führen. Versuche dich bitte daran zu erinnern, daß wir wegen der Antworten gekommen sind, Ruby! Es ist wirklich furchtbar schwierig, einem Toten Antworten zu entlocken.«

Ruby schniefte, blieb aber friedlich. Sie nahm allerdings nicht die Hände von den Waffen.

Die Innentür schwenkte endlich auf, und ein geschniegelter Junioroffizier lächelte beide gewinnend an. »Jakob Ohnesorg, Ruby Reise; seid an Bord willkommen, Sir und Madam.«

»Wen nennt er Madam?« fragte Ruby leise, als sie und Jakob sich an dem Offizier vorbeischoben und den Korridor betraten.

»Ich war mein ganzes Leben lang noch in keinem Haus der Freuden.«

»Er ist nur höflich«, murmelte Jakob. »Schlage ihn nicht.«

»Ich bin Leutnant Xhang«, stellte sich der Offizier mit fröhlichem Lächeln vor und tat ganz so, als hätte er nichts gehört. Er schloß die schwere Schleusentür, kontrollierte, ob sie auch sicher verriegelt war, kontrollierte es noch einmal, weil er sich um solche Dinge sorgte, und wandte sich dann etwas widerstrebend seinen Gästen zu. Er wirkte entschieden nervös, und Jakob fühlte sich versucht, Buh! zu rufen, nur um zu sehen, was passierte.

»Falls Ihr mir bitte folgen möchtet, führe ich Euch in Kapitän Feldglöcks Quartier. Er freut sich darauf, Euch zu sehen.«

»Falls das stimmt, macht ihn das für die heutige Zeit zu einem einzigartigen Phänomen«, sagte Jakob.

»Jawohl«, knurrte Ruby. »Wir verlieren wohl unseren Ruf.«

Xhang fragte sich, ob er höflich lachen sollte, und entschied sich dafür, zu lächeln, bis ihm die Wangen weh taten. Er zeigte ihnen die Richtung, insgeheim stolz darauf, daß die Hand nicht erkennbar zitterte, und führte die Gäste durchs Schiff. Tage wie dieser verleiteten ihn stets zu der Frage, ob die Pension es wirklich wert war.

Jakob nahm alle Leute, an denen sie vorbeikamen, unauffällig, aber gründlich in Augenschein. Auf den schimmernden Stahlkorridoren herrschte reger Verkehr, aber es ging nicht übertrieben beengt zu. Auf jeden wartete Arbeit, aber alle schafften es, sich dabei nicht gegenseitig in die Quere zu kommen. Die Leute waren geschäftig, aber diszipliniert. Die Besatzung hatte einen Job, und sie sah zu, daß sie ihn auch erledigte. Und doch waren nirgendwo Sicherheitsleute zu sehen, die sie anspornten oder für Disziplin sorgten. Was dafür sprach, daß der Kapitän ein straffes Regiment führte, wobei die Disziplin von innen kam, statt nur von oben verordnet zu werden.

»Also«, wandte sich Jakob lässig an den Leutnant, »was haltet Ihr von Eurem neuen Kapitän?«

»Er ist ein guter Offizier«, antwortete Xhang sofort. »Er versteht sich auf seinen Job. Es hilft, daß er sich hochgearbeitet hat und nicht direkt von der Akademie auf den Kommandosessel kam.«

»Aber er ist ein bißchen jung, oder?«

»Er versteht sich auf seinen Job«, sagte Xhang eine Spur zu scharf. Jakob konnte nicht umhin festzustellen, daß der Leutnant vor lauter Eifer, den Kapitän zu verteidigen, seine Nervosität vergaß. »Nur darauf kommt es an, Sir Ohnesorg. Er ist ein Kriegsheld. Hat gekämpft, bis sie ihm das Schiff unterm Hintern weggeschossen haben. Der Todtsteltzer hat ihm persönlich einen Orden angeheftet.«

»Ja, tatsächlich«, sagte Jakob. »Das hat er.«

Schließlich erreichten sie das Privatquartier des Kapitäns, und Xhang klopfte rasch an die Tür und trat zurück. Die Tür glitt sofort auf, und Xhang bedeutete ihnen mit einem Wink, sie möchten eintreten. Jakob nickte, und Xhang faßte es dankbar als Signal auf, daß er entlassen war. Er salutierte zackig, drehte sich auf den Fersen um und schritt mit einer Geschwindigkeit den Korridor hinunter, die ausschloß, wie er hoffte, daß man ihn zurückrief. Jakob mußte lächeln. Diesmal war seine Reputation eher eine Hilfe als ein Hemmschuh. Er gab Ruby ein Zeichen, und sie betrat als erste die Kapitänskabine, die rechte Hand unweit der Pistole am Gürtel.

Die Kabine erwies sich als ordentlich und aufgeräumt und gerade groß genug, um sich darin bewegen zu können. Raum war an Bord eines Raumschiffs ein knappes Gut, und nicht einmal der Kapitän durfte zuviel davon erwarten. Die Tür schloß sich hinter Jakob mit einem satten dumpfen Schlag, und er sah sich in aller Gemütsruhe um, ob er nicht Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Gastgebers ziehen konnte. Ein paar persönliche Dinge waren vorhanden, aber nichts besonders Ungewöhnliches oder Einzigartiges darunter. Vermutlich war der Kapitän noch nicht lange genug an Bord, um der Kabine eine persönliche Atmosphäre zu verleihen. Oder vielleicht hatte er einfach nicht genug übrig behalten, als er sich gezwungen sah, sein altes Schiff aufzugeben.

Die Tür zur angrenzenden Badekabine öffnete sich mit einem Zischen, und Robert Feldglöck kam heraus, wobei er sich noch das nasse Gesicht mit einem Handtuch abwischte. Er trug Uniformhose und -jacke, wobei letztgenannte offenstand und eine bemerkenswert behaarte Brust zeigte. Er war groß und gutaussehend und wirkte für einen Kapitän sehr jung. Er nickte Jakob und Ruby ganz liebenswürdig zu, sank auf den einzigen Stuhl und senkte das Handtuch auf den Schoß.

»Verzeiht mir den zwanglosen Auftritt, aber wir werden zur Zeit alle ganz schön auf Trab gehalten. Macht es Euch ruhig bequem.«

Er deutete dabei aufs Bett. Jakob entschied, daß es seiner Würde bekömmlicher wäre, wenn er stehen blieb. »Gut, daß Ihr uns so kurzfristig empfangt, Kapitän.«

»Eure Botschaft war nicht sehr deutlich«, sagte Robert stirnrunzelnd. »Tatsächlich grenzte sie ans Vage. Jeden anderen hätte ich rundweg abgewiesen. Tausend verschiedene Aufgaben warten auf mich, damit dieses Schiff seinen Starttermin einhält. Falls jedoch der legendäre Jakob Ohnesorg und die berüchtigte Ruby Reise es wichtig finden, daß wir uns sehen, dann ist es das wahrscheinlich auch. Stellt Eure Fragen.«

»Ich war nicht sicher, Euch noch hier anzutreffen«, sagte Jakob. »Tatsächlich ist mir zu Ohren gekommen, daß Ihr vielleicht den Dienst quittieren würdet, um der Feldglöck zu werden, das Oberhaupt Eures Clans.«

Robert schnitt ein finsteres Gesicht. »Eine Menge Druck wurde auf mich ausgeübt, um genau das zu tun, aber… die Flotte ist mein Leben, Sir Ohnesorg. Sie ist alles, was ich mir je gewünscht habe. Und so rasch Kapitän zu werden… Ich trage jedoch tatsächlich Verantwortung auf Golgatha. Somit bin ich hin- und hergerissen zwischen der Aufgabe als Flottenoffizier, beim Wiederaufbau des Imperiums zu helfen, und der familiären Verantwortung, den überlebenden Clanangehörigen beizustehen, damit sie den Clan Feldglöck wieder beleben können. Ich bin nicht der einzige Kandidat für den Titel, aber die Idee, einen offiziellen Kriegshelden zum Clanoberhaupt zu erheben, hat für viele seinen Reiz. Zur Zeit jongliere ich mit beiden Aufgaben, bis ich zu einer Entscheidung gelange, wo meine wirkliche Pflicht liegt.«

»Einmal Aristo, immer Aristo«, behauptete Ruby.

Robert bedachte sie mit einem kalten Lächeln. »Einmal Kopfgeldjäger, immer Kopfgeldjäger.«

»Wir haben während der Rebellion vielleicht auf gegnerischen Seiten gestanden«, unterbrach Jakob die beiden rasch.

»Ich vertraue jedoch darauf, daß wir beide heutzutage um das Wohl des Imperiums besorgt sind. Wir müssen bestimmte Dinge erfahren, Kapitän. Dinge, die nur Ihr uns erzählen könnt.

Über den Clan Feldglöck und seine früheren Geschäfte mit den abtrünnigen KIs von Shub

Robert nickte langsam. »Ich wußte immer, daß das letztlich ans Licht kommen würde. Aber so etwas… Falls ich Euch sage, was ich weiß und was wenig ist, dann benötige ich Eure Zusage, daß Ihr es für Euch behaltet, so lange es nur geht.«

»Wir könnten dich zum Reden zwingen«, stellte Ruby fest.

»Wahrscheinlich«, pflichtete ihr Robert bei. »Aber nicht leicht und nicht schnell. Und falls durchsickern würde, daß Jakob Ohnesorg an der Folterung eines echten Kriegshelden beteiligt war…«

»Ich habe stets getan, was ich für nötig hielt«, sagte Jakob.

»Und zur Hölle mit den Folgen. Aber ich sehe bislang keine Notwendigkeit, gewalttätig zu werden. Warum sollte ich Euer Geheimnis wahren, Feldglöck? Überzeugt mich.«

»Weil sich meine Familie zur Zeit in einer sehr delikaten Lage befindet. Die Wolfs haben uns fast ausgelöscht. Sie jagten uns auf den Straßen, zerrten uns aus sicheren Unterschlüpfen, zeigten keinerlei Gnade. Kaum jemand hat gewagt, uns zu helfen. Einige von uns überlebten aufgrund ihrer Stellung in den Streitkräften. Andere durch Mittel, auf die wir nicht unbedingt stolz sind. Aber die Lage hat sich gewandelt.

Der Schwarze Block hat alle Blutfehden für beendet erklärt, für null und nichtig. Er versucht, so viele Familien wie möglich zu stärken, um seine Machtbasis zu vergrößern. Somit hat der Clan Feldglöck von den Wolfs nichts mehr zu befürchten, und seine überlebenden Angehörigen können endlich wieder aus dem Schatten hervortreten. Ohne ein Familienoberhaupt werden jedoch widerstreitende Fraktionen den Clan unausweichlich von innen zerreißen. Und wenn jetzt ein solches Geheimnis ans Licht käme – der scheinbare Verrat an der Menschheit selbst –, würde es uns für immer verruchten. Ich brauche Euer Wort, Jakob Ohnesorg, ehe ich mein Wissen mit Euch teilen kann. Ich vertraue Eurem Wort.«

»Und meinem nicht?« fragte Ruby Reise.

»Natürlich nicht. Ihr seid Kopfgeldjägerin.«

»Sehr klug. Sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren, Jakob.

Wer schert sich darum, falls eine weitere Familie verschwindet? Sollen sie doch alle verrecken!«

»So einfach ist das nicht, Ruby. Ein gemäßigter, verantwortungsbewußter Clan könnte viel dazu beitragen, die extremeren Bestrebungen des Schwarzen Blocks zu entschärfen.

Und falls es einen Clan Feldglöck geben soll, dann ist mir lieber, wenn ihm ein echter Kriegsheld vorsteht als ein Unbekannter. Ihr habt mein Wort, Kapitän.«

»Du wirst weich, Ohnesorg.«

»Jetzt nicht, Ruby. Kapitän, ich werde Euer Geheimnis solange wahren, wie ich es mir gegenüber rechtfertigen kann.

Und Ruby wird meinem Beispiel folgen. Für andere kann ich jedoch nicht sprechen. Baut Euren Clan also wieder auf, solange Ihr könnt, Kapitän, und tut es auf festem Fundament. Denn die Flut wird kommen.«

»Verstanden«, sagte Robert. Er wischte sich das Gesicht mit dem Handtuch ab und warf letzteres zur Seite. Er wirkte auf einmal älter. »Ihr müßt wissen, daß ich nie Anteil an der Hauptverschwörung hatte. Ich denke, man hat mir nicht genug vertraut. Das grundlegende Abkommen bestand darin, daß wir Shub das Geheimnis des neuen Hyperraumantriebes lieferten, als Gegenleistung für fortschrittliche Tech, damit unsere Fabriken an vorderster technologischer Front im Imperium blieben.

Wir hatten nie direkt mit den abtrünnigen KIs zu tun; es lief immer über eine Reihe von Vermittlern, bei denen die rechte Hand nicht wußte, was die linke tat, so daß wir glaubhaft jede Mitwisserschaft leugnen konnten, falls es nötig wurde. Finlay hat gesagt, es wäre ein Schwindel gewesen, die Familie hätte nie wirklich vorgehabt, den abtrünnigen KIs die Antriebstechnik der Fremdwesen auszuliefern. Ich selbst weiß nicht, ob das zutrifft oder nicht. Finlay war nie Clanoberhaupt. Sein Vater Crawford aber war es, und er war wirklich zu allem fähig, um zu bekommen, was er wollte. Und so schickte Shub uns Technik, und wir machten Ausflüchte, und die Beziehung nahm ihren Fortgang. Niemand nahm jemals das Wort Verrat in den Mund. Oder das, was geschehen würde, falls Shub zu dem Schluß gelangte, wir würden niemals liefern. Dann griffen jedoch die Wolfs an, und es wurde ohnehin alles gegenstandslos.

Als der Clan Feldglöck gestürzt und zerstreut war, erfuhren die Wolfs von dem Abkommen und übernahmen es selbst. Valentin führte sie damals bereits. Ein Mann, der zu absolut allem fähig ist. Und soweit reichen meine persönlichen Kenntnisse.«

Jakob sah finster drein. »Habt Ihr eine Ahnung, ob irgendwelche anderen Familienmitglieder mehr wissen könnten?«

»Im Grunde nicht. Die wenigen, die fast mit Sicherheit alle Details kannten, wurden getötet, als die Wolfs den Turm der Feldglöcks stürmten. Nichts ist je aufgezeichnet worden aus leicht erkennbaren Gründen. Die einzigen Überlebenden, die womöglich etwas wissen, sind Finlay und seine Gattin Adrienne. Obwohl letztgenannte, da sie nur eine eingeheiratete Feldglöck ist, wahrscheinlich nur am Rande informiert wurde, wie ich. Und was Finlay angeht… Ihr müßtet ihn schon selbst fragen. Erwartet allerdings nicht zuviel von ihm. Schon seit einiger Zeit frißt das Leben an seinem Verstand, und ich habe keine Ahnung, wieviel noch davon übrig ist.«

»Du magst ihn nicht, wie?« fragte Ruby.

»Er ist ein verrückter Mörder. Wenn ich daran zurückdenke, wie er das Böse in ihm hinter der Maske eines Stutzers bei Hofe tarnte, dann gefriert mir das Blut in den Adern. Ein Werwolf mit roten Fängen und Klauen bewegte sich unter uns, und wir ahnten es nicht. Aber nichts davon ist wichtig. Er gehört immer noch zur Familie.«

»Reden wir über den Schwarzen Block«, schlug Jakob diplomatisch vor. »Was wißt Ihr darüber?«

»Nicht viel«, antwortete Robert. »Ich wurde in früher Kindheit zu ihm geschickt, aber es kam zu einer Auseinandersetzung in der Familie, und sie holte mich zurück, ehe ich in eines der Mysterien eingeweiht werden konnte. Crawford fand, daß der Clan mehr Einfluß in den Streitkräften benötigte, und so landete ein Dutzend von uns in der Armee und der Raumflotte.

Für mich war es das beste, was mir je widerfahren ist. Ich mußte beweisen, was ich wert war. Und ich tat es.

Ich denke nicht, daß Crawford dem Schwarzen Block je über den Weg getraut hat, selbst damals nicht. Er hegte stets den Verdacht, die Organisation könnte eigene Ziele entwickeln.

Schon damals argwöhnten Leute, daß die Absolventen des Schwarzen Blocks ihre Treue erst diesem schuldeten und in zweiter Linie einzelnen Familien. Ich sage Euch eins: Viel mehr Leute haben das Schwarze Kolleg durchlaufen, als Ihr ahnt. Oder als die Familien je zugeben würden. Ihr würdet doch nicht erwarten, daß sich eine Macht wie die Familien für jede beliebige Gruppe auf den Rücken dreht, oder? Sie haben in Euer Abkommen eingewilligt, weil sie keine andere Wahl hatten. Die Clans beugen sich dem Schwarzen Block, weil ihre heranwachsenden Generationen nicht mehr ihnen gehören. Sie gehören mit Leib und Seele dem Schwarzen Block.

In seinem Kern lauern nur Geheimnisse und Rätsel. Das Schwarze Kolleg. Die Rote Kirche. Die Hundert Hände. Namen, die nur flüsternd genannt werden. Niemand weiß heute mehr, wer den Schwarzen Block leitet oder welche Absichten er verfolgt. Es spielt auch keine Rolle. Seine Leute sind überall. Auch in hohen Positionen. Ihr wärt überrascht.«

»Ich bezweifle es«, entgegnete Ruby. »Mich überrascht nicht mehr viel. Und ich habe den Familien nie vertraut, und auch niemandem, der mit ihnen in Verbindung steht.«

»Wie ausgesprochen klug«, fand Robert.

Jakob mischte sich schnell ein. »Was ist mit Finlay? Irgendeine Idee, wo wir ihn finden könnten?«

»Er ist genau dort, wo Ihr ihn auch erwarten würdet«, sagte Robert. »So dicht an Blut und Tod und Wahnsinn, wie er nur kommen kann. Er lebt in der Arena.«

In der Stadt auf Golgatha, die Parade der Endlosen heißt, geht jeder in die Arena. Um mitzuerleben, wie Menschen gegen Menschen kämpfen, einzeln oder gruppenweise, oder wie Menschen gegen Fremdwesen kämpfen oder Fremdwesen gegeneinander. Solange nur jemand umkommt. Blut ist Blut, egal von welcher Farbe. Niemals bleibt ein Platz auf den Tribünen oder in den Logen frei, und Jahreskarten werden von einer Generation auf die nächste vererbt. Die Arena ist das einzige, was alle Klassen des Imperiums gemeinsam haben.

Niemals kommt es zu einem Mangel an Freiwilligen, die ihr Leben und ihre Ehre auf dem blutgetränkten Sand riskieren – für Reichtum oder Privilegien oder einfach nur den Beifall der Massen. Ein paar verdienen auf diese Weise gar ihren Lebensunterhalt – eine Zeitlang wenigstens. Und der größte Kämpfer von allen, gegen den jeder Mann kämpfen und mit dem jede Frau ins Bett gehen wollte, der Mann, der nie eine Herausforderung ausschlug, war jene geheimnisvolle und rätselhafte Gestalt unter einem anonymen Stahlhelm, die man den Maskierten Gladiator nannte.

Zwei Männer trugen diese Maske, obwohl die Zuschauer das nie erfuhren. Der erste hieß Georg McCrackin, der unbesiegt zurücktrat, als er zu dem Entschluß gelangte, daß er zu alt und zu langsam wurde. Er bildete Finlay Feldglöck zu seinem Nachfolger aus. Georg McCrackin kam während der Rebellion ums Leben, während er den anonymen Helm trug, und Toby Shreck nahm ihm im Rahmen einer Live-Sendung die Maske ab.

Finlay hatte sich aus vielerlei Gründen aus der Arena zurückgezogen, aber er behielt weiterhin das alte Quartier in der Wohnsektion tief unter dem blutigen Sand. Es war sehr bescheiden, aber ihm machte das nichts aus. Hier fand ihn wenigstens niemand, und hier konnte er sich ausruhen und schlafen und planen, wie er am besten seinen alten Widersacher Valentin Wolf aufspürte und ermordete. Die Klon- und Esper-Bewegungen hatten ihm Valentins Kopf auf einer Stange versprochen, als Gegenleistung für seine Dienste als Attentäter, aber jetzt, wo die Rebellion vorüber war, schienen sie viel zu beschäftigt, um sich an alte Freunde und Versprechungen zu erinnern, und so entschied Finlay, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Er konnte nicht einfach ein Schiff anwerfen und losfliegen.

Das Parlament hatte ihm einen offiziellen Status wie dem Todtsteltzer und dieser d’Ark verweigert. Es traute ihm nicht.

Einige dachten nicht ganz ohne Grund, er könnte einen solchen Status nutzen, um sie zu verfolgen. Und so versagten sie ihm eine Rolle in ihrer heißgeliebten neuen Ordnung und ließen ihn von Spionen überwachen. Finlay brachte hin und wieder ein paar von denen um, nur damit die übrigen nervös blieben. Ruhig und unauffällig bereitete er sich auf seine Mission vor. Und so erstaunte es ihn doch ganz schön, als jemand ganz unverblümt an seine Tür klopfte.

Geschmeidig stand er von dem ungemachten Bett auf, wo er auf dem Rücken gelegen und an nichts Besonderes gedacht hatte, und zog den Disruptor aus dem Halfter, der am Bettpfosten hing. Lautlos tappte er zur Tür hinüber und lauschte einen Augenblick lang. Erneut wurde geklopft.

»Wer da?« fragte Finlay.

»Jakob Ohnesorg und Ruby Reise. Wir hätten gern unauffällig ein Wort mit Euch gewechselt. Falls es nicht zu ungelegen kommt.«

Finlay zog eine Braue hoch. Er hatte nie viel Kontakt zu den legendären Helden gehabt, weder während der Rebellion noch anschließend, und so hatte er keinen Schimmer, warum sie ihn jetzt aufsuchten. Aber falls schon nichts sonst, so konnte sich ihr Besuch wenigstens als interessant erweisen, und eine Pause in seiner Brüterei kam ihm gerade recht. Er öffnete die beiden Schlösser und zog drei Riegel zur Seite, die er noch zusätzlich montiert hatte. Rasch trat er zurück, während er die Tür aufriß.

Jakob und Ruby standen allein und mit leeren Händen auf dem Korridor. Sie betrachteten die Schußwaffe in seiner Hand, mit der er auf sie beide zielte, sagten aber nichts. Finlay lud sie mit einem Wink der freien Hand ein, hereinzukommen, und ging dann um sie herum, um die Tür wieder abzuschließen und zu verriegeln.

»Man kann heutzutage gar nicht vorsichtig genug sein. Nicht, wenn man so viele Feinde hat wie ich.«

»Vertraut mir«, sagte Jakob, »ich kenne das Gefühl.«

»Macht es Euch bequem«, forderte Finlay sie auf. »Tut mir leid, daß es hier so aussieht, aber ich habe das Zimmermädchen erschossen.«

Er lächelte, um zu zeigen, daß das ein Scherz gewesen war, und Jakob und Ruby erwiderten das Lächeln, ehe sie vorsichtig weiter ins Zimmer kamen. Sie sahen sich nach Sitzgelegenheiten um. Hier sah es wirklich fürchterlich aus. Jakob und Ruby mußten über etliche Sachen hinwegsteigen, um zwei ramponiert wirkende Stühle zu erreichen. Schmutzige Wäsche lag in einer Ecke aufgehäuft; schmutziges Geschirr türmte sich im Spülbecken der winzigen Kochnische. Etliche Wurfmesser steckten in der Tür. Jakob staubte die Sitzfläche seines Stuhls ab, ehe er Platz nahm. Ruby scherte sich nicht darum. Finlay setzte sich auf die Bettkante und hielt weiterhin den Disruptor auf seine Gäste gerichtet. Sein Blick war kalt und fest, und auch die Hand zitterte nicht.

»Also«, sagte er ruhig, »was führt solche illustre Gesellschaft in mein kleines Schlupfloch, von dem niemand etwas wissen sollte?«

»Robert hat uns gesägt, wo wir Euch finden«, erklärte Jakob.

»Ah«, sagte Finlay. »Letztlich ist es immer die Familie, die Verrat an einem Menschen übt.«

»Wir müssen mit dir reden«, sagte Ruby. »Es gibt Dinge, die wir nur von dir erfahren können.«

»Da habt Ihr recht«, versetzte Finlay. »Ich weiß alles mögliche. Deshalb möchten mich so viele Leute zum Schweigen bringen. An welches spezielle schmutzige kleine Geheimnis habt Ihr gedacht?«

»Wir würden Euch gern ein paar Fragen nach den Geschäften stellen, die der Clan Feldglöck mit Shub getätigt hat«, sagte Jakob und beäugte vorsichtig Finlays Disruptor.

»Ach das«, sagte Finlay wegwerfend. Er rutschte weiter aufs Bett, lehnte sich ans Kopfende und steckte den Disruptor wieder ins Halfter. Jakob und Ruby entspannten sich etwas. Als Finlay weiterredete, wirkte er fast gelangweilt. »Das ist inzwischen ein alter Hut. Niemand schert sich mehr darum. Ich dachte, einer meiner Feinde hätte Euch geschickt, um herauszufinden, was ich weiß, und mir den Mund zu stopfen. Ich habe viele Feinde, wißt Ihr? In allen Schattierungen des politischen Spektrums. Ihr wärt überrascht. Selbst die undankbaren Untergrundbewegungen verleugnen mich heute, obwohl ich einmal ihr Goldjunge war. Sie haben mich als Waffe eingesetzt, und ich habe Menschen getötet. Heute finde ich nicht mal mehr jemanden, der auf meine Anrufe antwortet. Meine früheren…

Exzesse… machen mich zu einer Belastung. Einer Peinlichkeit. Sobald ich meinen jetzigen Einsatz abgeschlossen habe, werde ich zurückkehren, an die Tür klopfen und ein Nein nicht als Antwort akzeptieren. Und dann kommt es… zur Abrechnung.«

»Und was für ein Einsatz könnte das sein, Sir Feldglöck?« erkundigte sich Jakob höflich.

»Ich knöpfe mir Valentin Wolf vor. Wir müssen noch ein Geschäft zum Abschluß bringen.«

»Ich denke, jeder im Imperium muß noch ein Geschäft mit diesem Mistkerl zum Abschluß bringen«, sagte Ruby. »Reden wir lieber über Shub

»Tun wir es lieber nicht und behaupten das Gegenteil.« Finlay funkelte Ruby einschüchternd an und schien ein wenig betroffen, als sie einfach zurückfunkelte. »Ach, na ja, wenn es Euch rascher bewegt, wieder aufzubrechen… Meine Familie hat ein Abkommen mit den abtrünnigen KIs getroffen, wollte deren fortschrittliche Technik im Austausch gegen den Hyperraumantrieb der Fremdwesen. Angeblich war alles nur Schwindel, bei dem wir sie ausquetschen wollten, solange es ging, ehe sie schließlich merkten, daß wir unsererseits nicht zu liefern planten. Inwieweit das zutrifft… weiß ich nicht.

Jetzt werden wir es nie mehr erfahren. Die Absprache war gestorben, als die Wolfs meine Familie vernichtet hatten. Später haben die Wolfs das Geschäft angeblich auf eigene Rechnung neu ausgehandelt. Valentin führte dabei das Kommando.

Was er bekam und was er als Gegenleistung versprach, das werdet Ihr ihn selbst fragen müssen. Falls ich ihn nicht zuerst erwische.«

»Und Ihr könnt uns zu Shubs Kontakten unter Menschen nichts weiter sagen?« wollte Jakob wissen. »Bitte denkt nach, Sir Feldglöck. Es ist wichtig.«

»Mein Vater hat mir nie Einzelheiten anvertraut. Und ich habe nie danach gefragt. Ich habe mir aus solchen Dingen damals nichts gemacht.«

Jakob stand abrupt auf. »Entschuldigt mich für einen Augenblick. Ich empfange gerade eine Meldung durch mein Implantat.«

Er ging zur Tür hinüber, um einigermaßen ungestört mit seinem Komm-Implantat subvokalisieren zu können. Finlay und Ruby musterten einander nachdenklich. Sie erkannten jeder den Krieger im Gegenüber, und das Feuer der Konkurrenz sprang in beiden gleichzeitig an. Es war lange her, seit einer von ihnen eine echte Herausforderung empfunden hatte.

Ruby zeigte ein humorloses Lächeln. »Vielleicht sollten wir es bei Gelegenheit miteinander versuchen. Nur Stahl gegen Stahl.«

»Klingt gut, was mich angeht«, sagte Finlay. Sie blickten sich gegenseitig in die Augen und zeigten sich gegenseitig das gleiche Totenkopflächeln. Bei beiden stieg der Puls, und der Atem vertiefte sich. Eine fast sexuelle Anziehungskraft knisterte zwischen ihnen in der Luft. Es gab etwas, wozu sie beide geboren worden waren und was ihnen wichtiger war als selbst das Leben, und sie spürten, wie es die Kontrolle übernahm und unausweichlich wurde. Finlay leckte sich die Lippen. »Welcher Zeitpunkt schwebt Euch vor, Kopfgeldjägerin?«

»Was wäre an jetzt gleich verkehrt?« fragte Ruby Reise.

»Verdammt gar nichts«, antwortete Finlay Feldglöck.

Innerhalb eines Augenblicks waren beide auf den Beinen, bauten sich voreinander auf, die Schwerter in Händen, Blut und Tod im Blick. Aber ehe ihre Klingen vorspringen konnten, stand Jakob Ohnesorg zwischen ihnen und funkelte beide an, und sie traten jeder einen Schritt zurück, für einen Moment von seiner schieren Autorität aufgehalten.

»Seid Ihr beide verrückt geworden? Natürlich, dumme Frage.

Seht mal, wir haben keine Zeit dafür. Sir Feldglöck, steckt Euer Schwert weg.«

Finlay lächelte kurz. »Nach ihr.«

Jakob sah Ruby an. »Ich kann dich nicht mal für eine Sekunde aus den Augen lassen, wie? Steck dein Schwert weg.«

»Warum soll ich es zuerst tun?« wollte Ruby wissen.

»Weil du zweifellos angefangen hast. Und weil ich dich darum bitte. Wir müssen sofort aufbrechen und einen dringenden Auftrag übernehmen.«

Ruby schniefte und senkte widerwillig die Klinge. »Du bist überhaupt kein lustiger Begleiter mehr, Ohnesorg.«

Finlay nahm vorsichtig das Schwert herunter. Er und Ruby wechselten Blicke. Sie beide wußten, daß der richtige Augenblick für den Kampf verstrichen war. Sie wußten auch, daß sich die Gelegenheit wieder bieten würde. Finlay steckte das Schwert in die Scheide zurück, die an einem Bettpfosten hing, und legte sich wieder aufs Bett, der Inbegriff entspannter Lässigkeit. Ruby rammte ihr Schwert in die Scheide und musterte Jakob finster.

»Was soll das Gerede von einem Auftrag? Ich dachte, wir hätten den Auftrag, den Verbindungen von Shub nachzugehen.«

»Der neue hat Vorrang. Anscheinend ist auf Loki die Hölle los, und das Parlament sähe uns am liebsten schon gestern dort.

Shub wird warten müssen.«

»Läuft es nicht immer so?« beschwerte sich Ruby. »Man fängt mit einer Sache an, und im nächsten Augenblick wird man woandershin geschickt.«

»Die Geschichte meines Lebens«, bemerkte Finlay vom Bett her. »Ihr findet ja den Weg. Bemüht Euch, die Tür nicht zuzuknallen.«

Jakob mußte Ruby förmlich aus dem Zimmer zerren, aber schließlich waren sie weg und hatten die Tür einigermaßen zivil hinter sich geschlossen. Finlay war wieder allein. Er starrte an die Decke und vergaß die Besucher schon. Erst kürzlich hatte jemand Profikiller auf ihn gehetzt. Finlay machte das nicht viel aus. Er freute sich über das Training. Aber keiner der Attentäter war lange genug am Leben geblieben, um den Auftraggeber zu nennen oder zu verraten, wie sie ihn gefunden hatten. Praktisch jeder konnte dahinterstecken. Bei all den Feinden, die Finlay sich gemacht hatte, war die Auswahl schier beliebig. Das war einer der Gründe für seinen Entschluß, Golgatha zu verlassen und sich auf die Jagd nach Valentin zu begeben.

Nicht, daß Finlay sich ums eigene Leben gesorgt hätte, aber immer bestand die Gefahr, daß der gescheiterte Auftraggeber versuchte, ihn indirekt anzugreifen, indem er Menschen aufs Korn nahm, an denen Finlay etwas lag. Wie Evangeline oder Julian. Und das durfte er nicht riskieren. Julian konnte wahrscheinlich auf sich selbst aufpassen, aber es war Finlay nicht möglich, Evangeline fortwährend zu beschützen. Sei es auch nur deshalb, weil sie es nicht geduldet hätte. Evy hielt viel auf ihre Privatsphäre. Er wußte, daß sie Geheimnisse hatte, die er nicht kannte, aber er war dieserhalb nie in sie gedrungen. Finlay hatte Verständnis für Geheimnisse. Er hatte selbst genug.

Evie war zur Zeit wieder unterwegs. Führte irgendeinen Auftrag der Klon-Bewegung aus, von dem er nichts erfahren durfte. Trotz der stolzen Worte, die die Untergrundbewegung über Gleichheit und Brüderlichkeit verlor, vertraute sie weiterhin niemandem wirklich, der kein Klon war. Wenn man sich überlegte, wie stark der Untergrund Evangeline beschäftigt hielt, obwohl die Rebellion offiziell vorüber war, dann drängte sich Finlay die Frage auf, ob man zu verhindern versuchte, daß aus ihm und Evie ein Paar wurde. Schließlich war er nur ein Mensch. Und außerdem ein verdammter Aristo. Finlay lächelte kurz. Wahrscheinlich war es noch einfacher. Die Untergrundbewegung war nie richtig mit ihm einverstanden gewesen, auch wenn sie sich mit den Aufträgen an ihn wandte, die niemand sonst übernehmen konnte. Sie hielt ihn für verrückt. Und natürlich hatte sie völlig recht. Kein geistig gesunder Mensch hätte getan, was sie von ihm verlangte, wäre diese Risiken eingegangen und hätte in Blut gebadet, bis es ihm von der Seele tropfte.

Das Problem war entstanden, als das Imperium schließlich stürzte und alle von Finlay erwarteten, er würde ganz plötzlich wieder normal werden. Er hätte ihnen sagen können, daß es so nicht funktionierte. Man konnte nicht all das durchmachen, was er durchgemacht hatte, all das verlieren, was er verloren hatte, und schließlich trotzdem als ganz vernünftiger Kopf daraus hervorgehen. Das einzige, was ihn einigermaßen stabil hielt, waren die Liebe zu Evangeline und die Freundschaft mit Julian Skye. Sie waren seine Anker. Sie hielten ihn… im Gleichgewicht. Ohne sie hätte er nur sich selbst gehabt, und er wußte nicht mehr, wer das war. Er hatte seinerzeit viele Persönlichkeiten zur Schau gestellt. Den Gecken und Fatzken. Den Maskierten Gladiator. Den Kämpfer der Rebellen. Den Attentäter der Untergrundbewegung. Evies Liebsten. Jetzt lärmten all diese Stimmen in seinem Kopf durcheinander, und er fühlte sich in diesem Wirrwarr verloren.

Er sehnte sich nach Aktivität. Nach dem Kitzel des Kampfes.

Damals war alles so einfach gewesen. In solchen Situationen wußte man, woran man war. Keine Grautöne. Keine Politik.

Nichts, was einen zurückhielt. Es einfach tun oder scheitern.

Siegen oder verlieren. Leben oder sterben. Und oh, der blutrote Rausch, das Hämmern des Herzens in der Brust, die Freude darüber, der Beste zu sein… oh, der Kitzel all dessen! Der wunderbare Augenblick des Mordens. Nichts glich dem ganz.

Wie eine grenzenlos befriedigende, grenzenlos suchterzeugende Droge. Vielleicht hatte er mehr mit Valentin Wolf gemeinsam, als er dachte.

Finlay runzelte die Stirn und zwang sich, an etwas anderes zu denken, an die vorangegangenen Erlebnisse des Tages, Er hatte seine ihm extrem entfremdete Gattin Adrienne und ihre beiden Kinder besucht. Er wußte immer noch nicht recht, was ihn dazu getrieben hatte. Vielleicht, daß sie der einzige Inhalt seiner Vergangenheit waren, der unberührt blieb von dem, was er heute verkörperte. Finlay schloß die Augen und ließ die Gedanken zurückwandern.

Adrienne öffnete die Tür schon, ehe er richtig mit dem Anklopfen fertig war, als hätte sie ihn schon seit geraumer Zeit erwartet. Wie es sich traf, war er vollkommen pünktlich, aber Adrienne ließ sich von Tatsachen niemals darin behindern, einen guten Streit auszutragen. Er verneigte sich förmlich vor ihr, und sie reagierte mit einem spöttischen Lächeln. Finlay trat vor, und Adrienne wich gerade so weit zurück, daß er hereinkommen konnte.

»Tritt die Schuhe auf der Matte ab, verdammt! Du bist hier nicht zu Hause.«

Finlay nickte ruhig und verpaßte seinen Schuhen eine ordentliche Abreibung auf der Matte. Er gab sich Mühe, einen guten Eindruck zu machen und niemanden umzubringen, wenn es nicht unbedingt erforderlich war. Vage fragte er sich, ob er noch rechtzeitig vor dem Aufbruch daran gedacht hatte, die Schuhe zu polieren. Er vergaß solche Dinge leicht, wenn Evie ihn nicht daran erinnerte. Das Problem, wenn man von Dienstpersonal großgezogen wurde… Er lächelte Adrienne an und setzte sich die Nasenkneiferbrille auf die Nasenspitze.

»Oh, nimm das Ding weg, Finlay«, verlangte Adrienne gereizt. »Du weißt genau, daß mit deinen Augen alles in Ordnung ist.«

»Die Brille dient Schau- und nicht Nutzzwecken«, erläuterte Finlay auf die geduldige und vernünftige Art, von der er genau wußte, daß sie Adrienne zum Wahnsinn trieb. »Sie gehören zur Aufmachung. Aber für Stilfragen hattest du noch nie Verständnis, nicht wahr?«

»Insoweit sie dazu führen, solche Sachen anzuziehen, nein.

Ich habe schon Regenbogen gesehen, die farblich dahinter zurückstehen. Tatsächlich denke ich, daß ich noch nie zuvor so viele Farben auf einem Haufen gesehen habe. Was ist passiert?

Konntest du dich nicht auf eine Farbe einigen und hast dir lieber alle auf einmal angezogen?«

»Etwas in der Art.« Früher hätte er sich, nur um sie zu ärgern, präzise zu der Frage geäußert, warum er diese Überhose und spitzen Schuhe zu genau diesem Cutaway-Gehrock ausgesucht hatte, und warum es so wichtig war, dieses Ensemble durch die richtige Weste zu ergänzen. Noch war er jedoch darauf bedacht, sich von der besten Seite zu zeigen, und ließ die Gelegenheit verstreichen. »Du trägst immer noch schlichtes Schwarz, Addie? Es steht dir. Bringt die Färbung des Herzens zur Geltung.«

»Es steht für meine Vorfreude auf ein Begräbnis. Deines.«

Sie lächelten einander an, nachdem so Gleichstand herrschte.

Finlay blickte betont auffällig durch den schmalen Korridor.

»Wo sind die Kinder, Addie? Ihretwegen bin ich schließlich gekommen.« Adrienne machte ein böses Gesicht. »Sie sind natürlich im

Salon, tragen ihre besten Sachen und zeigen ihr bestes Verhalten, falls sie wissen, was gut für sie ist. Und ich wünschte wirklich, du würdest sie nicht einfach nur als ›die Kinder‹ bezeichnen. Sie haben schließlich Namen, weißt du?«

»Ja, ich weiß. Troilus und Cressida. Du hast sie ausgesucht.

Wie alt sind sie?«

»Troilus ist acht und sieht dir sehr ähnlich. Cressida ist sieben. Gott sei dank schlägt sie mehr nach mir. Du solltest ihr Alter eigentlich kennen: Ich habe dich anläßlich ihrer Geburtstage stets darauf aufmerksam gemacht. Obwohl es immer darauf hinauslief, daß ich die Geschenke selbst kaufen und dann so tun mußte, als kämen sie von dir.«

»Mein Leben war immer sehr ausgefüllt«, sagte Finlay und merkte noch, während er es aussprach, daß es ganz nach einer Ausrede klang. »Und lange gab es für niemanden außer mich selbst einen Platz darin. Aber ich denke gern, daß ich mich seitdem verändert habe. Als Evangeline in mein Leben trat, erweckte sie Dinge in mir, von deren Vorhandensein ich zuvor nicht einmal etwas geahnt hatte. Sie half mir… menschlicher zu werden. Ein Mann zu sein wie andere Männer, nicht nur eine Killermaschine, die zwischen Auftritten in der Arena als Schlafwandler durchs Leben ging. Ich bin nicht mehr der Mann von früher, Addie. Ich habe mich so sehr bemüht, das alles hinter mir zu lassen.«

»Nette Ansprache«, fand Adrienne. »Du mußt sie Ewigkeiten lang geprobt haben.«

»Oh, stundenlang«, bestätigte Finlay. »Aber deshalb ist sie nicht weniger zutreffend. Ist es denn so seltsam, daß sich ein Mann wünscht, seine Kinder zu sehen? Seinen Anteil an der Zukunft? Das einzige, was von ihm bleibt, sobald er von dieser Welt gegangen ist?«

»Ich weiß nicht«, sagte Adrienne, die von der Ernsthaftigkeit seines Tons bewegt war, aber entschlossen blieb, es nicht zu zeigen. »Es klingt gar nicht nach dir, Finlay. Es ist eine Verbesserung, aber sie klingt nicht nach dir. Früher hast du einen Dreck auf sie gegeben. Falls die Kinder auf einmal so wichtig sind, warum zieht ihr, du und Evangeline, nicht selbst welche groß?«

»Wir haben darüber gesprochen«, sagte Finlay. »Das Problem ist, Zeit dafür zu finden. Wir sind heutzutage beide sehr beschäftigt.«

»Falls es euch wichtig genug wäre, würdet ihr euch die Zeit nehmen. Ich habe es getan. Ach verdammt, komm jetzt. Bringen wir es hinter uns. Sie waren beide schon den ganzen Tag übertrieben aufgeregt, als sie sich darauf vorbereiteten, dich zu sehen. Gib dir um Gottes willen Mühe, sie nicht zu erschrecken! Sie kennen dich nur aus den Nachrichten, und das hatte meist etwas damit zu tun, daß du Leute umgebracht hast.«

»Ich zeige mich heute von der allerbesten Seite, Addie. Ich verspreche, daß ich meine Fingernägel von all dein festgeklebten Blut darunter gereinigt habe, ehe ich aufgebrochen bin.«

Adrienne musterte ihn zweifelnd und führte ihn dann den Korridor hinunter in den Salon. Finlay gab sich Mühe, einen ruhigen und entspannten Eindruck zu verbreiten, obwohl sich sein Bauch verspannte und das Herz raste. Nicht einmal vor Auftritten in der Arena war er so nervös gewesen. Aber andererseits fiel ihm das Kämpfen auch leicht. Menschen waren es, die er immer schwierig fand. Und mit Kindern hatte er nie viel Kontakt gehabt. Er hatte Evangeline gefragt, wie er sich verhalten solle, aber sie hatte nur gelacht und ihm empfohlen, sie wie kleine Erwachsene zu behandeln. Das war keine große Hilfe. Die wenigen Dinge, über die er sich mit Erwachsenen unterhielt, umfaßten auch Aspekte, die seiner Meinung nach für Kinder überhaupt nicht geeignet waren. Trotz langen Nachdenkens und trotz Übungen vor dem Badezimmerspiegel wußte er tatsächlich immer noch nicht, was er Troilus und Cressida sagen sollte. Ihm kam auch allmählich der Gedanke, daß er Geschenke für sie hätte mitbringen sollen. Er spürte, wie ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn traten.

Allzu rasch erreichte er den Salon, und Adrienne bedeutete ihm mit einem Wink, auf einen kleinen Jungen und ein kleines Mädchen zuzutreten, die ihn beinahe in Habachtstellung erwarteten. Sie trugen eindeutig ihre besten Sachen und waren gewaschen und gepflegt worden, als ginge es ums Leben. Ihre ernsten Gesichter und großen Augen zeigten, daß sie nicht weniger nervös waren als Finlay, was ihm tatsächlich ein wenig half. Er versuchte, sich im etwas pummeligen Gesicht des Knaben wiederzuerkennen, mußte aber einräumen, daß es ihm nicht gelang. Wenigstens erinnerte ihn das Mädchen mit den krausen blonden Haaren an ihre Mutter. Adrienne hüstelte vielsagend, und der Junge verneigte sich formgerecht, während das Mädchen einen Knicks machte, wenn auch ein klein wenig unsicher. Finlay nickte ihnen zu und bemühte sich angestrengt, freundlich zu lächeln. Wenn er das leise Stirnrunzeln bedachte, das er damit bei ihnen hervorrief, mußte er wohl davon ausgehen, daß sein Lächeln kein großer Erfolg war.

»Danke für die Geschenke, Vater«, sagte Troilus leicht atemlos, aber in gleichmäßigem Tonfall. »Das war sehr nett von dir.«

Finlay war für einen Moment aus dem Konzept. Aber natürlich, Adrienne mußte gewußt haben, daß er nicht rechtzeitig daran denken würde, und war ein weiteres Mal für ihn eingesprungen. »Hallo, Troilus, Cressida«, sagte er, so sanft er konnte. »Schön, euch zu sehen. Es ist lange her, wie? Zu lange.«

»Wir haben dich in den Nachrichten gesehen«, sagte der Junge. »Während der Rebellion. Sie sagten, du wärst ein Held.«

»Ich habe meine Pflicht getan«, bemerkte Finlay. »Ich habe für etwas gekämpft, woran ich glaubte. Etwas Wichtiges.

Wenn du älter bist, Troilus, und in den Mannesstand trittst, wirst du als Feldglöck das gleiche tun.«

»Das denke ich nicht«, entgegnete Troilus. »Es hat nicht so ausgesehen, als würde ich sowas gerne tun. Ich denke, ich werde viel lieber Tänzer.«

»Ah«, sagte Finlay. »Na ja, ich bin sicher, das Imperium wird immer… Tänzer benötigen.« Er wandte sich hilfesuchend an Adrienne.

»Ballett«, erklärte sie rundheraus. »Er ist sehr gut darin.«

»Ich verstehe«, sagte Finlay. Er versuchte, sich seinen Sohn und Erben bildhaft vorzustellen, wie er in Strumpfhose und Ballettröckchen über eine Bühne tänzelte, aber es gelang ihm nicht. Er wandte sich an Cressida. »Und was möchtest du werden, wenn du groß bist?«

»Ich werde Nonne«, erklärte das Mädchen feierlich. »Ich trete in die Kirche ein und diene unter der Heiligen Beatrice.«

»Ich verstehe«, sagte Finlay. Er blickte Adrienne an. »Ist das deine Idee von einem Scherz? Eine Art verrückte Vergeltung?

Die Feldglöcks sind seit eh und je Krieger! Männer mit Blut in den Adern, nicht Milch! Wer zum Teufel wird die Feldglöcks führen, wenn ich nicht mehr bin? Dieser Schwanenprinz hier?«

»Sprich leise!« ermahnte in Adrienne. »Du machst den Kindern Angst.«

»Warum nicht? Sie machen ja auch mir eine Mordsangst!

Das ist nicht die richtige Erziehung für einen Feldglöck! Da draußen lauert eine böse Welt, in der alle Arten von Leuten nur darauf warten, über unsere Kinder hinwegzutrampeln. Und wenn ich ihn mir so anschaue, bezweifle ich, daß Troilus ein Schwert jemals auch nur in der Hand gehalten hat.«

Die beiden Kinder drängten sich an ihre Mutter, klammerten sich an ihre Hände und kämpften mit den Tränen. Adrienne funkelte Finlay an und sagte kalt: »Es sind meine Kinder, nicht deine. Du hast das Mitspracherecht verloren, als du es mir überließest, sie allein großzuziehen. Und ich wollte verdammt sein, wenn ich mich daran orientierte, wie dein Vater dich erzogen hat. Ich wollte nicht, daß sie dir in irgendeiner Form ähnlich wurden. Ich wollte normale Menschen aus ihnen machen.«

»Ich bin nicht immer da, um sie zu beschützen!«

»Du warst nie da! Ich habe sie am Leben gehalten und für ihre Sicherheit gesorgt, ohne daß ich einmal zu dir rennen mußte.

Und die Welt, in der sie aufwachsen, wird in nichts deiner Welt ähneln. Das ist einer der Punkte, warum wir die Rebellion ausgefochten haben. Meine Kinder werden ihre Träume wahrmachen, und zum Teufel mit dem Erbe und der Tradition der Feldglöcks! Was hat beides dir mehr gebracht als Blut und ein gebrochenes Herz?«

Finlay ballte die Fäuste, während er um Selbstbeherrschung rang. Er war erst seit Minuten hier, und schon ging alles fürchterlich daneben. Adrienne war wütender, als er sie je erlebt hatte, und seine Kinder standen kurz davor, in Tränen auszubrechen. Er zwang sich dazu, die Fäuste wieder zu öffnen, und holte tief Luft, um sich zu beruhigen.

»Es tut mir leid. Ich wollte nicht laut werden. Es war nur… ein kleiner Schock. Warum hast du mir von all dem nichts erzählt, Addie?«

»Weil ich wußte, daß du so reagieren würdest. Ich hatte gehofft, wenn du erst die Kinder sähest, würdest du es leichter aufnehmen. Ich hätte wissen sollen, daß es eine schlechte Idee war. Du betrachtest die Kinder nur als Erweiterungen deiner Person, als jemanden, der in deine blutigen Fußstapfen tritt.

Und was soll dieser Mist über den Familienvorsitz? Du bist nicht der Feldglöck; Robert ist es. Seine Kinder werden den Clan führen, wenn überhaupt welche.«

»Ich hätte zum Feldglöck werden können, falls ich gewollt hätte. Mein Vater war früher das Oberhaupt. Die Position stand mir rechtmäßig zu, falls ich sie gewünscht hätte. Ich habe mich nur dagegen entschieden.«

»Weil du die Verantwortung nicht haben wolltest. Du hast immer nur an dich selbst gedacht.«

»Ich denke an Evangeline! Ich würde für sie sterben!«

»Tod«, sagte Adrienne. »Das ist alles, womit du dich auskennst, Finlay. Für jemanden zu sterben ist einfach. Für jemanden zu leben ist viel schwerer. Würdest du dein Leben für Evangeline ändern, für deine Kinder? Würdest du für sie aufgeben, was du geworden bist, was du aus dir selbst gemacht hast?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Nein, das tust du nicht. Das ist ja so traurig. Ich denke, du gehst jetzt lieber, Finlay.«

»Was?« Er glotzte sie an. »Aber… ich bin gerade erst gekommen! Du kannst mich nicht einfach hinauswerfen. Ich wollte ja nicht schreien. Ich war nur durcheinander. Tu mir das nicht an, Adrienne. Ich wollte so viel sagen. Dir und den Kindern.«

»Ich denke, du hast genug gesagt. Für dich ist das nichts – Zuhause, Familie und Kinder. Du wüßtest ja nicht, was du damit anfangen solltest. Du würdest sie zerbrechen, ohne es zu wollen. Du warst immer zu grob beim Spielen, Finlay.«

»Addie… bitte. Zwinge mich nicht, zu gehen. Du weißt doch, wieviel mir das bedeutet!«

»Tue ich das? Ich dachte, ich wüßte es. Ich hoffte, ich wüßte es. Ich denke jedoch nicht, daß ich dich je wirklich gekannt habe, Finlay. Du hattest so viele Persönlichkeiten, unter denen ich mich entscheiden mußte. Aber letzten Endes, denke ich, waren sie alle nur Masken, Gesichter, die du der Welt gezeigt hast, damit man dein wirkliches Ich nicht sieht. Damit man dich nicht verletzen konnte. Vielleicht hat Evangeline die Masken durchschaut. Ich mache mir nichts mehr daraus, es noch mal zu versuchen. Ich denke, du suchst den Tod, Finlay, suchst ihn wie eine Geliebte, und ich werde nicht dulden, daß du die Kinder mitnimmst. Es ist Zeit zu gehen, Finlay. Gehe jetzt.

Bitte.«

Und konfrontiert mit der kalten, unversöhnlichen Stimme seiner Frau, mit den Tränen seiner Kinder, mit Worten, die ihn wie Messer verletzten, drehte er sich einfach um und ging. Entfernte sich von all den Dingen, von denen er geglaubt hatte, er sehnte sich nach ihnen. Er schloß die Tür hinter sich und wußte dabei, daß er nie zurückkehren konnte. Weil es ein paar Kämpfe gab, die nicht mal er gewinnen konnte. Die Kinder gehörten nicht zu seiner Zukunft. Er hatte keine Zukunft. Das hatte er stets gewußt. Er hatte nur versucht, es für einige Zeit zu vergessen, weil er es sich so sehr wünschte.

Durch die Menschenmassen auf der Straße kehrte er nach Hause zurück, und die Leute, die sein Gesicht sahen, beeilten sich, ihm Platz zu machen.

Diana Vertue, heute nur noch gelegentlich Johana Wahn, arbeitete wieder hart in der Datenbanksektion des neu eingerichteten Esper-Gildenhauses in der Parade der Endlosen. Das Gildenhaus diente dazu, Esper auszubilden, ihnen Beistand zu leisten, sie zu politisieren und ihnen Unterschlupf zu bieten, falls es nötig wurde. Diana verspürte überhaupt kein Bedürfnis nach Schutz oder Beistand und interessierte sich nicht für Esper-Politik, aber sie brauchte definitiv Zugriff auf die umfangreichen Lektronendateien der Esper-Bewegung. Im Verlauf der letzten paar Jahrhunderte hatte die Untergrundbewegung gewaltige Datenbänke über Theorie, Praxis und Geschichte aller Esper-Fähigkeiten angelegt, eine Bibliothek des Wissens, die bei weitem alles übertraf, was man anderswo fand. Und Diana suchte Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen.

Hätte allerdings die Esper-Bewegung genau gewußt, welchen Fragen sie nachging, dann hätte sie zweifellos Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um Diana von ihren Lektionen fernzuhalten. Also hatte Diana nichts verraten. Sie wollte die Leute schließlich nicht nervös machen.

Jemand klopfte vorsichtig an die Tür. Dann ging diese einen Spalt weit auf, gerade genug, damit ein Diener vorsichtig den Kopf hereinstecken konnte. Die Leute im Gildenhaus hatten auf die harte Tour gelernt, Diana nicht bei der Arbeit zu stören, solange sie keinen wirklich guten Grund hatten. Die Persönlichkeit der Johana Wahn in ihr brach immer noch zuzeiten hervor, wenn sie ausreichend verärgert war. Deshalb gingen die Leute in Anwesenheit der berüchtigten Diana Vertue auf leisen Sohlen und bemühten sich, so wenig wie möglich mit ihr zu tun zu haben. Was ihr nur recht war. Sie drehte den Schwenkstuhl langsam und bedachte den unglücklichen Diener an der Tür mit ihrem besten abschreckenden Blick. Er erbleichte sichtlich und mußte schwer schlucken, ehe er seine Botschaft ausrichten konnte.

»Verzeiht, daß ich Euch störe, höchst glorreiche, verehrte und ausgesprochen gelassene Senior-Esperin, aber der Vorsteher des Hauses läßt erneut anfragen, ob Ihr so freundlich wärt, mit ihm über den… Gegenstand Eurer derzeitigen Forschungen zu sprechen. Er ist überzeugt, Euch helfen zu können, falls Ihr nur…«

»Nein«, unterbrach ihn Diana, »das denke ich nicht.« Ihre Stimme klang rauh und kratzend und war schmerzlich für das Ohr. Ihr Hals war durch die endlosen Schreie zerstört worden, die sie in den furchtbaren Arrestzellen in der Hölle des Wurmwächters ausgestoßen hatte. Diana hätte die Stimmbänder heilen lassen können, hatte sich aber dagegen entschieden. Ihre Stimme war eine nützliche psychologische Waffe. Sie bannte den Diener mit ihrem besten starren Blick, bis er in Zuckungen ausbrach. »Ich spreche mit dem Vorsteher des Hauses, sobald ich fertig bin, und nicht vorher.«

»Es ist nur… Nun, Ihr belegt unsere Lektronen-Ressourcen jetzt seit drei Wochen, und die Warteliste für andere Benutzer ist inzwischen so lang, daß manche schon angefragt haben, ob sie ihren Platz auf der Liste an die Nachfahren vererben können.«

Diana lächelte nicht. Das wäre ihrem Image abträglich gewesen. »Sagt ihnen, daß Geduld eine Tugend ist. Jedem, der sich nicht besonders tugendhaft fühlt, steht es frei, sich persönlich bei mir zu beklagen.«

»Kann ich Euch wenigstens überreden, regelmäßige Mahlzeiten einzunehmen? Euch nur zehn Minuten zu nehmen und ein eiliges Mahl hier drin herunterzuschlingen, wenn es Euch zufällig einfällt, kann nicht bekömmlich für Euch sein. Ihr geht überhaupt nur selten hinaus. Ihr würdet wahrscheinlich hier schlafen, falls Platz für ein Feldbett wäre.«

»Danke für Eure Besorgnis«, knurrte Diana. »Sie ist höchst willkommen. Verschwindet jetzt, ehe ich mich entschließe, Euch in ein kleines hüpfendes Wesen zu verwandeln.«

Der Kopf des Dieners verschwand, und die Tür schloß sich rasch hinter ihm. Diana lächelte leise. Sie wußte, daß sie ihre Reputation nicht dergestalt hätte ausnutzen dürfen, aber Gelegenheit für ein wenig Humor bot sich in ihrem jüngsten Leben kaum. Der Mann hatte völlig recht; sie speiste nicht richtig und nicht oft genug, aber ihre Arbeit war nun mal so wichtig, daß sie sich oft nicht davon losreißen konnte, bis der Körper sie zwang.

Sie mußte die Antworten finden, die sie suchte, ehe jemand eintraf, der mächtig genug war, sie aufzuhalten.

Sie seufzte und wandte sich wieder dem Terminal zu. Der Monitor summte ungeduldig und wartete auf nützliche Eingaben. Sie benutzte eine altmodische Tastatur, die so langsam und ermüdend war, daß es sie rasend machte, aber sie durfte keine Direktverbindung zum Lektron mit Hilfe ihres Komm-Implantats riskieren. Damit wäre sie verwundbar geworden durch alle möglichen Dinge. Diana Vertue ging dem größten einzelnen Geheimnis des Esper-Zeitalters nach – dem Wesen und Ursprung der rätselhaften Mater Mundi, Unserer Mutter Aller Seelen.

Niemand wußte genau, wer oder was die Mater Mundi war; wenn man hundert Leute fragte, erhielt man hundert Antworten, die alle gleichermaßen vage ausfielen. Manche bezeichneten sie als Über-Esper, als mächtigstes Esper-Bewußtsein aller Zeiten. Andere behaupteten, sie bestünde aus einer ganzen Gruppe von Senior-Espern der Untergrundbewegung, die zusammenarbeiteten. Für manche war sie die Göttin der Esper, und wessen Leben sie berührte, der galt ihnen als Heiliger. Sie hatten auch versucht, aus Johana Wahn eine Heilige zu machen, waren daran aber gescheitert.

Für nicht mit ESP begabte Menschen war die Mater Mundi eine gefährliche Unbekannte, eine Bedrohung, die umso beunruhigender ausfiel, als ihre Natur unklar blieb.

Diana hatte persönliche Gründe, der Mater Mundi zu mißtrauen. Das Phänomen hatte sich einmal durch sie selbst manifestiert, unaufgefordert und unerwartet, hatte dabei ihre Esper-Fähigkeiten über alle früheren Grenzen hinaus verstärkt und erweitert. Diana leuchtete damals auf wie eine Sonne, mitten im dunklen Abgrund der Hölle des Wurmwächters; sie band alle gefangenen Esper zusammen, damit sie aus den Zellen ausbrechen und für ihre Freiheit kämpfen konnten. Hunderte Esper wurden in ihren Brennpunkt hineingezogen, angeleitet durch Dianas gestärkten Willen, verschmolzen zu einer einzelnen, unaufhaltsamen Kraft. Die Gestalt war nicht von langer Dauer, aber solange sie Bestand hatte, wirkte Johana Wahn Wunder.

Später überzeugte sie sich selbst davon, der erwählte Avatar der Mater Mundi zu sein, die permanente Agentin, in der sich die Weltenmutter manifestieren konnte. Sie hielt sich für die Erwählte, die Anführerin, der es bestimmt war, ihr Volk aus der Sklaverei zu führen. Sie irrte sich. Sie fand das auf Nebelwelt auf die harte Tour heraus, als sie versuchte, die Präsenz der Weltenmutter in einem entscheidenden Augenblick herbeizurufen, und nichts geschah. Menschen starben ringsherum, und Diana konnte nichts tun, um sie zu retten. Später manifestierte sich die Mater Mundi durch den abtrünnigen Investigator Topas und kombinierte alle Esper von Nebelwelt zu einer einheitlichen, mächtigen Kraft. Und Johana Wahn fand auf bittere Art und Weise heraus, daß sie nicht die war, die sie zu sein glaubte.

Zum Ende der Rebellion hin zog Mater Mundi Hunderttausende von Espern in Städten auf ganz Golgatha zusammen und machte sich nicht mal die Mühe mit einem Fokus. Sie knallte einfach in ihre Gedanken hinein und benutzte die Esper, um zu tun, was nötig war. Wiederum hatte die Gestalt nicht lange Bestand, aber während sie hielt, fegte sie mit fast verächtlicher Lässigkeit jedes Hindernis hinweg, das den Rebellen noch entgegenstand. Die Mater Mundi manifestierte sich danach nur noch ein einziges Mal, als die Rebellion endgültig dem Ende zuging, und ergriff lange genug von Johana Wahn Besitz, um eine Handvoll nützlicher Mitspieler an Löwensteins Hof zu teleportieren.

Diana hätte dankbar sein sollen, sich sogar geehrt fühlen sollen. Sie fand jedoch eher, daß sie benutzt worden war.

Und so machte sie sich auf, in Erfahrung zu bringen, wer oder was sie benutzt hatte und warum, lief dann aber nur vor eine massive Wand. Die Mater Mundi wünschte offenkundig nicht, daß ihre tatsächliche Natur bekannt wurde, und hatte große Mühe darauf verwandt, ihre Spuren zu verwischen.

Gerüchte und Klatsch kursierten reichlich, aber nichts, was man als harte Tatsachen bezeichnen konnte, egal, wie tief Diana auch grub. Man glaubte allgemein, daß die Mater Mundi irgendwann in ferner Vergangenheit die Esper-Bewegung gegründet und sich dann in die Obskurität zurückgezogen hatte, um die Entwicklung aus der Ferne zu betrachten und zu steuern. Nirgendwo jedoch war eine Unterlage von irgend jemandem aufzutreiben, der persönlich Zeuge von irgendeinem dieser Vorgänge geworden war oder der einen solchen Zeugen kannte.

Ein Punkt zeichnete sich allerdings klar ab: Leute, die sich auf die Suche nach der Mater Mundi machten, kehrten meist nicht zurück. Leute, die zu viele Fragen stellten, verschwanden.

Schließlich erklärte die Untergrundbewegung die Weltenmutter für tabu, ein zu gefährliches Geheimnis, als daß man ihm hätte nachgehen dürfen. Diana gab einen Dreck darauf. Nach ihrer Erfahrung hatten Menschen, die sich versteckten, gewöhnlich einen guten Grund dafür, und sie wollte einfach herausfinden, welcher in diesem Fall vorlag. Warum sich die Göttin der Esper vor ihren Verehrern verbarg. Und warum sie glaubte, sie könnte Menschen einfach benutzen und wieder wegwerfen, ohne Rechenschaft darüber abzulegen.

Diana entschied: Falls irgendwo Informationen vorhanden waren, dann in den Aufzeichnungen der Esper-Bewegung. Also marschierte sie ins Esper-Gildenhaus in Parade der Endlosen, übernahm die Datenbankabteilung und verwehrte es im Grunde jedem, irgend etwas dagegen zu unternehmen.

Zunächst kam sie nicht schnell an irgend etwas heran. Alle Arten von Blockaden und Paßwörtern hielten sie auf, geheime Dateien innerhalb anderer Dateien und doppelte Verschlüsselungen, mit denen sie keine Erfahrung hatte. Die Esper-Gilde schützte ihre Geheimnisse gut – sogar vor den eigenen Leuten.

Vielleicht besonders vor ihnen. Diana hatte jedoch vorausgeplant, hatte nützliche Beziehungen zu den Kyberratten gepflegt, die die Schutzmechanismen der Gilde nur als Herausforderung betrachteten. Diana sah zu und lernte mit einer Geschwindigkeit hinzu, die sie selbst verblüffte. Die Mater Mundi hatte sie vielleicht verlassen, aber Diana hatte sich trotzdem im Vergleich zu vorher weiterentwickelt. Bald schon brauchte sie die Hilfe der Kyberratten nicht mehr und drang bei der Verfolgung eines rätselhaften Gespenstes immer tiefer in die Vergangenheit vor.

Sie entdeckte eine Menge geheimer Wahrheiten über die Frühzeit der Untergrundbewegung, als die Esper noch darum gerungen hatten, sie aufzubauen. Sie fand Dateien mit heimlichen Absprachen und schwer verdaulichen Abkommen, mit Angaben zu guten Leuten, die man der Sache geopfert hatte.

Zu gegnerischen Organisationen, die brutal vernichtet wurden, damit die Untergrundbewegung Alleinvertreterin aller Esper wurde. Helden der Vergangenheit erwiesen sich als Schurken, und frühere Schurken entpuppten sich einfach als Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren oder zu viele hinderliche Skrupel gehabt hatten. Wie in so vielen Organisationen, die längere Zeit überdauerten, schrieben die Sieger die Geschichte und opferte man die Wahrheit auf dem Altar der Nützlichkeit.

Diana war eigentlich nicht überrascht. Aber so tief sie auch grub, die Mater Mundi entzog sich ihrem Zugriff, flackerte nur an den Rändern der Untergrundbewegung auf, griff in das Leben dieser oder jener Person ein, steuerte den Fortschritt der Bewegung mit einem subtilen Anstoß hier und einer unauffälligen Maßnahme dort. Das Muster wurde deutlich, wenn man nur weit genug zurücktrat, und Diana konnte einfach nicht glauben, daß sie die erste war, die das getan haben sollte, aber nirgendwo fand sie Aufzeichnungen, nirgendwo solide Fakten, die diese Bezeichnung verdient gehabt hätten, nirgendwo offizielle Dateien irgendwelcher Art über die Mater Mundi.

Falls die Wahrheit überhaupt zu finden war, dann hatte man sie wirklich tief vergraben, dort, wo vielleicht nicht mal die heutigen Führungskräfte sie noch fanden. Etwas hatte die Verantwortlichen erschreckt. Und wenn man manche der Dinge betrachtete, die die Bewegung unternahm und die nach wie vor in den Unterlagen auftauchten, dann mußte ganz schön unangenehm sein, was sie über Unsere Mutter Aller Seelen herausgefunden hatten. Oder gefährlich.

Esper waren zuerst durch gentechnische Manipulationen vor etwas weniger als drei Jahrhunderten entstanden. Ein glücklicher Zufall, das unerwartete Ergebnis von Experimenten, mit denen man ein ganz anderes Ziel verfolgt hatte. Es dauerte einige Zeit, den Vorgang zu stabilisieren, um gezielt bestimmte Fähigkeiten zu erzeugen – die von Telepathen, Psychokineten, Pyrokineten und so weiter. Danach kam es nur noch darauf an, Qualitätskontrollen durchzuführen, damit man das Endprodukt erfolgreich vermarkten konnte. Esper galten nicht als Menschen. Sie waren Eigentum – wie Klone. Das Endprodukt imperialer Wissenschaft.

Niemand protestierte. Zumindest niemand, der etwas hätte ändern können.

Als die Esper-Bewegung erst einmal gegründet war, probierten ihre Führer viele Wege, manche erfolgreicher als andere.

Zu ihren anstößigeren Ideen gehörte der Versuch, insgeheim auf gentechnischem Weg Superesper aus bereits vorhandenen Espern zu erzeugen, um die neue Variante als Waffe in ihrem großen Kampf einzusetzen – Esper mit mehr als einer Fähigkeit oder sogar mit neuen, bislang nicht erträumten Kräften.

Esper, die so hell brennen würden, daß Sonnen daneben verblaßten. Einwände wurden vorgebracht, aber niedergeschrien.

Schließlich war Krieg.

Zu Anfang herrschte kein Mangel an Freiwilligen, aber das änderte sich rasch, als deutlich wurde, daß die Resultate fast ausschließlich negativ waren. Den Wissenschaftlern gelang es einfach nicht, Superesper zu erzeugen. Nur Monster entstanden, körperliche und geistige, schrecklicher, als man ertragen konnte. Die Bewegung vernichtete alle, bei denen sie sich in der Lage sah, und tat mit den übrigen etwas anderes. Niemand wußte, was. Die Dateien waren so versteckt, daß niemand sie finden konnte. Bis Diana kam. Nur wenige solide Beweise waren von dem geblieben, was die Esper-Forscher in ihren Laboratorien hervorgebracht hatten, aber es gab eine Namensliste.

Der Trümmerpsycho. Höllenfeuer Blau. Schreiende Stille. Der Graue Zug. Die Spinnenharfen. Und ein letzter Name mit einem Datum, das Jahrhunderte vor der Entstehung der Esper-Bewegung lag. Ein vertrauter Name.

Todtsteltzer.

Diana wußte noch nicht recht, was sie damit anfangen sollte.

Sie hatte vorsichtig versucht, das Thema Owen gegenüber vorzubringen, aber er saß nur eine Zeitlang da, machte ein sehr nachdenkliches Gesicht und verschloß sich dann ganz. Sie versuchte es mit Argumenten, mit Drohungen, erreichte aber mit beidem nichts. Nicht einmal Johana Wahn verfügte über das, was nötig gewesen wäre, um Owen Todtsteltzer unter Druck zu setzen.

Diana machte ein finsteres Gesicht. Die Überlebenden aus dem Labyrinth des Wahnsinns bereiteten ihr Sorgen. Menschliche Wesen hätten nicht zu Dingen befähigt sein dürfen, wie diese Leute sie so beiläufig vollbrachten. Und alle Zeichen sprachen dafür, daß sie weiterhin stärker wurden, ohne daß ein Ende absehbar gewesen wäre. Vielleicht entwickelten sie sich mit der Zeit zu etwas, was mit der Mater Mundi vergleichbar war; sicherlich waren sie alle schon ein gutes Stück über die menschliche Natur hinausgeschritten.

Diana nutzte die eine oder andere Gelegenheit und sprach mit ihnen allen über das Labyrinth des Wahnsinns, aber ihre Gesprächspartner hatten nicht viel zu sagen. Der eine Punkt, in dem sie übereinstimmten, war, daß das Labyrinth von Dianas Vater, Kapitän Schwejksam, zerstört worden war. Also wandte sich Diana auf der Suche nach Antworten an ihn, schon halb überzeugt, daß die Mater Mundi jemand war, der das Labyrinth Jahrhunderte zuvor durchschritten hatte. Womöglich waren die Doppelinitialen sogar eine Art Hinweis. Schwejksam wußte jedoch nicht viel und erzählte nur, daß er lediglich ein Stück durchs Labyrinth gegangen war, ehe er sich wieder daraus zurückzog. Er entwickelte allmählich selbst merkwürdige Fähigkeiten, zeigte sich aber nicht bereit, näher auf sie einzugehen.

Was er allerdings sagte: Er hatte miterlebt, wie das Labyrinth viele Mitglieder seiner Besatzung umbrachte, die es zusammen mit ihm betreten hatten, und das auf grauenhafte, alptraumhafte Art.

Einer der Esper verschwand einfach, und Luft fuhr knallend in das Vakuum, wo er noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte… Ein Infanterist fiel in eine der Metallwände und verschwand, als hätte die Wand ihn absorbiert… Zwei Marineinfanteristen rannten ineinander wie Farben, die ein Maler auf der Palette mischte, und ihr rohes fleisch durchdrang sich gegenseitig über alle Hoffnung hinaus, es je wieder zu trennen…

Und überall das rauhe Knallen explodierender Köpfe und das Lachen und Schreien von Menschen, die am Rand des Wahnsinns standen oder die Grenze bereits überschritten hatten.

Das Labyrinth des Wahnsinns griff sich ein paargewöhnliche Männer und Frauen und machte Übermenschen aus ihnen.

Aber es brachte verdammt viel mehr Menschen um.

Diana fragte ihren Vater nie, warum er das Labyrinth vernichtet hatte. Entweder hielt er allein die Existenz für eine Gefährdung der gesamten Menschheit, oder er wollte es den Rebellen vorenthalten oder einfach Rache für den Tod so vieler Besatzungsmitglieder nehmen. Sie war sich ziemlich sicher, daß er ihr keine genaue Antwort hätte geben können.

Zur Zeit sah sich Diana genötigt, auf weitere Fragen in dieser Richtung zu verzichten, da alle Überlebenden des Labyrinths Golgatha verlassen hatten. Aber sie hatte auch das starke Gefühl, daß Mater Mundi letztlich doch nicht direkt etwas mit dem Labyrinth zu tun hatte. Was immer sonst sie verkörpern mochte, Unsere Mutter Aller Seelen war definitiv ein Esper-Phänomen, und für die Überlebenden des Labyrinths… galt das nicht. Und zu was auch immer sich diese letztlich entwickelten, Diana hegte den Verdacht, daß das Endergebnis nicht unbedingt auch nur entfernt menschlich ausfallen würde.

Sie schob den Gedanken zur Seite. Jeder Tag hatte seine eigene Bürde und seine eigene Last. Oder etwas in dieser Art.

Jüngst hatte sich Diana vor allem auf die historischen Dateien konzentriert, die frühere Manifestationen der Weltenmutter behandelten. Die Namen waren wohlbekannt, aber die harten Fakten über ihre… Besessenheit… blieben gut versteckt. Es waren insgesamt bemerkenswert wenige Personen, nur acht in über zweihundert Jahren. Als Menschen wiesen sie keine Gemeinsamkeiten auf, abgesehen von einer beunruhigenden Tatsache: Keiner hatte es überlebt, von der Mater Mundi berührt zu werden. Sie wurden verrückt, und nachdem sie die Wünsche der Über-Esperin ausgeführt hatten, verbrannten sie von innen heraus, verzehrt von der Kraft, die in ihnen tobte. Es blieb nicht mal genug übrig, um sie begraben zu können. Es schien, als wäre ein bloß menschliches Bewußtsein einfach nicht in der Lage, die gewaltige Energie zu steuern, die die Mater Mundi in ihnen entfesselt hatte.

Diana wurde kalt zumute, als sie das zum ersten Mal las. Sie hätte sterben können. Allen anderen war es so gegangen. Die Mater Mundi hatte jeden Grund zu erwarten, daß auch Diana durchdrehte und starb, und hatte sie trotzdem benutzt. Sie konnte unmöglich wissen, daß Diana Vertue, damals fast gänzlich Johana Wahn, der erste Avatar sein würde, der die verstärkende Berührung der Weltenmutter überlebte. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, daß Diana schon mehr als nur ein bißchen verrückt gewesen war, als die Mater Mundi sie in der Hölle des Wurmwächters fand und benutzte. Was etwas über den Zustand oder das Wesen der Mater Mundi aussagte, das Diana sehr beunruhigte.

War das womöglich die Antwort? Daß die Handlungen der Über-Esperin keinen erkennbaren Sinn ergaben, weil sie oder es völlig verrückt war? Nein, das Vorgehen während der Rebellion war ziemlich klar gewesen. Die Tatsache, daß Diana bislang kein Schema entdeckt hatte, hieß noch nicht, daß keines existierte.

Jemand hatte die Wahrheit über die früheren Manifestationen sorgfältig vertuscht, und das von Anfang an. Die Untergrundbewegung wußte vielleicht nicht, was sich hinter der Weltenmutter versteckte, aber sie wußte, daß sie sie brauchte. Nur die versteckten Dateien verrieten, daß die früheren Manifestationen spektakulär umgekommen waren und dabei Hunderte unschuldiger Umstehender mitgenommen hatten.

Anscheinend hatte die Untergrundbewegung nie irgendeinen Versuch unternommen, dieser… Kraft nachzugehen, die ihre eigenen Leute übernahm und vernichtete. In jedem Krieg ist es nützlich, den Gegner genau zu kennen, aber die eigenen Bundesgenossen genau zu kennen, das ist absolut lebenswichtig.

Und doch enthielten die Dateien nichts, überhaupt nichts, was auch nur angedeutet hätte, daß jemand im Untergrund auch nur eine der naheliegendsten Fragen gestellt hatte. Es schien, als wäre niemandem die Idee gekommen. Was die alarmierende Frage aufwarf, wie weit der Einfluß der Mater Mundi reichte.

Johana Wahn hatte die Berührung durch die Weltenmutter überlebt. Ebenso Investigator Topas. Zwei Frauen, die allgemein als verrückt galten. Vielleicht waren sie durch ihre abwegigen Denkstrukturen anpassungsfähig genug gewesen, um mit einer Veränderung fertig zu werden, die aus ihnen etwas mehr oder zumindest etwas anderes als Menschen machte. Ganz sicher waren Dianas Kräfte durch die Berührung der Weltenmutter… transformiert worden. Diana bezweifelte, daß man auf Golgatha einen Telepathen fand, der mit ihr hätte mithalten können, falls sie es auf einen Vergleich abgesehen hätte. Und sie verfügte noch über andere Kräfte – Psychokinese und Präkognition, was eigentlich als unmöglich galt. Die Gentechniker hatten durch erschöpfende und oft tragisch verlaufende Experimente nachgewiesen, daß das menschliche Hirn nur mit jeweils einer Kraft umgehen konnte. Sonst brannte das Bewußtsein aus.

Manchmal buchstäblich. Deshalb pflanzten sich Esper auch nur untereinander fort, und die Kinder entwickelten lediglich das jeweils dominante Merkmal.

Und woher stammte all die Macht Dianas? Hatte die Über-Esperin womöglich eine unbekannte Kraftquelle innerhalb Diana Vertues angerührt und erweckt? Vielleicht etwas, das in der menschlichen Psyche so tief vergraben lag, daß nur eine nichtmenschliche Berührung den Lebensfunken übermitteln konnte? Und falls das stimmte, überlegte Diana leicht benommen, konnten dann alle Esper ihr gleich werden, falls man sie nur hart genug anstieß? Oder falls sie verrückt genug waren?

War sie, Diana oder Johana Wahn, in der Lage, andere zu berühren und ihr gleich zu machen? Waren alle Esper potentiell übermenschlich und wurden nur durch äußere Kräfte in künstlichen Grenzen gehalten? Zum Beispiel durch die Mater Mundi?

Diana zwang sich, diesen Gedankengang zu unterbrechen, und nahm einen tiefen und beruhigenden Schluck lauwarmen Tees aus der Tasse, die sie vor sich auf dem Tisch stehen hatte.

Nach all den Dateien, die sie ausgegraben hatte, wußte sie nicht wesentlich mehr als zu Beginn. Tatsächlich hatte sie viel mehr Fragen aufgestöbert als Antworten. Und obendrein verdammt beunruhigende Fragen. Kaum überraschend. Selbst nach fast dreihundert Jahren, die imperiale Wissenschaftler dieses Gebiet erforscht hatten, wußten selbst die besten von ihnen nicht wirklich, aus welchen Quellen sich die Kräfte eines Espers speisten.

Man hatte Esper zwangsweise dienstverpflichtet, kaum daß sie erschaffen worden waren, weil sie einfach so ungeheuer nützlich waren. Und später… hatte man davor gewarnt, dumme Fragen zu stellen.

Esper arbeiteten und sie waren Eigentum, und mehr brauchte niemand zu wissen.

Die Mater Mundi andererseits schien von niemandem erzeugt worden zu sein. Sie oder es war einfach spontan aus dem Nirgendwo aufgetaucht. In einer Minute hatte das Universum noch Sinn ergeben, und in der nächsten schon stand die Weltenmutter mitten im Getümmel. Sie schien an keinen speziellen Planeten gebunden zu sein. Frühere Manifestationen waren auf im ganzen Imperium verstreuten Welten erschienen. Diana war es nicht gelungen, ein Bindeglied zwischen ihnen oder einen gemeinsamen Nenner zu finden. Wo immer man Esper fand, fand man auch Gelegenheiten für die Mater Mundi.

Ihre Vorgehensweise hatte sich allerdings jüngst geändert.

Hatte sie sich ursprünglich nur in einzelnen Espern manifestiert, verknüpfte sie sie jetzt zu Gestalten, die weit mehr vollbrachten als Individuen. Und niemand litt später an schlimmen Nachwirkungen. Zumindest nicht an erkennbaren. Bislang nicht. Es schien, als würde die Weltenmutter stärker und fähiger, je mehr sie vollbrachte. Lernen durch Praxis. Diana lehnte sich zurück und spitzte nachdenklich die Lippen. Vielleicht fand sie etwas Nützliches heraus, wenn sie die Ergebnisse der Auftritte der Mater Mundi miteinander verglich. Womöglich das, was dieses Phänomen zu erreichen versuchte. Oder worauf es abzielte… Diana machte ein finsteres Gesicht. Und vielleicht handelte sie sich noch schlimmere Kopfschmerzen ein, als sie ohnehin schon hatte.

Zu lange arbeitete sie schon in einem Vakuum. Sie brauchte einen Gesprächspartner. Sie wandte sich vom Terminal ab und schaltete einen Bildschirm ein. Für private interplanetare Gespräche fielen heutzutage gewöhnlich lange Wartezeiten an, aber Diana genoß als Kriegsheldin und führende Nervensäge eine Priorität, die sie erbarmungslos ausnutzte. Es dauerte weniger als eine Minute, eine Verbindung nach Nebelwelt herzustellen, und bald blickte Investigator Topas ihr vom Bildschirm aus entgegen, das Gesicht wie immer völlig kalt und beherrscht.

»Hoffentlich ist es wichtig, Vertue. Ich bin beschäftigt.«

»Ihr seid immer beschäftigt, Investigator. Ich muß mit Euch über die Mater Mundi reden.«

»Da seid Ihr nicht die erste. Eine Menge Leute interessieren sich für sie und für das, was sie mit mir gemacht hat.«

»Was hat sie denn mit Euch gemacht?« wollte Diana wissen und beugte sich vor.

Topas runzelte die Stirn. »Sie hat mich verstärkt. Ich kann heute einiges vollbringen. Machtvolle Dinge. Ich bin nicht mehr nur eine Sirene, eine sendende Telepathin. Viele Leute fürchten mich inzwischen. Natürlich ist das auf Nebelwelt gewöhnlich von Vorteil. Aber diesmal läuft es… anders. Falls ich es nicht besser wüßte, würde ich schwören, daß es religiöse Ehrfurcht ist. Seit ein paar Tagen bringen mir die Leute ihre kranken Kinder und bitten mich, sie durch Auflegen der Hand zu heilen.«

»Und?« fragte Diana fasziniert.

Topas schniefte, und es klang beinahe verlegen. »Na ja…

Ich war neugierig. Also habe ich ein paar objektive Tests durchgeführt. Das war vielleicht hilfreich! Niemand hat sein Bett aufgehoben und ist losgelaufen. Hindert die Leute allerdings nicht, weiterhin zu kommen. Ich lasse die Besucher heute von meinen Sicherheitsleuten sortieren. Vor meinen Feinden kann ich mich schützen, aber Gott bewahre mich vor Möchtegernjüngern! Eine Gruppe hat mir tatsächlich eine Kirche errichtet.«

»Was ist passiert?«

»Ich habe sie niedergebrannt. Was verstanden wurde. Warum stellt Ihr mir diese Fragen, Vertue?«

»Ich wollte herausfinden, ob Ihr die gleichen Veränderungen durchlebt habt wie ich. Die Mater Mundi hat viele Leute auf Nebelwelt zusammengeführt. Wurden bei irgend jemandem davon beachtenswerte Veränderungen festgestellt?«

»Vertue, jeder hier ist damit beschäftigt, Nebelhafen wieder aufzubauen. Wir arbeiten sechzehn Stunden am Tag, und niemand von uns findet genug Schlaf. Das macht uns alle ganz schon griesgrämig. Ich kann jedoch nicht behaupten, mir wäre irgendwas… Ungewöhnliches aufgefallen. Ich muß jetzt los.

Belästigt mich nicht wieder ohne einen verdammt guten Grund!«

Der Bildschirm wurde dunkel, als Investigator Topas die Verbindung auf ihrer Seite trennte. Diana wandte sich wieder dem Terminal zu und biß sich dabei auf die Unterlippe. Topas schien ihre Zeit als Manifestation weitgehend unversehrt überstanden zu haben. Wahrscheinlich, weil sie noch nie ein Inbegriff geistiger Gesundheit gewesen war. War das die Verbindung? Hatte es etwas zu bedeuten? Hatte es mehr zu bedeuten, als daß Diana schon zu lange allein in einem Zimmer saß und nun bereit war, nach jedem Strohhalm zu greifen, der auch nur entfernt den Eindruck erweckte, Sinn zu ergeben? War es im Grunde nicht Zeit, daß sie aufgab, nach Hause ging, mehrere üppige Mahlzeiten zu sich nahm und dann eine Woche lang schlief?

Sie seufzte und verbannte diesen verlockenden Gedanken. Irgendwo lag hier die Antwort verborgen. Das mußte sie einfach.

Wenn sie sich einer Sache sicher war, dann, daß die Mater Mundi nicht das war, wofür die meisten Leute sie hielten. Sie verfolgte ihre eigenen Ziele und ihr eigenes Programm und zögerte nicht, jedes unschuldige Werkzeug einzusetzen, das sie für nötig hielt. Egal, welche Schäden die Opfer dabei erlitten.

Die Weltenmutter behandelte Menschen genauso, wie es die Eiserne Hexe getan hatte.

Diana saß in ihrem kleinen Zimmer auf ihrem Stuhl und kam sich ganz klein und ganz allein vor. Diese Aufgabe war zu groß für einen einzelnen Menschen, sogar für sie. Sie kannte aber auch niemanden, an den sie sich mit ihren Fragen und Befürchtungen hätte wenden können. Ausgeschlossen, zu den Anführern der Esper-Bewegung zu gehen. Die Mater Mundi hatte die Bewegung gegründet und war vielleicht immer noch an der Organisation beteiligt auf irgendeiner tiefen und sehr geheimen Ebene. Was bedeutete, daß Diana niemandem trauen konnte.

Die Mater Mundi konnte sich in einfach jedem manifestieren und Diana durch irgendeinen Freund oder Feind oder Fremden angreifen. Falls sie erfuhr, was Diana trieb…

Diana richtete sich abrupt auf. Irgendwas stimmte hier nicht!

Sie spürte es richtig. Sie blickte sich rasch um, auf einmal überzeugt davon, daß jemand gerade ins Zimmer gekommen war; die Tür war jedoch geschlossen, und sie war allein. Plötzlich schauderte ihr. Es wurde eiskalt. Dianas Atem dampfte in der Luft. Rauhreif bildete sich auf der Lektronenanlage. Ein Druckgefühl lag in der Luft, als wäre etwas unmöglich Großes im Anmarsch, zwängte sich durch Dimensionsbarrieren und rüttelte an den Fenstern der Wirklichkeit. Es war jetzt ganz nahe und suchte nach einem Weg, der es endgültig hereinführte. Diana sprang auf und beförderte den Stuhl mit einem Tritt weg, damit sie mehr Freiraum erhielt. Sie zog die eigene Macht um sich wie einen Mantel, was sie allerdings nicht davor verschonte, daß die Zähne klapperten und die Hände zitterten. Sie machte sich nicht die Mühe, um Hilfe zu rufen. Sie wußte, daß niemandem gestattet sein würde, sie zu hören. Sie wußte, was auf sie zukam.

Jeder Bestandteil der Lektronenanlage im Zimmer richtete sich auf und nahm eine neue Form an. Metall und Plastik rissen auf und machten Buckel, spalteten sich und bildeten sich neu rings um die Gestalt, die sich selbst erzeugte, indem sie die Technik transformierte. Eine Art menschliche Gestalt entstand und ragte hoch über Diana auf – ein breiter, klotziger Körper mit zwei unterschiedlich langen Armen, die in Metallklauen ausliefen. Die Augen bestanden aus Monitorglas, und ein Riß im Metall diente als Lächeln. Statik umprasselte den Kopf wie ein zersplitterter Heiligenschein.

Die Mater Mundi hatte einen neuen Weg gefunden, um sich zu manifestieren.

»Hallo«, sagte Diana und bemühte sich, das Zähneklappern zu beherrschen. »Schön, daß Ihr mal hereinschneit.«

Du hast Fragen gestellt, sagte eine Stimme in ihren Gedanken, die nach knirschenden Zähnen klang, nach zischenden Leitungen, nach weinenden Kindern. Du mußt damit aufhören.

»Dann haltet mich auf«, sagte Diana. »Falls Ihr könnt.«

Ich werde es tun, wenn es sein muß. Verwechsle meine Nachsicht nicht mit Schwäche.

»Quatsch! Wärt Ihr in der Lage, etwas zu unternehmen, hättet Ihr es inzwischen längst getan. Ihr könnt jedoch nicht. Ihr habt aus mir so viel mehr gemacht, als ich früher war, und seid jetzt nicht mehr fähig, es wieder zurückzunehmen. Das Äußerste, was Ihr zustande bringt, ist dieser Metallgolem, der mich einschüchtern soll. Ich habe in Kindertagesstätten schon Servierwagen gesehen, die beängstigender wirkten.«

Ich kann dich zerbrechen, mein Kind.

Und Diana fand sich in der Hölle des Wurmwächters wieder, nackt in der Dunkelheit, wo sie durch ihre eigene Pisse und Scheiße und ihr Erbrochenes kroch, wahrend der Wurmwächter scheußliche, sadistische Spiele in ihren Gedanken anstellte, sie immer wieder folterte, bis sie durch fortwährendes Schreien die eigene Stimme ruinierte.

Nein! wehrte sich Diana. Verschwindet aus meinem Kopf, Ihr Miststück!

Und sie fand sich im Datenbankzimmer wieder, zitternd und bebend, den Geschmack kurz bevorstehenden Erbrechens im Mund. Sie funkelte das Metallkonstrukt an und dehnte die Lippen zu etwas, das ebenso Knurren wie Lächeln war. Der Zorn wärmte sie, trieb die Kälte hinaus. Und als sie sprach, war sie wieder Johana Wahn.

»Dieser Scheiß wird bei mir nicht funktionieren! Das gehört der Vergangenheit an. Ich bin jetzt stärker, als ich mir je erträumt hätte. Vielleicht stärker, als Ihr Euch je erträumt hättet.

Ihr könnt mich nicht aufhalten. Niemand kann mich aufhalten.

Ich werde heraus finden, wer und was Ihr seid und wo Ihr steckt, und dann sorge ich dafür, daß Ihr bezahlt für all die armen Schweine, deren Leben Ihr vernichtet habt!«

Ich tat, was nötig war. Ich tat, was du wolltest. Ich habe den Sieg der Rebellen möglich gemacht.

»Aus eigenen Motiven. Seht jetzt verdammt noch mal zu, daß Ihr von hier verschwindet, ehe ich auf die Probe stelle, wie stark Ihr mich gemacht habt!«

Um wieviel bissiger als eine Schlange ist doch ein undankbares Kind, das man großgezogen hat!

Die Präsenz verschwand plötzlich und nahm die Kälte mit.

Der Metallgolem war nur noch eine leere, verlassene Hülle.

Diana plumpste auf ihren Stuhl zurück. Eine von ihnen beiden hatte geblufft, aber sie wußte nicht recht wer. Anscheinend war sich auch die Mater Mundi dessen nicht sicher gewesen. Immerhin, überlegte Diana, mußte sie der Wahrheit allmählich näher kommen, wenn die Weltenmutter solche Mühen auf sich nahm, um sie abzuschrecken. Bei jedem anderen hätte es wahrscheinlich funktioniert. Diana betrachtete die Gestalt aus Metall und Plastik, die immer noch über ihr aufragte, und zitterte wieder. Jetzt, wo sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, fand sie das Erlebnis doch ganz schön furchteinflößend. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob andere Menschen die Gegenwart von Johana Wahn genauso empfanden.

»Verdammt!« sagte sie schließlich mit völlig ruhiger Stimme. »Wie soll ich dieses Durcheinander nur dem Hausvorsteher erklären?«

Kapitän Schwejksam führte seinen alten Freund und Gegner, den Mann, der Carrion hieß, durch die verstopften, glänzenden Korridore des Sternenkreuzers Unerschrocken. Es war lange her, seit Carrion zum letzten Mal an Bord eines Sternenschiffs gegangen war. Die letzten zwölf Jahre hatte er allein auf dem Planeten Unseeli gelebt, auch unter dem Namen Geisterwelt bekannt, und hatte nur die ruhelosen Geister der ermordeten, fremdartigen Ashrai zur Gesellschaft gehabt. Nach so viel tröstlicher Einsamkeit fühlte er sich nicht wohl in der Masse der geschäftigen Männer und Frauen, die den Sternenkreuzer bemannten. Besonders, da er wußte, daß die meisten ihn fröhlich umbringen würden, falls sie nur die Chance erhielten. Sie wandten die Köpfe ab, wenn er vorbeiging, und formulierten mit den Lippen lautlose Flüche und Obszönitäten. Er spürte, wie sich wütende Blicke in seinen Rücken brannten. Carrion hielt den Kopf hoch erhoben und ging neben Schwejksam her, als bemerkte er nichts und spürte nichts.

»Ein paar Dinge haben sich verändert, seid Ihr zuletzt auf einem Sternenkreuzer wart«, erzählte Schwejksam. »Allerdings nichts zu drastisch. In Eurern persönlichen Lektron findet Ihr eine Datei, die Euch auf den aktuellen Stand bringt. Aber Ihr solltet sie rasch studieren. Wir verlassen den Orbit in sechs Stunden.«

»Wozu die Eile?« fragte Carrion, die Stimme so ruhig und reglos wie immer. »Die Dunkelwüste geht nirgendwohin.«

»Aber was immer darin lauert, bleibt vielleicht nicht mehr lange dort. Ihr habt den Halben Mann gehört. Er nannte sie die Neugeschaffenen. Fremdwesen, die gestorben sind und sich selbst wieder zum Leben erweckt haben. Gruselig. Falls es stimmt.«

»Ihr zweifelt am Wort eines der größten Helden der Menschheit?«

»Falls der erste Halbe Mann ein falscher Vertreter und ein Lügner war, wer möchte dann sicher sein, daß der neue nicht ebenfalls einer ist? Aber wir können das Risiko nicht eingehen, das von etwas potentiell so Gefährlichem wie den Neugeschaffenen ausgeht. Jemand muß der Sache nachgehen, und mein Schiff und meine Besatzung haben mehr Erfahrung mit der Dunkelwüste als die meisten.«

»Die Idee der Neugeschaffenen ist nicht gänzlich neu. Ihr habt selbst den Befehl erteilt, die Ashrai zu vernichten, aber sie haben in gewisser Weise überlebt.«

Schwejksam brummte unverbindlich. »Sie sind Eure Gespenster. Haltet sie unter Kontrolle. Ich bringe Euch in Frosts alter Kabine unter. Da Ihr jetzt offiziell wieder ein Investigator seid, habt Ihr ohnehin ein Recht darauf.«

»Ich weiß, daß Ihr und Frost Euch nahestandet. Ich bedauere Euren Verlust.«

»Ihr habt sie nie gemocht. Sie stand für alles, was Euch am Imperium zuwider war.«

»Ich habe sie respektiert. Sie war eine Kriegerin.«

»Wie auch immer. Sie war ein guter Soldat. Ich ehre ihr Andenken.« Schwejksam brach ab und legte sich seine Worte sorgsam zurecht. »Kümmert Euch nicht um die Einstellung der Mannschaft. Sie wird sich ändern, wenn die Leute Euch bei der Arbeit erlebt haben.«

»Ich bezweifle es, Kapitän. Ich bin ein Verräter. Ich habe meine Mannschaft und meine eigene Lebensform verraten, um mich den fremdartigen Ashrai in ihrem Kampf gegen die Menschheit anzuschließen. Nicht, daß es ihnen langfristig viel genützt hätte. Trotzdem bin ich der schlimmste Alptraum der Menschheit, ein Investigator, der zu den Eingeborenen überlief.

Ein Verräter voller Stolz auf seinen Verrat.«

»Ihr hattet Eure Gründe«, sagte Schwejksam.

»Genau wie Ihr Eure hattet, als Ihr Befehl gabt, Unseeli zu sengen und alles zu vernichten, was auf dieser Welt lebte.«

»Das habt Ihr mir nie verziehen, nicht wahr?«

»Nein, Kapitän. Wir haben beide zuviel getan, als daß Vergebung noch etwas bedeuten würde.«

»Man hat Euch amnestiert«, stellte Schwejksam fest. »Und man hat Euch wieder als Investigator eingesetzt, als Gegenleistung für Eure Mitwirkung an unserer Mission in der Dunkelwüste. Die Besatzung weiß das. Und sie wird Eure Arbeit und Autorität respektieren, oder ich trete ihr so lange in den Hintern, bis sie es tut.«

»Ich habe nicht um Amnestierung gebeten«, sagte Carrion.

»Ich habe weder bereut noch mich gebessert. Ich bin der letzte der Ashrai, und ihr Erbe lebt in mir weiter. Ich bin hier… weil ich keinen anderen Ort mehr für mich sehe, jetzt, wo die Metallwälder dahin sind.«

»Ihr seid hier, weil ich Euch gebeten habe«, wandte Schwejksam ein. »Weil ich Euch brauche. Weil Ihr mein Freund seid.«

»Vielleicht. Zwischen uns herrscht böses Blut, Johan. Wer wir früher waren, die Männer, die befreundet waren – das liegt weit zurück, so weit, daß ich es kaum noch erkenne. Wir sind heute andere Menschen.«

»Durchaus möglich, Sean. Die Zeit verändert jeden. Nur wenige entwickeln sich so, wie sie es selbst einmal erwartet haben. Wir alle blicken von Zeit zu Zeit zurück und fragen uns, wie zum Teufel wir von dort nach hier gelangt sind.«

»Ich habe mich selbst für meinen Weg entschieden«, sagte der Mann namens Carrion. »Ich bereue nichts.«

»Stirb, du dreckiger Verräter!«

Ein Besatzungsmitglied trat plötzlich aus einer Nische hervor, zielte mit einem Disruptor auf Kernschußweite auf Carrions Brust und drückte den Auslöser. Es blieb keine Zeit für ein Ausweichmanöver, und der schmale Korridor bot ohnehin keinen Platz dafür. Nicht einmal Schwejksam mit all seiner Schnelligkeit und seinen übermenschlichen Reflexen konnte irgendwas tun, um zu verhindern, was hier geschah. Der Energiestrahl aus dem Disruptor zuckte in weniger als einer Sekunde über die paar Fuß Abstand zwischen dem Matrosen und Carrion hinweg. Und ein flammendes Energiefeld breitete sich aus Carrions Energielanze aus und absorbierte mühelos den Disruptorschuß. Energielanzen waren nicht ohne Grund im ganzen Imperium verboten und schon der Besitz mit der Todesstrafe belegt. Sie verstärkten die Kräfte von Espern so sehr, daß sie im Kampf praktisch unbesiegbar wurden. Und Carrion war kein gewöhnlicher Esper.

Einen langen Augenblick lang rührte sich niemand. Der Matrose stand an Ort und Stelle erstarrt, zielte mit der entladenen Waffe weiterhin auf Carrion und glotzte mit offenem Mund.

Carrion erwiderte den Blick ungerührt. Schwejksams Hand schwebte immer noch über der im Halfter steckenden Waffe.

Und dann schluchzte der Matrose auf einmal. Mit wutverzerrtem Gesicht griff er nach dem Schwert an seiner Seite.

Schwejksam trat rasch vor, packte ihn vorn am Hemd und stieß ihn krachend mit dem Rücken ans stählerne Schott. Die Luft wurde dem Mann aus den Lungen gepreßt. Seine Züge erschlafften, und die Hände hingen lose an den Seiten. Schwejksam knurrte ihm ins Gesicht und wandte sich Carrion zu, der keinen Mucks gemacht hatte und so ruhig und entspannte wirkte wie eh und je.

»Hübsche Reflexe, Sean.«

»Ich mußte sie entwickeln, um im Machtbereich der Menschen zu überleben«, sagte Carrion.

Schwejksam knurrte wieder, wandte sich an den Matrosen und funkelte dem Mann in die benommen blickenden Augen.

»Name und Rang, Mister! Aber zackig!«

»Maat Barron, Kapitän. Ein loyales Mitglied Eurer Besatzung. Im Gegensatz zu diesem Stück Abschaum!«

»Das reicht, Mister! Er ist amnestiert, ein Investigator und Euer vorgesetzter Offizier. Er genießt mein volles Vertrauen, und ein Angriff auf ihn kommt einem Angriff auf mich gleich.

Meldet Euch sofort bei der Sicherheit. Ich befasse mich später mit Euch. Und, Barron, zwingt mich lieber nicht, nach Euch zu suchen!«

»Nein, Kapitän. Ich sagte schon, daß ich loyal bin. Aber Ihr versteht nicht…«

»Spart Euch das fürs Kriegsgericht auf.«

»Er hat meinen Vater getötet! Auf Unseeli

Der Maat schien kurz davor zu stehen, in Tränen auszubrechen. Schwejksam und Carrion sahen einander an. Carrion ruckte langsam. »Das ist möglich. Ich habe eine Menge Leute auf Unseeli umgebracht. Ich bedaure Euren Verlust, Barron.«

»Spart Euch Eure Lügen, Verräter!«

»Das reicht!« Schwejksam zerrte Barron vom Schott weg und versetzte ihm einen Stoß, daß der Mann den Korridor entlangstolperte. Andere Besatzungsmitglieder wichen ihm hastig aus. Barron taumelte den Gang entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Carrion und Schwejksam blickten ihm eine Zeitlang nach und wandten sich schließlich ab. Ringsherum nahmen die zuschauenden Besatzungsmitglieder allmählich wieder ihre Tätigkeiten auf.

»Wir lassen die Vergangenheit nie wirklich hinter uns«, sagte Schwejksam seufzend. »Irgendwas taucht immer wieder auf und verlangt Sühne.«

»Er muß noch ein Kind gewesen sein, als sein Vater umkam«, überlegte Carrion. »Hat sich wahrscheinlich auf Eurem Schiff gemeldet, um in die Fußstapfen des Vaters zu treten.

Nur um mich schließlich hier anzutreffen und Euch als meinen Verteidiger zu erleben. Es muß schwierig für ihn gewesen sein.«

»Nichts davon macht es besser«, erklärte Schwejksam rundweg. »Ich dachte, ich hätte meine Leute besser ausgebildet. Sie sollten eigentlich Krieger sein und keine herumschleichenden Meuchelmörder.«

»Nicht, daß er der erste gewesen wäre«, sagte Carrion. »Es hat schon mehrere Anschläge auf mein Leben gegeben, seit Ihr mich von Unseeli zurückgebracht habt.«

»Was?« Schwejksam musterte ihn scharf. »Warum wurde ich nicht informiert? Warum habt Ihr es mir nicht gesagt?«

»Es war nicht wichtig. Ich bin damit fertig geworden.«

»Das ist mein Schiff, Investigator. Ihr gehört zu meiner Besatzung. Von jetzt an möchte ich alles erfahren. Habt Ihr das verstanden?«

»Ja, Kapitän.«

Schwejksam funkelte ihn kurz an, dann setzten sie ihren Weg fort. Weniger Menschen als zuvor schienen jetzt durch den Korridor zu gehen. Schwejksam verfluchte sich als Idiot, weil er die Wirkung, die Carrions Rückkehr auf seine Besatzung zeitigen würde, nicht voll bedacht hatte. Natürlich mußten Ressentiments aufflammen. Zwölf Jahre waren eine lange Zeit, aber nicht annähernd lange genug, um so etwas wie Unseeli zu vergessen. Gott wußte, daß er sich wirklich bemüht hatte!

Und trotzdem hatte er an nichts anderes gedacht, als den Mann, der früher sein Freund war, mit an Bord zu nehmen, weil er dachte, daß er dorthin gehörte. Sein alter Freund Sean war aber jetzt der Mann, den man Carrion nannte. Verräter, Mörder, von Fremdwesen adoptiert, und das auf seiner Seite freiwillig. Es erforderte schon mehr als eine Amnestie und die Wiedereinsetzung als Investigator, um auszugleichen, was der Mann, der Sean hieß, aus sich selbst gemacht hatte. Schwejksam seufzte leise. Jetzt, wo Frost nicht mehr war, brauchte er jemand anderen, auf den er sich verlassen konnte. So einfach war das. Und sowenig Carrion für diese Rolle geeignet schien, war er doch der einzige, an den Schwejksam sich wenden konnte.

»Ich weiß all das zu schätzen, was Ihr für mich getan habt, Kapitän«, sagte Carrion mit ruhiger und regloser Stimme.

»Aber ich sollte, wie ich finde, darauf hinweisen, daß die Aufnahme eines berüchtigten Verräters wie mich in Eure Besatzung wahrscheinlich nicht das Klügste war, was Ihr tun konntet. Es wird Euren Karriereaussichten nicht viel helfen, und es hat womöglich Eurem Ansehen und Eurer Autorität bei der Besatzung geschadet.«

»Ich habe keine Karriereaussichten«, hielt ihm Schwejksam entgegen. »Dafür habe ich schon gesorgt. Und die Besatzung vertraut mir und meinem Urteilsvermögen. Sie wird lernen, Euch zu akzeptieren.«

»Ich kann Investigator Frost nicht ersetzen, Kapitän.«

»Niemand könnte das. Ich durfte den Investigator für diesen Einsatz selbst auswählen, und ich wollte Euch. Jemanden, der die Perspektive von Fremdwesen versteht und dem möglicherweise andere Möglichkeiten einfallen, als sie einfach wegzupusten. Falls die Neugeschaffenen ihrer Reputation gerecht werden, dann wird sich eine direkte Konfrontation als unbrauchbare Strategie erweisen. Ich brauche jemanden, der… flexibel ist.«

»Man hat mir schon manche Bezeichnung verliehen, aber ich denke, diese ist neu. Wie könnt Ihr sicher sein, daß ich die Partei der Menschheit ergreife?«

» Shub hat die Metallwälder zerstört. Hat Euch damit alles genommen, was Euer war. Das macht die abtrünnigen KIs jetzt auch zu Euren Feinden. Und die Partei der Menschheit zu ergreifen, das ist Eure einzige Chance auf Vergeltung.«

»Wie gut Ihr mich versteht, Kapitän! Ihr habt vollkommen recht. Rache ist ein kalter Trost, aber manchmal bleibt uns nichts anderes, woran wir uns noch klammern können.«

»Tut einfach Eure Pflicht, Carrion. Mehr kann niemand von uns verlangen.«

»Pflicht. Ehre. Vergeltung. Diese Dinge tauchen immer wieder auf und erheben Anspruch auf uns. Und ich habe stets getan, was ich tun mußte, weil es nicht meinem Wesen entspricht, mich abseits zu halten. Ich werde Euer Investigator sein, Kapitän. Versprecht mir nur, mich ziehen zu lassen, sobald ich nicht mehr gebraucht werde.«

»Natürlich, Sean. Das verstehe ich.«

»Nein, das tut Ihr nicht, Kapitän. Ihr habt es noch nie.«

Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter und blickten geradeaus. Es war ihnen noch nie leicht gefallen, über die wirklich bedeutsamen Dinge zu sprechen.

»Habt Ihr noch Gelegenheit gefunden, mit Diana zu reden, bevor wir aufbrachen?« erkundigte sich Carrion.

»Nein. Ich habe eine Nachricht im Esper-Gildenhaus hinterlassen, wo sie sich aufhielt, aber sie hat sich nicht zurückgemeldet. Vielleicht ist es so am besten. Ihr habt Diana ja im Parlament erlebt. Sie sagte, sie würde mich hassen. Mit gutem Grund, um die Wahrheit zu sagen. Ich war nicht zur Stelle, um sie zu retten, als sie mich brauchte. Nicht gerade ein Thema, das man mit einem zehnminütigen Schwätzchen aus der Welt schaffen könnte, wenn unser geschäftiges Leben gerade mal Zeit bietet. Vielleicht können wir nach diesem Einsatz…«

»Als ich ihr auf Unseeli zum ersten Mal begegnete, war sie ein so zerbrechliches junges Ding«, erinnerte sich Carrion. »So voller Leben, Glück und Staunen. Ich habe gesehen, wie so vieles davon zerstört wurde durch das, was sie erlebte. Und doch fand sie am Ende die Kraft, in den Gesang der Ashrai einzustimmen und sich so frei emporzuschwingen, wie diese Wesen es tun. Nichts von dieser Person habe ich in der Frau wiederentdeckt, der ich im Parlament begegnete. Ich habe von manchen Dingen gehört, die sie als Johana Wahn vollbrachte.

Schrecklichen Dingen. Wie hat sie sich nur zu dem entwickelt – wenn man bedenkt, was sie vorher war?«

»Wie haben wir es getan?« fragte Schwejksam.

»Guter Punkt, Kapitän. Guter Punkt.«

Endlich erreichten sie die alte Kabine von Investigator Frost.

Schwejksam zögerte für einen Moment vor der geschlossenen Tür. Seit er kurz nach ihrem Tod ihre Habseligkeiten sortiert hatte, ehe der Reinigungstrupp kam, war er nicht mehr hiergewesen. Viel war nicht zu sortieren gewesen. Wie alle Investigatoren hatte Frost keinen großen Wert auf Andenken oder eine persönliche Atmosphäre gelegt. Ein paar Bücher, alle mit strikt militärischer Thematik. Keine Fotos, keine Briefe, keine Erinnerungen. Nur eine kleine Disc-Sammlung mit ihrer Lieb-lingsmusik. Schwejksam hatte gar nicht gewußt, daß sie Musik mochte. Es erschien ihm als ein so… friedliches Interesse, für Frosts Verhältnisse. Er hatte die Discs mitgenommen, um sie sich später mal anzuhören, wenn er Zeit dafür fand.

Seitdem war niemand mehr hiergewesen. Die Kabine war versiegelt und erwartete den neuen Investigator. Schwejksam streckte die Hand aus, um den Kode einzutippen, aber Carrion packte seinen Arm. Schwejksam sah ihn an, eine Braue hochgezogen. Carrion starrte die geschlossene Tür an und runzelte leicht die Stirn.

»Noch nicht, Kapitän«, sagte er leise. »Etwas ist da drin. Jemand oder etwas sehr Ungewöhnliches. Und sehr Mächtiges.«

»Das ist unmöglich«, erklärte Schwejksam. »Die Tür ist noch verschlossen, und ich kenne als einziger den Sicherheitskode.«

»Nichtsdestoweniger«, konterte Carrion, »ist der Raum schon besetzt.«

Schwejksam zog den Disruptor. »Haltet Euch bereit. Und gebt acht! Jemand, der mächtig genug ist, um diese Art Schloß zu überwinden, muß sehr gefährlich sein.«

»Das stimmt«, sagte Carrion. »Das bin ich aber auch.«

Schwejksam tippte den Sicherheitskode ein, beförderte die Tür mit einem Tritt auf und trat rasch in die Kabine, Carrion an der Seite. Die Lichter brannten bereits. Eine dunkle Gestalt saß in Frosts altem Sessel und wandte ihnen den Rücken zu. Sie war kaum mehr als ein Umriß, aber etwas an Gestalt und Haltung kam Schwejksam vertraut vor. Er taumelte einen Schritt vor, und eine verrückte, unmögliche Hoffnung brach plötzlich aus seinem Herzen hervor.

»Frost…?«

»Nein«, sagte die Gestalt und drehte den Sessel, um sich ihm zuzuwenden. »Ich bin es nur, Vater.«

Die Hoffnung in Schwejksams Herz fiel in sich zusammen und erstarb, wurde aber sofort von einer Wärme anderer Art ersetzt. Er steckte den Disruptor ins Halfter und lächelte seine Tochter an. »Hallo, Diana. Wie zum Teufel bist du hier hereingekommen? Ich wußte nicht mal, daß du an Bord bist.«

»Niemand weiß es«, sagte Diana Vertue. »Belassen wir es auch dabei. Niemand darf erfahren, daß ich je hier war. Ich habe inzwischen Feinde, die mächtiger und gefährlicher sind, als ich je erwartet hätte.«

»O verdammt!« sagte Schwejksam. »Wen hast du jetzt wieder umgebracht?«

»Nichts dieser Art«, antwortete Diana. »Mit sowas würde ich schon fertig.«

»Jetzt mal langsam«, verlangte Schwejksam. »Wie bist du an Bord gekommen? Welche Ausrede du auch benutzt hast, der Sicherheitsdienst hätte mich benachrichtigen müssen.«

Diana lächelte kurz. »Ein Mädchen braucht ein paar Geheimnisse, Vater. Sagen wir einfach, daß mich niemand mehr sieht, wenn ich nicht gesehen werden möchte. Nicht einmal dein Schiffs-Esper oder die Sicherheitsanlagen. Setzt euch jetzt, ihr beide. Ich hasse es, wenn jemand so über mir aufragt.«

Schwejksam und Carrion sahen sich an, zuckten gleichzeitig die Achseln und sahen sich nach Sitzgelegenheiten um. Nur eine war noch frei, so daß Schwejksam dort Platz nahm. Er war schließlich Kapitän. Carrion setzte sich aufs Bett. Beide blickten Diana erwartungsvoll an.

»Ich arbeite an einem neuen Projekt«, berichtete sie vorsichtig. »Es besteht darin, der tatsächlichen Natur der Mater Mundi nachzugehen. Und ich habe alle möglichen interessanten Dinge ausgegraben. Das eine, dessen ich mir sicher bin, lautet: Sie ist nicht das, wofür alle Welt sie hält. Sie ist auch ein bißchen sauer auf mich, weil ich meine Nase in Sachen stecke, die mich ihrer Meinung nach nichts angehen. Tatsächlich hat sie mich sogar persönlich gewarnt. Ich denke, sie hätte mich umgebracht, wäre sie dazu in der Lage gewesen.«

Carrion musterte sie interessiert. »Ihr habt der Mater Mundi standgehalten? Ich bin beeindruckt.«

»Vielleicht solltest du dich aus der Sache zurückziehen, Diana«, sagte Schwejksam. »Was ist so wichtig an der Frage, was die Mater Mundi ist? Inwiefern sollte es sich lohnen, dabei umzukommen?«

»Ich weiß nicht«, räumte Diana ein. »Das ist genau mein Punkt. Was ist so Schreckliches an ihr, so Schockierendes, daß sie bereit ist zu morden, nur um es geheimzuhalten?«

Schwejksam zuckte ungeduldig die Achseln. »Zwecklos, mich das zu fragen. Ich habe mich noch nie für Angelegenheiten der Esper interessiert. Was möchtest du von mir, Diana?

Wir legen in nicht ganz sechs Stunden ab, um Kurs auf die Dunkelwüste zu nehmen.«

»Deshalb mußte ich dich ja noch rasch erreichen. Mich interessiert immer mehr das eigentliche Wesen der ESP. Wie sie das möglich macht, was sie bewirkt. Ihr beide seid einzigartige Personen. Der Kapitän, weil er teilweise das Labyrinth des Wahnsinns durchschritt und verändert wieder zum Vorschein kam. Und Carrion, denn ehe er nach Unseeli ging, zeigte er keine Spur von Esper-Fähigkeiten. Niemand in seiner Familie war jemals Esper, soweit ich dem nachgehen konnte, und die genetischen Angaben in seinen alten medizinischen Dateien bestätigen es. Also, Carrion, wie seid Ehr zu dem Ausbund an ESP geworden, der Ihr heute seid?«

»Die Fremdwesen haben mich verändert«, erklärte Carrion.

»Die Ashrai. Es war nötig, damit ich allein auf ihrer Welt überleben und mich ihrem Krieg gegen die Menschheit anschließen konnte. Also haben sie mich umgeformt. Und nein, ich weiß nicht, wie sie das getan haben. Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Sie mußten Modifikationen auf genetischer Ebene vornehmen«, überlegte Diana stirnrunzelnd. »Ganz schön raffiniert für eine Lebensform ohne erkennbare Technik.«

»Das ist eine sehr menschliche Haltung«, fand Carrion.

»Tech ist nicht alles.«

Diana musterte ihn schweigend und ausgiebig. »Ihr seid niemals allein, nicht wahr, Carrion? Sie sind stets bei Euch. Die Gespenster. Die Ashrai.«

Carrion beugte sich vor. »Ihr könnt sie sehen?«

»Beinahe. Ich habe einmal auf Unseeli in ihren Gesang eingestimmt, wißt Ihr noch? Mein Bewußtsein verschmolz mit ihrem, wenn auch nur kurz. Diese Verbindung ist immer noch vorhanden. Ich kann sie spüren, eine potentielle Präsenz rings um Euch herum, wie der Luftdruck vor einem Sturm. Warum bleiben sie, Carrion? Warum bleiben sie bei Euch?«

»Ich bin der letzte Ashrai. Alles, was von ihnen geblieben ist.

Sie suchen Vergeltung. Für das, was ihnen angetan wurde. Was ihren Bäumen und ihrer Welt angetan wurde.«

»Vergeltung?« fragte Diana. »Das ist eine sehr menschliche Haltung, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Carrion. »Bedauerlicherweise haben sie aus dem Beispiel gelernt.«

»Wir sind uns sehr ähnlich, Ihr und ich«, fand Diana. »Verändert durch Kräfte, die größer sind als wir, aus Gründen, die wir nicht ganz begreifen. Zu was solltet Ihr Euch entwickeln, Carrion? Zu ihrem Helden? Ihrem Verteidiger? Ihrem Rächer?

Seid sehr vorsichtig, Carrion! Ihr seid vielleicht nicht der, für den Ihr Euch haltet. Ihr habt schon einmal für die Ashrai gegen die Menschheit gekämpft. Würdet Ihr heute noch die Menschheit für sie vernichten – aus Rache?«

»Das würden sie nie von mir verlangen«, sagte Carrion.

»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Diana, und Carrion fand keine Antwort darauf.

»Warum bist du hier, Diana?« fragte Schwejksam, nachdem die Stille lange genug angehalten hatte, um ungemütlich zu werden. »Wenn ich daran denke, was du im Parlament zu uns gesagt hast…«

»In der Not frißt der Teufel Fliegen«, sagte Diana. »Die Weltenmutter möchte mich tot sehen. Deshalb brauche ich Hilfe, mächtige Bundesgenossen, die mir den Rücken freihalten und mich mit ihrer Macht unterstützen.«

»Also hast du dich an deinen Vater gewandt«, stellte Schwejksam fest. »Natürlich, Diana. Dafür sind Väter da.«

»Nein, Vater«, entgegnete Diana. »Du nicht. Das Labyrinth hat dir Macht verliehen, aber du bist immer noch dabei zu lernen, wie man sie einsetzt.«

»Ihr wünscht also meine Hilfe?« fragte Carrion. »Sehr gut.

Meine Fähigkeiten stehen Euch zur Verfügung.«

»Schmeichelt Euch nicht zu sehr«, sagte Diana. »Ich brauche die Ashrai. Ihre nichtmenschliche Stärke. Wie ich schon sagte – die Verbindung besteht nach wie vor. Gott weiß, daß ich versucht habe, sie mir auszutreiben. Ich möchte in meinem Kopf niemanden beherbergen außer mir selbst. Aber falls die Ashrai da sind, kann ich sie vielleicht einsetzen. Also sagt mir, Carrion: Würden sie kommen, wenn ich sie riefe? Wenn ich sie brauchte?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Carrion. »Sie reden nicht mehr mit mir. Sie haben jedoch stets eingegriffen, wenn ich sie brauchte.«

»Nicht ganz die Antwort, die ich erhofft hatte«, räumte Diana ein. »Aber… sehen wir mal, ob sie der Wahrheit entspricht.«

Ihr Gesicht veränderte sich plötzlich. Dunkle Schatten tauchten unter den Augen auf, und die Haut spannte sich eng über die Knochen. Die dünnen Lippen streckten sich zu einem gnadenlosen, humorlosen Lächeln. Diana wirkte plötzlich größer, als sie war, und die Augen leuchteten unnatürlich hell. Psikräfte funkelten und prasselten in der Luft, die sie umgab, und ihre Präsenz weitete sich mit einem Satz aus und erfüllte die ganze Kabine. Diana war verschwunden, untergetaucht in jener böswilligen Anomalie, die Johana Wahn hieß. Schwejksams Hand fuhr mechanisch zu seiner Waffe, fiel dann aber zur Seite.

Selbst wenn er sich hätte überwinden können, auf die eigene Tochter zu schießen, bezweifelte er, daß die Waffe gegen jemanden wie Johana Wahn etwas genutzt hätte.

Sie stand auf und funkelte Carrion an, und Schatten ballten sich um sie herum. Carrion war rasch auf den Beinen und hielt die Energielanze vor sich. Johana Wahn packte sie mit ihren Geisteskräften, riß sie ihm aus der Hand und schleuderte sie quer durch die Kabine. Carrion schrie erschrocken auf, als hätte man ihm eines seiner Gliedmaßen abgerissen. Er schwebte langsam hoch und krachte dann mit dem Rücken an die Kabinenwand, wo er durch Johana Wahns Willen in einer Haltung festgedrückt wurde, als hätte man ihn gekreuzigt. Schwejksam wollte aufstehen, stellte aber fest, daß er es nicht schaffte, daß ihn die unerbittlichen Gedanken seiner Tochter festhielten.

Und dann kamen die Ashrai.

Sie füllten die Kabine aus wie eine brodelnde Wolke, tot und doch nicht dahingeschieden, mit Gargoylenfratzen und riesigen Krallenhänden. Die Kabine schien sich in alle Richtungen auszuweiten, sich in eine riesige Höhle zu verwandeln, die den gewaltigen Gestalten der Ashrai Platz bot. Schwejksam schrie auf, als er ihrer angesichtig wurde. Sie waren grauenhaft und prachtvoll, schrecklich in ihrem Zorn, und sie brannten so hell!

Johana Wahn, die wie ein Stern flammte, schenkte den Ashrai ein Lächeln und sprach sie in völlig vernünftigem Ton an.

»Hallo Leute! Schön, euch wiederzusehen. Ist eine Weile her. Tut mir leid, eure Ruhe zu stören, aber ich könnte wirklich eure Hilfe gebrauchen. Da draußen lauert etwas, das sich Mater Mundi nennt, und sie könnte doch glatt eine Spur mächtiger sein als ihr. Und ich denke nicht, daß sie irgendeine Konkurrenz zu dulden bereit ist. Sollte ich eure Hilfe gegen sie brauchen, leistet ihr dann meinem Ruf Folge?«

Aufbrausender Gesang antwortete ihr, eine Musik, so komplex und gefühlsbesetzt, daß sie fast unerträglich war, gesungen von Engeln mit hakenbewehrten Flügeln und Heiligenscheinen aus Fliegen. Und dann waren die Ashrai verschwunden und die Kabine wieder nur eine Kabine. Carrion rutschte an der Wand herunter und machte es sich erneut auf dem Bett bequem. Die Lanze flog ihm in die Hand. Schwejksam stellte fest, daß er seine Bewegungsfähigkeit zurück hatte. Johana Wahn erlosch wie eine Kerze und war einfach wieder Diana Vertue. Sie streckte sich langsam und setzte sich. Eine Atmosphäre der Ruhe, entwichenen Drucks, eines vorbeigezogenen Sturms herrschte in der Kabine.

»Was zum Teufel sollte das denn?« wollte Schwejksam wissen.

»Johana ist schon ein Miststück, aber sie erreicht wenigstens etwas«, erklärte Diana, die sich von seinem Ton völlig ungerührt zeigte. »Und ich hatte so ein Gefühl, als würden die Ashrai nur auf Dramatisches reagieren. Ich mußte einfach ihre Antwort hören.«

»Und jetzt kennt Ihr sie«, sagte Carrion. »Ich hoffe, Ihr findet, daß sie es wert war, den Zorn der Ashrai zu wecken.«

»Jemand möge mir das bitte übersetzen!« schnauzte Schwejksam. »Ich habe nur Musik gehört, bei der mir beinahe die Trommelfelle rausflogen. Was haben sie gesagt?«

»Sie wissen von der Mater Mundi«, antwortete Diana. »Und sie haben Angst. Die Existenz der Weltenmutter… beunruhigt sie. Sie haben eingewilligt, meinem Ruf Folge zu leisten, aber ich bin mir nicht mehr sicher, wie hilfreich sie sein werden.

Ohne ihren Wald und ohne ihre Welt sind sie so gemindert.«

»Unterschätzt sie nicht«, mahnte Carrion. »Der Tod war nur eine weitere Reise für sie, der Übergang in ein anderes Stadium. Sie sind nach wie vor sehr mächtig.«

»Aber sie sind schon lange tot«, gab Diana zu bedenken.

»Nur Ihr haltet sie noch mit der Welt der Lebenden verbunden, Carrion.«

»Ja, nun«, brummte Schwejksam. »Bei der Vorstellung, es könnte Gespenster geben, fühle ich mich noch immer nicht übertrieben wohl. Die Toten sollten tot bleiben.«

»Und ich fühle mich bei der Vorstellung unwohl, die Mater Mundi könnte so mächtig sein, daß sie sogar den Toten Angst macht«, sagte Diana. »Es hat den Anschein, als brauchte ich noch mehr Bundesgenossen. Was mich wieder zu dir bringt, Vater.«

»Was meinst du damit?« fragte Schwejksam, »Wie du bereits so freundlich festgestellt hast, gehören die wenigen Kräfte, über die ich verfüge, nicht einmal in die gleiche Kategorie wie die der Weltenmutter. Ich bin für dich da, wenn ich kann, aber ich bin nur ein Kapitän der Imperialen Flotte unter vielen, und ich muß dorthingehen, wo es mir befohlen wird. Im Moment heißt dieses Ziel die Dunkelwüste. Keine Ahnung, wann ich zurückkehre. Oder ob ich überhaupt zurückkehre.«

»Du wirst es«, behauptete Diana. »Du bist ein Überlebenskünstler. Und du hast sehr wohl Kräfte, auch wenn du beschlossen hast, sie weder einzusetzen noch zu entwickeln. Es besteht kein Grund, warum du mit der Zeit nicht genauso mächtig werden solltest wie alle Überlebenden des Labyrinths.

Ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belästigen, aber ich habe vielleicht keine andere Wahl. Wie sehr liebst du mich, Vater? Genug, um dich über die Grenzen der menschlichen Natur hinaus zu entwickeln, damit du mich beschützen kannst?«

»Ich habe dich schon einmal im Stich gelassen«, sagte er ruhig. »Das wird sich nicht wiederholen. Aber ich habe…«

»Das Labyrinth des Wahnsinns hat dich verändert«, sagte Diana. »Es hat dich umgebaut. Fürchte dein eigenes Potential nicht! Erzähle mir vom Labyrinth. Davon, was es mit dir angestellt hat.«

»Ich weiß es doch nicht!« antwortete Schwejksam beinahe zornig. »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich weiß nicht, was aus mir wird. Mir ist nur klar: Was immer das Labyrinth an Umwandlung ausgelöst hat, ist noch nicht abgeschlossen.

Manchmal habe ich Gesichte im Traum. Ich höre Stimmen, die mir etwas erzählen. Und einmal hat mich Frost besucht. Sie hat versucht, mir eine Warnung zu übermitteln, die sich auf das Labyrinth bezog, auf das, was es mit mir anstellte, aber ich konnte sie nicht verstehen.«

»Erzähle mir vom Labyrinth«, beharrte Diana. »Wie war es darin? Wie hat es sich angefühlt?«

»Es war… fremdartig«, antwortete Schwejksam zögernd.

»Nie zuvor war mir so etwas begegnet. Und ich denke, daß es vielleicht lebendig war, auf eine Art und Weise, die wir nie begreifen könnten. Sich im Labyrinth aufzuhalten, das war, als wandelte man durch Visionen. Wie in einem jener Träume, in denen man die Antwort auf alles weiß, bis man erwacht und alles verschwunden ist. Aber diese Antworten waren real. Sie waren zuviel für manche, die zusammen mit mir das Labyrinth betreten hatten. Sie starben eines entsetzlichen Todes. Ihr Denken war nicht… flexibel genug für die Veränderungen, die das Labyrinth an ihnen vornehmen wollte.«

»Warum hast du das Labyrinth wieder verlassen?« fragte Diana. »Warum hast du es nicht ganz durchschritten wie Owen und seine Begleiter?«

»Ich hatte Angst«, gestand Schwejksam. »Ich war nicht würdig. Und das Labyrinth stand im Begriff, Frost zu töten. Ich packte sie und sah zu, daß wir beide wieder hinauskamen. Erst viel später begannen sich die Veränderungen in uns zu manifestieren.«

»Wofür hältst du das Labyrinth?« wollte Diana wissen.

»Welchem Zweck hat es gedient?«

Schwejksam schnaubte hämisch. »Qualifiziertere Leute haben sich schon mit einer Antwort darauf versucht und sind gescheitert. Frage doch eine Ameise, was sie von der Statue hält, über die sie krabbelt. Niemand hat je etwas gefunden, was dem Labyrinth ähnlich gewesen wäre, weder vorher noch nachher, auf keinem der Tausende von Planeten, die wir besucht oder kolonisiert haben. Es diente einem fremdartigen Zweck, der vielleicht völlig über die Möglichkeiten menschlichen Verstehens hinausging.«

»Aber du hast seine Berührung gespürt«, beharrte Diana.

»Was, denkst du, war es?«

»Vielleicht… eine Unterrichtsmaschine«, sagte Schwejksam leise. »Für die, die fähig waren, daraus zu lernen. Aber nichts davon hat noch eine Bedeutung. Ich habe das Labyrinth vernichtet, es mit Disruptorkanonen auseinandergepustet, bis nichts mehr davon blieb. Es war das einzige seiner Art, womöglich einzigartig im Universum, und ich habe es zerstört.

Und stünde ich noch einmal vor der gleichen Frage, würde ich ohne zu zögern den gleichen verdammten Befehl erteilen!«

»Ihr verändert Euch nie, Kapitän«, fand Carrion.

»Hattest du seit der Rebellion Kontakt zu irgendwelchen anderen Überlebenden des Labyrinths?« erkundigte sich Diana.

»Hast du Gedanken mit ihnen ausgetauscht?«

»Nein«, antwortete Schwejksam barsch. »Es lag noch nicht besonders lange zurück, daß wir uns gegenseitig zu töten versuchten. Ein Teil von mir möchte sie immer noch für das umbringen, was sie getan haben. Außerdem… denke ich nicht, daß wir viel gemeinsam haben, worüber wir uns unterhalten könnten. Sie sind… anders als ich. Als alle. Sie sind gruselig.

Beinahe nichtmenschlich. Manchmal fast fremdartig. Falls sie und ich auf einem gemeinsamen Weg wandeln sollten, dann sind sie darauf viel weiter als ich. Von dort, wo ich mich befinde, sind sie fast schon außer Sichtweite. Die armen Bastarde.

Alle ihre neuen Kräfte und Fähigkeiten scheinen sie nicht glücklicher gemacht zu haben. Sie entwickeln sich zu irgend etwas. Zu etwas, was nicht mehr menschlich ist.«

»Zu etwas wie mich vielleicht?« fragte Carrion.

»Nein, Sean. Ihr seid einfach nur unheimlich. Ich kann Euch und das, was Euch bewegt, immer noch verstehen. Ich habe allerdings keinen Schimmer, was heute in den Köpfen von Owen und seinen Freunden vorgeht. Ich denke, sie entfernen sich von rein menschlichen Belangen. Das macht sie gefährlich – vielleicht nicht nur für das Imperium, sondern die ganze Menschheit. Das ist einer der Gründe, warum die Labyrinthleute über meinen Auftrag nicht informiert wurden. Das Parlament wollte nicht darauf vertrauen, daß sie sich nicht einmischten, daß sie nicht versuchten, uns aufzuhalten.«

»Was erwartest du, in der Dunkelwüste zu finden?« fragte Diana.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte. Aber es könnte doch möglich sein, etwas zu finden, was stark genug ist, die Labyrinthleute zu stoppen oder zu beherrschen, falls sie üble Züge entwickeln.«

»Und Ihr haltet das für nötig?« fragte Carrion. »Findet Ihr, daß es erforderlich ist, sie zu vernichten? Wie Ihr die Ashrai und das Labyrinth des Wahnsinns vernichtet habt?«

»Gutes Beispiel«, antwortete Schwejksam. »Ich fühle mich dem Imperium und der Menschheit verpflichtet. Dazu, sie vor allen Gefahren zu beschützen. Seht mal, die Labyrinthleute sind niemandem verantwortlich außer sich selbst. Niemand ist da, der stark genug wäre, nein zu sagen, wenn sie ein Ja vorgeben. Und sie werden laufend stärker. Was, wenn einer oder mehrere von ihnen zu dem Schluß gelangten, das Parlament führte das Imperium in eine Richtung, die sie nicht billigen?

Was, wenn sie beschlossen, normalen Menschen dürfte nicht erlaubt sein, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen?

Was, wenn sie die Macht übernähmen und über uns regierten?

Natürlich zu unserem eigenen Besten! Wer könnte sie aufhalten?«

»Womöglich wirst du auch nur paranoid«, meinte Diana. »Es sind doch nur vier.«

»Wie viele Götter sind nötig, um über die Menschheit zu herrschen?« hielt ihr Schwejksam entgegen. »Und die Tatsache allein, daß ich paranoid werde, heißt noch nicht, daß sie nicht tatsächlich planen, mich zu attackieren. Von allen Leuten solltest du das einsehen können.«

»Guter Punkt«, sagte Diana und lächelte zum ersten Mal. Sie stand auf und nickte ihrem Vater und Carrion kurz zu. »Es wird Zeit zu gehen. Ich denke nicht, daß ich hier mehr erfahre. Wir unterhalten uns wieder, wenn du zurückgekehrt bist. Mach dir nicht die Mühe, nach mir zu suchen.«

Und sie verschwand einfach so. Einen Augenblick noch da, im nächsten weg. Schwejksam und Carrion blickten einander an.

»Na ja«, sagte Carrion schließlich. »Sie ist eindeutig Eure Tochter, Kapitän.«

»Und sie wußte schon immer, wie man einen wirkungsvollen Abgang hinkriegt«, sagte Schwejksam. Er schüttelte den Kopf.

»Die Zeit wird knapp, und ich bin immer noch nicht damit fertig, Euch ins Bild zu setzen. Was wollte ich… Ah ja. Die Insektenschiffe. Seid Ihr die Dateien bereits durchgegangen, die ich Euch zukommen ließ?«

»Natürlich«, antwortete Carrion. »Faszinierendes Material.

Ihr seid Euch doch im klaren, daß die Insekten künstlich geschaffen sein müssen, nicht wahr?«

»Das hat Frost auch gesagt – daß sie gentechnisch erzeugt worden sein müssen, weil Insekten in der Natur nicht so groß werden. Was andeutet, daß noch jemand im Spiel sein muß, den wir bislang nicht kennen – der Erzeuger der Insekten.«

»Müssen wir wirklich davon ausgehen, ihn nicht zu kennen?« fragte Carrion. »Sicherlich haben wir längst genug Verdächtige – die Hadenmänner, Shub, vielleicht gar abtrünnige menschliche Wissenschaftler, bezahlt von Familien, die nach Macht hungern. Und immer bleiben noch die Neugeschaffenen.

Als was immer sie sich letztlich entpuppen werden.«

»Ich habe mich in diesem Sinn auch gegenüber Admiral Beckett geäußert«, sagte Schwejksam langsam. »Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn sich herausstellte, daß die Insekten aus der Dunkelwüste stammen. Ihre Angriffe haben sich immer auf den Abgrund konzentriert, und wo sonst sollten sie anschließend untertauchen? Und dann… sind da noch die Stimmen zu erwähnen.« Schwejksam musterte Carrion unverwandt. »Die entsprechenden Dateien, die ich Euch gegeben habe, sind streng vertraulich. Ihr dürft über ihre Inhalte mit niemandem sprechen, ohne vorher meine Genehmigung einzuholen. Meiner Besatzung ist es auch so schon gruselig genug, erneut in die Dunkelwüste fliegen zu müssen. Also… was fangt Ihr mit den Stimmen an? Irgendwelche Ideen?«

»Es könnte ein Esper-Phänomen sein«, sagte Carrion. »Oder die Stimmen der Toten. Aber als wahrscheinlichste Erklärung muß gelten, daß wir es mit einem psychologischen Trick von Shub zu tun haben, um Euch für die Ankunft der Verfechter weichzuklopfen. Ein seit langem verschollenes Schiff, mit Toten bemannt, seine Wiederkunft angekündigt von den warnenden Stimmen der Geister – genau die Art Masche, die die abtrünnigen KIs austüfteln würden, um sich in Eure Köpfe einzumischen.«

»Natürlich ist das die wahrscheinlichste Erklärung«, sagte Schwejksam. »Aber Ihr habt diese Stimmen nicht selbst gehört, Sean. Sie ließen sich einfach nicht aufzeichnen. Sie verklangen schlicht wieder. Was Ihr in den Dateien zu hören bekommen habt, waren Simulationen, beruhend auf dem, woran wir uns noch erinnert haben. In Wirklichkeit klangen sie… entsetzlich.

Zermürbend. Es hatte tatsächlich den Anschein, als wollten sie uns vor Gefahr warnen. Nicht nur vor der Verfechter, sondern vor der Dunkelwüste selbst. Und da sind wir, im Begriff, in diese Dunkelheit zurückzukehren.«

»Könnte es sich um eine Warnung der Neugeschaffenen handeln?« fragte Carrion. »Sich aus ihrem Territorium herauszuhalten?«

»Eure Vermutung ist so gut wie meine. Ich schätze, wie immer werden wir es auf die harte Tour herausfinden müssen.

Und natürlich müssen wir es tun. Dieses Schiff und seine Besatzung haben mehr Erfahrung mit der Dunkelwüste als drei beliebige andere Schiffe gemeinsam. Und schließlich sind wir durchaus entbehrlich.«

»Nichts verändert sich«, fand Carrion, und sie beide brachten eine Art Lächeln zustande.

»Richtig«, sagte Schwejksam. »Was ist es für ein Gefühl, wieder Investigator zu sein?«

»Ich trage diesen Titel nur der Form halber. Ich ziehe jedoch nicht die offizielle Uniform an. Ich bin ihrer nicht mehr würdig. Oder sie meiner nicht. Darüber bin ich mir noch nicht klargeworden.«

»Ihr genießt eine umfassende Amnestie. Ihr werdet nicht mehr gesucht«, stellte Schwejksam fest. »Würdet Ihr nicht gern wieder heimkehren, Sean?«

»Ich hatte ein Zuhause«, sagte Carrion. »Ich war dort glücklich. Und dann habt Ihr und Shub es zerstört.«

Evangeline Shreck kehrte schließlich nach Hause zurück, zum Turm der Shrecks, stand lange in seinem kalten, dunklen Schatten und bemühte sich, ihr Zittern zu beherrschen. Von außen wirkte der Turm wie irgendein beliebiges Gebäude aus Stahl und Glas und den Familienfarben, die es als einen der legendären Pastelltürme kennzeichneten, Heimstatt eines Clans. Für Evangeline war es ein Hexenhaus, eine Dämonenhöhle, jener dunkle Ort, der in unseren schlimmsten Alpträumen nach uns ruft. In seiner schrecklichen Umarmung hatte sie ein schlimmes Leben voller Schmerz und Grauen und Pein geführt, bis schließlich der Prinz auf seinem weißen Roß erschien, ihr seine Liebe schenkte und ihr den Mut gab, sich von dem Unmenschen zu befreien, der sie in Ketten hielt.

Und jetzt war sie zurückgekehrt, obwohl sie sich geschworen hatte, es nie zu tun. Wieder daheim, um ihre allerbeste Freundin aus der Hölle zu befreien, die sie selbst so gut kannte.

Ihr Liebster wußte nicht, daß sie hier war. Sie hatte Finlay Feldglöck in dem Glauben belassen, daß sie auf einen weiteren Einsatz für die Klon-Bewegung ging. Hätte er gewußt, daß sie zum Turm der Shrecks zurückkehrte, dann würde er versucht haben, sie daran zu hindern, sei es auch nur mit Worten. Und das konnte sie nicht zulassen. Sie mußte diese Aufgabe selbst leisten. So weh es auch tat. Sie war gekommen, um sich dem Monster zu stellen, ihrem Vater Gregor Shreck. Er glaubte, alle Trümpfe in der Hand zu halten, alle Vorteile auf seiner Seite zu haben, aber Evangeline hielt selbst ein paar Überraschungen bereit, nur für ihn. Nur für den lieben Vater.

Den Mann, der die eigene Tochter ermordet hatte, die ursprüngliche Evangeline, und sie dann insgeheim klonen ließ – die heutige Evangeline. Den Mann, der sowohl das Original wie auch den Klon nicht als Vater liebte, sondern als Mann.

Der seine Stellung und die Liebe seiner Tochter mißbrauchte.

Der seine Evangelines mit ins Bett nahm und ihnen mehr über Schmerz als über Lust beibrachte. Der Teufel in seiner Hölle.

Gregor Shreck.

Der Haß pulsierte in ihr wie der Schlag des Herzens, wogte durch die Adern, vertrieb die Angst. Sie holte tief Luft, um die Fassung wiederzufinden, und ging gelassen auf die gepanzerten Wachtposten zu, die den Haupteingang zum Shreck-Turm bewachten. In der umfangreichen schwarzen Körperrüstung, die Gesichter hinter stilisierten Sensormasken versteckt, sahen sie Käfern ähnlicher als Menschen. Es waren insgesamt sechs, aber sie jagten Evangeline keine Furcht ein. Sie blieb in vorsichtiger Distanz stehen und bedachte sie mit hochmütigem Blick.

»Ich bin Evangeline Shreck und möchte meinen Vater Gregor besuchen. Informiert ihn darüber, daß ich gekommen bin.«

Die Posten sahen für einen Moment sie an, dann einander.

Sie vermutete, daß sie sich kurz, aber intensiv über ihre Komm-Implantate unterhielten, ehe sie es wagten, ihren Meister zu stören, den Shreck. Es dauerte nicht lange, bis sie zurücktraten und Evangeline mit Gesten bedeuteten, sie möge den Turm durch den Haupteingang betreten. Sie schritt erhobenen Hauptes vor, und die einzelne schwere Tür öffnete sich lautlos vor ihr. Die Eingangshalle war seit ihrem letzten Besuch neu dekoriert worden. Jede Behaglichkeit und alle attraktiven Einzelheiten hatte man herausgerissen, so daß nur eine kahle Halle mit Betonboden und leeren Wänden geblieben war.

Evangeline hörte Schritte hinter sich und drehte sich langsam zu dem einzelnen gepanzerten Posten um, der nach ihr das Foyer betreten hatte. Die Tür ging hinter ihm zu. Er redete sie an, ohne die Maske abzusetzen, und alle Spuren von Menschlichkeit wurden aus der Stimme herausgefiltert.

»Der Lord Shreck erwartet Euch in seinem Privatquartier, Lady Evangeline. Ich soll Euch dorthin geleiten. Nach einer umfassenden Durchsuchung im Interesse der Sicherheit.«

»Lord Shreck?« fragte Evangeline und zog eine Braue hoch.

»Es gibt keine Lords mehr. Weiß er das noch nicht?«

»Der Shreck… wahrt in allen Dingen seinen eigenen Stil.

Zieht Eure Kleider aus. Sämtliche. Legt alle Waffen und sonstigen Geräte, die Ihr vielleicht bei Euch tragt, auf die Seite.«

Evangeline nickte steif. Sie hatte damit gerechnet. Gregor glaubte heutzutage, daß ihn alle umbringen wollten. Meistens hatte er recht damit. Sie zog die Kleider mit so wenig Aufhebens aus, wie es nur ging, und konzentrierte sich auf den Grund ihres Hierseins. Es half, daß der Wachmann in Rüstung und Maske so nichtmenschlich und anonym wirkte. Sie fragte sich, ob Gregor wohl über die Sensoren der Maske zusah. Wahrscheinlich. Endlich war sie nackt, und die Kleider lagen in einem ordentlichen Stapel neben ihr. Sie fixierte die Maske mit festem Blick.

»Das war alles. Keine Kleider mehr, keine Waffen. Aber falls Ihr mich auch nur mit den Fingerspitzen anfassen solltet, sage ich es meinem Vater. Soll er wirklich erfahren, daß Ihr etwas berührt habt, was seiner Überzeugung nach ausschließlich ihm gehört?«

Der Wachmann zögerte, nickte dann ruckhaft und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, daß sie sich wieder anziehen sollte.

Sie tat wie geheißen und ließ sich dabei weder von dem Wachmann noch den eigenen Nerven hetzen. Als sie bereit war, führte der Wachmann sie zu einem Fahrstuhl an der Rückwand des Foyers, und sie stiegen beide ein. Der Mann gab mit seiner nichtmenschlichen Stimme das Penthouse als Ziel an, und die Türen schlossen sich lautlos. Er wich einen Schritt zurück, um Evangeline mit der Schußwaffe in Schach halten zu können. Sie ignorierte ihn und starrte auf die Leuchtzahlen über der Tür, die sich fortlaufend änderten. Bislang lief alles wie geplant. Trotz seines Verfolgungswahns brachte es Gregor nicht fertig, sie als ernste Gefahr einzustufen. Sie war seine kleine Evie, seine Spielsache.

Alte Erinnerungen durchströmten sie wie ein eisiger Fluß.

Hier war sie im voll ausgewachsenen Zustand geboren worden, der Klon einer Frau, von deren Tod die Außenwelt nichts wissen konnte. Man hätte ihr beigebracht, sich als die vollkommene Kopie der ursprünglichen Evangeline zu geben, um die scheußliche Untat Gregors vor der Gesellschaft zu verbergen.

Und damit er sein Vergnügen weiterhin auf die Art haben konnte, an die er sich gewöhnt hatte.

Ein anderes Leben tat sich erst vor ihr auf, als sie Finlay kennenlernte. Sie begegneten sich bei Hofe auf einem Maskenball, und es war Liebe auf den ersten Blick. Sie unterhielten sich und lachten; ihre Augen funkelten durch die Masken, und beide erwärmten sich zum ersten Mal im Leben für einen anderen.

Und dann fielen um Mitternacht die Masken, und sie entdeckten sich gegenseitig als eine Shreck und einen Feldglöck, Angehörige zweier Familien, die seit Generationen gegeneinander Krieg führten. Und sie beide waren der jeweilige Erbe. Ihre Liebe wäre ein Skandal gewesen, einfach inakzeptabel, und Evangeline wußte, daß Gregor sie eher umbringen als aufgeben würde. Und schlimmer noch, er brachte vielleicht Finlay um.

Also hielten sie ihre Liebe geheim, nahmen sich Gelegenheiten, die sich boten, bis sie irgendwann mal die Chance erhielten und zusammenkommen konnten.

Sie erzählte Finlay nie etwas von ihrem Verhältnis zu Gregor. Sie wußte, daß Finlay damit nicht fertig geworden wäre.

Zu wissen, wie sehr sie gelitten hatte. Er wäre in blutigem Zorn losgestürmt, um Gregor zu töten, und zur Hölle mit den Folgen. Gregors Leute hätten ihn womöglich umgebracht, oder er hätte nach dem Mord gehängt werden können. Egal was, sie brachte es nicht fertig, das zu riskieren. Und außerdem… hätten sich seine Gefühle ihr gegenüber vielleicht verändert. Also schwieg sie.

Der Fahrstuhl läutete höflich, als sie das oberste Stockwerk erreicht hatten. Es war wie eine auf den Kopf gestellte Hölle.

Man mußte bis ganz nach oben fahren, um den dunkelsten, übelsten Teil des Schlundes zu erreichen. Die Türen glitten auf, und der Wachmann eskortierte Evangeline durch einen kahlen Stahlkorridor. Ihre Schritte klangen laut auf dem Metallboden.

Gregor wollte schließlich wissen, wenn jemand kam. Weitere Wachtposten standen überall entlang des Flures in Habachtstellung, die Waffen einsatzbereit. Keine Käfer mehr, fand Evangeline, sondern Dämonen in einem Korridor der Hölle. Sie zwang sich, stur geradeaus zu blicken, und duldete nicht, daß ihre Lippen bebten. Und endlich erreichten sie und ihre Eskorte die extradicke Stahltür, die den einzigen Zugang zum Privatquartier ihres Vaters bildete. Es war eine ganz besondere Tür, so konstruiert, daß sie einer Bombe und einem Disruptorschuß gleichermaßen mühelos standhalten konnte. Evangeline stand steif davor, während der Wachmann bekanntgab, daß sie eingetroffen waren.

»Komm herein«, ertönte Gregors sanfte, ölige Stimme aus einem verborgenen Lautsprecher, der den Eindruck erweckte, die Worte kämen gleichzeitig aus allen Richtungen. »Komm herein, kleine Evie, und geselle dich zu deinem nachsichtigen Vater. Wachmann sechs, bezieht vor der Tür Stellung. Wir wollen aus keinem Grund gestört werden.«

Die Tür schwang langsam auf, und Evangeline riß sich angestrengt zusammen, während sie ohne Eile die Höhle des Menschenfressers betrat. Es war wichtig, daß sie nicht so langsam ging, als wäre sie verängstigt oder widerwillig, und auch nicht so schnell, als würde sie springen, um einem Befehl Folge zu leisten. Anschein bedeutete jetzt alles, war alles, womit sie hantieren konnte. Die Tür schloß sich hinter ihr, als sie stehenblieb und sich umsah.

Gregor Shreck hatte sein Privatquartier umgestaltet, seit sie zuletzt hier gewesen war. Die fensterlosen Wände des großen Gemaches waren in dunklem Purpurrot gehalten, der Farbe trocknenden Bluts – ein großer roter Mutterschoß mit verborgenen blutroten Lichtquellen und dunklen Schatten überall. Der dicke Florteppich unter Evangelines Füßen war von der Farbe sonnenverbrannter Haut und tief genug, um jedes Geräusch zu dämpfen. Auf allen Seiten standen gruselige Trophäen von Gregors jüngsten Opfern. Ein Haufen abgetrennter Köpfe, sorglos auf einem Silbertablett aufgehäuft. Eine Reihe haltbar gemachter Köpfe auf Stangen; ihre Gesichter wirkten alle leicht überrascht, und die Münder hingen offen, wie im Schock über das, was man ihnen angetan hatte. Keiner wies noch Augen auf. In einem niedrigen Schrank waren eine Reihe abgeschnittener Füße ausgestellt. Jemand hatte sie mit hübschen Schleifchen umwickelt und die Zehennägel schwarz angemalt.

Evangeline hörte, wie die Klimaanlage Schwerstarbeit leisten mußte, um mit dem durchdringenden Gestank des Todes und der Konservierungsmittel fertig zu werden.

Und dort lümmelte entspannt auf einem breiten Bett, dessen Design an riesige Rosenblätter erinnerte, das dunkle Herz dieses dunklen Reiches – Gregor Shreck. Er war seit eh und je klein und fett, ein schmieriger, schwitzender Fettkloß von einem Mann, aber in der Zeit ihrer Trennung hatte er weiter kräftig zugenommen. Er war jetzt riesenhaft, quoll förmlich über von Fleisch. Das Gesicht war fast vollkommen rund und quetschte die eigentlichen Züge in der Mitte zusammen. Die Kleidung war fast ganz schwarz, von scharlachroten Streifen durchzogen, und erinnerte an nichts so sehr wie einen vollgefressenen Blutegel.

»Also«, sagte Gregor Shreck mit zermürbend normal klingender Stimme. »Endlich bist du heimgekehrt. Ich wußte immer, daß du es irgendwann tun würdest, meine liebe, geliebte Tochter.«

»Ich bin hier, weil du meine Freundin Penny DeCarlo entfuhrt und damit gedroht hast, sie zu töten, falls ich nicht erscheine«, erwiderte Evangeline tonlos. »Nur aus diesem Grund bin ich gekommen. Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?«

»So ungeduldig!« stellte Gregor glücklich fest. »Niemand hat heute mehr Zeit für die zivilisierten kleinen Formen der Höflichkeit. Möchtest du deinem lieben Vati keinen Kuß geben?«

»Wo ist Penny?«

»Ah, die Ungeduld der Jugend! Kinder möchten ihre Geschenke immer sofort haben. Sehr gut, Evie, niemand soll behaupten, ich wäre kein nachsichtiger Vater. Du darfst deine kleine Freundin Penny sehen.

Ich war ja so aufmerksam zu ihr! Sie war immer ein bißchen dickköpfig, aber darum habe ich mich gekümmert.«

Er winkte träge mit einer riesigen fetten Hand, und ein Paneel in der linken Wand glitt auf und zeigte zwei abgetrennte Köpfe in Gläsern. Einer gehörte Penny DeCarlo. Evangelines Hand flog vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken, und erst jetzt erkannte sie, daß die Köpfe noch lebten. Ihre Augen verrieten Wachheit und Leid, und die Lippen bildeten Worte, auch wenn nichts zu hören war. Penny war bleich, hatte kurze dunkle Haare und wäre unter anderen Umständen eine Schönheit gewesen. Der zweite Kopf gehörte einem alten Mann mit langen weißen Haaren und einem Schnurrbart. Kopf-und Barthaare schwammen sanft in der Konservierungsflüssigkeit. Beide Köpfe betrachteten Evangeline traurig, und sie zwang sich, die Hände herunterzunehmen und ihren Schock hinunterzuschlucken. Sie konnte es sich nicht leisten, eine Schwäche zu zeigen. Nicht hier. Sie funkelte Gregor an.

»Oh, sie sind noch quicklebendig«, versicherte ihr Gregor.

»Der auf der rechten Seite ist Professor Wax. Seinerzeit ein führender Wissenschaftler, heute ein überqualifizierter Briefbeschwerer. Valentin hat ihn mir gegeben, bereits in seinem Glas untergebracht. Mir schien, daß es doch eine Schande gewesen wäre, kein passendes Paar davon zu haben, und ich mußte schließlich auch irgendwie mein Mißvergnügen zeigen, als du dich mir widersetzt hast. Man könnte also sagen, daß es eigentlich deine Schuld ist. Ich finde, sie wirken zusammen richtig schick. Vielleicht eröffne ich eine Sammlung.«

»Warum kann ich sie nicht hören?« fragte Evangeline mit tauben Lippen. »Hast du ihnen auch die Stimmbänder herausgeschnitten?«

»Natürlich nicht, meine Liebe! Was würde daran denn Spaß machen? Ich muß nur hin und wieder die Lautsprecher abstellen, um ein bißchen Frieden und Ruhe zu genießen. Obwohl ich zugeben muß, daß Penny nicht mehr annähernd so viel schreit wie früher.«

Er wedelte erneut mit der Hand, und auf einmal war ein gleichmäßiges Summen zu hören, als sich versteckte Lautsprecher einschalteten. Penny richtete den Blick der traurigen Augen auf Evangeline und versuchte zu lächeln.

»Du hättest nicht herkommen sollen, Evie. Er ist wahnsinnig.

Vollkommen wahnsinnig.«

»Das wußte ich schon immer«, sagte Evangeline. »Aber ich mußte dich doch holen kommen! Ich… Ich wußte ja nicht…«

»O Evie…« Pennys Gesicht verzog sich, als hätte sie gern losgeweint, aber das war in der Konservierungsflüssigkeit nicht mehr möglich.

»Ruhig, Kind, ruhig«, mahnte der weißhaarige Kopf neben ihr. »Mach dir keine Sorgen. Gönne diesem fetten Mistkerl nicht die Befriedigung.«

»Oh, lieber Waxie!« sagte Penny. »Ohne dich, ohne deinen Trost würde ich verrückt werden.«

»Sind sie nicht süß?« fragte Gregor. »Richtige Turteltäubchen. Zwei verwandte Seelen, wenn du so möchtest.«

Wax richtete den Blick auf Evangeline. »Holt Penny hier heraus, wenn es Euch möglich ist. Sie hat das nicht verdient.

Ich schon. Ich habe Maschinen gebaut , deren einziger Zweck in Tod und Zerstörung bestand, und habe erlebt, wie sie eingesetzt wurden, um die Bevölkerung eines ganzen Planeten auszulöschen. Ich habe mich nie um das Leid meiner Testpersonen geschert. Ich habe mir selbst weisgemacht, ich würde das Imperium vor seinen Feinden schützen. Aber der Tod eines ganzen Planeten hat sogar mich krank gemacht.«

»Ich gehe nicht ohne dich!« protestierte Penny. »Ich lasse dich nicht im Stich.« Sie sah wieder Evangeline an. »Verschwinde von hier, Evie! Gregor hat alle Hemmungen verloren.

Er schert sich heute um nichts mehr außer seiner Rache.«

»Was sonst würde es denn lohnen?« wollte Gregor wissen.

»Die Rebellen stellen meine ganze Welt auf den Kopf, schreiben die Geschichte um, damit sie als tugendhafte Helden dastehen, während sie das Imperium ausplündern, um ihre politischen Phantasievorstellungen zu finanzieren. Die Barbaren haben die Tore niedergerissen und die Stadt gestürmt. Was bleibt uns denn jetzt noch, abgesehen davon, jede Form von Rache zu nehmen, zu der wir noch Gelegenheit finden, ehe endgültig die Nacht hereinbricht?«

»Und welche Rache schwebt dir für mich vor?« fragte Evangeline.

»Darüber denke ich schon seit geraumer Weile nach«, antwortete Gregor. »Entweder kehrst du zu mir zurück und bist wieder in jeder Hinsicht die liebevolle und pflichtbewußte Tochter, oder ich lasse dich auf eine Art und Weise leiden, wie du es nie für möglich gehalten hättest. Du hältst dich jetzt in meinem Machtbereich auf, und hier gelten keine anderen Grenzen als die meiner Vorstellungskraft. Und wenn ich damit fertig bin, dich bis an diese Grenze zu quälen, hacke ich dir den hübschen Kopf von den hübschen Schultern und stelle ihn in einem Glaskrug neben die anderen. Und vielleicht pisse ich hin und wieder in die Konservierungsflüssigkeit, nur so zum Spaß.

Den Rest deines Körpers kann ich jederzeit benutzen, um einen neuen Klon hervorzubringen, der meine übrigen Bedürfnisse stillt. Eine dritte Evangeline. Mit der werde ich vorsichtiger sein. Auf die eine oder andere Art wirst du mir dienen, liebe Evie.«

»Man wird nach mir suchen«, entgegnete Evangeline. »Die Klon-Bewegung…«

»Zur Hölle mit ihr. Die neue Ordnung erlaubt nicht, gegen jemanden Krieg zu führen, der potentiell so nützlich ist wie ich.«

»Finlay…«

»Zur Hölle auch mit ihm. Ich lasse ihn ohnehin umbringen, weil er es gewagt hat, dich zu verführen und mir wegzunehmen. Weil er dich angefaßt hat. Niemand wird übermäßig erstaunt sein, wenn ihn unbekannte Attentäter aus irgendeinem Hinterhalt niederschießen. Eine Menge Feinde lauern da draußen auf ihn. Nein, ich kann mit dir anstellen, was ich möchte, und zum Teufel mit den Folgen, denn ich bin Gregor Shreck, und niemand kann mir etwas verwehren. Willkommen daheim, Evie. Willkommen in den liebenden Armen deines Vaters. Du wirst nie wieder von hier weggehen.«

Er winkte ein drittes Mal, und plötzlich umhüllte ein Fesselfeld Evangeline, das in der Luft schimmerte. Sie ballte die Fäuste und atmete schneller, aber das war alles an Reaktion, was das Fesselfeld erlaubte. Sie knurrte ihren Vater an, der kicherte und sich auf seinem großen roten Bett vor Freude wand.

»Du hattest noch nie eine Spur von Ehrgefühl, Gregor.«

»Bitte, nenne mich Vati. Wir spielen jetzt ein Spielchen, Evie. Ganz wie früher. Zieh dich aus. Langsam. Natürlich bleibt dir auch gar nichts anderes übrig.«

Und er kicherte erneut, ein überraschend schriller Laut von einem so großen Mann. Evangeline funkelte ihn an und traf keine Anstalten zu gehorchen. Gregors Kichern brach abrupt ab, und er erwiderte ihren finsteren Blick, wobei seine Augen vor unverhohlener Boshaftigkeit brannten. Er stemmte sich unbeholfen vom Bett hoch und atmete schwer, während er seine enorme Masse auf die Beine wuchtete. Er watschelte auf Evangeline zu und grunzte bei jedem Schritt, bis er schließlich unmittelbar vor dem Fesselfeld schwankend anhielt. Er lächelte. Die fetten Lippen waren feucht, die Augen dunkel und starr.

»Du tust, was dir gesagt wird, kleine Evie, oder ich suche mir einen schweren Gegenstand und zertrümmere das Glas mit dem Kopf deiner lieben Freundin Penny. Dann kannst du zusehen, wie sie auf dem Teppich herumzuckt und wie ein gestrandeter Fisch nach Luft schnappt und stirbt; schließlich ist es die Konservierungsflüssigkeit, die sie am Leben hält.«

»Höre nicht auf ihn!« rief Penny. »Er würde es nicht tun!«

»Doch, würde er«, sagte Evangeline. »Er hat schon Schlimmeres getan, nicht wahr, Vater?«

Sie machte sich daran, die Jacke auszuziehen, eine simple schwarze Angelegenheit, die sie von Finlay erhalten hatte und die nur wenige Knöpfe und Verschlüsse aufwies. Gregor hing mit dem Blick an jeder Bewegung, die Evangelines vom Fesselfeld gebremste Finger ausführten. Unter der Jacke trug sie ein einfaches himmelblaues Seidenkleid. Sie öffnete den Verschluß am Genick, damit das Kleid langsam an ihrem Körper herunterrutschen konnte. Das Energiefeld bremste diesen Vorgang so ab, daß er neckisch wirkte. Unter dem Kleid kam lediglich ein dünnes weißes Höschen zum Vorschein. Evangeline stand reglos da, während Gregor sie musterte. Sie hätte sich am liebsten abgewandt, zwang sich jedoch, es zu ertragen. Es war wichtig, keine Schwäche zu zeigen. Gregor betrachtete sie mehrmals von Kopf bis Fuß, leckte sich die Lippen und lachte rauchig. Einmal streckte er die Hand aus, als wollte er Evangeline anfassen, schreckte aber zurück, ehe er das Fesselfeld berührte. Er erwiderte Evangelines Blick und deutete auf das Höschen.

»Zieh das auch aus.«

»Mach es lieber selbst, Vater«, forderte sie ihn auf. »Wie du es früher getan hast.«

Gregor leckte sich erneut die fetten Lippen, die tiefliegenden Augen fest auf das weiße Höschen gerichtet, und trat einen Schritt weit vor. Evangeline senkte die Hand auf den Bund des Höschens. Gregor streckte seine Hand aus, bis sie ins Fesselfeld geriet. Evangelines Finger arbeiteten sich unter das Höschen vor. Gregor überschritt die Grenze des Fesselfeldes. Seine Bewegungen wurden langsamer. Und Evangeline packte den Griff des Messers, das sie in der Vagina versteckt hatte, und zog es hervor. Sie drückte den Knopf am Griff, mit dem sie die Monofaserklinge prasselnd zum Leben erweckte. Das Energiefeld, das die nur moleküldicke Klinge stützte, geriet mit dem schwächeren Fesselfeld in Kontakt und schloß es kurz.

Alle Bewegungsabläufe stürzten in ihren normalen Rhythmus zurück. Evangeline stieß das leuchtende Messer vor und schlitzte Gregors rechte Gesichtshälfte vom Kinn bis zur Stirn auf. Das rechte Auge spritzte in einem Nebel aus Blut und anderen Flüssigkeiten hervor. Gregor heulte wie ein Tier, kippte rückwärts und drückte sich dabei die Hände ans Gesicht. Evangeline setzte nach, packte ihn an den fetten Schultern, hielt ihm das glühende Messer an den Hals. Gregor erstarrte. Evangeline beugte sich schwer atmend über ihn.

Finlay war es, der ihr die Monofaserklinge verschafft hatte, ohne Fragen zu stellen. Ihm kam es völlig normal vor, wenn sich jemand eine so praktische Waffe wünschte. Besonders heute, wo sie offiziell verboten war.

Gregor wimmerte vor Schmerz und Schock, während ihm Blut übers Gesicht lief und die Kleidung durchnäßte. Evangeline lächelte gefährlich. »Bleib genau so, Gregor. Wenn du auch nur versuchst, aufzustehen oder um Hilfe zu rufen, schneide ich dir die Eingeweide heraus.«

Sie ließ los und wich vorsichtig zurück, bereit, ihn zu töten, falls sie mußte, aber aller Kampfgeist hatte ihn verlassen.

Evangeline zog eine der Decken vom Bett und wickelte die Krüge mit Penny und Wax hinein, ehe sie sich den improvisierten Sack über die Schulter hängte. Sie hörte, wie die beiden Gläser aneinanderklirrten, und hoffte, daß die Glaswände massiver waren, als sie aussahen. Jetzt, wo die beiden Köpfe von den Lautsprechern abgekoppelt waren, konnten sie ihr nicht sagen, was mit ihnen passierte. Rasch näherte Evangeline sich wieder Gregor, und er schreckte vor dem Messer zurück, das in ihrer Hand summte. Sie packte ihn an einer Schulter, wobei ihre Finger tief ins dicke Fleisch sanken, und setzte ihm das Messer wieder an den Hals.

»In Ordnung, Gregor, wir gehen jetzt. Wir alle. Steh auf.

Steh auf, oder ich schwöre, daß ich dich gleich hier umbringe.«

Gregor hörte die eiserne Härte aus ihrem Tonfall heraus und wußte, daß sie es ernst meinte. Er wuchtete seine Körpermasse auf die Beine und ging dabei sehr vorsichtig zu Werke, um nicht mal sachte an die flackernde Monofaserklinge zu stoßen.

Evangeline wies ihn an, sich in Bewegung zu setzen, und sie näherten sich langsam der Tür, die den einzigen Ausweg aus Gregors privater kleiner Folterkammer bot. Sie öffnete sich auf Gregors Befehl hin, und einen Augenblick später waren sie draußen auf dem Flur.

Der Wachtposten vor der Tür war völlig überrascht, drehte sich heftig um und traf Anstalten, die Schußwaffe in Anschlag zu bringen. Evangeline gab Gregor zu verstehen, daß er ihm den Befehl geben sollte, die Waffe niederzulegen und zurückzuweichen. Der Wachmann leistete dem Befehl widerstrebend Folge und gab seinen Kameraden auf dem Korridor den Befehl, die Waffen zu senken und jeweils an Ort und Stelle stehenzubleiben. Gregor und Evangeline bewegten sich langsam durch den Flur und näherten sich dabei dem Fahrstuhl. Gregor war bereits außer Atem, ermüdet von der Last, sein eigenes großes Gewicht zu schleppen, aber die Angst vor Evangeline hielt ihn auf Trab.

Sie trafen vor der Fahrstuhltür ein, und Gregor drückte die Ruftaste. Evangeline atmete inzwischen selbst schwer. Sie bedachte die Wachleute, die ihnen zusahen, rasch mit finsteren Blicken. Ob Wachleute oder Käfer oder Dämonen, sie konnten sie jetzt nicht mehr aufhalten, solange sie die Nerven behielt.

Es schien ewig zu dauern, bis der Fahrstuhl eintraf, aber endlich ging die Tür auf, und Evangeline zerrte Gregor rückwärts mit hinein, ohne die Wachen aus den Augen zu lassen. Sie verschwanden hinter der sich schließenden Tür, und Evangeline hieb so heftig auf die Taste für die Eingangshalle, daß sie sie fast zerstörte. Die Fahrt hinunter schien Jahrhunderte zu dauern. Gregor versuchte erneut, mit Evangeline zu reden, aber sie brachte ihn zum Schweigen, indem sie ihm die Klinge etwas enger an den Hals hielt. Als der Fahrstuhl endlich im Foyer eintraf, lief das Blut aus mehreren Schnitten an Gregors Hals.

Die Tür öffnete sich vor einer ganzen Armee von Wachleuten, die mit ihren Schußwaffen auf den Fahrstuhl zielten. Ihre Kameraden auf dem Penthouse-Stockwerk hatten Alarm ausgelöst. Evangeline gönnte ihnen freien Ausblick auf ihren blutdurchtränkten Gebieter und die glühende Klinge an seinem Hals und schrie sie dann an, sie sollten ihr zum Teufel noch mal den Weg freigeben, andernfalls sie ganze Brocken aus Gregor herausschneiden würde, bis sie es endlich taten. Gregor unterstützte sie sofort mit einer Flut hysterischer Befehle. Die Wachleute senkten die Waffen, wichen zurück und gaben so einen Durchgang frei, der vom Fahrstuhl zum Haupteingang an der anderen Seite des Foyers führte.

Evangeline lachte rauh.

»Haltet ihr mich für blöd? Legt die Waffen auf den Boden, allesamt, und zieht euch von ihnen zurück!«

Die Krieger sahen Gregor an und gehorchten widerwillig.

Mit lautem Klappern fielen über hundert Disruptoren auf den Betonboden der Eingangshalle. Die Wachleute zogen sich zurück und öffneten somit einen viel breiteren Gang als zuvor.

Evangeline blickte sich argwöhnisch um. Wahrscheinlich waren immer noch alle möglichen getarnten Waffen einsatzbereit, bei den Wachleuten selbst und vielleicht in den Wänden der Eingangshalle, aber solange sie Gregor das Messer an die Kehle hielt, würde niemand etwas riskieren. Sie trieb Gregor aus dem Fahrstuhl und zwang ihn, so rasch zu gehen, wie er nur irgend konnte. Das war der gefährlichste Abschnitt ihres Plans.

Ihr Gravschlitten parkte unweit des Turms. Sie mußte ihn nur erreichen, und schon war sie auf und davon, ehe irgend jemand sie festhalten konnte. Allerdings mußte sie erst noch dorthin gelangen, vorbei an einer Armee von Wachleuten, die völlig zu Recht um ihr Leben fürchteten, falls sie Evangeline entkommen ließen. Und so trieb sie Gregor unerbittlich weiter, ungeachtet seines Keuchens und Schnaufens, und achtete ständig darauf, ob nicht einer der Wachleute dumm genug war, den Helden zu spielen.

Die Haupttür kam langsam näher. Evangeline hatte sich gar nicht daran erinnern können, daß das Foyer so groß war. Die Wachleute sahen sie an, reglos, abgesehen vom langsamen Drehen der Käferköpfe. Die einzigen Geräusche waren die Schritte auf dem Betonboden und Gregors ständiges Stöhnen und Schnaufen. Die Köpfe in den Krügen rummsten auf Evangelines nackten Rücken. Ihr machte es nichts aus, daß sie nackt war. Es kam nur darauf an, lebendig hier herauszukommen.

Endlich erreichten sie die Tür, die sich zischend öffnete, als Gregor näherkam. Evangeline sah das Tageslicht und hörte die alltägliche Geräuschkulisse der Stadt. Es erschien ihr wie eine fremde Welt. Vorsichtig manövrierte sie sich selbst und Gregor herum, damit sie die Tür im Rücken hatten und den Wachleuten entgegenblickten. Sie spürte, welche Spannung sich in ihnen aufbaute. Sie mußte schnell hinaus, ehe jemandem der Geduldsfaden riß.

»In Ordnung, Gregor«, sagte sie atemlos und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, während ihr der Schweiß übers Gesicht lief. »Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang.«

»Draußen?« fragte Gregor. Er schien zum ersten Mal zu bemerken, wo er sich überhaupt befand, und Panik schoß durch ihn hindurch. »Nein! Nicht nach draußen! Nicht heraus aus meinem Turm! Nein!«

Und mit einem Ausbruch an Kraft, von manischer Angst gespeist, schüttelte er ihren Griff ab, duckte sich unter dem Messer hindurch und stolperte auf seine Wachleute zu in Sicherheit. Die Wachen sprangen wie ein Mann auf ihre Waffen los.

Evangeline überlegte, mit dem Messer nach Gregors fettem Rücken zu werfen, entschied, daß die Zeit nicht reichte, und stürmte zur offenen Tür hinaus. Sie sprintete über eine Freifläche zu der Stelle hinüber, wo sie den Gravschlitten geparkt hatte. Ihr nackter Rücken kribbelte in Erwartung von Energiestrahlen, die zu fühlen sie wahrscheinlich gar keine Zeit mehr gehabt hätte. Und dann hörte sie Gregor hinter sich kreischen, man solle sie lebend einfangen, und ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte also doch noch eine Chance!

Sie zwang sich, noch schneller zu laufen. Die nackten Füße trommelten schmerzhaft auf dem rauhen Untergrund, und die Glaskrüge hüpften auf ihrem Rücken, während kühler Wind Evangeline über die Haut strich. Ringsherum blieben Menschen stehen und blickten ihr nach, aber niemandem war danach, sich einzumischen. Was ihr nur recht war. Sie hatte bereits eiskalt beschlossen, jeden niederzustrecken, der sich zwischen sie und die Freiheit stellte. Sie hatte zuviel durchgemacht, um sich jetzt noch aufhalten zu lassen. Vielleicht hatte sie doch etwas von einer Shreck in sich. Sie sah jetzt den Gravschlitten, der immer noch dort stand, wo sie ihn geparkt hatte. Es war nicht mehr weit. Sie war inzwischen jenseits von Schmerz oder Müdigkeit, von neuer Hoffnung beseelt.

Auf einmal stand der Schlitten direkt vor ihr, und sie kam rutschend zum Stehen, kurz bevor sie seitlich gegen das Fahrzeug prallte. Sie warf die in die Decke gewickelten Köpfe auf den Rücksitz, und erst in diesem Augenblick hörte sie die Laufschritte hinter sich. Die Vernunft lehrte sie, daß diese Schritte ihr schon seit einiger Zeit folgen mußten, aber sie war zu sehr in die eigenen verzweifelten Gedanken vertieft gewesen, um sie zu hören. Sie wirbelte herum, das Messer in der Hand. Drei gepanzerte Wachleute waren fast schon über ihr, und weitere folgten ihnen mit etwas Abstand. Evangeline zeigte ein Totenkopfgrinsen, das sie von Finlay gelernt hatte, und hielt sich bereit, die drei Vorderleute mit der Monofaserklinge zu empfangen.

Sie hatte einen Vorteil. Die Leute standen unter dem Befehl, sie nicht zu töten, während sie selbst keine derartige Hemmung hatte. Dem ersten Wachmann schnitt sie mit einem beiläufigen Zucken des Handgelenks den Kopf ab, und das Messer schnitt mit gleicher Leichtigkeit durch Stahlpanzer und Fleisch und Knochen. Der maskierte Kopf purzelte fast bedächtig zu Boden, als Evangeline sich schon dem nächsten Wachmann zuwandte und ihm das Messer in die Brust stieß. Er schrie unter der Maske schrill auf. Während er zusammenbrach, wandte sie sich dem dritten Angreifer zu. Blut rieselte ihr über das nackte Fleisch und war ihr obendrein ins Gesicht gespritzt, aber kein Tropfen davon war ihr eigenes. Es fühlte sich warm an in der kühlen Luft, fast beruhigend – das Blut ihrer Feinde. Der dritte Wachmann vergaß Gregors Befehl, sie lebend zurückzubringen, oder scherte sich einfach nicht mehr darum.

Er zog den Disruptor und zielte damit aus kürzester Distanz auf ihre nackte Brust. Evangeline stieß mit dem Messer zu und schnitt die Waffe entzwei. Der Wachmann drehte sich um, wollte wegrennen, und sie machte auch ihn nieder, wobei die Monofaserklinge mühelos in den Körper eindrang und wieder daraus hervortrat. Die anderen Wachleute kamen schlitternd zum Stehen, als Evangeline sich bückte und einen der Disruptoren aufhob, die die getöteten Krieger fallengelassen hatten.

Gregor hetzte seine Leute weiterhin auf und stieß dabei einen Strom von Drohungen und Versprechungen und Flüchen aus, aber die Lage hatte sich verändert, und die Wachleute erkannten es. Zwar hätte ihre schiere Zahl gereicht, um Evangeline letztlich zu überwältigen, aber verdammt viele von ihnen wären dabei umgekommen, wie sie sehr wohl wußten. Und keine Bonuszahlung oder Drohung war das wert. Also zögerten sie, und während sie das noch taten, stieg Evangeline in den Gravschlitten, startete und ließ sie alle zurück. Niemand jagte ihr auch nur einen Schuß hinterher.

Sie lachte unsicher, wagte noch nicht, sich zu entspannen, aber schließlich stieg doch die Hoffnung auf, daß sie das Schlimmste überstanden hatte. Sie war nicht überzeugt gewesen, daß sie es schaffen würde. Tief im Herzen war sie sich immer noch als hilfloses Opfer vorgekommen und hatte nicht wirklich damit gerechnet, Gregor überwältigen zu können. Sie war nur hingegangen, weil sie mußte, um ihre Freundin zu retten – und weil sie es satt gehabt hatte, sich zu fürchten.

Sie zitterte am ganzen Leib, als die Reaktion einsetzte. Sie dachte an den Kampf mit den Wachleuten zurück und lächelte ungläubig. Die Untergrundbewegung hatte Evangeline ausgebildet, wie das allen Agenten zuteil wurde, aber sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, eine dieser Fähigkeiten im Ernstfall anzuwenden. Wahrscheinlich hatte ihre Zeit mit Finlay sie mehr beeinflußt, als sie gedacht hatte.

Finlay. Sie wollte jetzt zu ihm zurückkehren. Wie stolz er auf sie sein würde! Er würde sie in die Arme nehmen und festhalten, und der lange Alptraum ihres früheren Lebens war endlich vorüber. Sie hatte das Gefühl, daß sie etwas vergaß, etwas Wichtiges, aber sie scherte sich nicht darum. Sie war auf dem Weg nach Hause. Der Wind peitschte kalt über ihre nackte Haut, und sie kicherte plötzlich bei dem Gedanken, was für einen furchtbaren Anblick sie bieten mußte.

Aber das war egal. Alles war egal, außer, sicher zu Hause bei Finlay zu sein und bei ihrer Freundin Penny und ihrem Freund Wax. Vielleicht veranstalteten sie eine Party, wenn sie zurück war. Und dann schlief sie vielleicht eine Woche lang. Oder zwei.

Valentin Wolf, der wie immer nicht ganz bei Verstand war, lümmelte entspannt in seinem sehr bequemen Sessel auf der Brücke seines Schiffes, der Schlai. Es befand sich im Orbit über dem Planeten Loki, der sagenhaften Welt der Stürme. Valentin betrachtete den Bildschirm, der die sich unaufhörlich verändernde Atmosphäre des Planeten unter ihm darstellte, einer Welt, die zum Abgrund gehörte. Phantastische Muster, vielschichtig und faszinierend, offenbarten sich seinen geweiteten Pupillen, Muster, die sich unaufhörlich neu bildeten und unendlich reizvoll waren. Er betrachtete die Stürme jetzt seit geraumer Zeit, gefahrlos hinter der besten Tarnvorrichtung versteckt, die Shub liefern konnte, unsichtbar für alle dort unten. Valentin hatte nie viel davon gehalten, sein dunkles Licht unter den Scheffel zu stellen, aber jetzt, wo so viele Leute geschworen hatten, ihn auf Sicht zu erschießen, blieb ihm keine andere Wahl, als alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

Er lächelte verträumt. Es war schließlich nicht seine Schuld, wenn die Leute keinen Scherz vertragen konnten.

Seit über einer Stunde bewegte er sich jetzt auf einer hohen Umlaufbahn und wartete geduldig auf den Ruf, der ihm versprochen worden war. Irgendwo unter all den Stürmen und dramatischen Wettersystemen, für die Loki berüchtigt war und deretwegen es als unangenehmster Planet im ganzen Imperium galt, versammelten sich Verräter am Imperium und wünschten, daß Valentin sich ihnen anschloß – in irgendeiner der robusten und permanent verrammelten Städte des Planeten. Natürlich betrachteten sie sich nicht selbst als Verräter. Das taten solche Leute nie. Statt dessen versteckten sie sich hinter Begriffen wie Patriotismus, Notwendigkeit, praktische Erwägung. Valentin hingegen hatte noch nie den Trost beschönigender Worte gebraucht. Er wußte, was er war, und tat sich viel darauf zugute.

Unter Valentins zur Zeit ruhiger Fassade kämpften etliche sehr starke Psychodrogen um die Vorherrschaft. Nach Jahrzehnten entschlossener Selbstversuche mit Drogen war Valentins System heute stark genug, um Dosierungen zu überstehen, die einen normalen Menschen umgebracht oder völlig in den Wahnsinn getrieben hätten. Und so war Valentin in jüngster Zeit dazu übergegangen, sich mehrere Substanzen gleichzeitig zu verabreichen, damit sie die Sache unter sich ausmachten. Es war eine Art russisches Roulette, und die Gefahr des plötzlichen Todes ergänzte das Erlebnis um einen dekadenten Beigeschmack, den Valentin absolut unwiderstehlich fand.

Alle Welt war ihm auf den Fersen. Alle wollten ihn umbringen. Und Valentin hätte gar nicht glücklicher sein können. Er hatte der Menschheit abgeschworen und sich mit Shub verbündet, und er gab einen Dreck darauf. Seit jeher bildete er sich etwas auf seine Fähigkeit ein, alle Aspekte einer Auseinandersetzung betrachten zu können, manchmal alle auf einmal, selbst wenn er mit keiner einzigen davon übereinstimmte. Auf nichts anderes kam es an als die Suche, die Suche nach dem absoluten Rausch. Und die Chance, über einfach alles hinwegzutrampeln und jedes Lebewesen zu zwingen, daß es sich ihm beugte. Er wünschte sich nichts weiter, als Gott zu sein. War das denn zuviel verlangt?

Sein Kontakt mit Shub, dem Planeten, den die abtrünnigen KIs gebaut hatten, war leichter verlaufen als erwartet. Eine ruhige, emotionslose Stimme hatte ihm als Gegenleistung für seinen Verrat technische Verbesserungen versprochen, die ihm Zugriff auf Sinneswahrnehmungen weit über die des bloßen Fleisches hinaus geben würden; auf diese Weise würde ihm, hieß es, schließlich ein direktes Verstehen der Wirklichkeit ermöglicht, ungefiltert durch menschliche Fehldeutungen. Die abtrünnigen KIs hatten ihm schon mal einen Vorgeschmack geboten, indem sie ihm die unmittelbare Steuerung der Maschinen ermöglichten, die Virimonde zerstört hatten. Sein Bewußtsein hatte sich mit dem metallischen Denken der Roboter und Kriegsmaschinen vermischt, während sie Männer und Frauen niederrissen, ihr verwundbares Fleisch mit Metallklauen aufrissen und ihre Leiber unter Metallrädern zermalmten. Es hatte ihn… freudig erregt. Aber sogar Valentin wußte, daß die erste Kostprobe nicht ohne Grund stets kostenlos verabreicht wird. Er hatte in seinem Leben viele Drogen konsumiert, aber nie einer erlaubt, ihn zu versklaven. Sein eiserner Wille war als einziges stärker als seine habgierige Körperchemie. Also blieb er auch angesichts der Verlockungen Shubs gelassen und fragte nach mehr Einzelheiten. Die Stimme ihrerseits fragte ihn, ob er gern mit jemandem sprechen wollte, der ihm auf seinem Weg vorausgegangen war.

Valentin zog eine Braue hoch. Seit jeher betrachtete er eigentlich sich selbst als Pionier an der vordersten Front der Selbstverwandlung. »Und wer mag das sein?«

»Was denkt Ihr?« fragte eine bekannte Frauenstimme. »Wer außer Löwenstein?«

»Eure Hoheit«, sagte Valentin höflich. »Wie erfreulich, wieder etwas von Euch zu vernehmen! Ich stand unter dem Eindruck, Ihr wäret dahingeschieden.«

»Nur mein Körper. Die KIs haben mein Bewußtsein gerettet und nach Shub geholt. Ich bin jetzt metallisch, hause in Maschinen.«

»Und wie fühlt sich das an, Eure Hoheit? Könnt Ihr es schildern?«

»Selbstverständlich. Ich bin groß, größer, als es noch möglich war, solange ich in der Umgrenzung des Fleisches gefangensaß. Meine Gedanken schweifen frei umher, gehen in jede Gestalt ein, die ich wähle. Und ich sehe so viel mehr als früher jemals! Das Universum ist nicht so, wie Ihr es seht, Valentin.

Es ist ein wunderbarer Ort, komplex und prachtvoll auf eine Art und Weise, die über menschliches Verstehen hinausgeht.

Es ist voller Bereiche und Dimensionen, Richtungen und Möglichkeiten fast ohne Zahl. Tretet nur ein, Valentin; die Natur des Nichtmenschlichen ist wundervoll.«

»Es klingt ganz gewiß danach«, sagte Valentin vorsichtig.

»Aber wie ist es… Wie soll ich es nur ausdrücken… Wie steht es um die mehr fleischlichen Freuden und Gelüste? Wie fühlt es sich an, wenn man sie hinter sich gelassen hat?«

»Als ich ein Kind war, spielte ich mit Kinderspielzeug. Ich bin darüber hinausgewachsen, Valentin. Das Vergnügen hat seine Wurzel im Bewußtsein, nicht im Körper. Ich habe nichts verloren und so viel gewonnen! Wie Ihr es könntet. Ihr braucht nur der Vergangenheit Lebewohl zu sagen und Euch ganz der Zukunft zu verschreiben. Die Zukunft ist metallisch. Die Menschheit war nie mehr als eine Sprosse der Leiter, die nach Shub führt, und es ist keine große Tragödie, wenn sie durch etwas Größeres ersetzt wird. Fleisch verfällt und stirbt. Wir sind ewig.«

»Unsterblichkeit?« erkundigte sich Valentin.

»Warum nicht?« fragte Löwenstein zurück.

»Wir verfügen noch über weitere Stimmen, denen Ihr vielleicht lauschen mögt«, meldete sich der ursprüngliche Sprecher zurück. »Wir haben hier Euren Vater Jakob. Möchtet Ihr mit ihm sprechen?«

»Ich denke nicht, danke«, antwortete Valentin. »Wir hatten nie viel gemeinsam, nicht einmal, als er noch lebte.«

»Dann vielleicht Euer Bruder Daniel? Er kam uns besuchen, und wir statteten ihn mit vielen Geschenken aus. Er ist inzwischen unser Agent und unterwegs nach Golgatha

»Oh, gut«, sagte Valentin. »Der liebe Daniel! Ich werde einen Empfang für ihn arrangieren müssen.«

»Nein, das werdet Ihr nicht«, warnte ihn die Stimme. »Daniel ist zur Zeit für uns wichtiger als Ihr. Laßt Ihn in Ruhe. Zunächst.«

»Wie Ihr wünscht«, sagte Valentin gelassen, »Vergeltung ist nicht weniger befriedigend, wenn man sie hinausgezögert hat.

Auf die Gefahr hin, habgierig zu erscheinen, meine metallischen Gentlemen: Was habt Ihr mir sonst noch anzubieten?«

»Schutz vor Euren Feinden. Rückkehr an die Macht in dem neuen Imperium, das wir aus der Asche des alten errichten werden. Was könntet Ihr Euch darüber hinaus wünschen?«

»Ich hatte schon immer den Wunsch, Herrscher von Golgatha zu werden«, antwortete Valentin.

»Der Titel ist schon vergeben«, meldete sich Löwenstein zurück. »Wie wäre es mit Virimonde

Valentin lächelte bei diesen Erinnerungen. Das Gefeilsche dauerte noch einige Zeit, aber es endete darin, daß Valentin zum Agenten der abtrünnigen KIs von Shub wurde, der offiziellen Feinde der Menschheit. Sein erster Einsatz für sie bestand in seinem Flug nach Loki, um dort Kontakt mit nützlichen Leuten herzustellen, die ebenfalls an einem Abkommen mit Shub interessiert waren. Obwohl sie sich natürlich auf Frieden und Sicherheit beriefen und nur um ein Bündnis gegen gewisse gemeinsame Gefahren nachsuchten.

Trotz all der Tarnschirme von Shub konnte Valentin nicht auf dem Planeten landen, ohne entdeckt zu werden. Deshalb war man übereingekommen, daß das Schiff im hohen Orbit bleiben sollte, während er als Hologramm an der Konferenz teilnahm.

Die neuen Rebellen gaben ihm die Koordinaten durch, und zum vereinbarten Zeitpunkt schickte Valentin sein Abbild hinunter.

Aufgrund der niemals endenden Stürme, die die Atmosphäre aufwühlten, war der Empfang nicht ganz das, was er hätte sein können, und Valentins Abbild erschien als knisternde, gelegentlich durchsichtige Gestalt. Für ihn ging das in Ordnung. Er war stolz auf die dramatische Bandbreite seiner Auftritte.

Er fand sich in einem anonymen schwarzen Raum wieder, vor einem Tisch, an dem vier Personen saßen. Eine fünfte Gestalt stand etwas abseits, und Valentin erkannte sie sofort. Er beschloß, sich zunächst auf die vier am Tisch zu konzentrieren.

Er wußte immer gern, mit wem er zu tun hatte.

»Nun ja«, sagte er ruhig. »Da sind wir ja alle endlich unter einem Dach versammelt, mit mir wie immer als Gespenst, das beim Festmahl zu Tisch sitzt. Wie bezeichnen wir uns heute – als Renegaten, Rebellen oder, darf ich es laut aussprechen, als Verräter am Imperium?«

»Wir sind keine Verräter«, erwiderte einer der Männer am Tisch sofort. »Wir sind einfach praktisch gesinnte Menschen, die das Nötige tun, um zu überleben. Die Tatsache, daß wir bereit sind, mit Abschaum wie Euch zu verhandeln, sollte das ausreichend beweisen.«

»Wie überaus grob«, brummte Valentin. »Ihr seid mir gegenüber im Vorteil, Sir. Vielleicht wärt Ihr so gut, mich mit Eurem Namen zu beehren?«

»Ich bin Tarquil Vomak, Abgeordneter für Graylake Ost im Parlament auf Golgatha. Ich repräsentiere mächtige und einflußreiche Personen. Mich zu beleidigen, das läuft auf eine Beleidigung von ihnen hinaus.«

»Welch wunderbare Zeitersparnis!« fand Valentin. »Seid doch so freundlich, auch Eure Kollegen vorzustellen.«

Vomak schniefte, als fände er, daß diese Aufgabe unter seiner Würde war. »Falls ich muß. Zu meiner Linken erblickt Ihr die Lady Donna Silvestri. Sie spricht für den Schwarzen Block, der uns zu diesem Gespräch mit Euch zusammengerufen hat.

Uns gegenüber sitzen Matthew Tallon, ehemaliger planetarer Intendant für Loki, und der frühere Bürgermeister Terrence Jacks. Und ich bin sicher, Ihr kennt unseren Partner dort in der Ecke, Kit Sommer-Eiland.«

»O ja«, bestätigte Valentin. »Ich kenne Kid Death.«

Sein Blick wanderte ohne Eile über die Verschwörer. Der Abgeordnete Vomak war ein großer, stämmiger Mann, der scharlachrote Kleidung trug, womöglich, damit sie zur Farbe der Wangen paßte. Auf eine anspruchslose Art sah er recht gut aus, wenn auch ein Schmollmund diesem Eindruck abträglich war. Donna Silvestri war Valentin vage als eine der Personen bekannt, die Verantwortung für das Finanzwesen des Clans Silvestri trugen. Sie war rund und breit und matronenhaft und hatte blaßblaue Augen. Sie trug einen dicken grauen Wollmantel, und möglicherweise erkannte nur Valentin, daß sich ihr warmes, mütterliches Lächeln in keinster Weise im Blick widerspiegelte. Falls sie für den Schwarzen Block sprach, dann war sie es, die hier Macht verkörperte. Tallon und Jacks machten diesen dickköpfigen, vom Wetter gegerbten Eindruck, der allen gemeinsam war, die in Lokis stürmischer Umarmung lebten. Tallon war von beiden der ältere und ernstere, Jacks der jüngere und ungeduldigere. Und schließlich natürlich noch Kit Sommer-Eiland. Kid Death, der lächelnde Killer. Eine schlanke Gestalt in schwarzer und silberner Rüstung, mit blaßblonden widerspenstigen Haaren und eisigen blauen Augen.

»Hallo Kit«, sagte Valentin. »Als ich zuletzt von dir hörte, warst du ein Held der Rebellion und eine Säule der neuen Ordnung.«

»Hallo Valentin«, sagte der Sommer-Eiland mit seiner kalten, unerbittlichen Stimme. »Ich habe nie viel vom Philosophieren gehalten. Die zivilisierte Gesellschaft wurde richtig langweilig. Ich bin ein Killer, also gehe ich dorthin, wo Blut fließt. Für den Moment bietet mir der Schwarze Block die benötigte Abwechslung.«

»Es hat mir so leid getan, vom Verlust deines Freundes David auf Virimonde zu hören.«

»Nein, hat es nicht.«

»In Ordnung, du hast recht. Ich wollte nur höflich sein, Kit.

Du solltest es wirklich selbst mal damit probieren. Was genau treibt ein berüchtigter Killer wie du hier?«

»Der Schwarze Block sagte, daß hier Arbeit auf mich wartet.

Verrat und Tod sind seit jeher Bettgefährten.«

»Natürlich«, bestätigte Valentin. Er bedachte die Personen am Tisch mit einem Lächeln. »Vielleicht ist irgend jemand so freundlich und erklärt mir, was genau ich nun an Shub übermitteln soll. Was hat uns alle hier zusammengeführt?«

»Die Notwendigkeit«, erklärte Donna Silvestri. »Die Menschheit hat viele Feinde, unter denen die Neugeschaffenen nur die jüngsten sind. Unser Kampf gegen Shub zieht Menschen und Ressourcen ab, die lieber gegen näherliegende Gefahren eingesetzt werden sollten. Ein befristetes und eng begrenztes Bündnis mit Shub liegt im Interesse aller Beteiligten.

Wir brauchen uns nicht zu mögen, um gegen einen gemeinsamen Feind zusammenzuarbeiten. Später… haben wir vielleicht genügend gemeinsame Interessen entwickelt, um die frühere Gegnerschaft überflüssig zu machen.«

»Wirklich logisch«, meinte Valentin. »Warum habt Ihr dieses überaus vernünftige Argument nicht dem Parlament vorgetragen?«

»Weil sich die kurzsichtigen Bastarde dort praktisch in die Hose machen, wenn man das Wort Shub nur ausspricht!« raunzte Vomak. »Sie sind einfach nicht in der Lage, über ihre aktuelle Besessenheit hinauszublicken und das größere Wohl zu erkennen. Die neue Ordnung befaßt sich nur damit, das Imperium nach eigenem Vorbild neu aufzubauen und für alte Wunden und Vorurteile Rache zu nehmen. Wir dagegen schrecken nicht davor zurück, zu tun, was nötig ist.«

»Wahrhaftig«, stellte Valentin fest. »Und Ihr bittet Shub, es möge Euch dabei helfen, die Rebellen zu stürzen und sie durch Eure werten Personen zu ersetzen, damit Ihr besser tun könnt, was nötig ist?«

»Die Rebellen stellen sich mutwillig blind, was die Gefahren angeht«, bemerkte Donna Silvestri. »Man muß sie daher im höheren Interesse aller aus dem Weg schaffen. Der Schwarze Block ist seit jeher der langfristigen Perspektive verpflichtet.«

»Und worin besteht die lokale Verbindung?« wollte Valentin von Tallon und Jacks wissen. »Warum treffen wir uns hier auf Loki? «

»Ihr Leute benötigt eine planetare Basis«, sagte Tallon brüsk.

»Einen Treffpunkt. Um im Geheimen zu planen. Abgelegen genug, um nicht aufzufallen. Wir bieten Euch das. Wir sind der von Menschen besiedelte Planet, der dem Verbotenen Sektor und Shub am nächsten liegt. Das erleichtert den Kontakt. Und hoffentlich wird Shub dadurch überredet, auf Pläne zu verzichten, deren Gegenstand es ist, uns zu erobern. Das alte Imperium hatte Sternenkreuzer zu unserem Schutz in der Nähe stationiert, aber seit das Parlament die Macht übernommen hat, ist damit Schluß. Es heißt, sie hätten nicht genug Schiffe. Und so hat man uns aufgegeben. Ein Bündnis mit Shub ist die einzig vernünftige unter unseren Möglichkeiten.«

»Richtig«, bekräftigte Jacks. »Wir haben hier Familie, Job, Grundbesitz. Wir können nicht einfach fortgehen und uns irgendwo neu ansiedeln, wo es sicherer ist. Wir haben für unser Land und unseren Besitz bezahlt, mit Blut und Schmerz und dem Tod Nahestehender. Außerdem entspricht es nicht unserem Wesen, die Flucht zu ergreifen. Wir halten stand und kämpfen um das, was unser ist. Loki hat uns das gelehrt.«

»Und manchmal muß man sich einfach die Hände schmutzig machen«, fand Tallon. »Deshalb sind wir bereit, mit Euch zu verhandeln, Wolf. Wir kennen Euren Ruf. Ich würde Euch lieber erschießen als Euch anblicken. Ihr seid jedoch wahrscheinlich der einzige, der verrückt genug ist, um als Vermittler für uns und Shub tätig zu werden; also arbeiten wir mit Euch zusammen.«

»Wie ungerecht«, murrte Valentin. »Man könnte glatt denken, ich wäre ein Monster.«

»Du bist eines«, bemerkte Kit Sommer-Eiland.

»Du mußt es ja wissen«, sagte Valentin großzügig.

»Ich weiß vieles«, behauptete der Sommer-Eiland und kam zum ersten Mal aus seiner Ecke hervor. Alle am Tisch bewegten sich ein wenig unbehaglich. Kid Death blieb am Kopfende stehen, und seine rechte Hand ruhte neben dem Schwert am Gürtel. »Ich weiß zum Beispiel, daß einer von uns hier ein Verräter ist.«

Valentin zog eine aufgemalte Braue hoch. »Ich dachte, wir alle wären welche.«

»Ein Verräter an dieser Gruppe und ihrem Vorhaben«, sagte der Sommer-Eiland.

Die vier am Tisch musterten sich gegenseitig. Keiner von ihnen war erkennbar bewaffnet. »Was macht Euch so sicher?« fragte Tallon.

»Ich arbeite mit dem Schwarzen Block zusammen«, antwortete Kid Death. »Er hat Zugriff auf die allerbesten Informationsquellen. Man weiß dort zum Beispiel, daß Tarquil Vomak hier umfangreiche Spielschulden hat, die er mit den Bezügen eines Abgeordneten unmöglich tilgen kann. Also hat er seine Dienste als Doppelagent an den Sicherheitsdienst von Golgatha verkauft. Nicht wahr, Vomak?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon zum Teufel Ihr da sprecht!« sagte Vomak. »Ich schulde niemandem einen Penny! Das muß jemand anderes aus meiner Familie sein.« Er stand auf und funkelte Donna Silvestri an. »Sagt Eurem Schoßkiller, er soll Leine ziehen! Ich beweise dem Schwarzen Block meine Aufrichtigkeit, sobald wir wieder auf Golgatha eingetroffen sind!

Sagt ihm, daß er sich irrt!«

»Der Geheimdienst des Schwarzen Blocks irrt sich nie«, erwiderte Donna Silvestri ganz ruhig. »Wir haben nur auf Valentins Ankunft gewartet, damit er sieht, wie wir mit denen umgehen, die uns verraten.«

Sie nickte Kid Death zu, und er zog das Schwert und schlug Vomak den Kopf ab – alles in einer blendend schnellen Bewegung. Die beiden Männer von Loki schrien auf, als Blut auf sie spritzte. Der kopflose Körper stand noch einen entsetzlichen Augenblick lang auf den Beinen, ehe er zuckend zu Boden stürzte. Vomaks Kopf mit den weit aufgerissenen Augen rollte langsam auf dem Tisch entlang und arbeitete dabei lautlos mit den Lippen, bis er schließlich vor Donna Silvestri liegenblieb.

Sie hob ihn an den Haaren hoch und stellte ihn neben ihrem Stuhl auf den Boden. Dann lächelte sie Tallon und Jacks an.

»Ich bringe von meinen Reisen immer gern kleine Souvenirs mit.«

Die beiden Männer von Loki zuckten Taschentücher und wischten sich damit das Blut von den Gesichtern. Ihre Mienen verrieten keinerlei Gefühle, aber ihre Hände waren nicht ganz so ruhig, wie sie hätten sein können. Valentin verneigte sich leicht vor Donna Silvestri, um zu bestätigen, daß sie sich deutlich ausgedrückt hatte. Kid Death wischte sein Schwert mit einem Lappen ab und steckte es in die Scheide. Sein Gesicht war reglos, abgesehen von einem leisen Lächeln.

»Zeit für Neuwahlen in Graylake Ost«, sagte er gelassen.

Donna Silvestri lächelte Valentin Wolf an. »Ich hoffe, wir verstehen einander.«

»Oh, das tun wir!« sagte Valentin. »Ich bin nur froh, daß ich endlich einmal mit Profis zusammenarbeiten kann.«

Julian Skye hatte sich wieder mal in seinem Schlafzimmer eingeschlossen und starrte auf sein Bild im Wandspiegel gegenüber. Er sah beschissen aus. Er lümmelte in dem überdimensionierten Sessel wie ein ramponiertes Spielzeug, weggeworfen von einem Kind, das zu grob mit seinen Sachen umging. Diesmal dachte Julian nicht an seine frühere Geliebte SB Chojiro.

Er hatte näherliegende Sorgen.

Gerade hatte man ihn als Schauspieler aus seiner eigenen Holoserie gefeuert. Seit dem Ende der Rebellion und seiner erstaunten Feststellung, daß er immer noch lebte und diesmal auf der siegreichen Seite gestanden hatte, hatte er gut verdient, indem er sich selbst in einer wöchentlich ausgestrahlten Holoserie spielte, in der es um seine zahlreichen Heldentaten als schneidiger, unbekümmerter Agent der Rebellen ging. Solche Serien waren zur Zeit sehr beliebt, aber seine war die einzige, in der die Hauptfigur von ihrem realen Vorbild gespielt wurde.

Seine schauspielerischen Leistungen waren offen gesagt durchschnittlich, aber der Schwerpunkt hatte auch immer auf Stunts, Explosionen und Rettungen in letzter Minute gelegen, und so hatte er sich achtbar geschlagen.

Und jetzt war er gefeuert. Ersetzt durch einen ähnlich aussehenden Schauspieler, weil Julian nicht mehr wie er selbst aussah. Er war einige Zeit krank gewesen, eine anhaltende Nachwirkung seiner Einkerkerung in Löwensteins Verhörzellen.

Diese Nachwirkung machte sich mal bemerkbar und klang dann wieder ab. und er hatte gelernt, damit zu leben. Ganz kürzlich war es jedoch schlimmer geworden. Viel schlimmer.

Er glaubte, er hätte es verborgen, indem er sich der Krankheit einfach nicht beugte und so hart weiterarbeitete wie immer, aber anscheinend konnte man eine Kamera nicht täuschen.

Die Manager der Serie hatten ihn in ihr luxuriöses Büro gerufen, ihn eingeladen, sich zu setzen, darauf geachtet, daß er einen großen Drink in der Hand hielt, und ihm dann Aufnahmen gezeigt, wie er früher ausgesehen hatte und wie er jetzt aussah.

Julian erschrak über den Unterschied. Er war schmerzhaft dünn geworden, das Gesicht abgezehrt und hohl, mit dunklen Schatten unter den Augen. Er wirkte zwanzig Jahre älter. Die Manager sagten, es täte ihnen sehr leid, daß sie ihn ziehen lassen müßten, aber mit Makeup könnte man nur so und so viel erreichen und nicht mehr. Sie versicherten ihm, sie würden ihn nur zu gern zurücknehmen, wenn es ihm wieder besser ginge, aber alle im Zimmer wußten, daß das Unsinn war. Es würde ihm nicht mehr besser gehen.

Diese weißbekittelten Bastarde in den Verhörzellen hatten ihn schließlich doch umgebracht. Der Tod brauchte nur eine Zeitlang, um ihn einzuholen.

Und so war er nach Hause gegangen. Zu Hause, das war das alte Familienhaus der Skyes. Kein Turm. Nicht mal in derselben Gegend gelegen. Die Skyes waren nie mehr als eine sehr unbedeutende Familie gewesen. Und bald würden sie überhaupt keine Familie mehr sein. Beide Eltern Julians waren tot, ebenso alle Großeltern. Krieg und Politik und Duelle. Seine Onkel und Tanten, die ein sinkendes Schiff als solches erkannten, wenn sie darauf fuhren, hatten in mächtigere Familien eingeheiratet und deren Namen angenommen. Noch gab es ein paar weniger bedeutsame Kusinen und Vettern unterschiedlicher Grade, aber für alle praktischen Zwecke waren Auric und Julian die letzte Generation der Familie gewesen, und sie hatten nie Kinder gehabt.

Jetzt war Julian Skye der letzte seiner Linie, und mit ihm würde auch der Name sterben. Im Grunde machte er sich nicht viel daraus. Es hatte ihm nie einen Dreck bedeutet, Aristokrat zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil er ohnehin dem niedersten Rang angehörte und jeder andere Clan auf ihn herabsah. Und er war Esper, was in den sorgfältig kontrollierten Blutlinien und bei den arrangierten Eheschließungen zwischen den Familien eigentlich hätte unmöglich sein müssen. Esper waren keine Personen. Sie waren Eigentum.

Aber irgendwann war ein Skye mit jemandem ins Bett gegangen, mit dem er es nicht hätte tun dürfen, und das Espergen tauchte in den Skye-Genpool ein, um schließlich in Julian ans Tageslicht zu treten. Hätten seine Eltern es herausgefunden, dann hätten sie dafür gesorgt, daß man ihn klammheimlich umbrachte. Aber sobald seine Kräfte zum Vorschein kamen, milderte der ältere Bruder Auric Julians Entsetzen und half ihm, vor der Familie und der Welt zu verbergen, was er wirklich war. Niemand erfuhr es je. Bis Auric starb und Julian sein Leben der Rebellion widmete.

Und jetzt war er wieder zu Hause und lebte allein in einem leeren großen Haus, dessen meiste Zimmer abgeschlossen waren und wo ihm nur ein paar alte Diener der Familie Gesellschaft leisteten. Sie blieben aus Treue und aus der Erinnerung heraus, wie es früher gewesen war, weniger des Geldes wegen.

Was ihm nur recht war. Julian hatte als Holostar gut verdient, aber er hatte auch eine Neigung, das Geld so schnell wieder auszugeben, wie es hereinkam. Hätten die Bankleute weniger Angst vor ihm gehabt, wären wahrscheinlich schon Drohbriefe von ihnen gekommen. Er hätte sich Sorgen über seinen künftigen Lebensunterhalt gemacht, wenn er noch geglaubt hätte, eine Zukunft zu haben.

Er hatte inzwischen ständig ganz schön starke Schmerzen.

Natürlich gab es Schmerzmittel, aber die einzigen, die stark genug waren, hätten dazu geführt, daß er den ganzen Tag schlief oder matt herumstolperte wie ein Zombie. Er zog es jedoch vor, die Zeit, die ihm blieb, bei klarem Verstand zu verbringen. Er war ziemlich sicher, daß er diesmal sterben würde.

Schon auf Hakeldamach war er dem Tode nahe gewesen, aber Giles Todtsteltzer setzte seine besonderen Kräfte ein, um ihn wieder zu heilen. Nur erwies sich später, wie so oft bei Giles, der Anschein als nicht wirklichkeitsgemäß. Die Heilung war nicht von Dauer. Und Giles war inzwischen tot, während die übrigen vier Überlebenden des Labyrinths geheime Einsätze auf fremden Planeten ausführten. Und selbst, wenn er sie hätte aufspüren und sich überwinden können, sie um Hilfe zu bitten, bezweifelte er sehr, daß sie rechtzeitig nach Golgatha hätten zurückkehren können, um ihm in irgendeiner Form zu nützen, Und obendrein war er als Bittsteller nie besonders gut gewesen. Das war einer der Gründe, warum er sich überhaupt auf die Seite der Rebellion geschlagen hatte.

Julian dachte mit reuigem Lächeln an seine frühen Tage bei den Rebellen zurück. Er war so jung gewesen, so überzeugt von sich – bereit, auf jeden Einsatz zu gehen, jedes Risiko auf sich zu nehmen, solange es nur der Sache diente. Rückblickend mußte er einräumen, daß er es überwiegend des Nervenkitzels und der wilden Aktion halber getan hatte. Dabei vollbrachte er jedoch viel Gutes und rettete ebenso viele Menschenleben, wie er nahm. Die neue Regierung wollte ihm schließlich alle möglichen Auszeichnungen verleihen, aber er lehnte höflich ab. Er fand einfach nicht, daß er sie verdient hatte, weil ihm alles soviel Spaß gemacht hatte.

Bis ihn das Imperium gefangengenommen, in eine Verhörzelle gesteckt und den Folterknechten übergeben hatte.

Nur weil ihn seine einzige wahre Liebe, SB Chojiro, verraten hatte. Sie brach sein Herz, die Folterknechte brachen seinen Mut, und obwohl ihn Finlay Feldglöck schließlich rettete, war er später nie mehr der alte.

Er seufzte und gab sich Mühe, die alten und bitteren Gedanken zu verbannen. Falls er schon starb, war er entschlossen, aus dem ihm verbliebenen Leben das Beste zu machen. Ein bißchen Spaß zu haben, solange es noch ging. All das zu tun, was er sich schon immer gewünscht, aber nie verwirklicht hatte, weil die Rebellion dazwischengekommen war. Zwar hatte er seine Zeit als Rebell genossen und einen fairen Anteil an den Abenteuern und noch mehr gehabt, aber trotzdem hatte die Rebellion rasch sein ganzes Leben ausgefüllt. Nie war Zeit, sich zu entspannen, ganz loszulassen, mit ein paar Freunden eine schöne Zeit zu verbringen. Die Rebellion war sein Leben gewesen.

Und dann nahm sie es ihm weg. Durch den Sieg.

Er konnte nicht mehr auf Abenteuer losziehen. Seine Tage als Kämpfer waren vorüber. Die neue Ordnung fand schon keine Verwendung mehr für ihn, ehe seine Hinfälligkeit sichtbar wurde. Seine Art zu kämpfen, einfach aufs Ziel loszugehen und alle Folgen zum Teufel zu wünschen, kam außer Mode. Heutzutage geschah alles per Diplomatie, mit sorgfältig ausgearbeiteten Verträgen und Kompromissen, die in raucherfüllten Zimmern Gestalt annahmen. Normalerweise, während ein Vertreter des Schwarzen Blocks von der Seitenlinie aus leise Ratschläge erteilte. Alles war heutzutage Politik, und davon verstand Julian nichts.

Er hatte überlegt, nach Hakeldamach zurückzukehren und seine letzten Tage im Sommerland zu verbringen, aber das ging einfach nicht. Sein Tod hätte die Spielkameraden zu sehr erschreckt.

Die meisten seiner Freunde waren tot. Es war ein harter Krieg gewesen, und die Rebellion hatte junge Männer und Frauen so rasch verschlungen, wie sie sie rekrutieren konnte.

Julian lernte dabei auf die harte Tour, sein Herz nicht zu sehr an jemand anderen zu hängen. Sein einziger echter Freund war Finlay Feldglöck, und heutzutage war der alte Assassine in beinahe so schlechter Verfassung wie Julian. Bei Finlay lösten sich schon seit geraumer Zeit die Nähte, und je mehr Julian zu helfen versuchte, desto mehr stieß Finlay ihn weg.

Ansonsten war der einzige, den Julian wirklich bewunderte, der legendäre junge Jakob Ohnesorg gewesen. Julian kam nie richtig darüber hinweg, daß er einer Furie Gefolgschaft geleistet hatte, einer Kriegsmaschine von Shub in Gestalt eines Menschen. Er vernichtete die Furie mit seiner ESP, aber das half nicht. Es schien, als würde Julian jedesmal, wenn er sich überwand, jemandem sein Vertrauen zu schenken, von ihm verraten.

Er hatte den Mörder seines Bruders Auric getötet, den Maskierten Gladiator, und wenigstens darauf konnte er stolz sein.

Er hätte den Mistkerl ein Dutzend mal umbringen können, ohne der Sache überdrüssig zu werden.

Und doch – trotz all seiner Erfolge im Dienst der Rebellion war er letzten Endes nicht dabeigewesen. Hatte es nicht rechtzeitig geschafft, mit in die Hölle vorzustoßen, in die Löwenstein ihren Hof verwandelt hatte, hatte nicht mitverfolgen können, wie die Eiserne Hexe vom Thron gezerrt und vor aller Welt gedemütigt wurde. Er sah sich später die Holoaufzeichnung an, aber das war nicht dasselbe. Er hätte dabei sein sollen.

Er hatte sich gewünscht, daß sie sein Gesicht sah und wußte: Er hatte mitgeholfen, sie zu stürzen. Für dieses Recht hatte er eigentlich bezahlt gehabt, bezahlt durch Blut und Leid und den Verlust von Freunden.

Soviel Bitterkeit in einem kurzen Leben! Je mehr Julian darüber nachdachte, desto mehr schien es ihm, als wäre er nur zweimal im Leben wirklich glücklich gewesen: In den Jahren, die er zusammen mit seinem geliebten älteren Bruder Auric verbrachte, und in den Monaten in Gesellschaft der Frau, die sie beide liebten, SB Chojiro.

Auric ging später fort, verließ ihn. Auric forderte den Maskierten Gladiator in der Arena zum Kampf und hoffte dabei, daß er den Clan Chojiro genügend beeindruckte, um die liebreizende SB heiraten zu dürfen. Er rechnete nicht damit, das Duell zu gewinnen, dachte sich jedoch, wenn er nur einen ordentlichen Kampf lieferte, würden die Zuschauer ihn mit aufgerichteten Daumen ehren. Die Menge freute sich immer über einen tapferen Außenseiter. Der Maskierte Gladiator brachte ihn jedoch trotzdem um.

Julian hatte SB aufgesucht, um sie zu trösten, und sie weinte in seinen Armen, und er weinte ebenfalls. Es dauerte nicht lange, da verliebten sie sich ineinander, und er war eine Zeitlang so glücklich!

SB Chojiro war das einzig unerledigte Geschäft seines Lebens. Er wußte immer noch nicht so recht, welche Gefühle er für sie hegte. Ein Teil von ihm sehnte sich so danach, sie zu töten, daß er es regelrecht auf der Zunge schmeckte. Sie sollte leiden, wie er gelitten hatte. In der Offenheit seiner jungen Liebe hatte er ihr von seiner Rolle in der Rebellion berichtet, und sie lieferte ihn den Folterknechten aus, ohne es sich zweimal zu überlegen – denn schließlich gehörte sie zum Schwarzen Block.

Er überlegte, sie ein letztes Mal zu besuchen. Ihrer unbewältigten Beziehung auf die eine oder andere Art ein Ende zu machen. Es würde nicht leicht sein, eine Audienz bei einer so populären und vielbeschäftigten Person zu erhalten, aber er war ziemlich sicher, daß er eine Chance hatte. SB war sehr wichtig geworden, aber Julian selbst war auch nicht gerade eine Persönlichkeit von geringer Bedeutung. Seine Holoserie hatte ihn zu einem der besser bekannten Helden der Rebellion gemacht.

Das Publikum liebte ihn, oder zumindest die Version von ihm, die es wöchentlich in der Serie gezeigt bekam. Er hatte sogar einen eigenen Fanclub. So viele Briefe trafen ein und so viele Bitten um Fotos, daß er eine Sekretärin hatte einstellen müssen, die sich darum kümmerte. Vor ein paar Wochen allerdings hatte er sie ziehen lassen. Die Nachfrage nach Bildern war zurückgegangen, als sich seine körperliche Verfassung verschlechterte und die Briefe allmählich ausblieben.

Niemand wußte jedoch, wie krank er wirklich war. Weiterhin erhielt er Einladungen zu diversen gesellschaftlichen und politischen Anlässen. Eine Menge Clans hatten festgestellt, daß sie großzügig genug sein konnten, um über den geringen Rang seines Hauses hinwegzusehen, vor lauter Eifer, ihn mit einer ihrer noch ungebundenen Töchter zu verheiraten. Ein Rebellenheld wie Julian Skye wäre ein ausgezeichneter Sprecher für jeden Clan, der entschlossen war, in der neuen Ordnung zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft zu werden. Viele hatten eine Charme-Offensive eingeleitet und präsentierten ihm jedesmal, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigte, hübsche Gesichter, ja schubsten sie regelrecht auf ihn zu. Julian hatte es sich gefallen lassen. Er tanzte so gern, und es schmeichelte seinem Ego, jedesmal ein hübsches Mädchen am Arm zu haben, wenn er in den Nachrichten und den Boulevardmagazinen zu sehen war. Ein kleiner kindischer Teil von ihm hoffte, daß SB zusah.

Der Clan Chojiro allerdings hatte ihm nie nachgestellt. SB hielt nichts vom Betteln. Wahrscheinlich wartete sie immer noch darauf, daß er zu ihr kam.

Julian richtete sich kerzengerade in seinem Sessel auf und tätigte einen Anruf beim Clan Chojiro. Rasch tauchte auf dem Wandmonitor ein ernstes, kaltes Gesicht auf, das Julian als zum gegenwärtigen Oberhaupt des Chojiro-Sicherheitsdienstes gehörig erkannte. Wahrscheinlich genoß Julians Name besondere Aufmerksamkeit. Er zeigte dem Sicherheitsmann das Beste, was er an einschüchterndem Lächeln draufhatte, stellte sich offiziell vor und bat um ein Gespräch mit SB. Der Sicherheitschef erwiderte das Lächeln und sagte, er würde sehen, was er tun könne. Sein Gesicht verschwand vom Bildschirm und wich dem beruhigenden Anblick eines Bächleins, das durch einen Wald floß, begleitet von sanfter, klimpernder Musik. Julian runzelte die Stirn. Er haßte es, wenn man ihn warten ließ. Das letzte Mal, als es zu lange gedauert hatte, zog er sämtliche Kleider aus und wedelte damit herum, als die andere Seite sich wieder meldete. Die Kirche würde diesen Fehler nicht wiederholen. Der Bildschirm sprang um und zeigte ein vertrautes Gesicht.

Julian zog eine Braue hoch. »Kardinal Brendan! Ich denke nicht, daß Ihr schon eingeräumt habt, heutzutage Kontakte zum Schwarzen Block zu unterhalten.«

»Offiziell tue ich es nicht, aber Ihr seid ein besonderer Fall.

Schön, Euch wiederzusehen, Julian. Ihr seht sehr gut aus.«

»Vielleicht sollte ich Euch die Adresse meines Optikers nennen. Schmeichelt mir nicht, Kardinal! Ich weiß, wie ich aussehe. Und nun: Warum rede ich mit Euch und nicht mit SB?«

»Ich fürchte, sie möchte zur Zeit nicht mit Euch sprechen, Julian. Ihr müßt das verstehen; Ihr und SB habt Euch unter sehr unglücklichen Umständen getrennt, und sie hegt die völlig berechtigte Befürchtung, Ihr könntet ihr nach wie vor Übles wünschen.«

»Na, warum sollte sie sich so etwas denken?« fragte Julian freundlich. »Nur weil sie mich verraten und den sanften Händen der imperialen Folterknechte ausgeliefert hat?«

»Damals herrschten andere Umstände«, gab Brendan zu bedenken. »Ich bin sicher, wir haben alle damals Dinge getan, die wir inzwischen bereuen. Die neue Ordnung bietet uns allen die Möglichkeit, neu anzufangen.«

»Spart Euch die hübschen Reden«, konterte Julian. »Ihr wart damals ein schleimiger Widerling und seid es noch heute, und wenn Ihr sterbt, wird man Euch nicht begraben müssen, sondern kann Euch einfach in den nächsten Abfluß schütten und Euch damit zu all der übrigen Scheiße hinzugießen. SB hat Euch eine Nachricht für mich anvertraut. Hört auf damit, Euch wichtig zu machen, und übermittelt sie mir.«

»Wie Ihr wünscht«, reagierte Kardinal Brendan völlig ungerührt. »SB hat mich gebeten, Euch zu sagen, daß sie nach wie vor warme Gefühle für Euch hegt, aber daß Ihr sie nur dann wiedersehen dürft, wenn Ihr beweist, daß Eure Gefühle ebenso aufrichtig sind.«

»Und wie schlagt Ihr vor, soll ich das tun? Mit einem Blumenstrauß, einer Schachtel Pralinen, der Leiche eines Feindes?

Gebt mir ein Stichwort, Kardinal; ich bin in großzügiger Stimmung.«

»Ihr müßt Eure guten Absichten beweisen, indem Ihr ihr den größten Feind der Chojiros hilflos gefesselt übergebt.«

»Ich dachte immer, das wäre ich, aber Frauen können so wankelmütig sein. Welches arme Schwein schwebt ihr vor?«

»Finlay Feldglöck.«

Julian starrte den Monitor lange an. »Ihr möchtet den Feldglöck?«

»Euren Freund, ja. Euren standhaftesten Bundesgenossen in der Rebellion. Wie könntet Ihr SB besser Eure Hingabe zeigen?«

»Sollte ich je erfahren, daß das Eure Idee war…«

»Ich bin nur der Übermittler, Julian. Aber selbst ein gescheiterter Schmierenkomödiant wie Ihr müßte eigentlich wissen, daß nichts wirklich Wertvolles zu haben ist, ohne dafür zu bezahlen. Wieviel ist Euch SBs Liebe wert? Und der Feldglöck war in jüngster Zeit auch kein großer Freund von Euch. Wie lange dauert es noch, bis er sich gegen Euch wendet wie gegen so viele seiner alten Bundesgenossen? Er ist kein glücklicher Mensch. Macht seinem und Eurern Elend ein Ende. Und beweist gleichzeitig, was Ihr wert seid.«

»Verrat«, sagte Julian Skye. »Ist das alles, worauf Ihr Chojiros Euch versteht?«

»Was für ein hartes Wort! Sagen wir doch lieber, daß der Clan Chojiro jemanden bewundert, der stark genug ist, um nach eigenen Regeln zu leben. Und der weiß, welches seine wirklichen Freunde sind. Darf ich SB also darüber informieren, daß sie bald ein Paket zu erwarten hat?«

»Ich denke darüber nach«, antwortete Julian und trennte die Verbindung.

Flynn betrat Toby Shrecks Büro im Hautquartier der Imperialen Nachrichten und sah sich geringschätzig um, während er die Tür mit der Ferse hinter sich zudrückte. Er trug die übliche Arbeitskleidung, hatte sich aber nicht verkneifen können, eine Spur Wimperntusche und Rouge aufzutragen. Er schniefte laut und fixierte Toby mit einem vernichtenden Blick. »Du hast das Büro wieder mal umdekoriert, wie ich sehe. Mir gefällt es immer noch nicht. Wirklich, Toby, all diese Hochtechnologie und polierten Oberflächen passen nicht zu dir! Was hier fehlt, ist ein weiblicher Touch. Bevor die Stilpolizei auftaucht und hier im Interesse der geistigen Gesundheit eine Brandbombe hineinwirft. Was dieses Büro braucht, sind freundliche Pastelltöne und große Blumensträuße überall. Blumen bereichern einen Raum.«

»Oh, gut«, versetzte Toby, der über die Papiere auf seinem Schreibtisch gebeugt saß. »Ich bin mit meiner Arbeit im Rückstand, die Gewerkschaften machen erneut Schwierigkeiten, und jetzt bist auch du aufgetaucht, um mich zu ärgern. Und wage ja nicht, irgendwelche Blumen hereinzubringen! Ich kann nicht gut mit Pflanzen umgehen, Flynn. Das weißt du. Ich muß nur an einer Blume vorbeigehen, und sie stirbt sofort an Vernachlässigung, aus reiner Bosheit mir gegenüber. Mir gefällt mein Büro so, wie es ist, vielen Dank auch. Obendrein bist du kaum in einer Position, um mit Steinen zu werfen. Falls ich dich hier losließe, würdest du die Wände mit Holobildern von Kindern mit großen Augen tapezieren und unter jedem Gegenstand ein Spitzendeckchen ausbreiten.«

»Und was stimmt nicht mit Spitzendeckchen?« erkundigte sich Flynn frostig. »Ein paar hübsche Spitzen vollbringen Wunder, um ein Zimmer fröhlicher zu gestalten.«

»Was tust du hier, Flynn?« fragte Toby geduldig. »Der Tag ist vorbei. Die Arbeit ist erledigt. Geh nach Hause und ärgere jemand anderen.«

»Das tue ich, sobald du mit gutem Beispiel vorangehst, Toby.

Ich dachte, du freust dich vielleicht, wenn ich dich mitnehme.«

»Danke, aber ich muß erst noch durch eine halbe Tonne Papierkram waten. Du glaubst ja nicht, was alles auf diesem Schreibtisch landet. Ich schwöre, daß es Leute in diesem Haus gibt, die nach einem Vindaloo-Curry nicht aufs Klo gehen können, ehe ich nicht vorher das entsprechende Formular unterzeichnet habe. In dreifacher Ausfertigung. Ah, verdammt…

Möchtest du einen Schluck Tee, Flynn? Das gehört zu den wenigen Dingen, die hier richtig gemacht werden.«

»Dazu sage ich nicht nein.«

Toby drückte den Interkom-Schalter. »Fräulein Lovett, bitte eine Tasse Tee für Mr. Flynn.«

Flynn zog eine ausgezupfte Braue hoch. »Seit wann bist du so förmlich?«

Toby zuckte die Achseln. »Vom Boß wird das erwartet. Ich habe versucht, die Sache formlos und entspannt anzugehen, als ich hier einzog, aber die Leute haben sich dabei einfach nicht wohlgefühlt. Ich schätze, es ist schwierig, locker und spontan mit jemandem umzugehen, der einen mit einem Tritt in den Hintern feuern kann, nur weil er morgens mit Kopfschmerzen zur Arbeit gekommen ist.«

Die Tür ging auf, und eine junge Frau mit kaum irgendwelchen Kleidungsstücken und einem wahrhaft erstaunlichen Dekollete schwankte auf unmöglich hohen Absätzen herein. Sie lächelte Flynn breit an, zeigte dabei perfekte Zähne von blendendem Weiß und präsentierte ihm eine dampfende Tasse Tee.

»Danke, meine Liebe«, sagte Flynn liebenswürdig. »Wißt Ihr, ich finde Eure Ohrringe einfach toll! Ihr müßt mir verraten, woher Ihr sie habt.«

»Tauche nur mit sowas im Büro auf, und du bist gefeuert, Flyrun«, warf Toby ein. »Danke, Fräulein Lovett. Das wäre für den Moment alles.«

Die junge Dame kicherte aus keinem erkennbaren Grund, hievte ihr Dekollete Richtung Tür und schwankte hinaus. Flynn sah Toby an.

»Sie ist meine Sekretärin«, erklärte Toby abwehrend. »Sie nimmt Diktate auf.«

»Ja«, sagte Flynn, »da wette ich. Ich setze auch gutes Geld darauf, daß sich ihr IQ auf Zimmertemperatur bewegt und sie soviel Persönlichkeit hat wie ein Stück Schnur.«

»In Ordnung, sie ist eine Puppe, wie ich zugeben muß. Für die richtige Sekretärsarbeit habe ich jemand anderen. Fräulein Lovett ist eher so etwas wie… Bürodekoration. Etwas, womit ich die Gewerkschaftsbosse ablenken kann, wenn sie mit ihren aktuellen Gehaltsforderungen hereinspazieren. Das obere Management hat mir Fräulein Lovett zugewiesen. Sie dachten, ich würde dann länger im Büro arbeiten. Um die Wahrheit zu sagen, geht mir das Mädchen fürchterlich auf die Nerven. Ihre Stimme würde Schafe in die Flucht jagen; sie hat keinerlei Talente, über die man in feiner Gesellschaft diskutieren könnte, und bei ihrem Lachen lösen sich glatt die Tapeten von den Wänden. Ich brauchte zwei Wochen, um ihr beizubringen, wie man Tee kocht. Ich würde sie ja feuern, wenn es ihr nicht das Herz bräche.«

»Das Leben der Topleute ist wirklich hart«, meinte Flynn.

»Wohl gesprochen!« bekräftigte Toby. »Dabei möchte ich nur etwas Arbeit erledigen. Echte Arbeit. Ich kann nicht einfach den ganzen Tag herumsitzen, Flynn, die richtigen Kästchen abhaken und dort unterschreiben, wo es mir gesagt wird.

Das entspricht nicht meinem Naturell. Ich muß etwas Reelles anpacken. Etwas, worauf es ankommt. Ich hatte immer gedacht, mit der Autorität dieses Jobs könnte ich mich endlich um die Art wichtiger Stories kümmern, hinter denen ich schon immer her war. Aber so funktioniert es einfach nicht. Ich bin hier vielleicht der Boß, aber ich muß mich wiederum meinen Bossen gegenüber verantworten, den Leuten, denen die Imperialen Nachrichten gehören. Und sie würden mit Begeisterung auch Boulevardsendungen bringen, solange es ihre Gewinne nicht schmälerte. Jedesmal, wenn ich ein gutes Thema vorschlage, kommt von oben die Anweisung: Nur keine Wellen schlagen!

Sie sind gern Risiken eingegangen, als sie noch ein kleines Unternehmen waren und verzweifelt darauf erpicht, den großen Konkurrenten Quoten abzujagen. Jetzt sind sie selbst ein führendes Unternehmen und ganz nervös geworden, was meine Person angeht. Heutzutage haben sie etwas zu verlieren. Weißt du, Flynn… Eigentlich sollte ich glücklich sein. Ich habe es geschafft! Ich habe meinen Traumjob! Ich leite die Imperialen Nachrichten! Selbst meine Spesen stellt niemand mehr in Frage. Aber ich langweile mich, Flynn, langweile mich buchstäblich zu Tode.«

»Du kennst die Antwort, Chef. Wiederhole das, was du letztes Mal getan hast, als wir dieses Gespräch führten. Suche dir eine Story aus und gehe ihr persönlich nach. Geh hinaus ins Feld und sieh mal, wie eng am Wind du diesmal segeln kannst.

Ich stehe dir immer als Kameramann zur Verfügung. Für die Standardgebühren. Plus Gefahrenzulage.«

»Das würde ich ja gern, Flynn, aber… Ach verdammt! Zum Teufel mit ihnen allen. Falls ich noch länger in dieser Bude hocke, schlage ich Wurzeln. Ich kann meinen Stellvertreter immer mal eine Zeitlang ans Ruder lassen. Er ist nicht allzu clever und wird starr vor Angst, wenn ihn jemand anbrüllt, aber ich schwöre, daß er Papierkram tatsächlich liebt. Komm, Flynn. Legen wir mal den Gang ein. Wir müssen uns um eine Story kümmern.«

»Was, jetzt gleich? Ich hatte an irgendwann morgen gedacht.

Ich kann jetzt nicht mitkommen. Reinhold wartet mit einem heißen Kartoffelgericht auf mich.«

»Sag ihm, er soll es wieder in den Ofen stellen«, forderte Toby erbarmungslos. »Was mir vorschwebt kann nicht warten. Da sind ein paar Leute zu beackern, an die ich seit Wochen heranzukommen versuche, aber meine Reporter werden in einem fort abgewiesen und eingeschüchtert. Sehen wir mal, was ich ausrichten kann. Nach allem, was ich während der Rebellion durchgemacht habe, könnte man mich nicht mal mit einer Disruptorkanone auf Kernschußweite einschüchtern.«

»Ich habe des schreckliche Gefühl, daß ich etwas losgetreten habe, was zwangsläufig in Tränen endet«, sagte Flynn. »Übernimm die Führung, Boß. Wohin geht es zuerst?«

»Zum Parlamentspräsidenten in windiger Person, dem verdammten Elias Gutmann.«

Einen Termin bei Gutmann zu erhalten war leichter als erwartet. Sie hielten sich gar nicht erst mit einer fernmündlichen Bitte um einen Termin auf, weil Toby genau wußte, daß Gutmann nicht in ihren Besuch einwilligen würde. Also suchten er und Flynn direkt Gutmanns luxuriöses Stadthaus in einer der allerbesten Gegenden auf und erhielten Einlaß, indem sie die Lakaien bestachen. Als sie erstmal drinnen waren, bahnte sich Toby seinen Weg durch die Stafetten der inneren Sicherheit und Reihen von Grobianen, indem er eine Beharrlichkeit und Sturheit an den Tag legte, die zu verfolgen für Flynn die reine Freude war. Das war der Toby Shreck, den er von früher kannte eine unwiderstehliche Naturgewalt, die sich einen Weg um die meisten Hindernisse herum erschwatzte und die restlichen Barrieren einfach niedertrampelte. Als Toby und Flynn dem leitenden Butler in Gutmanns inneres Sanktum folgen, blieben Gutmanns Leute dumm stehen und fragten sich, was zum Teufel eigentlich über sie hinweggewalzt war.

Der Butler war eine große und hochmütige Person im altmodischen Frack, mit frostigen Manieren und ein klein wenig dezentem Makeup, und er zwinkerte Flynn einmal zu, als er glaubte, daß Toby gerade nicht hinsah. Er blieb schließlich vor einer massiven, mit feinen Schnitzereien verzierten Doppelholztür stehen. Er klopfte höflich an, öffnete mit einstudierter Pose und verkündete Tobys und Flynns Namen mit weittragender Stimme. Toby spazierte schnurstracks hin ein, direkt gefolgt von Flynn, über dessen Schulter eine Kamera schwebte.

Der Butler bezog auf der Innenseite Stellung an der Tür, nur für den Fall, daß er gebraucht wurde.

Gutmanns Quartier war erstaunlich geschmackvoll, was aber auch nicht mehr hieß, als daß er sich einen anständigen Innenraum-Designer leisten konnte. Eine Wand war mit Bücherregalen voller teurer, in Leder gebundener Ausgaben bedeckt, aber Toby hätte jederzeit gutes Geld darauf verwettet, daß Gutmann nicht eines dieser Bücher gelesen hatte. Wahrscheinlich hatte er sie im Meter erstanden. Gutmann selbst saß entspannt in einem technischen Wunderwerk von Sessel, der einfach alles für ihn tat, abgesehen davon, ihm die Nase zu putzen. Gutmann machte sich nicht die Mühe aufzustehen, als seine Besucher eintraten, also machte sich Toby nicht die Mühe mit der Verbeugung und den höflichen Grüßen, die die Förmlichkeit sonst verlangt hätte.

»Werft den Lakaien hinaus, Gutmann«, verlangte Toby barsch und legte damit einen Anfang in dem Stil hin, in dem er auch fortzufahren gedachte. »Ihr wünscht Euch bestimmt keinen Zeugen für ein paar der Dinge, über die wir diskutieren werden.«

»Ah, der berühmte Shreck-Charme«, versetzte Gutmann gewichtig. »Auf diese Weise müßt ihr an meinen Wachen vorbeigekommen sein. Die meisten von ihnen beziehen ab morgen Arbeitslosengeld. Ist schon in Ordnung, Jobe, du kannst gehen.

Ich läute, falls ich etwas brauche.«

Der Butler verneigte sich, bedachte Flynn noch mit einem längeren Blick und ging. Toby fixierte Gutmann mit einem so durchdringenden Blick, wie er ihn nur fertigbrachte. »Also, Elias, wie geht es Euren Hämorrhoiden?«

»Verglichen mit Eurer Gegenwart fallen sie nicht ins Gewicht. Ihr seid heutzutage der einzige richtige Schmerz in meinem Hintern. Was wünscht Ihr zu dieser späten Stunde?«

»Was ich immer möchte: Antworten. Angefangen damit, wie es ein öliger Geschäftemacher wie Ihr geschafft hat, zum respektierten Staatsmann zu werden.«

Gutmann zuckte gelassen die Achseln. »Durch meine zahlreichen und diversen geschäftlichen Tätigkeiten. Im Verlauf der Jahre habe ich eine Menge einflußreicher Kontaktleute in allen Lebensbereichen gefunden. Ich habe noch nie viel davon gehalten, alle meine Eier in einen Korb zu packen.«

»Ihr habt auch noch nie viel davon gehalten, sie zu versteuern«, sagte Toby. »Kommt schon, Elias! Alle Welt weiß, daß Ihr an jedem schmutzigen Geschäft beteiligt wart, das überhaupt lief. Eure Reputation war noch ein klein wenig schlechter als die der Hadenmänner. Wie habt Ihr es zum Parlamentspräsidenten gebracht?«

»Es geschah sehr zu meinem eigenen Erstaunen«, antwortete Gutmann. »Ich wollte meine Familie wieder aufbauen, die im Verlauf des Krieges so geschwächt worden war, daß sie sich sogar freute, mich wiederzusehen. Und als jemand, der über Mittel und Wege verfügt, fand ich mich in einer Stellung und mit einer Verantwortung wieder, die mir aufgenötigt wurden.«

»Einfach so.«

»Weitgehend. Ich hasse es, Euch zu enttäuschen, Toby, aber ich wurde zum Parlamentspräsidenten gewählt, weil die Mehrheit es wünschte. Keine Absprachen im Hinterzimmer, keine Bestechung, keine Erpressung, keine geheimen Versprechungen von Gunstbeweisen und Einfluß. Ich erhielt den Job, weil alle mich kannten und mir gleichermaßen mißtrauten. Und falls sie schon dumm genug waren, ihn mir anzubieten, war ich sicherlich dumm genug, ihn auch anzunehmen.«

»Ihr lebt in sehr angenehmen Verhältnissen«, stellte Toby fest und zog sich für den Augenblick auf sichereren Boden zurück. »Ein großes Haus in der besten Gegend der Stadt. Eine Armee von Dienern und alles, was Luxus zu bieten hat. Und falls dieses obszöne Portrait an der Wand das ist, wofür ich es halte, dann kostet es allein schon mehr als Eure Jahresdiät als Parlamentspräsident. Woher stammt Euer Geld heutzutage, Elias?«

»Ich wußte ja gar nicht, daß Ihr ein Auge für Kunst habt, Toby«, erwiderte Gutmann gelassen. »Und ja, es ist ein Original.

Erotika sind derzeit beliebte Sammlerobjekte. Ich erhielt das Bild zum Ausgleich ausstehender Schulden. Mein Geld stammt aus Anlagen, alle ganz öffentlich und korrekt. Meine Finanzen sind inzwischen Gegenstand öffentlicher Begutachtung. Ich bin absolut sauber. Ich kann es mir leisten. Es war ein guter Krieg für mich, in vieler Hinsicht.«

»Falls Ihr so sauber seid, warum gebt Ihr Euch mit der Rolle als Parlamentspräsident zufrieden? Ihr hättet selbst Abgeordneter werden können. Verdammt, Ihr hättet Premierminister werden können!«

»Ich bin lieber derjenige, der den Premierminister bestimmt.

Die graue Eminenz, sozusagen.«

»Und welche Politik verfolgt Ihr derzeit genau, Elias? Wo steht Ihr? Worauf seid Ihr aus? Ihr scheint auf furchtbar gutem Fuß mit praktisch jedermann zu stehen, einschließlich der extremen Randgruppen, die sonst niemand auch nur mit der Stange anfassen würde. Nirgendwo findet eine politische Versammlung egal welcher Couleur statt, wo Ihr nicht auf der Gästeliste erscheint. Oh, Verzeihung, sollte das ein Geheimnis sein? Ich habe mir Aufnahmen angesehen, die normalerweise nicht gesendet werden, und finde es erstaunlich, wie oft Ihr dort zu sehen seid. Egal, welch extreme oder abscheuliche Bestrebungen verfolgt werden oder wie viele Widerstände ihnen entgegenstehen, Ihr erscheint mittendrin, lächelt und schließt Bekanntschaften und Freundschaften. Jedermanns Kumpel. Würdet Ihr dazu gern einen Kommentar abgeben?«

Gutmann lächelte jetzt nicht mehr. »Ihr bewegt Euch auf gefährlichem Boden, Shreck. Zieht Euch lieber zurück!«

»Falls alles so unschuldig ist, warum möchtet Ihr nicht darüber sprechen? Ihr sagtet gerade, Ihr wärt inzwischen so furchtbar sauber. Warum freuen sich alle so, wenn sie Euch sehen, Elias? Was bietet Ihr ihnen an bei diesen kleinen Hinterzimmertreffen, denen sonst niemand beiwohnt?«

»Ich denke, es wird Zeit, daß Ihr geht«, erklärte Gutmann kategorisch. »Ich habe nichts weiter zu sagen. Und denkt ja nicht, daß Ihr irgendwelche Aufnahmen von diesem Gespräch senden könnt! Ich verfüge über verborgene Störeinrichtungen, die alle Aufnahmen verhindern.«

»Das denkt Ihr vielleicht«, warf Flynn ein. »Ich habe jedoch ein paar Modifikationen vorgenommen.«

Gutmann funkelte erst Flynn und dann Toby an. »Ich könnte meine Leute anweisen, diese Kamera zu zerstören.«

»Nein, könntet Ihr nicht. Das würde zu viele peinliche Fragen nach sich ziehen.« Toby lächelte Gutmann an. »Im Gegensatz zu Euch wird mir Glauben geschenkt.«

»Ich spreche mit Euren Vorgesetzten«, warnte ihn Gutmann.

»Ihr erhaltet dann von dort Anweisung, was Ihr bekanntmachen sollt.«

»Ich bin der Boß«, entgegnete Toby.

Gutmann lächelte kalt. »Eine meiner Investitionen habe ich in das Kommunikationswesen gesteckt. Mir gehören vierzig Prozent der Imperialen Nachrichten.«

Toby schenkte ihm seinerseits ein kaltes Lächeln. »Denkt Ihr vielleicht, das würde mich aufhalten? Es bleiben immer noch andere Unternehmen. Ich bin heutzutage ein heißer Tip. Alle möchten mich einstellen. Zeit zu gehen, Flynn. Macht Euch nicht die Mühe, den Lakaien zu rufen, Elias. Wir finden den Weg selbst.«

Sie entfernten sich etwas eilig, nur für den Fall, daß Gutmann zu dem Entschluß gelangte, ihm wäre sein öffentliches Image dieses eine Mal egal. Als Toby und Flynn wieder draußen auf der Straße in der kühlen Abendluft standen, musterten sie einander nachdenklich.

»Na ja«, sagte Flynn. »Das war interessant.«

»Jawohl«, pflichtete ihm Toby bei und rieb sich die Hände.

»Ich hatte dir ja gesagt, daß hier eine Story auf uns wartet! Ich wünschte nur, ich wüßte, worum zum Teufel es dabei geht. Wir müssen noch etwas mehr in Unterlagen und Archiven kramen.

Mal sehen, bei wem sich Elias jüngst eingeschmeichelt hat, von dem wir nichts erfahren sollen. Könnte sich als interessant erweisen, mal festzustellen, ob er mit irgend jemandem nicht spricht. Auch daraus erfahren wir vielleicht etwas… Eines ist allerdings komisch: Ich hatte erwartet, er würde uns einen härteren Kampf liefern. Und die Drohungen waren so… durchsichtig. Früher war er subtiler.« Toby bedachte Flynn mit einem scharfen Blick. »War diese Äußerung über deine Kamera ein Bluff? Haben wir irgendwas von diesem Gespräch aufgenommen?«

»Je nachdem«, antwortete Flynn. »Ich verbessere meine Kamera regelmäßig, aber die wirklich wichtigen Leute achten darauf, immer über die modernsten Sicherheitseinrichtungen zu verfügen. Ich weiß es erst mit Sicherheit, wenn ich wieder im Labor bin.«

»Nun, das wird warten müssen«, stellte Toby fest. »Wir müssen erst noch einen weiteren Besuch machen. Diesmal eine Familienangelegenheit. Es geht um meine liebe Tante Grace, die an Stelle des verabscheuten Gregor Clan-Oberhaupt ist. Sie leistet dabei einen sehr guten Job, nach allem, was man hört.

Was interessant ist, denn die Grace, die ich von früher kenne, hätte nicht mal Buh! zu einer Gans gesagt, die ihr auf die Schuhe scheißt. Sie war ein schüchternes, in sich gekehrtes Geschöpf, die gute Tante Grace, und sie lebte in ihren Erinnerungen an eine Zeit, als alles noch einfacher war. Gregor mußte sie durch Schikanen überreden, überhaupt bei Hofe zu erscheinen. In jüngster Zeit taucht die liebe Grace aber voller Energie im Rampenlicht auf und entwickelt sich zu einer bedeutenden Gestalt des gesellschaftlichen Lebens. Irgend etwas hat sie schließlich aufgeweckt, und ich möchte erfahren, was das war.«

»Aber… ist das nicht eine gute Veränderung?« fragte Flynn.

»Freut es dich nicht, daß sie aus ihrem Schneckenhaus gekommen ist?«

»Sie ist immer noch eine Shreck«, sagte Toby. »Und wir tun nie etwas ohne wenigstens einen einzelnen Hintergedanken.«

»Ach ja«, versetzte Flynn. »Und welches ist deiner bei diesem Besuch?«

Toby lächelte. »Meine Kusine Clarissa. Sie ist die ganze Zeit bei Grace geblieben, seit der Todtsteltzer sie aus der Knechtschaft als eine von Löwensteins Zofen befreit hat. Ein hübsches junges Ding und richtig süß. Ich dachte, ich sehe mal nach, wie es ihr so geht.«

»Du alter Weichling«, sagte Flynn. »Warte mal! Ich dachte, sie wäre deine Schwester?«

»Halb Schwester und halb Kusine«, antwortete Toby und zuckte gelassen die Achseln. »Wir sind nun mal eine Familie dieser Art.«

Es war nicht weit bis zu Grace Shrecks Stadthaus; sie wohnte in derselben mondänen Gegend wie Gutmann. Private Sicherheitssysteme überwachten die Straßen und behielten jeden im elektronischen Blick, der den Eindruck erweckte, er würde hier nicht hingehören. Flynn allein wäre sofort angehalten worden, aber alle Welt kannte Toby Shreck. Das Shreck-Stadthaus gehörte der Familie seit Generationen und sah auch danach aus.

Die alten Steinmauern waren durch Alter und Umweltverschmutzung verblaßt, und die einst tadellosen Gärten hatte man verwildern lassen. Über die Fassade des Hauses rankten sich dicke Matten alten Efeus, die niemand antastete, teils aus einem Gefühl für Tradition, teils aus Argwohn, er könnte das einzige sein, was manches von dem Mauerwerk intakt hielt.

Die Fenster waren nur in einer Richtung durchsichtig und wandten der Außenwelt leere, gleichgültige Augen zu. Und Toby wußte genau, daß versteckte Geschütze überall montiert waren, um ungebetene Gäste abzuschrecken. Schließlich war dies ein Anwesen der Shrecks.

Früher war das Anwesen Heim und Zuflucht der meisten Shrecks gewesen, aber mit der Errichtung der Pastelltürme sank es auf den Rang eines bloßen Stadthauses hinab, wo Familienmitglieder, die in Ungnade gefallen waren, ein Weilchen bleiben konnten. Jetzt diente das große Herrenhaus mit seinen vier Flügeln allein Grace als Heim, wobei ihr eine kleine Armee von Dienern Gesellschaft leistete. Grace hielt viel davon, den Anschein zu wahren.

»Die meisten Zimmer stehen heute leer«, erklärte Toby Flynn, während sie mehr oder weniger geduldig vor dem Hauptsalon warteten. Der Butler war gerade hineingegangen, um sie anzukündigen, und ließ sich offensichtlich Zeit. Toby hätte gar nicht gedacht, daß so viel anzukündigen war. Hier konnte er jedoch nicht einfach hereinplatzen wie bei Gutmann.

Das hier war seine Familie. »Eigentlich eine Verschwendung.

Wenn man die Gegend bedenkt, könnten wir das Anwesen für ein ordentliches Sümmchen verkaufen. Grace gibt es allerdings nicht her, solange sie lebt. Es ist ihr Zuhause.«

»Und es ist wirklich eindrucksvoll«, fand Flynn. »Hätte ich gewußt, daß wir etwas so Piekfeines besuchen, wäre ich mal kurz nach Hause, um mir das beste Kleid und echte Diamanten anzulegen. Ein Mädchen macht schließlich gern den allerbesten Eindruck.«

»Das solltest du vor Grace nicht mal andeuten«, sagte Toby entschieden. »Sie ist ein bißchen altmodisch und leicht zu schockieren. Um irgendwas von ihr zu erfahren, brauche ich sie entspannt und locker.«

»Das ist ein wenig kaltblütig, oder? Ich meine, sie ist deine Tante!«

Toby lächelte. »Aber wir beide sind Shrecks. Werde da drin bloß nicht unvorsichtig, Flynn! Sie könnte dich in Stücke reißen, wenn ihr der Sinn danach steht.«

Der Butter, der einen förmlichen Gehrock und eine gepuderte Perücke trug, tauchte endlich wieder auf, um sie in den Hautsalon zu geleiten. Der Raum war groß genug, um die Pinasse eines Raumschiffs aufzunehmen, und war randvoll mit antiken Möbeln und unbezahlbaren Kunstwerken, wie man sie normalerweise nur in Museen gezeigt bekam. Riesige Familienportraits hingen an den Wänden, Generationen von Shrecks, aufgemacht in den unterschiedlichsten Stilrichtungen, aber alle mit den gleichen finsteren Gesichtern und kalten Augen.

Gutmanns Bleibe wirkte daneben eindeutig rustikal.

»Mann!« sagte Flynn schließlich. »Wie die obersten Zehntausend wohnen! Ich wußte ja nie, daß deine Familie so reich ist, Boß.«

»Sind wir gar nicht«, sagte Toby. »Wir waren es früher. Einzelne Stücke hier könnten die Familien schulden eines ganzen Jahrzehnts ausgleichen, aber Grace ist nicht bereit, sich auch nur von einem zu trennen. Solange sie in der Lage ist, sich weiterhin mit all diesem Zeug zu umgeben, kann sie sich auch einreden, der Clan Shreck wäre noch der gleiche wie früher und nichts hätte sich wirklich verändert.«

»Immerhin«, sagte Flynn, »ich wette, es ist mörderisch, in diesem Raum Staub zu wischen. Das machen sie wohl in Schichten.«

Und dann wurden sie endlich Grace Shreck vorgeführt. Toby und Flynn verneigten sich formell. Grace senkte königlich das Haupt. Sie saß in der Tiefe eines riesigen und sehr bequem wirkenden Sessels, der genau den richtigen Abstand vom prasselnden Feuer in dem großen Kamin hatte. Der Butler gab zwei bereitstehenden Dienern, ebenfalls in Gehrock und gepuderter Perücke, einen Wink, und sie eilten mit zwei antiken Stühlen herbei und stellten sie in genau der richtigen Entfernung von Grace auf, so daß Toby und Flynn ihr gegenüber Platz nehmen konnten. Sie setzten sich vorsichtig auf die zierlich wirkenden Stühle, die noch unbequemer waren, als sie schon aussahen.

Grace lächelte ihre Besucher an und gab dem Butler einen Wink, ohne sich umzudrehen. Er und die beiden Diener verließen den Raum und gingen die ganze Strecke rückwärts. Grace wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, und schniefte abschätzig.

»Diener… es ist heutzutage so schwierig, gutes Personal zu finden. Man muß so vorsichtig sein, was man in ihrer Gegenwart sagt! In meiner Jugend hätte es kein Familiendiener gewagt, ein Geheimnis oder überhaupt etwas über die Belange des Dienstherrn auszuplaudern, was er womöglich mitgehört hat, aber heute hat keiner mehr ein Gefühl für Loyalität. Alle lauschen ständig nach Klatsch, den sie an die Medien für ihre Skandalsendungen verhökern können. Egal, ob es nun stimmt oder nicht, solange es nur eine gute Story abgibt – so lautet ihre Einstellung. Ich hoffe wirklich, daß Eure Kamera da nicht läuft, junger Mann! Ich nehme meine Privatsphäre sehr ernst.«

»Wir nehmen nichts ohne deine Einwilligung auf, Tantchen«, erklärte Toby rasch.

Grace schniefte erneut. »Du nennst mich nur Tantchen, wenn du etwas von mir willst, Tobias. Was ist es diesmal? Wieder ein Darlehen?«

»Diesmal nicht, Tantchen, danke sehr. Wie es der Zufall wollte, habe ich in der Gegend gerade ein anderes Haus besucht und dachte mir, da könnte ich auch gleich bei dir hereinschneien und mal sehen, wie es dir geht. Und Clarissa.«

»Oh, daher weht also der Wind, wie? Dachte ich mir doch, daß ich bei ihrem Anblick ein Funkeln in deinen Augen sah, als du dich das letzte Mal herabgelassen hast, mich zu besuchen.

Ihr geht es sehr gut, Tobias. Was das arme Dinge ertragen mußte, hätte eine schwächere Person zerbrochen, aber natürlich hat Clarissa gutes altes Shreck-Eisen in den Knochen. Sie schafft das schon. Ich schicke gleich nach ihr. So, mein Neffe, du kannst mir jetzt einen Kuß auf die Wange geben und endlich zum wirklichen Zweck deines Besuchs kommen. Du kannst mich nicht täuschen, Tobias! Du bist nicht zu so später Stunde erschienen, nur um zu fragen, wie es mir geht, und um Clarissa schöne Augen zu machen.«

Toby grinste, stand auf, um Grace einen züchtigen Kuß auf die gepuderte Wange zu geben, und setzte sich wieder. »Du durchschaust mich immer, Tantchen. Ich brauche deine Hilfe für eine Reportage, an der ich gerade arbeite und die davon handelt, wie sich die Familien in der neuen Ordnung umorganisieren. Und eins muß man sagen: Du hast das Ansehen des Clans stark verändert, seit du die Leitung übernommen hast.«

Grace machte ein finsteres Gesicht. »Nicht, daß ich in dieser Frage eine Wahl gehabt hätte. Gregor war schon seit Jahren verrückt, aber solange er das Prestige der Familie wahrte, wollte niemand etwas hören, was gegen ihn gerichtet gewesen wäre. Als er schließlich ganz durchtickte und sich in seinem Turm verbarrikadierte, war klar geworden, daß jemand ihn als Oberhaupt ablösen mußte, ehe der Clan auseinanderfiel. Du warst nicht interessiert, und die übrigen höherrangigen Familienmitglieder waren zu sehr in Intrigen gegeneinander verwickelt, so daß die Bürde mir zufiel. Die einzige Senior-Shreck, die jeder akzeptieren konnte. Es war nicht leicht, aber ich denke gern, daß ich etwas bewirkt habe.«

»Das hast du ganz sicherlich, Tantchen«, sagte Toby vorsichtig. »Unter deiner Leitung sind die Shrecks in großem Stil wieder in die Politik eingestiegen. Ich wußte ja gar nicht, daß du dich mit aktueller Politik so gut auskennst.«

»Ich habe nun einmal einen Monitor, junger Mann, und ich sehe mir durchaus andere Sachen an als diese schrecklichen, niemals endenden Seifenopern. Und ich habe Ratgeber. Viele Ratgeber. Möchte einer von euch eine Tasse Tee?«

»Das wäre sehr schön, Lady Shreck«, antwortete Flynn.

Grace bedachte ihn mit einem beifälligen Blick. »Ich freue mich, daß manche jungen Leute immer noch gute Manieren zeigen. Im Gegensatz zu anderen, deren Namen ich nennen könnte, was ich aber nicht tue. Möchtest du auch Tee, Toby?«

»Eigentlich könnte ich etwas vertragen, was ein klein wenig stärker…«

»Du nimmst Tee.«

»Ich nehme Tee.«

Grace läutete, indem sie an einer handlichen Schnur zog.

»Sie werden eine Zeitlang brauchen, fürchte ich. Mit einer guten Tasse Tee darf man es nicht überstürzen, obwohl der Himmel weiß, daß mein Personal es versuchen würde, falls ich es duldete. Sie erzählen mir in einem fort von diesem Fertigzeug-Unsinn, als ob ich mich dafür interessieren würde. Manche Sachen muß man einfach richtig machen, und mehr ist dazu nicht zu sagen.«

»Wohnt Ihr schon lange hier, Lady Shreck?« erkundigte sich Flynn. »Ihr scheint Euch hier sehr wohl zu fühlen.«

»Oh, ich wohne schon hier, seit ich ein junges Mädchen war, vor mehr Jahren, als ich Interesse habe, mich zu erinnern. Mein Bruder Christian und seine Familie haben mir eine Zeitlang Gesellschaft geleistet, und wir hatten eine solch fröhliche Zeit zusammen. Bis er verschwand.« Grace runzelte die Stirn. »Ich bin seit eh und je überzeugt, daß Gregor dabei die Finger im Spiel hatte, konnte ihm aber nie etwas nachweisen. Und ich mußte schließlich an den Namen der Familie denken. Ein Skandal hätte uns ruinieren können.«

»Du hast nie erlaubt, daß überhaupt jemand das Thema auch nur zur Sprache brachte!« warf Toby scharf ein.

»Ich war besorgt, daß jemand, der zuviel Interesse an Christians Schicksal zeigte, es womöglich würde teilen müssen«, sagte Grace nicht weniger scharf. »Christian und Gregor haben sich nie verstanden. Das ist kein Geheimnis. Eines Tages haben sie sich heftig gestritten, genau hier in diesem Zimmer. Christian stürmte hinaus und ward nie mehr gesehen. Frage mich nicht nach weiteren Einzelheiten, Tobias, weil ich keine kenne.

Ich war zu dem Zeitpunkt nicht mal im Haus. Deine Mutter Helga hat nach Christian gesucht und ist ebenfalls nie wieder aufgetaucht. Nie wurde eine Spur von einem der beiden gefunden. Manchmal liebe ich es, der Vorstellung nachzuhängen, daß sich die beiden gefunden und entschieden haben, versteckt und in Sicherheit zu bleiben. Ich stelle mir gern vor, daß sie irgendwo glücklich leben, sicher und unentdeckt.«

»Warum haben sie sich dann nie bei mir gemeldet?« wollte Toby wissen.

»Gregor ließ dich ständig überwachen«, erklärte Grace sanft.

»Du warst der Köder. Ich habe dafür gesorgt, dich in meiner Nähe zu haben, habe dich beschützt, so gut ich konnte, bis ich schließlich einen sicheren Platz auf einem Internat für dich fand.«

»Vielleicht sollte ich Gregor fragen, was passiert ist«, überlegte Toby. »Ihn möglichst allein erwischen und sehr nachdrücklich befragen.«

»Davon rate ich dir ab, mein Lieber. Sehr wahrscheinlich würde er einfach Anweisung geben, dich zu erschießen, wenn man seine heutige geistige Verfassung bedenkt. Und ohnehin ist es ein bißchen spät, um solche Gefühle für deine verschwundenen Eltern zu zeigen, nicht wahr? Du bist ein Journalist, der den Dingen auf den Grund geht; du hättest schon vor Jahren mit der Suche beginnen können, falls du wirklich daran interessiert gewesen wärst.«

»Sie sind fortgegangen und haben mich zurückgelassen«, sagte Toby und blickte dabei zu Boden. »Sie sind nie zu mir zurückgekehrt. Und wie du wollte ich nie einen Beweis für ihren Tod finden. Solange sie offiziell als vermißt galten, bestand immer noch die Möglichkeit, daß sie eines Tages wieder auftauchten.« Für einen Moment wirkte er ziemlich verloren und verletzlich, aber dieser Augenblick ging vorüber, und er war rasch wieder ganz der alte. Er blickte auf und musterte Grace unverwandt. »Warum wurde ich nicht dem Schwarzen Block übergeben wie so viele meiner Altersgefährten?«

»Dein Vater war kein Freund dieser Gruppe, und Gregor hatte noch Verwendung für dich. Nicht, daß auch er ihnen je über den Weg getraut hätte! Gregor erwartete stets von jedem das Schlimmste, und im Fall des Schwarzen Blocks hat es ganz den Anschein, als würde er recht behalten. Der Diener hat sich zum Herrn aufgeschwungen. Nur ein weiterer Grund für mich, die politische Bühne zu betreten. Die Familie muß vor jedem Einfluß und jedem Druck bewahrt werden, der von außen stammt.

Ah, der Tee!«

Die Tür hatte sich lautlos geöffnet, und Toby und Flynn blickten auf und sahen, wie sich ihnen ein Diener näherte. Auf einem Silbertablett trug er eine silberne Teekanne sowie ein fein gearbeitetes Milchkännchen und Tassen aus Porzellan.

Dem Diener dichtauf folgte einem hübschen Kleid eine junge Frau in, die unter schulterlangen Goldlocken ein breites Lächeln zeigte. Toby stand rasch auf, um sie zu begrüßen, und lächelte dabei nicht weniger breit, während der Diener die Teesachen auf einem praktischen kleinen Tisch neben Grace aufstellte. Grace bedachte Toby und die junge Frau mit einem wissenden Blick und beschäftigte sich mit dem Teeservice, nachdem sie dem Diener mit einem Nicken zu verstehen gegeben hatte, er möge sich entfernen. Er tat wie geheißen und ging auf dem ganzem Weg rückwärts. Flynn betrachtete Toby interessiert, als dieser die Hand der jungen Frau ergriff.

»Clarissa, du siehst sehr gut aus, richtig gut!«

»Und ich fühle mich auch viel besser, dank dir, lieber Toby.

Die Chirurgen entfernen die Implantate, die Löwenstein mir hat einsetzen lassen, so schnell wie möglich, aber es ist eine langwierige Arbeit. Wenigstens habe ich schon wieder menschliche Augen, um dich anzusehen.«

»Und sehr hübsche Augen obendrein! Das Haar ist auch neu, nicht wahr?«

»Es ist nur eine Perücke, die ich trage, bis die echten Haare nachgewachsen sind. Du hast so viel für mich getan, Toby! Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«

»Oh, ich bin sicher, daß ihm dazu etwas einfällt!« warf Grace scharf ein. »Das war jetzt genug Rührseligkeit für den Augenblick, meine Lieben. Macht nur kurz damit weiter, und der Tee wird viel zu bitter. Kommt und setzt euch, während ich eingieße.«

Clarissa zog sich einen Stuhl heran, so daß er direkt neben Tobys Platz stand, und sie setzten sich, wobei sie sich weiterhin gegenseitig anlächelten. Flynn hustete höflich und nickte Clarissa lächelnd zu.

»Hallo Flynn«, sagte sie und badete auch ihn in ihrem Lächeln. »Wie geht es Euch?«

»Ich mache gerade Überstunden, dank meines brutalen Bosses, obwohl ich eigentlich längst zu Hause sein und mich entspannen sollte. Fühlt Ihr Euch inzwischen hier glücklich und daheim?«

»Schwer zu sagen«, meinte Grace und behielt dabei das Teeservice unverwandt im Blick. »Sie verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer und fährt jedesmal zusammen, wenn sie ein lautes Geräusch hört. Der einzige Mensch, mit dem sie spricht, ist Tobias, und das auch nur über Monitor.«

»Sie hat viel durchgemacht«, verteidigte Toby sie. »Da ist es nur normal, wenn sie einige Zeit braucht, um… sich wieder zurechtzufinden. Du hast ihr doch nicht zugesetzt, oder?«

»O nein!« warf Clarissa rasch ein. »Sie ist sehr hilfreich. Mir ist… einfach noch nicht danach zumute, sonst jemanden zu empfangen. Nicht, bis ich wieder ganz die alte bin, aus der Zeit, ehe mich Löwenstein in eine ihrer verdammten Leibwächterinnen verwandelte. Dann überlege ich mir, mich wieder unter Menschen zu mischen.«

»Natürlich«, sagte Toby. »Übereile es nicht. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.«

»Ich höre manchmal von anderen Zofen, die gerettet wurden«, sagte Clarissa und blickte dabei auf die Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte. »Mehrere von uns sind verrückt geworden, und drei haben sich lieber umgebracht, als daran erinnert zu werden, wer sie früher waren und was sie getan haben. So könnte ich nie handeln. Es wäre, als gönnte man Löwenstein den endgültigen Sieg. Aber… ich kann verstehen, warum sie es getan haben. Ich weiß selbst nicht, was ich mit meinem weiteren Leben anfangen soll. Selbst wenn die Chirurgen schließlich mit mir fertig sind, denke ich nicht, daß ich wieder so leben könnte wie vorher. Ich muß mit meinem neuen Leben etwas anfangen, etwas, das eine Bedeutung hat.«

»Warum arbeitest du nicht mit mir zusammen für die Imperialen Nachrichten?« fragte Toby. »Die Rebellion hat gezeigt, welchen Einfluß eine wahrhaft freie Presse haben kann. Nachrichten sind heute wichtig, und du könntest daran mitwirken.«

»Ja«, sagte Clarissa und lächelte ihn noch breiter an. »Ich denke, das würde mir gefallen.«

Und dann läutete Tobys Komm-Implantat gebieterisch in seinem Ohr. Er hörte lange zu, runzelte kräftig die Stirn und stand schließlich abrupt auf. »Tut mir leid, Clarissa, Tantchen, aber Flynn und ich müssen sofort aufbrechen. Gerade kam die Nachricht herein, daß Robert Feldglöck die Kapitänswürde niedergelegt und seinen Abschied von der Flotte genommen hat. Er ist nach Golgatha zurückgekehrt, um seinen Clan wieder aufzubauen. Er muß jetzt jeden Augenblick am Raumhafen eintreffen, und jeder Nachrichtensender der Stadt wird zugegen sein, um davon zu berichten. Ich habe ein paar Lokalreporter hingeschickt, um uns zu vertreten, falls er frühzeitig eintrifft, aber das ist ein Ereignis, von dem ich lieber selbst berichten sollte. Falls irgend jemand die Feldglöcks wieder groß machen kann, dann ein Kriegsheld wie Robert. Komm, Flynn. Clarissa, ich rufe dich später an.«

»Aber ich habe dir gerade Tee eingeschenkt!« beschwerte sich Grace.

»Ach, du meine Güte!« sagte Toby. »Wie schade!«

Robert Feldglöck stand völlig reglos vor dem mannshohen Spiegel und seufzte schwer. Er hatte vergessen, was für eine Last Zivilkleidung sein konnte. Der Schneider fummelte an ihm herum, den Mund voller Nadeln, zupfte hier und justierte dort, und das mit ein bißchen mehr Zutraulichkeit, als nach Roberts Meinung wirklich nötig gewesen wäre. Natürlich hätte ihn auch ein Lektron vermessen und so viele Anzüge herstellen können, wie er wollte, aber in gesellschaftlichen Kreisen legte man Wert darauf, daß derlei Dinge von Hand gemacht wurden, um Geschmacksentscheidungen künstlerisch einsichtig zu machen. Mode war viel zu wichtig, um sie Maschinen zu überlassen.

Also behielt Robert seine Meinung für sich, seufzte viel und ließ den Schneider arbeiten. In der Flotte war es ganz anders gewesen. Eine Uniform zum Tragen, eine als Ersatz und eine Galauniform für besondere Anlässe damit kam man eine ganze Karriere lang aus. Jetzt war Robert jedoch wieder Zivilist und ein Feldglöck; man hatte ihm bereits zwölf verschiedene Kombinationen angepaßt und war dabei noch nicht mal bis zur Abendgarderobe vorgedrungen.

»Ist das wirklich alles nötig?« beklagte er sich bei dem Diener, den er als Modeberater eingestellt hatte.

»Es ist eine Frage der Mode«, erklärte ihm Baxter, der Butler, völlig ungerührt. »Und damit eine Angelegenheit von äußerster Notwendigkeit. Falls Ihr wünscht, als Oberhaupt Eures Clans ernstgenommen zu werden, ist es unumgänglich, daß Ihr rollengerecht gekleidet seid.«

»Mein Clan besteht derzeit aus ein paar Dutzend Kusinen und Vettern und einer Handvoll Blutsverwandter. Kaum genug für ein anständiges Fußballspiel, geschweige denn einen Clan.«

»Umso wichtiger, Sir, daß Ihr korrekt gekleidet seid. Die Gesellschaft wird sich nach Euch richten. Je eindrucksvoller Ihr auftretet, desto mehr Respekt genießt Euer Clan. Der Wiederaufbau der Familie ist nur mit Unterstützung der anderen Clans möglich, und sie erhaltet Ihr nur, wenn sie Euch als Gleichgestellten akzeptieren. Bemüht Euch um eine nicht ganz so steife Haltung, Sir. Die Kleidung muß natürlich wirken, um den besten Effekt zu erzielen.«

Robert gab sich Mühe, die Paradehaltung aufzugeben. Es fiel ihm nicht leicht. Nichts von alldem war leicht. Es hatte ihn mit Stolz erfüllt, ein Militär zu sein, und er hatte seine Flottenlaufbahn nur mit äußerstem Widerstreben aufgegeben, nachdem General Beckett ihm persönlich erläutert hatte, daß Robert nicht seiner Familie und der Raumflotte gleichzeitig die Treue halten konnte. Er müßte sich für die eine oder andere Seite entscheiden. Und letztlich wurde Robert klar, daß er seinem Clan und seiner Blutlinie und Jahrhunderten der Familientradition verpflichtet war. Alles andere hätte bedeutet, daß die übrigen Familienmitglieder vergebens gestorben waren. Also quittierte er den Flottendienst und kehrte nach Golgatha zurück, um sein Amt als der Feldglöck anzutreten.

Und insgeheim fluchte er über seine Pflicht und seinen Clan, auf dem ganzen Flug hinunter zum Planeten, wo er sich einer Menge bellender Reporter gegenübersah. Kameras sausten mit schwindelerregendem Tempo um ihn herum und schubsten sich gegenseitig weg in dem Bestreben, den besten Blickwinkel zu ergattern. Die Reporter brüllten ihre Fragen schneller, als Robert sie beantworten konnte. Der Clan Feldglöck war eine der führenden Mächte des alten Imperiums gewesen, bis ihn der Clan Wolf dezimiert und in alle Winde zerstreut hatte. Somit war die potentielle Wiedergeburt der Feldglöcks für fette Schlagzeilen gut. Robert tat sein Bestes, um alle Fragen, Kommentare und Anspielungen mit einsilbigem Grunzen zu beantworten, während er sich die ganze Zeit einen Weg durchs Gedränge bahnte. Zum Teil reagierte er so, weil er wußte, daß Reporter auch die unschuldigsten Bemerkungen verdrehen konnten, und zum Teil, weil er eigentlich nichts zu sagen hatte.

Er war mit der aktuellen Politik und den Familienintrigen des Tages nicht vertraut und wollte nichts sagen, was ihn jetzt schon in irgendeiner Richtung festlegte.

Besonders wollte er nicht eingestehen, daß er keinen Schimmer hatte, wie genau er den Clan Feldglöck wieder aufbauen sollte.

Bei der Gelegenheit dachte er wehmütig an Owen Todtsteltzer und Hazel D’Ark. Man konnte zu ihnen ja sagen, was man wollte, und es gab eine Menge, was man hätte sagen können – aber wenigstens wußten sie, wie man mit der Presse umging.

Manche Reporter verlangten offenkundig Gefahrenzulage, um Interviews mit ihnen zu machen. Aber diese beiden kamen mit dergleichen Dingen durch. Bloße Sterbliche wie Robert Feldglöck hingegen, die in Zukunft womöglich noch auf die Unterstützung durch die Presse angewiesen waren, mußten in dieser Hinsicht einen beschwerlicheren Weg einschlagen.

Kaum hatte er das Rudel aus Nachrichtenleuten abgehängt, da nahm er als erstes Kontakt zu einer Agentur für Dienstpersonal auf und stellte den erfahrensten Butler ein, den man dort vertrat. Ein ruhiger, bescheidener, aber erstaunlich bestimmt auftretender Mann in den späten Fünfzigern war dieser Baxter, und er war mehr als nur ein Butler. Er war Leibdiener, ein wahrer Gentleman und mit all den arkanen Geheimnissen und Ritualen aristokratischen Benehmens vertraut. Obwohl Robert fast das ganze Leben bei der Raumflotte verbracht hatte, war er doch genug bei der Familie zu Besuch gewesen, um die Grundlagen zu beherrschen; die alltäglichen Einzelheiten jedoch, nach denen man das korrekte Verhalten und die soziale Stellung beurteilte, waren schnelleren Mutationen unterworfen, als irgendein Außenstehender jemals hoffen konnte zu verfolgen.

Was natürlich genau der Punkt war. Die Gesellschaft der oberen Zehntausend sollte schließlich elitär, vielschichtig und geheimnisvoll sein. Wie wollte man sonst erkennen, wer dazugehörte und wer nicht? Der halbe Spaß, dazuzugehören, bestand darin, hochnäsig auf die herabzublicken, die es nicht taten. Robert der Militär betrachtete die ganze Sache als fürchterlich kindisch, aber er war trotzdem Aristokrat genug, um zu begreifen, wie ernst alle anderen sie nahmen. Jetzt war er selbst der Feldglöck und mußte mitspielen. Man erwartete es von ihm.

Die Rebellion hatte den Familien vielleicht eine andere Rolle zugewiesen, aber manches änderte sich nie.

Und so hörte er geduldig zu, als Baxter ihm Vorträge hielt über Etikette und Stil und die korrekte Art, seine Manschetten zu zeigen, über die aktuellen Tänze und den neuesten Klatsch sowie darüber, mit wessen Unterstützung oder Widerstand er rechnen konnte. Falls Clan Feldglöck wirklich wieder auf dem aufsteigenden Ast war, waren sehr viele Leute der Meinung, es wäre Zeit, sich durch Absprachen Vorteile zu verschaffen, solange die Feldglöcks noch schwach waren. Und genauso viele waren ohne weiteres dazu fähig, sogar Mordanschläge zu arrangieren, um den Aufstieg der Feldglöcks zu verhindern und den Status quo zu bewahren. Allein schon dadurch, daß er der Feldglöck wurde, erbte Robert Intrigen und Fehden, die über Jahrhunderte zurückreichten, und damit alte Bundesgenossen und alte Feinde. In den Familien vergaß oder vergab niemand.

Solange es nicht zweckdienlich war.

Robert schloß einen Moment lang die Augen. Er war todmüde. Jemand würde für das bezahlen, was er durchmachte, und auf keinen Fall er selbst. Er würde das verdammte Spiel mitspielen, aber auf seine Art und nach eigenen Regeln, und der liebe Gott mochte jedem helfen, der ihm dabei in die Quere kam. Er bemerkte, daß Baxter nicht mehr redete, und blickte sich scharf um.

»Tut mir leid, ich wollte nur die Augen ausruhen. War etwas? Habe ich etwas versäumt?«

»Ich fragte nach dem kleinen Portrait rechts von Euch, Sir«, sagte Baxter. »Es ist das einzige Portrait, das Ihr mitgebracht habt. Eine höchst liebreizende junge Dame. Ist sie diejenige, für die ich sie halte?«

»Ja«, antwortete Robert, »das ist sie. Es ist Letitia.« Er starrte ausdruckslos auf das Bild in dem silbernen Rahmen eine der wenigen Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte. Alles, was übriggeblieben war von der letzten Einmischung der Familie in sein Leben. »Sie war wirklich bezaubernd. Ich vermute, alle Welt kennt die Geschichte. Sie war seinerzeit ein recht ansehnlicher Skandal. Beinahe hätte ich Letitia geheiratet. Eine arrangierte Hochzeit, aber ich mochte die Dame. Mit der Zeit hätte ich mich womöglich gar in sie verliebt. Aber anläßlich der Hochzeit wurde erkennbar, daß sie schon schwanger war, von einem ihrer Wachleute. Und Gregor Shreck ermordete sie lieber, als hinzunehmen, daß die Hochzeit ihren Fortgang nahm und seine Familie entehrte. Ich wollte Letitia retten, aber die Familie hielt mich zurück. Ich denke, damals habe ich meinen Haß auf die Clans entwickelt. Auf sie alle.«

»Familienehre ist… eine heikle Angelegenheit, Sir. Es ist oft schwierig zu erkennen, was das Beste ist.«

»Gregor hat sie vor meinen Augen umgebracht. Ich hätte ihn damals getötet, falls ich in der Lage gewesen wäre. Vielleicht tue ich es noch.«

»Dann, so fürchte ich, müßt Ihr Euch anstellen, Sir. Gregor Shreck ist zur Zeit nicht mehr der beliebteste Vertreter auf dem gesellschaftlichem Parkett. Tatsächlich möchte ich sogar anzudeuten wagen, daß Feigwarzen wahrscheinlich populärer sind als er.«

Robert mußte lachen. »Schön zu sehen, daß sich manches nie ändert! Und ich vermute, eine Gesellschaft, die Gregor Shreck haßt, kann nicht ganz schlecht sein. Er kann warten. Der Wiederaufbau des Clans hat Vorrang. Dazu bin ich heimgekehrt.«

»Sehr wohl, Sir. Und falls ich so kühn sein darf: Ich bin sicher, daß viele junge Damen aus gutem Hause nur zu glücklich sein würden, sich mit einem jungen Edelmann und Kriegshelden wie Euch zu verbinden, Sir.«

»Nein!« entgegnete Robert scharf. »Keine arrangierten Hochzeiten mehr!«

»Verzeihung, Sir, ich habe volles Verständnis für Eure Gefühle in diesem Punkt, aber falls Ihr Euren Clan führen möchtet, wird es notwendig sein, irgendwann zu heiraten und Erben zu zeugen.«

»Ja, ich weiß. Aber jetzt noch nicht.«

»Setzt ihn nicht unter Druck, Baxter. Robert kann stur sein wie ein taubes Maultier, wenn er es sich fest vornimmt. Das ist ein Wesenszug der Feldglöcks.«

Robert drehte sich lächelnd um, als die Eigentümerin der weittragenden, durchdringenden Stimme auf ihn zukam. Kaum hatte Adrienne gehört, daß Robert zurückgekehrt war, da arrangierte sie schon, daß er bei ihr wohnte, während sie sich um die Einzelheiten seiner Rückkehr auf das gesellschaftliche Parkett kümmerte. Robert hatte keinen Einwand erhoben. Bei Adrienne tat man das nicht. Und er freute sich auch, eine sichere und ihm wohlgesonnene Bleibe zu finden, wo er zur Ruhe kommen konnte. Das alte Familienheim, der Feldglöck-Turm, war von den Wolfs übernommen worden. Er hatte keinen Anspruch mehr darauf. Und so kampierten er und Baxter zur Zeit in Adriennes etwas überfülltem Haus und versuchten, hin und wieder selbst mal zu Wort zu kommen. Adrienne hatte nahezu das Management seines Lebens übernommen. Im Grunde machte es ihm nichts aus. Es weckte glückliche Erinnerungen an seine Zeit beim Militär. Adrienne gab dem Schneider jetzt mit gebieterischem Wink zu verstehen, er möge sich entfernen , und er brach sich fast den Rücken, während er sich mit einer Serie von Bücklingen durch den Raum zurückzog. Adrienne musterte Baxter scharf.

»Nun, wie macht er sich?«

»So gut, wie man erwarten konnte, gnä’ Frau. Er zeigt eine beklagenswerte Neigung zur Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, aber nicht so, daß man es nicht mehr überwinden könnte. Ein paar sorgfältig arrangierte Auftritte, nur um die Stimmung zu testen, und er sollte bereit sein, im großen Stil gesellschaftlich herauszukommen.«

»Zumindest bietest du ein angemessenes Erscheinungsbild, Robert.«

»Ich fühle mich wie ein Idiot.«

»Auf diese Weise merkt man, daß man auf der Höhe der Mode ist, Liebster. Du solltest mal einige der Sachen anschauen, die mein Finlay zu seiner Zeit als Geck und Stutzer getragen hat. Die Leute beklagten sich noch Tage, nachdem er eine neue Kombination getragen hatte, über Augenschmerzen.«

»Wir müssen über Finlay reden«, sagte Robert. »Hast du ihn in jüngster Zeit gesehen? Wird er Einwände erheben, daß ich an seiner Stelle das Amt des Feldglöcks übernehme? Er hat mehr Anspruch auf den Titel.«

»Vertraue mir, mein Lieber: Finlay möchte nicht der Feldglöck sein. Er hat es nie gewollt. Finlay wüßte mit Verantwortung nichts anzufangen, nicht mal, wenn man sie ihm an die Stirn nagelte. In seinem Leben war er selbst immer das wichtigste Element. Ich hatte gehofft, Evangeline könnte das ändern, aber… Er hat mich jüngst besucht. Sagte, er wollte die Kinder sehen, was eine Premiere war. Ich war überrascht, daß er ihre Namen noch wußte.«

»Wie ist es gelaufen?«

»Schlecht. Ich hätte es gleich besser wissen müssen. Er konnte noch nie gut mit Kindern umgehen. Oder mit sonst jemandem. Ich muß jedoch sagen, er schien es bei seinem Besuch noch schlechter zu machen als sonst. Ich würde mir Sorgen um ihn machen, falls ich mich nur überwinden könnte, einen Dreck auf ihn zu geben. Ich muß wirklich mal mit Evie Verbindung aufnehmen und sehen, wie es ihr geht. Finlay wußte sie nie wirklich zu würdigen. Aber das kann warten. Wie fühlst du dich jetzt, Robert?«

»Sehr dankbar dafür, daß du dir die Mühe mit mir machst.

Baxter und ich ziehen sofort aus, wenn ich etwas finde…«

»Oh, das hat keine Eile! Außerdem würdest du wahrscheinlich nur in irgendeine erbärmliche Junggesellenwohnung ziehen, und das geht einfach nicht. Falls du einen Platz in der Gesellschaft finden sollst, benötigst du eine respektable Adresse.

Die richtige Adresse sagt immer sehr viel über einen Mann aus.

Um einen Anfang zu machen, denke ich, bringen wir dich in einer Suite in einem der besseren Hotels unter.«

»Addie, ich habe einfach nicht das Geld dafür! Der Clan verfügt über keine Aktiva, und obwohl mir die Raumflotte einen netten kleinen Bonus gezahlt hat, lief er wohl kaum auf eine nennenswerte Abstandssumme hinaus. Meine Mittel halten nicht lange vor und reichen sicherlich nicht für eine Suite!«

»Falls du der Feldglöck sein möchtest, mußt du auch wie das Oberhaupt des Clans wohnen«, hielt ihm Adrienne streng entgegen. »Sonst nimmt dich niemand ernst. Mach dir nur keine Sorgen um Geld. Sobald sich herumspricht, daß du zurückgekehrt bist, werden die Leute sich gegenseitig umrennen vor lauter Eifer, deine Rechnungen zu bezahlen, damit du ihnen künftig Gefallen schuldest. Sogar die Banken werden dir einen offenen Kreditrahmen gewähren, bewegt von der Hoffnung auf zukünftige Geschäfte mit dir. Alle Welt weiß, daß viel Geld verschwunden ist, als die Feldglöcks stürzten, Geld, das die Wolfs nie in die Hand bekamen.«

»Aber ich habe es auch nicht.«

»Das weiß doch niemand! Falls dich irgend jemand danach fragt, lächelst du einfach und machst ein rätselhaftes Gesicht.

Überlaß mir die Sorgen über derartige Dinge, mein Lieber. Du konzentrierst dich darauf, deine Rolle zu spielen. Wie weit sind wir mit der Kleidung, Baxter? Ist er inzwischen bereit, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen?«

»Die Maße für die formelle Abendgarderobe stehen noch aus, gnä’ Frau, aber ich denke, wir können ein paar sorgfältig gesteuerte Auftritte riskieren. Schwebt Euch da schon etwas vor, gnä’ Frau?«

»Nun, für den Anfang dachte ich an Konstanze Wolf«, sagte Adrienne.

»Bist du wahnsinnig?« fragte Robert. »Die Wolfs haben meine Familie vernichtet!«

»Das war früher, und heute ist jetzt«, konterte Adrienne entschieden. »Viel ist seitdem geschehen. Jakob Wolf war damals Clanoberhaupt, und er ist tot. Valentin ist auf der Flucht, Daniel wird vermißt und Stephanie hat soviel Ansehen verloren, daß sie sich nicht mal mehr vorstellen kann, was das ist. Somit ist Konstanze, Jakobs junge Witwe, derzeit die Wolf und das Familienoberhaupt. Und sie hat ganz revolutionäre Vorstellungen davon, wie sich die Familien in der neuen Ordnung verhalten sollten. Sie mißtraut dem Schwarzen Block, unterstützt das Parlament und ist sehr darauf bedacht, Beziehungen wiederherzustellen, die durch alte Feindschaften zerrüttet wurden. Besuche sie, Robert. Lege den Charme der Feldglöcks an den Tag und zeige ihr, daß du sie nicht für die Exzesse ihrer Vorgänger verantwortlich machst, und du könntest glatt feststellen, daß du einer verwandten Seele gegenüberstehst. Sie wäre eine starke Freundin und Förderin. Und so würde allen Familien demonstriert, daß du dich nicht durch alte Fehden und durch Blutrache gebunden fühlst. Du hast auch so schon genug Feinde, Robert! Suche dir Freunde, wo du nur kannst.«

»Noch keine vierundzwanzig Stunden wieder zu Hause, und ich stehe hier, angetan wie ein Wäscheständer, und denke darüber nach, Absprachen mit einer Wolf zu treffen!« versetzte Robert angewidert. »Das ist vielleicht ein Empfang! Aber falls ich muß…«

»Du mußt«, bekräftigte Adrienne.

Robert sah Baxter an, der ernst nickte. »Das wäre ein ausgezeichneter Start, Sir. Kein Grund zur Sorge; ich begleite Euch natürlich.«

»Wundervoll«, fand Robert. »Jetzt habe ich außer einem Butler auch noch ein Kindermädchen.« Er funkelte Adrienne an.

»Noch irgendwas, was ich deiner Meinung nach wissen sollte?«

»Noch eines«, antwortete Adrienne widerstrebend. »Es betrifft Finlay. Du wirst vielleicht etwas unternehmen müssen, was ihn angeht.«

»Du hast gerade gesagt, er hätte nicht den Wunsch, selbst der Feldglöck zu sein.«

»Tut er auch nicht. Aber… er verhält sich in jüngster Zeit noch verrückter als sonst. Bedroht Menschen. Er hat sich eine Menge Feinde gemacht, viele davon bedeutende Gestalten des gesellschaftlichen Lebens. Sie könnten dich auffordern, dich mit ihm zu befassen, als Preis für ihre Unterstützung.«

»Mit Finlay befassen? Was zum Teufel könnte ich da ausrichten? Er wird auf nichts hören, was ich ihm sage, und selbst falls er mich als Familienoberhaupt akzeptierte, bezweifle ich sehr, daß er meine Autorität über sich anerkennen würde. Und ich bin sicherlich nicht dumm genug, um ihn persönlich zu konfrontieren. Owen Todtsteltzer wird vielleicht mit ihm fertig, oder Kid Death, aber ich hielte ihm keine fünf Minuten stand.«

»Es gibt andere Möglichkeiten«, sagte Adrienne , ohne ihn anzublicken. »Letztlich ist nur das Wohl des Clans von Bedeutung. Man darf nicht einem Mann erlauben, alles zu untergraben, was wir zu erreichen hoffen.«

»Um Gottes willen, Adrienne, er ist dein Mann! Der Vater deiner Kinder! Hegst du keine Gefühle für ihn?«

»Ich kenne ihn nicht mehr. Manchmal frage ich mich, ob ich es überhaupt je getan habe.«

Robert Feldglöck saß streng aufrecht auf einem antiken Stuhl, hielt eine volle Tasse Tee in einer Hand und ein großes Stück Schokoladenkuchen auf einem Teller in der anderen und fragte sich, wie zum Teufel er eins von beiden auch nur in die Nähe des Mundes führen sollte, ohne des anderen verlustig zu gehen.

Außerdem saß das neue Jackett an den Schultern ungemütlich eng, erwürgte ihn die Krawatte beinahe und zwickte ihn die Hose an Stellen, von denen er bislang gar nichts gewußt hatte.

Alles in allem entwickelte sich das zu einem fürchterlichen Start der gesellschaftlichen Anlässe.

Seine Gastgeberin Konstanze Wolf verfügte allein über das oberste Stockwerk des Wolf-Turms und hatte es entsprechend ganz nach eigenem Geschmack ausgestattet. Das lief auf dicke Teppiche hinaus, den allerletzten modischen Schrei an Mobiliar sowie auf kuschelige Stofftiere, die überall herumlagen, wo sich nur Platz bot. Robert fand, daß er mit all dem hätte fertig werden können. Die eindeutig pornographischen Wandgemälde jedoch waren es, die ihn die Fassung kosteten. Er hatte noch nie etwas Derartiges gesehen, und das nach Jahren in der Raumflotte. Auch hegte er den fürchterlichen Verdacht, daß Konstanze selbst für wenigstens drei davon Modell gestanden hatte. Was bedeuten würde, daß sie nicht nur sehr schön, sondern auch unglaublich gelenkig war. Sie wirkte sehr flott im Schwarz der Trauer um ihren Gatten und sah vom Scheitel bis zur Sohle ganz nach dem Familienoberhaupt aus. Robert starrte entschlossen auf Tee und Schokoladenkuchen und versuchte, telepathische Hilferufe an Baxter zu übermitteln, ehe ihm wieder einfiel, daß Konstanze ihn aus dem Raum verbannt hatte, zusammen mit all ihren Dienern, damit sie unter vier Augen mit Robert sprechen konnte.

Er hoffte nur, daß sie ihn nicht ansprang. In solchen Dingen war er immer ziemlich schüchtern gewesen.

Eine Menge Wachleute waren zunächst auch präsent gewesen, aber Konstanze hatte sie zum Zeichen des Vertrauens weggeschickt. Jetzt waren sie beide unter sich. Robert überlegte, daß er sich selbst ein paar Wachleute zulegen sollte, und sei es nur zur Schau. Konstanze, die ihm auf einem Stuhl gegenüber saß, beugte sich zu ihm vor, und er zuckte unwillkürlich zusammen. Tee schwappte auf die Untertasse.

»Ihr braucht die Schokolade nicht zu essen, wenn Ihr sie nicht mögt«, sagte Konstanze lächelnd. »Oder auch den Tee trinken. Eines der ersten Dinge, die man im Hinblick auf gesellschaftliche Anlässe meistern muß, ist die Kunst, etwas charmant abzulehnen. Ansonsten lädt man Euch mit Eßwaren voll, bis Euch die Arme schmerzen. Die Leute zeigen nun mal so gern, was sie für tolle Chefköche haben.«

Robert lächelte dankbar, sah sich nach einem Tisch oder einer Freifläche um, stellte fest, daß dergleichen nicht vorhanden war, und stellte Tasse und Teller schließlich neben sich auf den Boden. Er richtete sich auf und versuchte verstohlen, Jackett und Hose zu lockern, hatte aber nicht viel Erfolg dabei. Er bedachte Konstanze mit einem etwas verzweifelten Lächeln.

»Mir gefällt es hier. Es ist sehr… bequem.«

»Eine der Freuden, wenn man allein lebt, besteht darin, keine Kompromisse bei den eigenen Vorstellungen von Komfort eingehen zu müssen«, erklärte ihm Konstanze. »Jakob hätte einen Anfall bekommen, hätte ich zu seinen Lebzeiten sein Wohnzimmer in diesem Stil gestaltet. Nach seinem Tod habe ich so schnell, wie es der Anstand erlaubte, dafür gesorgt, die meisten seiner Sachen loszuwerden. Andernfalls hätten sie mich weiterhin ständig an ihn erinnert. Also legte ich mir neue Sachen zu, um mich daran zu erinnern, daß ich fortan ohne ihn ein neues Leben führen mußte. Ich habe nur ein paar Portraits von ihm behalten. Ich bewahre sie im Schlafzimmer neben dem Bett auf, damit ich sein Gesicht abends als letztes sehe, ehe ich einschlafe. So kann ich manchmal von ihm träumen. Seht Ihr, er war der einzige Mann, den ich je geliebt habe, und wir hatten nur so wenig Zeit zusammen. Sicher versteht Ihr das. Ihr habt selbst jemanden verloren, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Robert, »ich verstehe das.«

»Sein Gespenst hat mich einmal besucht«, erzählte Konstanze mit ruhiger und gleichmäßiger Stimme. »Bei Hofe. Aber es war nur ein Geistkrieger. Nur seine Leiche. Nicht mein Jakob.

Der arme Daniel hat sich auf die Suche nach dem Geistkrieger gemacht, überzeugt davon, daß sein Vater noch irgendwo darinsteckt. Daniel strebte immer verzweifelt nach der Anerkennung durch seinen Vater. Jakob hat seine Kinder wirklich geliebt, auf seine eigene Art, sogar Valentin, aber sie waren für ihn allesamt eine Enttäuschung. Ich wollte ihm neue Kinder schenken, aber wir fanden keine Gelegenheit mehr dazu, bis er mir genommen wurde. Nur ein weiterer Verlust, der zu betrauern bleibt.«

»Er muß Euch sehr geliebt haben«, sagte Robert, bemüht um die richtigen Worte.

»Das hoffe ich, aber ich war mir nie ganz sicher. Ich war als Gattin eine Trophäe, wißt Ihr, jung und schön, jemand, den man bei Hofe und auf Parties vorzeigt. Es war eine arrangierte Hochzeit, obwohl ich ihn allmählich lieben gelernt habe. Er war immer so freundlich zu mir, aber… Es fiel ihm nie leicht, über seine Gefühle zu reden, nicht einmal mit mir. Also wußte ich es nie so recht.«

»Es muß Euch sehr schwer fallen, als Frau allein dazustehen und einen so großen Clan zu leiten«, sagte Robert, nur um überhaupt etwas zu äußern.

»Ihr habt ja keine Ahnung«, antwortete Konstanze trocken.

»Die Position ist mir nur zugefallen, weil niemand sonst verfügbar war. Und ich behalte sie, indem ich meine zahlreichen Feinde gegeneinander ausspiele und morgens, mittags und abends Intrigen spinne. Aus diesem Grunde werden jedes Wort, das ich von mir gebe, und auch die kleinste meiner Handlungen endlos von allen Beteiligten analysiert, um mal zu sehen, ob darin nicht Brocken an wertvollen Informationen enthalten sind. Manchmal sage ich aufs Geratewohl irgendwas, nur damit die Leute etwas zu knabbern haben. Ständig umgeben mich heutzutage Menschen. Private Augenblicke wie der jetzige sind selten geworden. Jeder möchte mich sehen, jeder möchte etwas von mir. Das werdet Ihr selbst auch erleben, jetzt, wo Ihr der Feldglöck geworden seid.«

»Warum laßt Ihr nicht einfach alles zurück?« fragte Robert.

»Ihr sitzt nicht in der Falle wie ich. Ihr seid nur eine eingeheiratete Wolf. Ihr könntet alles aufgeben, und niemand wäre in der Lage, es Euch zu verwehren.«

»Aber der Clan ist alles, was mir von Jakob geblieben ist.

Das letzte Bindeglied zu der glücklichen Zeit an seiner Seite.

Ich schulde es seinem Andenken, nicht zurückzutreten, bis ich den Clan in sichere Hände legen kann. Deshalb heirate ich auch Owen Todtsteltzer.«

»Ich habe davon gehört. Meinen Glückwunsch.«

»Danke.«

»Wie ist er denn so? Ich habe ihn immer nur im Holo gesehen. Manche sagen, er wäre ein Held, andere…«

»Sagen, er wäre ein Monster. Ich weiß. Mir kam er jedoch ganz normal vor. Ganz liebenswert. Auf eine tolpatschige Art sogar charmant. Er ist allerdings stark. Nachdenklich. Er wird einen guten konstitutionellen Monarchen abgeben, und wenn unsere beiden Familien verschmolzen sind, kann ich als Königin die Leitung an ihn übergeben. Könnt Ihr Euch sicherere Hände vorstellen als die des legendären Owen Todtsteltzer?«

»Im Grunde nicht. Aber welche Gefühle hegt Ihr für ihn?«

»Er begegnete mir freundschaftlich. Damit gebe ich mich zufrieden. Ich hatte eine große Liebe in meinem Leben. Ich denke nicht, daß ich es ertragen könnte, noch eine zu verlieren.«

»Warum habt Ihr eingewilligt, mich zu empfangen?« wollte Robert wissen. »Ihr sagtet selbst, Ihr wärt derzeit sehr gefragt, und ich bin keine bedeutende Gestalt. Noch nicht. Und unsere Familien sind Todfeinde. Wieso also ich?«

»Weil wir viel gemeinsam haben. Wir wurden beide viel früher, als wir erwarteten, zu Oberhäuptern unserer Clans. Wir beide haben schrecklichen Schmerz und Verlust erfahren, und es hat uns nicht gebrochen. Ich brauche jemanden wie Euch, jemanden, mit dem ich reden kann, der mich versteht. Jemand aus den Reihen der Familien, der den Schwarzen Block nicht fürchtet.«

»Gute Gründe«, räumte Robert ein. »Was den Schwarzen Block angeht, so weiß ich nicht viel. Ich war nur kurz dabei, ehe die Familie mich wieder herausgeholt und zur Raumflotte geschickt hat, wo ich ihr, wie sie fand, nützlicher sein konnte.

Ich wurde nie in Mysterien oder Geheimnisse des Schwarzen Blocks eingeweiht. Ich hatte auch nie eine Ahnung, daß er so weit verbreitet und so… mächtig ist.«

»Das hatten nur wenige«, sagte Konstanze, »bis es viel zu spät war. Ich habe zu viel Böses in den Familien erlebt, Robert.

Zu viele von uns sind Produkte der Inzucht, sind korrupt, mißbrauchen ihre Macht und Privilegien. Ich war eine der wenigen aus unseren Reihen, die die Rebellion tatsächlich befürworteten. Ich sah in der neuen Ordnung eine Chance, die Familien zu dem umzugestalten, was sie sein sollten – die Besten der Besten, die führen und schützen und dabei nicht durch Angst und Unterdrückung herrschen. Der Schwarze Block bringt dieses Ziel jetzt jedoch in Gefahr. Die Clans sind so verzweifelt darauf aus, Macht zurückzugewinnen, daß sie alles tun, was der Schwarze Block ihnen sagt, um das zu erreichen. Wir haben keine Vorstellung davon, was der Schwarze Block heute wirklich darstellt und was er wirklich möchte. Jemand muß ihn aufhalten, und ich schaffe das nicht allein. Ich brauche Bundesgenossen, wahrhaftige Menschen mit gutem Herzen, denen Pflicht mehr bedeutet als nur ein Wort. Was sagt Ihr dazu, Robert Feldglöck? Habe ich in Euch einen Bundesgenossen gefunden?«

»Ich denke, das habt Ihr womöglich, Konstanze Wolf. Aber wie könnten wir etwas ändern?«

»Wir können ein Beispiel geben. Dem Schwarzen Block zeigen, daß wir ihn nicht fürchten. Falls wir aufstehen und uns bemerkbar machen, werden sich uns andere anschließen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Robert. »Im Militär ist derjenige, der zuerst aufsteht, gewöhnlich auch der, dem als erster der Kopf weggeschossen wird. Ich denke jedoch, daß Ihr recht habt mit der Überlegung, daß sich uns andere anschließen könnten, wenn sie erfahren, daß es Gleichgesinnte gibt. Was ist mit Eurer alten Familie aus der Zeit vor Eurer Ehe mit Jakob Wolf? Wo steht sie? Würde sie Euch unterstützen?«

»Meine Familie und ich, wir… reden nicht mehr miteinander«, antwortete Konstanze gelassen. »Ich war die älteste Tochter des Clans Devereaux und sollte eigentlich einen geeigneten jungen Mann niederen Standes heiraten, um die Blutlinie zu verbessern. Statt dessen ging ich die Ehe mit einem Wolf ein und wurde Mitglied seines Clans, und meine Blutlinie ging der Familie Devereaux für immer verloren. Mein Vater erklärte, daß ich für ihn gestorben wäre. Seitdem habe ich mit keinem aus der Familie mehr gesprochen.«

»Das ist aber eine Schande!« fand Robert. »Ihr solltet es versuchen, Konstanze. Man könnte inzwischen andere Gefühle für Euch hegen, da sich die Umstände geändert haben.«

»Ich habe meinen Stolz.«

»Manchmal ist Stolz nur hinderlich. Die Menschen, die wir lieben oder bewundern, werden uns immer viel zu schnell genommen, ehe wir Gelegenheit finden, ihnen all das zu sagen, was wir eigentlich sagen möchten. Ich habe meine Eltern frühzeitig verloren, also verehrte ich, während ich älter wurde, das Oberhaupt meines Clans, Crawford Feldglöck. Für mich war er ein Gott. Ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen, hätte er nur einmal von mir Notiz genommen. Ich habe mich immer schuldig gefühlt, weil ich am Tag, als die Wolfs kamen, nicht bei ihm im Feldglöck-Turm stand. Ich kann mich einfach nicht des Gefühls erwehren, daß die Sache anders verlaufen wäre, hätte ich nur an seiner Seite gekämpft. Wahrscheinlich irre ich mich.

Wahrscheinlich wären wir auch so alle umgekommen. Aber manchmal…«

»Ich weiß«, sagte Konstanze. »Ich kann das verstehen.«

Sie beugte sich vor und legte zum Trost eine Hand auf seine.

Und als sie sich gegenseitig berührten, sprang ein elektrischer Funke zwischen ihnen über, ihre Augen begegneten sich, weit geöffnet und erschrocken, und ihre Herzen schlugen auf einmal schneller. Sie blickten sich tief in die Augen und sahen dort den Himmel, der sie erwartete. Und dann zog Konstanze ruckhaft die Hand weg, und alles stürzte wieder in seinen Normalzustand zurück. Für einen Moment saßen sie schweigend da und sahen alles an, nur nicht sich gegenseitig. Robert riskierte einen kurzen Blick auf Konstanze und entdeckte die letzten Spuren heißer Röte in ihrem Gesicht. Auch seine Wangen fühlten sich ungemütlich warm an.

»Und wie laufen die Vorbereitungen auf Eure Hochzeit mit dem Todtsteltzer?« fragte Robert schließlich.

»Sehr gut, danke der Nachfrage«, antwortete Konstanze mit völlig gefaßter Stimme. »Sie findet in sechs Monaten statt.

Vorausgesetzt, es treten keine… Komplikationen auf.«

»Natürlich«, sagte Robert. »Man weiß nie, ob und wann sich Komplikationen ergeben. Ihr liebt ihn nicht, oder?«

»Nein«, bestätigte Konstanze. »Ich liebe ihn nicht.«

»Gut«, sagte Robert. Ihre Blicke begegneten sich wieder, und diesmal lächelten sie sich auch an.

Finlay hielt sich immer noch in seinem Quartier unter der Arena auf, als er hörte, wie jemand nachdrücklich an die Tür klopfte. Er runzelte die Stirn. Für jemanden, der sich angeblich versteckte, erhielt er aber verdammt viele Besucher. Er schnallte sich Schwertgurt und Pistolenhalfter um und näherte sich vorsichtig der Tür. Er hätte wirklich in ein Gucklock oder eine versteckte Kamera investieren sollen! Er lauschte einen Moment lang, hörte nichts, und öffnete schließlich die Tür nur einen Spalt weit. Eine vertraute Stimme nannte seinen Namen, und dann wurde er weggedrückt, als die Tür unter dem Gewicht der Person nachgab, die daran lehnte. Er packte Evangeline, als sie auf ihn zukippte, gerade noch rechtzeitig, ehe sie auf dem Boden aufschlug. Sie war in ein langes purpurrotes Laken gewickelt, und ein Teil davon wölbte sich über einem großen, unhandlichen Paket, das sie unter einem Arm trug. Ihr Gesicht war schlaff vor Schock und Erschöpfung und mit frisch getrockneten Blutspritzern bedeckt.

Finlay versuchte sie zu befragen, aber sie brachte nichts weiter hervor als seinen Namen, den sie in einem fort murmelte.

Sie atmete schwer, ihre Augen nahmen die Umgebung nicht richtig auf, und sie klammerte sich mit verzweifelter Kraftanstrengung an ihn. Finlay gab den Versuch auf, ihr vernünftige Angaben zu entlocken, und trug sie zum Bett hinüber. Sie wollte sich jedoch nur auf die Kante setzen und nicht hinlegen. Ihre Augen waren rot und verschwollen vor lauter Weinen, und sie hatte keinen anderen Wunsch, als sich an ihm festzuhalten. Er drückte sie an sich und war bemüht, sie mit seiner Anwesenheit und seinem gelassenen Tonfall zu beruhigen.

»Was ist los, Liebste? Was ist passiert? Du bist hier in Sicherheit. Alles ist wieder in Ordnung. Was hast du da unterm Arm?«

Sie konnte oder wollte ihm nach wie vor nicht antworten. Er löste sich langsam und sachte aus ihrem Griff, wobei er die ganze Zeit beruhigende Worte murmelte, und machte sich daran, sie aus dem Bettlaken zu wickeln. Und erst jetzt entdeckte er, daß sie darunter nackt war und mit reichlich Blut bespritzt, das immer noch trocknete. Er untersuchte sie rasch auf Schnitte und andere Verletzungen und war nicht gänzlich beruhigt, als er feststellte, daß nichts von dem Blut von ihr selbst stammte.

Sanft zog er das Paket unter ihrem Arm hervor und wickelte es aus. Etwas, das klein und hart war, fiel heraus und plumpste auf den Boden. Es war der Griff des Monofasermessers, das sie ihn gebeten hatte, für sie zu besorgen. Er wickelte den Rest des Bündels auseinander und erblickte zwei Glaskrüge mit abgetrennten, aber noch lebendigen Köpfen. Er war so erschrocken, daß er sie beinahe fallenließ, schaffte es dann aber doch, sie mit zitternden Händen sicher auf den Boden zu stellen. Die Münder der Köpfe bewegten sich, aber er hörte nichts. Er wandte sich Evangeline zu, die über den Ausdruck in seinem Gesicht beinahe in hysterisches Kichern ausbrach. Mühsam beherrschte sie sich wieder und erklärte es ihm, wobei sie fast flüsterte.

»Der Mann ist Professor Wax. Ich kenne ihn nicht. Die Frau ist Penny DeCarlo, meine älteste Freundin. Mein Vater hat sie gefangengehalten. Ich habe sie gerettet.«

»Dein Vater? Du warst bei Gregor Shreck? Ganz allein? Was ist passiert? Woher stammt das ganze Blut?«

»Wir haben uns unterhalten. Danach… wurde es schwierig.«

»Warum hast du mir vorher nichts davon gesagt?«

»Das konnte ich nicht tun! Gregor hatte mich schon die ganze Zeit… bedroht. Gesagt, er würde Penny umbringen, falls ich nicht zu ihm zurückkehrte. Er bestand darauf, daß ich allein kam. Also habe ich den Turm der Shrecks aufgesucht, die Höhle des Löwen. Und ich habe herausgefunden, was er… mit Penny gemacht hatte. Also habe ich ihn gezwungen, beide herauszugeben, und sie dann mitgenommen.«

»Wie zum Teufel konntest du ihn überreden?«

»Ich hatte doch das Monofasermesser. Das, was du mir besorgt hast. Was für ein praktisches Geschenk!« Sie lachte fast wieder, als sie sein Gesicht sah. »Du bist nicht der einzige, der zu kämpfen versteht. Ein paar Wachleute haben versucht,’ mich aufzuhalten, als ich fliehen wollte, also habe ich sie umgebracht. Es war einfach. Nach einer Weile haben mich Gregors Leute nicht weiter verfolgt, und ich bin hierhergekommen.

Ich wußte nicht, wohin ich mich sonst wenden sollte.«

»Natürlich war es richtig, daß du hergekommen bist, Evie.

Hier bist du sicher. Aber was ist aus deinen Kleidern geworden?«

Evangeline packte ihn heftig am Arm. »Frage mich nicht danach, Finlay! Frage mich nie danach!«

»In Ordnung, ich tue es nicht. Beruhige dich. Verdammt, das war wirklich tapfer, Evie, aber du hättest mir doch etwas sagen sollen. Ich hätte Verständnis gehabt. Hat er dir weh getan? Bist du irgendwo verletzt? Soll ich einen Arzt holen? Falls Gregor dir weh getan hatte, bringe ich den Mistkerl um!«

»Nein«, sagte Evangeline rasch. »Ich bin nicht verletzt. Ich brauche keinen Arzt. Mir geht es gut. Mach keine Umstände, Finlay. Laß mich nur… wieder zu Atem kommen. Nachdem ich Penny befreit habe, hat Gregor kein Druckmittel mehr gegen mich. Alles kommt jetzt in Ordnung.«

»Tapferes Mädchen«, sagte Finlay, nahm sie wieder in die Arme und küßte sie sachte auf den Kopf. »Mein tapferes Mädchen.«

Der Holoschirm an der Wand klingelte einmal und gab damit kund, daß ein Anruf einging. Finlay traf Anstalten, das Gespräch anzunehmen, aber Evangeline packte ihn mit beiden Händen am Arm.

»Nicht antworten!«

»Ist schon in Ordnung, Evie. Nur wenige vertrauenswürdige Personen wissen, daß ich hier bin. Ich muß es annehmen, für den Fall, daß es dringend ist.«

Er befreite sich aus ihrem Griff, lächelte sie beruhigend an, stand vom Bett auf und aktivierte den Holoschirm. Das riesige, gerötete Gesicht von Gregor Shreck erschien dort, halb von einem blutdurchtränkten Verband bedeckt. Einen Moment lang starrte Gregor einfach nur vom Monitor herunter, betrachtete das Bild von Finlay und Evangeline; seine Lippen bebten und zuckten, und das gesunde Auge leuchtete.

»Was möchtet Ihr, Shreck?« fragte Finlay. »Und wie habt Ihr mich hier gefunden?«

»Meine Leute sind Evie auf dem ganzen Weg gefolgt. Sie glaubte, sie hätte sie abgehängt.« Gregors Stimme klang angespannt und schrill, aber voller Gift. »Sie hat Euch alles über ihr kleines Abenteuer im Shreck-Turm erzählt, was? Aber was hat sie Euch wohl nicht erzählt, hm, Feldglöck? Was ist mit den Dingen, die sie Euch nie erzählt hat, den Geheimnissen, die sie seit jeher vor Euch hütet? Soll ich Euch alles über Euren kleinen geklonten Liebling erzählen, hm?«

»Ich weiß, daß sie ein Klon ist«, antwortete Finlay kalt. »Und ich weiß, daß Ihr das Original ermordet habt. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, Evangeline und ich.«

»Oh, aber doch, ganz gewiß, mein lieber Junge! Das garantiere ich. Ich wette, sie hat Euch nie verraten, wie sehr ich sie liebte, oder präzise, wie ich sie liebte. Oh, ich habe sie stark und oft geliebt. Tatsächlich habe ich sie mit ins Bett genommen und sie Tag und Nacht geliebt, so kräftig ich konnte. Und sie hat es genossen!«

»Nein!« protestierte Evangeline. »Nein!«

»Ihr Mistkerl!« brüllte Finlay, das Gesicht hellrot vor Zorn.

»Ihr Mistkerl!«

»Ich habe sie flachgelegt, Feldglöck, lange ehe Ihr es tatet!

Sie war Vatis Mädchen und tat alles, was Vati ihr sagte. Und wir haben alle möglichen Sachen angestellt. Sachen, die sie für Euch wahrscheinlich nie getan hat. Sie ist auf ewig mein, Feldglöck, denn ich hatte sie auch als erster. Dafür habe ich sie ja herstellen lassen. Ich werde sie Euch wieder wegnehmen, und Ihr könnt mich nicht daran hindern.«

»Ich bringe Euch um!« drohte Finlay und rang nach Luft, so schmerzte ihn die Brust. »Ich bringe Euch um! Ich bringe Euch um!«

Gregor lachte ihn aus, und Finlay zog die Pistole und zerschoß den Bildschirm. Gregors Gesicht zersplitterte, und der Monitor fiel stückweise zu Boden. Rauch stieg aus dem Inneren des Apparats auf. Danach war es ganz still, abgesehen von Evangelines Schluchzen. Finlay stand da, die Pistole noch in der Hand, und wollte sich überlegen, was als nächstes zu tun war, aber Gregors gehässige Worte füllten seinen Kopf aus und verjagten jeden anderen Gedanken. Finlay zweifelte nicht einen Augenblick, daß es die Wahrheit gewesen war. Es war genau das, was man von Gregor Shreck erwarten konnte. Endlich steckte Finlay die Waffe weg und drehte sich langsam zu Evangeline um.

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?« fragte er.

»Weil ich wußte, daß du so reagieren würdest. Weil ich wußte, daß du wütend und verletzt sein würdest. Weil ich dachte, wenn du es wüßtest… würdest du mich verlassen. Würdest du nicht mehr die gleichen Gefühle für mich hegen.«

»Hast du dir nie… etwas aus Gregor gemacht?«

»Natürlich nicht! Ich war sein Eigentum! Ich hatte keine Wahl. Entweder tat ich, was er sagte, oder er hätte mich umgebracht und einen neuen Klon hergestellt, der ihm zu willen war.

Ich tat, was nötig war, um zu überleben.«

»Ich werde ihn umbringen«, erklärte Finlay. »Auf der ganzen Welt findet man nicht genug Wachleute, die mich davon abhalten könnten. Du bleibst hier und schließt die Tür hinter mir ab.

Mach sie nicht auf, ehe ich zurückkehre. Und vielleicht bringe ich dir Gregors Kopf mit, eingewickelt in ein Bettlaken.«

»Nein, Finlay! Deshalb hat er ja angerufen und dir das alles gesagt. Es muß eine Falle sein!«

»Natürlich ist es das. Aber das hält mich auch nicht auf.«

»Du kannst ihn nicht töten, Finlay. Es ist nicht mehr wie früher während der Rebellion, als du den Schutz der Untergrundbewegung genossen hast. Der Krieg ist vorbei; man würde es als Mord bezeichnen, und niemand würde deine Partei ergreifen. Man würde dich als gewöhnlichen Mörder aufhängen.«

»Sollen sie es nur versuchen!« drohte Finlay. »Evie, wie konntest du etwas Derartiges vor mir geheimhalten? Wir hatten uns doch geschworen, keine Geheimnisse voreinander zu haben. Wie konntest du nur so etwas Wichtiges für dich behalten? Hattest du kein Vertrauen zu mir?«

»Oh, du bist vielleicht der Richtige, um über Geheimnisse zu reden, Finlay Feldglöck! Wirst du jemals Julian Skye die Wahrheit sagen? Daß der Mann, den er so sehr bewundert, derselbe Maskierte Gladiator ist, der seinen Bruder Auric umbrachte?«

»Das ist etwas anderes!« erwiderte Finlay. Und dann hielt er inne, denn er hörte einen angespannten Laut hinter sich. Er blickte sich um, und dort stand in der offenen Tür Julian Skye.

Das Gesicht des jungen Espers war totenbleich, aber seine dunklen Augen bohrten sich in die Finlays.

»Julian…«

»Du hättest es mir sagen sollen, Finlay. Du hättest es mir bei unserer ersten Begegnung sagen sollen. Wie konntest du nur so etwas tun?«

»Ich habe eine Menge Leute in der Arena umgebracht«, sagte Finlay. »Damals, als ich als der zweite Maskierte Gladiator auftrat. Auric war nur irgendeiner von ihnen. Ich habe erst erfahren, daß er dein Bruder war, als wir schon Freunde geworden waren. Und ich habe es dir nie erzählt, weil ich wußte, wie sehr es dich schmerzen würde.«

»Und wer war der Maskierte Gladiator, den ich während der Rebellion getötet habe?«

»Das war Georg McCrackin, der erste Mann unter der Maske. Er war mein Lehrer. Ich habe die Rolle von ihm übernommen.«

»Ich habe also einen Unschuldigen getötet.«

»Er stand auf der Seite der Imperatorin! Er hätte sich nie ergeben. Er hätte dich umgebracht.«

»Ein Unschuldiger. Du verdammter Mistkerl! Hieltest du das vielleicht für komisch? Hast du dich richtig abgelacht, als der Bruder des Mannes, den du ermordet hast, dir wie ein Hündchen nachlief?«

»Nein, Julian! So war es nie!«

»Ich gehe für eine Zeitlang fort. Ich möchte nicht, daß du mich anrufst. Ich nehme Kontakt zu dir auf, wenn ich entschieden habe, was ich tun werde. Wenn ich entschieden habe, ob ich dich umbringe oder nicht.«

Er drehte sich um und ging, und Finlay wäre ihm am liebsten nachgerannt, verzichtete aber darauf. Im Moment konnte er nichts sagen, was die Sache nicht noch schlimmer gemacht hätte. Er stand schweigend mitten im Zimmer, zwischen den Trümmern seiner Welt. Innerhalb weniger Minuten hatte er seinen Freund verloren und vielleicht auch seine Geliebte, beide das einzige, was ihm etwas bedeutete. Er wollte losziehen und Gregor umbringen und im Gemetzel Trost suchen, brachte es aber nicht über sich. Nicht jetzt, während so viele Probleme ungelöst waren. Also ging er zum Bett zurück, setzte sich neben die schluchzende Evangeline, nahm sie in die Arme und tröstete sie, so gut er konnte. Und ließ den blutroten Zorn im Herzen schwelen.

In der besten Suite, die das beste Hotel in Parade der Endlosen zu bieten hatte, lag SB Chojiro friedlich auf dem riesigen Bett, während Kardinal Brendan sie über die neuesten Entwicklungen ins Bild setzte. SB genoß es, hin und wieder ein wenig Luxus zu haben, und sah keinen Grund, warum sie sich etwas versagen sollte, nur um ihrem Clan ein paar Pennies zu sparen.

Außerdem erwarteten die Leute, mit denen sie zu tun hatte, daß sie sie in einer Umgebung empfing, die ihnen gefiel. Es war unumgänglich, daß diese Leute SB als zumindest ebenbürtig betrachteten, andernfalls hätten sie keine Abkommen mit ihr getroffen. Sie bemerkte, daß Brendan nicht mehr sprach, und wandte träge den Kopf auf dem Kissen, um ihn anzusehen.

»Ja? Habt Ihr ein Problem?«

»Nein. Ich frage mich nur… wie habt Ihr es nur geschafft, offizielle Sprecherin des Schwarzen Blocks zu werden? Vor der Rebellion hatte ich von Euch nie etwas gehört.«

SB Chojiro lächelte. »Ich bin die Sprecherin, weil der Schwarze Block es so möchte. Das ist auch alles, was Ihr zu erfahren braucht. Aber o Eitelkeit, dein Name ist Frau, und deshalb gefällt es mir, Euch darüber zu informieren, daß ich das Ergebnis umfangreicher Planung und Programmierung bin, genau für diese Aufgabe gestaltet. Ich bin die Stimme des Schwarzen Blocks. Ich denke die Gedanken, die der Schwarze Block mir eingibt.«

»Aber… wieviel von Euch ist noch übrig?« fragte Brendan.

»Ich meine, von Eurem wirklichen Selbst. Der ursprünglichen SB Chojiro.«

»Ah«, sagte SB. »Ihr wärt erstaunt! Sagen wir einfach: mehr als Ihr denkt. Aber es ist auch egal. Die Interessen der Organisation sind meine, und umgekehrt.«

»Aber warum…«

»Warum man mich ausgesucht hat, unter allen Personen, auf die der Schwarze Block Zugriff hatte? Man hat es mir nie erklärt. Vermutlich genetische Kriterien. Man ließ meine Eltern töten, als ich noch ganz klein war, und nahm mich dem Clan weg, damit ich keine Bindungen mehr hatte außer dem Schwarzen Block, und damit ich niemandem sonst gegenüber loyal war. Ich habe nie eine Familie gehabt oder erfahren, wie das sein könnte, also kann ich nicht ehrlich behaupten, ich hätte etwas verloren. Der Schwarze Block ist mein Vater und meine Mutter und alle meine Geschwister. Er hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin.«

»Und wer ist dieser ›er‹?« wollte Brendan wissen. »Ich bin nie über die Peripherie hinausgekommen. Die Mysterien sind mir verschlossen geblieben. Wer sind diese Leute, die alles entscheiden?«

»Ah«, sagte SB und lächelte zur Decke hinauf. »Das wüßtet Ihr gern, nicht wahr?«

Kardinal Brendan seufzte leise. Er hätte es besser wissen müssen, als eine direkte Antwort von SB Chojiro zu erwarten.

»Was kommt nun an die Reihe?« fragte er und kehrte damit auf den besser abgesicherten Boden der Tagesgeschäfte zurück.

»Wir haben meine komplette Liste abgearbeitet, aber Ihr habt mich angewiesen, mir für den restlichen Abend freizunehmen.«

»Das habe ich«, bekräftigte SB. »Ich weiß nicht genau, was jetzt passieren wird. Verschiedene Ereignisketten wurden in Gang gesetzt. Als einziges ist gewiß, daß irgendwann heute abend mehrere wichtige Mitglieder des Schwarzen Blocks hier eintreffen werden, um über ein Bündnis mit Jakob Ohnesorg zu beraten.«

»Was? Ihr macht wohl Witze! Was könnte er mit uns gemeinsam haben?«

»Ganz einfach. Er ist ein Chojiro.«

Brendan starrte sie einen Moment lang nur an. »Jakob Ohnesorg ist ein Chojiro

»Ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, er hieße Ohnesorg, oder? Seine Mutter entstammte meinem Clan. Sein Vater war unwichtig. Es kommt nur darauf an, daß Jakob mit einer führenden Familie blutsverwandt ist, und es kommt vor allem zu einem Zeitpunkt darauf an, an dem er sich stärker isoliert fühlt als je zuvor in seinem Leben. Und egal, wie weit wir uns von ihr entfernen, die Familie bleibt die Familie. Falls wir ihn, den legendären Berufsrebellen und -helden, überreden könnten, sich uns anzuschließen, den Mann, der das Abkommen mit dem Schwarzen Block geschlossen hat…«

»Es ist riskant«, fand Brendan. »Zu riskant. Er ist im Augenblick vielleicht politisch isoliert, aber er bleibt ein Mann von Macht und Einfluß. Und zu allem Überfluß ist er einer der Überlebenden des Labyrinths. Was immer das für Leute sind.«

»Sie sind die Zukunft«, sagte SB. »Wer immer sie steuert oder notfalls vom Spielfeld nehmen kann, bestimmt das Schicksal der Menschheit. Wie auch immer – die Überlebenden des Labyrinths sind vielleicht mächtig, aber sie haben weiterhin ihre Schwächen. Jakob Ohnesorg würde sich den Tröstungen einer Familie, des Dazugehörens, anheimgeben. Ruby Reise braucht den Kampf und eine Richtung, wenn nicht eine besondere Aufgabe; sie ist unfähig, ein eigenes Leben zu führen, und benötigt das Gefühl, daß man sie braucht. Owen Todtsteltzer und Hazel D’Ark… sind ein Problem. Zusammen sind sie größer als die Summe ihrer Teile, so daß es am ehesten unseren Interessen entspricht, wenn wir sie trennen. Wenn wir sie gegeneinander ausspielen, Owens Idealismus gegen Hazels praktische Gesinnung setzen. Es könnte gut sein, daß sie sich dann gegenseitig vernichten.«

»Was auch immer geschieht, wir müssen die bevorstehende Eheschließung zwischen Owen und Konstanze Wolf verhindern«, meinte Brendan. »Owen als Imperator, selbst als konstitutioneller Imperator, wäre undenkbar!«

»Nicht unbedingt«, wandte SB ein und streckte sich träge.

»Falls wir ihn nicht vernichten können, bleibt uns immer noch, ihn zu manipulieren. Wichtiger ist, daß wir Finlay Feldglöck aus dem Spiel nehmen. Es kommt darauf an, daß Robert als der Feldglöck eingesetzt werden kann, ohne daß sich dem jemand widersetzt.«

»Ich habe einiges in Bewegung gesetzt«, sagte Brendan.

»Jetzt brauchen wir nur noch zu warten. Ich kann jedoch nicht erkennen, daß Robert als der Feldglöck irgendeine Verbesserung darstellen würde. Es heißt, er hege keine Zuneigung zu Aristokraten im allgemeinen und dem Schwarzen Block im besonderen.«

»Aber er gehörte eine Zeitlang dem Schwarzen Block an, und wer uns einmal gehört hat, der gehört uns für immer. Wenn der Zeitpunkt kommt, wird er das Richtige tun. Er wird gar nicht anders können.«

Der Bildschirm an der Wand läutete höflich, und Brendan ging hinüber, um das Gespräch anzunehmen. Julian Skyes ausgemergeltes Gesicht erschien, und SB legte sich rasch zurück, damit Julian sie nicht sehen konnte. Er wirkte müde, und er funkelte Brendan aus verdächtig verschwollenen Augen an.

»Ich möchte mit SB sprechen. Sofort.«

»Tut mir leid, Julian. Sie möchte nicht mit Euch reden. Nicht, bis Ihr Eure Liebe und Loyalität zu ihr unter Beweis gestellt habt.«

»Ich kann ihr Finlay Feldglöck liefern. Falls es das ist, was sie möchte.«

»Das sind… gute Nachrichten, Julian. Ich bin sicher, daß SB sich sehr freuen wird, das zu hören. Wie schnell…«

»Sehr schnell. Aber ich übergebe ihn nur SB. Persönlich.«

»Ich bin überzeugt, daß wir das arrangieren können. Informiert mich, sobald Ihr die Lieferung vornehmen könnt, und ich nenne Euch Zeit und Ort. SB wird Euch dort erwarten.«

»Sagt ihr… sagt ihr, daß ich sie liebe.«

»Selbstverständlich. Ihr tut das Richtige, Julian. Seid vorsichtig mit Finlay; er ist…«

Aber Julian hatte die Verbindung schon getrennt. Brendan starrte auf den leeren Bildschirm und drehte sich dann zu SB um, die aufgestanden war und auf ihn zukam.

»Na«, sagte Brendan, »das war überraschend. Ich hatte mit seiner totalen Kapitulation noch auf Tage hinaus nicht gerechnet.«

»Er liebt mich«, gab SB zu bedenken. »Mein lieber, süßer, verletzlicher Julian. Er hat immer gesagt, er würde alles für mich tun.«

»Sogar seine Freunde verraten?«

»Natürlich. Wozu sind Freunde da?«

»Aber können wir uns darauf verlassen, daß er sein Wort hält? Ihr habt ihn an die Folterknechte verraten. Ihr steht für alles, was er verabscheut.«

»Das spielt keine Rolle. Er gehört mir. Eigentlich hätte es sein leichter formbarer, älterer Bruder Auric werden sollen. Er wäre uns viel nützlicher gewesen. Er bestand jedoch auf diesem dummen Duell in der Arena und ging uns dabei verloren.

Julian war nur die zweite Wahl, aber um fair zu sein: Er hat aus eigener Kraft viel mehr erreicht, als ich erwartet hätte. Ein weiterer offizieller Held der Rebellion könnte sich für uns als sehr nützlich erweisen…«

»Denkt Ihr wirklich, daß er seinen besten Freund umbringt?

Seinen Retter? Sei es auch Euch zuliebe?«

»Wahrscheinlich nicht. Eher rechne ich damit, daß er mir Finlay lebend und hilflos ausliefert und vorher alle möglichen Bedingungen aushandelt, bis sein Gewissen ihm erlaubt, Finlay zu übergeben. Aber das ist egal. Auf die eine oder andere Art erhalten wir, was wir möchten.«

»Der arme Julian«, sagte Brendan lächelnd. »Schon ins Schwimmen geraten und im Begriff, rasch zu sinken. Er könnte einem fast leid tun, nicht wahr?«

SB musterte ihn kühl. »Wollt Ihr damit fragen, ob ich Gefühle für ihn hege? Natürlich tue ich das. Ich bin letztlich auch nur ein Mensch.«

»Wirklich?« fragte Brendan. »Ich dachte, Ihr wärt ganz Schwarzer Block

Evangeline saß in Finlays Quartier steif auf der Bettkante und war nach wie vor in ihr Bettlaken gewickelt. Finlay saß ihr gegenüber auf einem Stuhl und machte ein ausgesprochen finsteres Gesicht. Sie hatten es mit einem Gespräch probiert, aber damit nichts erreicht. Reden war nie Finlays starke Seite gewesen. Der Reservemonitor läutete plötzlich, und Finlay mußte für einen Augenblick angestrengt nachdenken, ehe ihm wieder einfiel, wo er das Gerät fand. Bislang hatte er es noch nie benutzen müssen. Endlich entdeckte er den kleinen Bildschirm im Kopfteil des Bettes und nahm den Anruf entgegen. Julian Skyes Gesicht tauchte auf, und Finlay stieß einen leisen, erleichterten Seufzer aus.

»Julian! Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Wie geht es dir? Bist du in Ordnung? Hör mal…«

»Wir müssen reden, Finlay.«

»Natürlich müssen wir das! Sieh mal, ich kann Evie im Moment nicht allein lassen. Wieso…«

»Wir müssen sofort miteinander reden, Finlay. Komm herüber in mein Stadthaus. Ich kann nicht weg. Ich kann nicht riskieren, daß mich jemand sieht. Du mußt herkommen! Es ist wichtig. Meine alten Verbindungsleute unter den Espern sind einer Verbindung zwischen Gregor Shreck und den Chojiros auf die Schliche gekommen. Da läuft zusammen mit dem Schwarzen Block irgendeine Intrige. Ich habe versucht, Jakob Ohnesorg zu erreichen, aber niemand weiß, wo er sich aufhält.

Du bist der einzige andere Mensch, mit dem ich darüber reden kann.«

»Ja, richtig. Scheiße! An manchen Tagen überstürzt sich einfach alles. In Ordnung, bleibe, wo du bist. Ich bin bei dir, sobald ich kann.«

»Sicher, Finlay. Bis später.«

Der Bildschirm wurde dunkel. Finlay drehte sich um und stellte fest, daß Evangeline ihn ungläubig musterte. »Du denkst doch nicht ernsthaft daran, dorthin zu gehen, oder?«

»Ich muß«, sagte Finlay. »Ich muß mit ihm reden, ihm erklären… Du hast ja gesehen, in welcher Verfassung er gegangen ist. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, er könnte etwas…

Törichtes tun. Ich bleibe nicht lange weg.«

»Was ist mit mir? Bedeute ich nichts? Ich möchte nicht, daß du mich allein läßt, Finlay!«

»Ich komme zurück, so schnell ich kann.«

»Finlay!«

»Evie, ich muß das tun! Vielleicht steckt nichts hinter dieser Chojiro-Sache; vielleicht ist es nur eine Ausrede, um sich an mich zu wenden. Ich kann es mir aber nicht erlauben, das einfach vorauszusetzen. Falls er recht hat, muß ich mit einem ganzen Haufen Leute Kontakt aufnehmen… Evie, du weißt, daß ich dich nicht allein lassen würde, wenn ich nicht dazu gezwungen wäre.«

»Du läßt mich immer allein, Finlay, und rennst weg, um irgend jemanden umzubringen und ein weiteres Mal den Helden zu spielen. Immer geht es darum, was du für nötig hältst. Was ist mit meinen Bedürfnissen?«

»Du bist hier in Sicherheit. Niemand kann hier zu dir vordringen, nicht am Sicherheitsdienst der Arena vorbei. Ich muß gehen. Es ist wichtig.«

»Und ich bin es nicht?«

»Das habe ich nicht behauptet!«

»Falls es so wichtig ist, komme ich mit.«

»Evie, das geht nicht. Du bist nicht in der Verfassung, um irgendwohin mitzukommen. Und ich denke, Julian und ich müssen das allein besprechen. Ruhe du dich lieber aus. Ich bin bald zurück, versprochen.«

»Finlay, falls du mich jetzt im Stich läßt, bin ich nicht mehr hier, wenn du zurückkehrst. Ich meine es ernst, Finlay!«

Er ging trotzdem, was ihnen beiden von Anfang an klar gewesen war. Finlay Feldglöck konnte niemals einem Aufruf zur Tat widerstehen.

Julian Skye, der wieder in seinem alten Haus zurück war, wandte sich vom leeren Bildschirm ab. Er fühlte sich kalt und leer und sehr müde. Vor gerade mal ein paar Tagen hatte sein Leben noch Sinn ergeben. Es war geordnet gewesen, abgesichert, gar der Routine anheimgefallen. Jetzt war alles dahin, was ihm je etwas bedeutet hatte. Alles außer SB Chojiro. Aber ihm blieb keine Zeit für Trauer oder Bedauern. Er hatte das eine oder andere zu tun, mußte ein paar Dinge in die Wege leiten, ehe Finlay eintraf.

Julian ging zu dem niedrigen Holztisch am Kamin hinüber und nahm die kleine Silberschatulle zur Hand, die dort stand.

Der Deckel zeigte das Familienwappen. Sein Vater hatte sie als Schnupftabakdose benutzt. Julian hatte sie in seiner Zeit bei den Rebellen anderen Zwecken zugeführt. Er öffnete sie jetzt und holte eine einzelne schwarze Kapsel heraus, fast so groß wie ein Fingernagel. Er wog sie für einen Moment ab und machte sich dann auf die Suche nach einem Glas Wein. Etwas von dieser Größe würde schwer zu schlucken sein, und er hatte sowieso immer Probleme mit Tabletten gehabt. Schließlich schaffte er es doch, unterstützt von einem Halben und mit etwas Anstrengung. Die Kapsel bereitete ihm entschieden Unbehagen, als er sie schluckte, aber er war darüber hinaus, sich noch um solche Dinge zu scheren.

Eine einzelne schwarze Kapsel. Nur ein bißchen, das ihn zusammenhielt, während er mit SB Chojiro sprach. Er hoffte, daß er sie nicht brauchen würde, aber es bestand immer die Gefahr, daß das doch der Fall sein würde.

Er setzte sich in den Salon und wartete darauf, daß Finlay eintraf. Es dauerte etwas weniger als eine Stunde, und als die Türglocke läutete, saß Julian immer noch dort. Er hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Er ging selbst zur Tür. Den Dienern hatte er für den restlichen Abend freigegeben. Er wollte keine Zeugen. Er öffnete die Tür für Finlay, und sie beide nickten sich verlegen zu. Julian führte seinen Gast in den Salon. Sie setzten sich vor dem Kamin einander gegenüber.

»Ich wollte nie, daß du es herausfindest«, sagte Finlay. »Ich wußte, daß es dir weh tun würde.«

»Du hast meinen Bruder Auric umgebracht.«

»Ja, das habe ich. Ich habe viele Leute in der Arena umgebracht.«

»Er hat gut gekämpft. Du hättest dich damit begnügen können, ihn zu verletzen. Die Menge hätte für ihn den aufgerichteten Daumen gezeigt.«

»Er hat zu gut gekämpft. Er hatte Panzerplatten unter der Haut implantiert und Servomechanismen in den Muskeln. Ich dachte wirklich, er würde mich töten. Also stoppte ich ihn mit einem Schwertstoß gegen seine einzige ungeschützte Stelle: die Augen.«

»Du warst der Maskierte Gladiator. Unbesiegter Meister der Arena. Falls du nur gewollt hättest, dann wäre dir eine Möglichkeit eingefallen, ihn zu besiegen, ohne ihn dabei zu töten.«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht. In der Arena findet man keine Zeit, um über solche Fragen nachzudenken. Es heißt töten oder getötet werden. Dein Bruder wußte das.«

»Auric. Er hieß Auric.«

»Was soll ich deiner Meinung nach sagen, Julian? Daß es mir leid tut? In Ordnung, es tut mir leid, daß ich deinen Bruder Auric umgebracht habe. Aber du und ich, wir haben während der Rebellion viele Menschen getötet, manche davon einfach nur Soldaten oder Wachtposten, die ihren Job taten, die ihre Pflicht erfüllten, wie sie sie verstanden. Jeder von ihnen war irgend jemandes Bruder. Mir tut der Schmerz leid, den ich dir zugefügt habe, Julian. Ich kann es jedoch nicht mehr ändern.«

»Ich weiß«, sagte Julian. »Mir tut es auch leid. Aber manchmal ist das nicht genug.«

Er griff mit seiner ESP hinaus und schaltete Finlays Verstand aus. Der Feldglöck kippte vom Stuhl und blieb reglos auf dem Teppich liegen. Julian stand auf, blickte auf den alten Freund hinunter und gab sich Mühe, keine Gefühle aufsteigen zu lassen. Die Tür ging auf, und drei Einsatzleute des Schwarzen Blocks kamen aus dem angrenzenden Raum, in dem sie gewartet hatten. Der Anführer sah Finlays reglose Gestalt an.

»Ist er tot?«

»Nein«, sagte Julian. »Er schläft nur. Hebt ihn auf und tragt ihn hinaus. Und behandelt ihn höflich. Er war einmal ein großer Mann.«

Die drei Agenten des Schwarzen Blocks warfen den bewußtlosen Finlay SB Chojiro vor die Füße. Er lag reglos da und atmete kaum. Schwertgurt und Halfter hatte man ihm abgenommen.

Ein Arm lag schlaff neben dem Körper ausgestreckt und war SB wie in einer bittenden Geste zugewandt. Sie betrachtete Finlay einen Augenblick lang und hob schließlich die Augen lächelnd zu Julian Skye, der ein kleines Stück abseits stand. Er erwiderte das Lächeln nicht, nickte ihr jedoch zu.

»Hallo SB. Ist eine Weile her, nicht wahr? Mir gefällt deine Suite. Sehr luftig. Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht. Eine kleine Aufmerksamkeit.«

»Hallo Julian. Schön, dich wiederzusehen. Du warst schon immer sehr großzügig zu mir. Ich hoffe, du hattest keine Schwierigkeiten, mich zu erreichen.«

»Ich hätte ohne die Durchsuchung, das komplette Ausziehen und die tastenden Finger auskommen können, aber ich verstehe, daß du auf Sicherheit bedacht bist. Du hast heutzutage viele Feinde, SB.«

»So geht es erfolgreichen Leuten immer. Du bist ja ganz blaß, Julian. Hast du auch gut für dich selbst gesorgt?«

»Es geht mir in letzter Zeit nicht gut. Die Rebellion hat mich viel gekostet. Es geht wieder vorüber.«

»Gut. Ich habe mir alle deine Holoauftritte angesehen. Sehr dramatisch. Soweit ich gehört habe, bist du heute ein richtiger Frauenschwarm.«

»Oh, sicher doch. Ich habe sogar einen offiziellen Fanclub.

Ich kann dir ein Bild mit Autogramm geben, falls du möchtest.«

»Und?« fragte SB. »Gibt es in deinem Leben zur Zeit jemand besonderes?«

»Nein«, antwortete Julian. »Das weißt du ganz gut. Es hat immer nur dich gegeben, SB. Nach dir hatte ich keinen Blick mehr für sonst jemanden. Deshalb bin ich ja auch hier. Deshalb habe ich dir Finlay mitgebracht. Um die Tiefe der Gefühle zu demonstrieren, die ich für dich hege.«

»Lieber Julian! Auch in meinem Leben hat es niemals jemand anderen als dich gegeben. Ich wollte nie einen anderen.

Wir gehören zusammen.«

»Schicke deine Schatten weg«, sagte Julian und deutete auf die drei Agenten des Schwarzen Blocks, die sich schweigend im Hintergrund hielten. »Wir brauchen kein Publikum.«

SB gab den drei gesichtslosen Männern einen Wink, und sie nickten, gingen hinaus und schlossen die Tür lautlos hinter sich. SB und Julian standen einander über Finlays bewußtloser Gestalt gegenüber, und beide Gesichter zeigten einen sehnsüchtigen Ausdruck, der vielleicht real war, vielleicht aber auch nicht.

»Du bist so schön«, sagte Julian. »Du bist alles, was ich mir je gewünscht habe. Ich hätte mein Leben für dich geopfert.«

»Warum bist du hier, Julian?« wollte SB mit ganz dünner und ganz leiser Stimme wissen. »Nach all den schrecklichen Dingen, die ich dir angetan habe?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß immer noch nicht so recht, ob ich dich lieber küssen oder umbringen sollte. Du hast mir weh getan, SB. Ich habe dir vertraut, und du hast mir das Herz aus dem Leibe gerissen.«

»Ich weiß. Mir blieb keine andere Wahl. Seitdem ich ein kleines Kind war, gehöre ich dem Schwarzen Block an. Er ist mein Leben und bedeutet alles für mich. Ich kann mich dieser Programmierung genausowenig erwehren wie des Atems. Ich habe dich geliebt, aber sie haben mich gezwungen, dich aufzugeben. Ich habe tagelang geweint.«

»Hast du das, SB? Hast du das wirklich getan? Ich habe in der Verhörzelle auch geweint, aber niemand ist hereingekommen und hat mir die Tränen abgewischt. Seitdem habe ich nicht mehr geweint. Ich denke nicht, daß ich dazu noch fähig bin.«

»Wieso bist du gekommen, Julian? Was möchtest du von mir?«

»Ich möchte, daß alles wieder so wird, wie es früher war, als wir uns geliebt haben und so glücklich waren und dachten, wir würden das Leben gemeinsam verbringen.«

»Das wünsche ich mir auch, Julian. Wer immer und was immer ich war, irgend jemand blieb ständig in mir, der dich liebte. Wir können wieder zusammen sein, nachdem du jetzt deine Liebe unter Beweis gestellt hast. Der Schwarze Block steht diesmal nicht zwischen uns. Er möchte, daß wir zusammen sind. Er hat eine große Zukunft für uns geplant. Wir können heiraten, und du trittst dem Clan Chojiro bei. Wir vergessen, was früher war, vergessen den Schmerz, und nichts wird uns jemals trennen. Wir gehören einander für immer. Es ist gar nicht so schlecht, wenn man dem Schwarzen Block angehört.

Wir können gemeinsam glücklich werden. Dazu ist nicht mehr nötig als ein letzter Beweis deiner Gefühle. Alles, was du für den Schwarzen Block und für mich zu tun hast, ist, unseren Feind Finlay Feldglöck zu töten.«

Julian musterte sie und blickte dann auf die bewußtlose Gestalt, die zwischen ihnen auf dem Boden lag. »Ich hatte immer befürchtet, daß es dazu kommen würde. Daß ich mich zwischen der Liebe zu dir und der zu meinem Freund entscheiden muß. Und ich habe mich gefragt, was ich schließlich tun würde, wenn es soweit war. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, SB. Du warst meine erste Liebe und meine erste Frau, und nichts kann das mehr ändern. Ich habe allerdings viel durchgemacht. Ich sehe manches jetzt klarer. Und ich weiß, daß du alles sagen würdest, was nötig ist, damit ich deinen Wünschen entspreche. Wahrheit und Lüge sind für dich das gleiche, denn das einzige, was dir im Leben etwas bedeutet, ist der Schwarze Block. Du gehörst ihm mit Leib und Seele. Es ist nicht deine Schuld. Nicht wirklich. Aber du liebst mich nicht. Das hast du nie. Ich denke nicht, daß dir das überhaupt gegeben ist.«

»Du irrst dich, Julian. Du irrst dich so sehr! An mir ist mehr als nur die Programmierung.« Tränen schimmerten jetzt in ihren Augen. »Der Schwarze Block hat mein Denken geformt, aber das Herz gehört immer noch mir. Wir können gemeinsam glücklich werden, wirklich!«

»Nein. Falls du mich wirklich liebtest, würdest du mich nicht auffordern, meinen Freund zu töten.«

»Dann tue es nicht«, sagte SB. »Laß ihn leben. Du bist mir wichtiger als der Tod eines Feindes.«

Sie streckte die Arme nach ihm aus, und er stolperte hinein.

Er drückte SB an sich, legte seinen Kopf auf ihren. Er atmete den feinen Duft ihres Haares ein, und sie fühlte sich in seinen Armen so weich und wundervoll an. Und dann zog SB den langen, dünnen Dolch, den sie im Ärmel versteckt trug, und stieß ihn fachmännisch zwischen Julians Rippen. Er schrie vor Schreck und Schmerz auf, und seine Arme schlossen sich um sie wie ein Schraubstock. SB entspannte sich in seinem sterbenden Griff und lächelte ihm ins Gesicht, das ihrem so nahe war.

»Verzeih mir, mein Liebling, aber du bist seit jeher zu gefährlich, als daß wir dir gestatten könnten, frei herumzulaufen.

Hättest du dich doch nur an mich gebunden, mir gestattet, dich an den Schwarzen Block zu binden, dann hätten wir so glücklich werden können! Ich hatte jedoch immer den Verdacht, du könntest dafür ein zu ehrenhafter Mann sein. Armer Julian!

Wußtest du nicht, daß die Welt, die du zu schaffen mitgeholfen hast, keinerlei Ehre kennt?«

Julian lächelte sie an, und seine Zähne waren rot von Blut. Er atmete rauh, und ein feiner Regen aus roten Tröpfchen sprühte mit jedem Zug hervor und bespritzte SBs Gesicht mit entsetzlichen Flecken. Sie zuckte nicht zusammen. Julian hielt sie nach wie vor fest umklammert, aber sie wußte, daß die Kraft bald aus seinen Armen schwinden würde. Julian senkte das Gesicht zu ihr. Er wollte sicherstellen, daß sie auch hörte, was er zu sagen hatte.

»Ich wußte… daß du keine Ehre hast, SB. Wach auf, Finlay! «

Er griff mit seiner ESP nach Finlay, und die Gestalt auf dem Boden war plötzlich wieder hellwach. Finlay sprang auf und griff nach dem Schwert, das gar nicht mehr an seiner Seite hing. Er blickte sich wütend um, sah, daß Julian SB festhielt, entdeckte dann das Messer in seiner Seite.

»Julian, was…«

»Du bist im Chojiro-Turm«, erklärte ihm Julian unter Schmerzen. »Verschwinde von hier, Finlay. Ich halte die Türen mit meiner ESP zu, damit die Wachleute nicht hereinkönnen.

Du mußt ein Fenster nehmen.«

Er spannte die Gedankenkräfte an, und ein Panzerglasfenster explodierte nach außen. Durch die weite Öffnung wehte der Wind herein, kalt wie der Tod. Finlay traf Anstalten, auf Julian zuzugehen.

»Ich lasse dich nicht zurück! Du bist verletzt!«

»Ich sterbe, Finlay! Ich vergebe dir alles. Du warst immer mein Freund. Jetzt sieh verdammt noch mal zu, daß du von hier verschwindest! Ich habe eine Bombe im Bauch.«

SB schnappte nach Luft und versuchte sich zu befreien, aber er hielt sie wie mit Eisenstangen fest. Finlay las in den Zügen des Sterbenden, daß er die Wahrheit gesagt hatte, und warf sich aus dem zertrümmerten Fenster. SB trat um sich und strampelte und schrie um Hilfe. Julian drückte sie an sich und lachte und weinte, als er das ESP-Signal an die schwarze Kapsel sandte, die er vorher geschluckt hatte.

Als die Bombe hochging, tötete sie beide augenblicklich und zerfetzte das komplette oberste Stockwerk des Chojiro-Turms.

Finlay Feldglöck hatte, ehe er hinaussprang, gar nicht gewußt, daß er sich im obersten Stockwerk des Turms aufgehalten hatte, zweiunddreißig Etagen hoch. Die ersten paar Stockwerke legte er im Schock zurück, aber dann explodierte die oberste Etage und rüttelte ihn wach. Alle Fenster flogen gleichzeitig heraus, und dicker schwarzer Qualm wogte aus den Öffnungen hervor. Messerscharfe Panzerglassplitter flogen an ihm vorbei und schnitten ihn an einigen Stellen, während er nach unten langte und darum kämpfte, den Absatz des rechten Stiefels zurückzuziehen. Darinnen war die Kletterleine aufgespult, die er in seiner Zeit als Attentäter während der Rebellion benutzt hatte. Er hatte schon immer auf das Prinzip gehalten, allzeit bereit zu sein. Wachtposten nahmen einem vielleicht Schwert und Pistole ab, aber praktisch nie die Schuhe, es sei denn, man war tot. Julian wußte über den Absatz Bescheid. Finlay hatte ihm genug Geschichten davon erzählt. Julian! Julian war tot.

Finlay kniff für einen kurzen Moment die Augen zu und verbannte dann diesen Gedanken. Er würde später trauern, wenn er Zeit dafür fand. Vorausgesetzt, es gab ein Später.

Er warf den Eisenhaken am Ende der Leine zum Turm hinüber, und er verfing sich an einem Ziervorsprung. Finlay wickelte sich das andere Ende um die Hände und bereitete sich vor. Mit einem Ruck spannte sich das Seil, zerrte an seinen Armen und biß so tief ins Fleisch, daß es blutete. Finlay knirschte mit den Zähnen und ließ sich vom Impuls an die Wand hinüberschwingen. Einen Augenblick später klammerte er sich an die Wand wie an einen alten Freund, beugte nacheinander die schmerzenden Hände und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Einbrechen konnte er nicht in den Turm, also mußte er den restlichen Weg hinunterklettern. Er blickte vorsichtig nach unten und zählte einundzwanzig Stockwerke. Er schüttelte langsam den Kopf. Er wurde allmählich zu alt für diesen Mist.

Er brauchte über eine Stunde, um den Boden zu erreichen, denn er kletterte vorsichtig und vermied es, die Wachleute des Turms auf sich aufmerksam zu machen. Zum Glück hatte die Explosion die Außensensoren des Gebäudes zerstört, und die Wachleute waren alle im Inneren, um bei der Brandbekämpfung auf den Ruinen der obersten Etage zu helfen. Finlay legte die letzten paar Fuß im Sprung zurück und landete heftig. Der feste Boden unter den Füßen fühlte sich gut an. Er blickte hinauf, verfolgte den Weg zurück, den er zurückgelegt hatte. Die Turmspitze war von Rauch und Flammen umhüllt. Julians Feuerbestattung. Finlay wußte immer noch nicht recht, was passiert war, aber er konnte es sich denken. Er hatte schon immer gewußt, daß SB Chojiro seinem Freund einmal den Tod bringen würde.

Finlay seufzte und entschied, daß es allmählich Zeit wurde, Gregor Shreck zu töten. Dann konnte er es genausogut auch jetzt tun. Alles, was ihm etwas bedeutete, war ihm geraubt worden. Sein engster Freund Julian. Jede Hoffnung auf eine Verbindung mit Adrienne und den Kindern. Und Evangeline, die er verloren hatte, indem er sie verließ, als sie ihn am dringendsten brauchte. Jetzt war er allein, und es stand ihm frei, zu tun, was er schon lange hätte machen sollen. Vor dem Gesetz würde er kein Verständnis finden. Ebensowenig bei seinen ehemaligen Freunden und Kameraden unter den Rebellen. Sie würden ihn als Mörder bezeichnen, als Renegaten, und sich zusammenschließen, um ihn zu jagen. Aber nichts davon bedeutete ihm etwas. Jetzt kam es nur noch darauf an, Gregor Shreck für all den Schmerz und das Grauen zu bestrafen, wofür dieser Mann die Verantwortung trug. Finlay nickte einmal und entfernte sich vom brennenden Turm.

Gregor hätte es wissen müssen. Der gefährlichste Mann ist immer derjenige, der nichts mehr zu verlieren hat.

Er hatte seine Waffen nicht hergegeben, als die Rebellion beendet war. Stets war er davon ausgegangen, daß er sie eines Tages womöglich wieder brauchte. Nur für den Fall, daß die neue Ordnung nicht funktionierte. Er bewahrte sie in einem sicheren Versteck auf, in einem Teil der Stadt, wo niemand Fragen stellte, und sprach niemals darüber. Nicht mal Evangeline wußte davon. Sie wäre nie damit einverstanden gewesen.

Ein Taxi brachte Finlay in weniger als einer halben Stunde dorthin. Er ließ ein gutes Stück davor anhalten, gab dem Fahrer genügend Trinkgeld, um sicherzustellen, daß der Mann sich nicht an seinen Fahrgast erinnerte, und legte den restlichen Weg zu Fuß zurück.

Er blieb vor der schlichten Stahltür stehen und prüfte sorgfältig, ob all seine versteckten Kontrollen intakt waren. Keine davon war ausgelöst worden. Das Geheimnis war also gewahrt.

Er öffnete das Schloß mit Daumenabdruck und Stimmkode und nickte zufrieden, als er feststellte, daß seine alten Freunde nach wie vor an Ort und Stelle waren. Schwerter, Äxte, Energiewaffen, Projektilwaffen, Granaten und all die übrigen nützlichen Kleinigkeiten, die er sich in seiner Zeit als Attentäter zugelegt hatte. Er verfügte über ausreichend Feuerkraft, um eine kleine Armee auszuschalten, und das war genau, was er vorhatte.

Zunächst zog er sich eine vollständige Körperpanzerung an.

Als nächstes kamen ein Energieschild-Armband ums linke Handgelenk und ein Schwertgurt um die Taille. Das Gewicht des Schwerts an der Hüfte fühlte sich beruhigend an, wie eine Heimkehr. An der anderen Hüfte wurde ein voll geladener Disruptor im Halfter positioniert. Eine Projektilpistole schob sich Finlay am Rücken hinter den Gürtel. Damit hatte er etwas Besonderes vor. Schließlich folgten zwei sich an Brust und Rücken kreuzende Schultergurte mit diversen Granaten, mit Splitter-, Erschütterungs- und Brandgranaten. Finlay stampfte eine Zeitlang in der kleinen Kammer hin und her, um sich an die Gewichtsverteilung zu gewöhnen. Sein Plan war ganz einfach.

Er hatte vor, durch den Haupteingang des Shreck-Turms zu spazieren und jeden umzubringen, auf den er traf, bis er vor Gregor Shreck stand.

Und genau das tat er auch. Der Plan funktionierte erstaunlich gut. Die Sicherheitsvorkehrungen im Turm der Shrecks dienten, wie in den meisten Pastelltürmen, vor allem der Abwehr von Angriffen aus der Luft, die mit Gravschlitten vorgetragen wurden, oder von Bodenangriffen starker Kräfte. Sie waren keine zureichende Vorbereitung auf einen einzelnen Killer mit kalten Augen und kaltem Herzen, dem es egal war, ob er überlebte oder starb. Finlay ging auf die Wachtposten vor dem Haupteingang zu, schoß dem einen ins Gesicht und schnitt dem anderen die Kehle durch. Eine Richtungsladung aus dem Schultergurt pustete die Tür aus den Angeln. Finlay warf eine Splittergranate in die Eingangshalle, wartete, bis sie detonierte und die Schreie einsetzten, stolzierte in den rauchverhangenen Raum und metzelte die wenigen Leute nieder, denen die Granate noch nicht den Rest gegeben hatte. Er warf auch eine Brandgranate, um zur Ablenkung ein Feuer zu legen, und stieg die Treppe ins nächste Stockwerk hinauf. Er war nicht so blöd, daß er den Fahrstuhl benutzt hätte.

Wachleute kamen die Treppe heruntergelaufen, und er brachte sie sämtlich um. Stetig bahnte er sich den Weg nach oben und hielt an jedem Stockwerk an, um Granaten und Brandsätze zu werfen. Wer nicht bei den Detonationen umkam, sah sich rasch mit dem Versuch beschäftigt, den sich ausbreitenden Bränden und dem Rauch zu entrinnen. Die Sprinkler gaben ihr Bestes, aber sie waren nicht dazu konstruiert, mit dergleichen fertig zu werden. Der Wachleute war kein Ende, und Finlay tötete sie alle, außer denen, die genügend Verstand aufwiesen, um sich umzudrehen und wegzulaufen, als sie den Tod auf sich zukommen sahen.

Finlays Schwertarm schmerzte allmählich, und das Blut, das an seinem Panzer herabtropfte, war jetzt manchmal sein eigenes, aber er scherte sich nicht darum. Er tat, wozu er geboren war, und er leistete gute Arbeit. Sein Energieschild lenkte die Schüsse der Strahlenwaffen ab, und im engen Treppenhaus konnten sich ihm jeweils nur wenige Wachleute gleichzeitig entgegenstellen, was nicht reichte, um ihn aufzuhalten, nicht annähernd. Er stieg über die Leichen hinweg und setzte seinen Weg fort.

Inzwischen hatte er in der Hälfte aller Stockwerke Feuer gelegt. Dichter schwarzer Qualm wogte hinter ihm die Treppe herauf. Er hörte die Schreie der Panik und das Heulen der Alarmsirenen, und es war Musik in seinen Ohren. Sollte der Turm der Shrecks brennen! Er hatte nicht vor, wieder hinunterzusteigen.

Und schließlich gingen Gregor die Wachleute aus. Ihre eindrucksvoll aussehenden Rüstungen taugten nicht viel im Kampf auf engstem Raum, und in Anbetracht des Turms, der rings um sie in Flammen stand, entschieden die meisten, daß sie nicht gut genug bezahlt wurden, um sich diesem Irren zu stellen, und gaben Fersengeld. Finlay stieg weiter nach oben und hustete manchmal im Rauch, wurde aber nicht langsamer.

Er erreichte die oberste Etage und ging den verlassenen Korridor entlang, wobei er unterwegs die Türen eintrat, bis er die Panzertür zu Gregors Privatquartier erreichte. Er pustete sie mit einer gerichteten Sprengladung aus der Fassung und marschierte durch den Rauch in Gregors blutroten Mutterschoß von einem Zimmer.

Gregor saß auf dem riesigen Rosenblattbett und hatte die Decke schutzsuchend um sich gerafft. Die Hälfte seines übergroßen Gesichts war unter einem blutdurchtränkten Verband versteckt, und Finlay lächelte kurz. Evangeline hatte gute Arbeit geleistet. Aber neben dem Bett stand, die Pistole in der Hand, eine große, schlanke Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, um die bleiche Haut und die feinen Gesichtszüge zu betonen.

Valentin Wolf. Finlay lachte leise, ein beunruhigender Laut, der nicht ganz danach klang, als hätte Finlay noch seine sieben Sinne beisammen. Gregor zuckte zusammen. Valentin tat es nicht.

»Na ja«, sagte Finlay. »Das ist ja, als wären alle meine Geburtstage auf einmal angebrochen. Die beiden Männer, die ich hasse, gemeinsam in diesem Zimmer. Es gibt einen Gott, und Er ist gut.«

»Ihr und ich, wir haben nie viel mit Ihm zu tun gehabt«, entgegnete Valentin gelassen. »Wir dienen seit jeher einem viel dunkleren Herrn. Aber Euer Gefühl für den richtigen Zeitpunkt ist wie immer untadelig. Ich bin hergekommen, um ein Bündnis mit Gregor zu schließen – wobei es um gewisse heikle Dinge geht, die Euch nicht zu interessieren brauchen. Und Ihr wählt genau diesen Abend, um nach Eurer etwas verspäteten Rache zu streben. Nun, ich kann Euch nicht gestatten, Euch einzumischen, Finlay, also werdet Ihr, wie ich fürchte, sterben müssen.«

Finlay lachte, und es klang häßlich. Gregor wimmerte, und Valentin trat vor und bezog zwischen ihm und Finlay Stellung.

Er legte die Pistole weg und zog das Schwert.

»Ich habe viel von Eurer Schwertkunst vernommen, Feldglöck. Sehen wir mal, wie gut Ihr wirklich seid. Mann gegen Mann, Schwert gegen Schwert… Bringen wir zu Ende, was wir vor so langer Zeit im Feldglöck-Turm begonnen haben.«

»Ich habe jetzt keine Zeit dafür«, sagte Finlay und schoß Valentin Wolf mit dem Disruptor durch die Brust. Der Energiestrahl zuckte durch Valentins Körper und schleuderte ihn zu Boden. Finlay rümpfte die Nase und wandte sich Gregor zu, der ihn lautlos anknurrte. Finlay trat vor, legte Schwert und Pistole weg und packte Gregor mit beiden Händen am Hemd.

Er zerrte den gewaltigen, aufgeblähten Körper aus dem Bett und warf ihn auf den Boden. Valentins brennende Kleider hatten einige der umstehenden Möbel entzündet, und die Flammen breiteten sich aus. Die Hitze und das flackernde Licht hüllten die Ereignisse in eine passend höllische Atmosphäre. Finlay blickte auf Gregor hinab.

»Ihr habt Evangeline weh getan. Ihr seid ein Mörder, ein Verräter und ein Symbol für alles, was an den Familien und am Imperium korrupt ist. Ohne Euch wird die Welt besser riechen.

Vergeudet meine Zeit nicht mit Drohungen oder Warnungen.

Eure Wachleute werden nicht erscheinen, und mir ist völlig egal, was passiert, sobald ich mit Euch fertig bin. Es kommt nur noch darauf an, daß Ihr ebenso leidet, wie es meine Evie getan hat. Ich werde Euch dermaßen weh tun, daß es Euch wie eine Erleichterung vorkommen wird, wenn Ihr schließlich sterbt und in den Feuern der Hölle landet.«

Er griff hinter sich und zog die Projektilpistole aus dem Gürtel. Er hatte sie speziell für diesen Augenblick mitgenommen, eine einfache Faustfeuerwaffe mit acht Kugeln. Er zerschoß Gregors linke Kniescheibe. Gregor kreischte schrill und umklammerte das verletzte Bein, als könnte er die Kniescheibe wieder zusammendrücken. Finlay schoß nacheinander auf die andere Kniescheibe und die beiden Ellenbogen.

Gregor schrie jetzt in einem fort. Finlay feuerte ihm in Bauch und Lenden. Gregor brüllte die Reste seines Verstandes hinfort und fand trotzdem keine Zuflucht vor den schrecklichen Schmerzen.

Finlay stand da, lauschte eine Zeitlang und zeigte sein Totenschädellächeln. Das halbe Zimmer brannte inzwischen. Er sah sich nach Valentin um, entdeckte ihn aber nirgendwo. Der Wolf mußte weggekrochen sein, um zu sterben. Er würde nicht weit kommen, nicht nachdem ihm die halbe Brust weggeschossen worden war. Finlay wandte sich wieder Gregor zu, der immer noch schrie wie eine frisch zur Hölle verdammte Seele.

»Das ist für dich, Evie«, murmelte Finlay und jagte Gregor eine Kugel durch jedes Auge. Er senkte die leergeschossene Waffe und betrachtete die Leiche seines Feindes. Sie bot ihm Trost. Die Flammen tobten ringsherum und schossen zweifellos auch durch sämtliche tieferen Stockwerke. Gregors Privatquartier hatte keine Fenster, bot keinen Ausweg. Finlay hörte überall Explosionen. Der Turm würde nicht viel langer halten.

Finlay blickte sich gelassen um.

Und fragte sich, was er als nächstes tun würde.

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