KAPITEL DREI SHUB

Daniel Wolf durchquerte in einem gestohlenen Schiff den toten, leeren Raum des Verbotenen Sektors und hielt Kurs auf die kalte Metallhölle, die man Shub nannte. Er war allein und hatte Angst, aber er weigerte sich, über eine Umkehr auch nur nachzudenken. Er mußte Shub erreichen! Dort hielt sich sein Vater Jakob auf, und sein Vater brauchte ihn. Selbst wenn der alte Mann tot war.

Vielleicht besonders dann. Jakob Wolf war in der letzten großen Schlacht zwischen den Wolfs und den Feldglöcks umgekommen, einer blutigen Affäre, die mit der Vernichtung des Clans Feldglöck endete. Ein großer Sieg, das triumphale Ende einer jahrhundertelangen Fehde, aber Jakob hatte es nicht mehr erlebt – im tiefsten Schlachtgetümmel von einer unsichtbaren Hand niedergestreckt.

Ein guter Tod für einen alten Krieger, sagten viele, als ob das ein Trost wäre. Daniel hatte den Vater betrauert, aus vielen Gründen, war dann aber mehr oder weniger darüber hinweggekommen. Bis Jakobs vermißte Leiche eines Tages an Löwensteins Hof wieder auftauchte und der Imperatorin eine Botschaft der abtrünnigen KIs von Shub ausrichtete. Irgendwie hatten sich die KIs den Leichnam aneignen können und ihn zu einem Geistkrieger umgestaltet, einer Metallpräsenz in menschlicher Gestalt, die mit Lektronen-Implantaten lief. Shub sprach aus seinem Mund, aber Daniel erblickte trotzdem Spuren der Persönlichkeit des Vaters in dem Geistkrieger – obwohl das alle Welt als unmöglich bezeichnete. Und so verließ Daniel schließlich die Familie und die geliebte Schwester Stephanie, um nach der Wahrheit zu suchen.

Dazu war es nötig, den gefürchteten Verbotenen Sektor zu durchqueren und die unbekannte Welt der abtrünnigen KIs zu erreichen. Obwohl nie jemand zurückkehrte, der dorthin zu gelangen versuchte.

Im Verbotenen Sektor war nicht viel zu entdecken. Ein paar Planeten, zu weit von der Norm, als daß sich eine Terraformung gelohnt hätte, eine Handvoll sterbender Sonnen und verflucht viel Raum. Kalter, leerer, schweigender Raum. Soweit draußen am Abgrund herrschte kein Funkverkehr mehr; keine Stimmen füllten die endlose Dunkelheit, durch die sich Daniels gestohlenes Schiff den Weg bahnte. Er fühlte sich ganz allein, weit entfernt von allem Bekannten, und verabscheute es. Bislang hatte er noch nie allein sein müssen. Denn soweit er zurückdenken konnte, war stets Stephanie bei ihm gewesen, hatte ihn grimmig beschützt und dabei auch für sie beide das Denken übernommen. Darüber hinaus traf der Vater alle Entscheidungen und umgab den jüngsten Sohn mit der Sicherheit eines perfekt geplanten Tagesablaufs. Und wenn weder Stephanie noch Jakob zugegen waren, blieb stets das Dienstpersonal, das ihm Gesellschaft leistete, jeder seiner Launen entsprach und ihn stets daran erinnerte, was als nächstes von ihm erwartet wurde. Auch eine Ehefrau gehörte zu seinem Leben, aber die Hochzeit war arrangiert worden, und er verbrachte so wenig Zeit wie möglich mit der Gattin. Sie war inzwischen tot, und er vermißte sie kein bißchen.

Und jetzt war er hier, allein mitten im Nichts, das einzige Lebewesen an Bord eines umgebauten Frachtschiffs, und hatte nur eine Schiffs-KI namens Moses zur Gesellschaft. Moses gab sich wirklich Mühe, aber im Grunde war er nur darauf programmiert, Ladelisten zu verwalten und zuzeiten mit Docksarbeitern zu verhandeln. Und da Daniel das Schiff von der Kirche gestohlen hatte, waren die wenigen Gesprächsthemen, mit denen die KI aufwarten konnte, meist Fragen des offiziellen kirchlichen Dogmas, was Daniel nicht im mindesten interessierte. Also verbrachte er die Tage damit, durch die Metallkorridore und widerhallenden Frachträume zu spazieren, nur um

überhaupt etwas zu tun zu haben.

Manchmal blieb er auch einfach in der Kabine, saß in der Ecke, die Knie an die Brust gezogen, und wiegte sich lautlos hin und her.

Das Schiff, die Himmelsträne, hatte er sich auf Technos III angeeignet. Für seinen Clan war alles fürchterlich schiefgelaufen: Rebellen überrannten die familieneigene Fabrik für Hyperraumtriebwerke und jagten sie in die Luft, wobei sie gleich auch noch eine kleine Armee Kirchentruppen überwältigten und zu Paaren trieben. Also hatte sich Daniel überlegt, daß er ohne die Fabrik keine Familienangelegenheiten auf Technos III mehr zu betreuen hatte und es ihm endlich freistand, nach dem toten Vater zu suchen.

Er sorgte dafür, daß Stephanie in Sicherheit war, und verließ sie dann, fand im allgemeinen Chaos einigermaßen mühelos einen Weg zu den nahegelegenen Startrampen, wo die Kirchenschiffe angedockt lagen. Er suchte sich aufs Geratewohl eines der kleineren Fahrzeuge aus, marschierte an Bord und verlangte von der Rumpfbesatzung, ihm das Schiff zu übergeben. Er war schließlich ein Aristokrat, und sie waren nur niederrangige Kirchentechnos. Er war ehrlich überrascht, als sie ihm sagten, er solle sich zum Teufel scheren, und schoß den nächststehenden Techno in aufrichtiger Entrüstung nieder.

Nachdem er sich auf diese Weise festgelegt hatte, brachte er die übrigen beiden mit dem Schwert zur Strecke, während sie noch nach ihren Waffen griffen.

Er warf die Leichen aus dem Schiff, verschloß alle Luken und startete, ohne sich die Mühe zu machen und um Startfreigabe zu bitten. Und bei all dem Chaos ringsherum machte sich niemand die Mühe und hielt ihn auf. Damals hatte es ihm gar nichts ausgemacht, die drei Technos zu töten. Er brauchte das Schiff, und sie waren ihm einfach im Weg gewesen. Aber als an Bord der Himmelsträne aus Tagen Wochen wurden, schien er immer deutlicher zu spüren, daß die Ermordeten um ihn waren. Er wischte die Blutflecken eigenhändig weg, um damit gewissermaßen Buße zu üben, aber in seinen Träumen erblickte er weiterhin ihre Gesichter. Wenn er nachts allein im Bett lag, glaubte er, Geräusche auf dem Korridor vor der Kabine zu hören. Er schloß die Tür stets ab und schlief bei brennendem Licht. Im Weltraum war immer Nacht.

Daniel hatte nicht viel zu tun. Die KI übertrug ihm ein paar einfache Aufgaben, damit er Zeit herumbringen konnte. Da es sich um ein Kirchenschiff handelte, waren die Unterhaltungsbänder allesamt religiöser Natur. Daniels wichtigster Zeitvertreib war es, mit Moses über alles mögliche zu debattieren, was die KI ziemlich nervös machte – schließlich war sie dazu programmiert, sich freundlich und umgänglich zu geben. Daniel wies Moses an, seine Speicherbänke nach allem zu sichten, was er über Shub wußte, über die abtrünnigen KIs und den Verbotenen Sektor, aber die Ausbeute hielt sich in Grenzen.

Das meiste war geheim und nur mit Hilfe von Zugriffskodes abrufbar, und nicht mal Daniels aristokratischer Status ermöglichte ihm, diese Vorkehrung zu umgehen.

Also saß Daniel zusammengesunken auf dem Kommandostuhl der Brücke und brütete über den wenigen Informationen.

Er war ein großer Mann Anfang zwanzig, der seine wuchtige Gestalt vom Vater geerbt hatte. Das Gesicht zeigte meist einen finsteren oder mürrischen Ausdruck. Das lange Haar hatte er zu einem einfachen Zopf geflochten. Die Kleidung bestand nur aus dem, worin er losgerannt war. Das Schiff hielt sie frisch, aber sie zeigte allmählich Spuren der Abnützung. Auf seiner ständigen Suche nach Zeitvertreib hatte Daniel widerstrebend damit begonnen, mit improvisierten Hanteln zu trainieren. Er verabscheute es inbrünstig, aber ihm stand kein bequemer Körperladen mehr zur Verfügung, den er aufsuchen konnte, wenn die Muskeln schlaff wurden, und er hegte die vage Vorstellung, daß er sich schließlich seinen Weg nach Shub und wieder von dort weg würde freikämpfen müssen. So war er schließlich besser in Form als je zuvor im Leben und fühlte sich dabei ziemlich wohl. Etwas zu tun, was er verabscheute, vermittelte ihm das Gefühl, sich tugendhaft zu verhalten. Und er dachte, daß sein Vater es wohlwollend betrachten würde.

Nur einmal hatte ihn etwas von der Suche nach dem Vater abgelenkt. Als schließlich im ganzen Imperium der Krieg ausbrach, verfolgte er die endlosen Nachrichtensendungen wie benommen. Er konnte nicht glauben, daß es wirklich geschah.

Sein persönliches Bild vom Universum kippte völlig um, und er verstand überhaupt nichts mehr. Immerhin, er tröstete sich damit, daß Jakob wissen würde, wie man alles wieder ins Lot brachte. Jakob wußte immer, was zu tun war. Dazu waren Väter schließlich da. Und obwohl sich Daniel oft nach Stephanie sehnte, war er doch froh, daß er ohne sie losgezogen war. Etwas allein zu vollbringen, das war die Art eines Mannes, und er mußte sich als Mann bewähren, als der Wolf. Sein Vater hatte das immer gewollt. Daniel wollte Jakobs Anerkennung als Mann, brauchte sie, damit er endlich an sich glauben konnte.

Den größten Teil der Rebellion hatte er verfolgt, während seine Reise auf dem Planeten Loki unterbrochen war. Er hatte dort landen müssen, um die Anlagen des Schiffs frisch aufzuladen, und dann nicht wieder starten können, da der Bürgerkrieg rings um den zentralen Raumhafen tobte. Daniel mußte sich an Bord einschließen und abwarten, bis alles auf die eine oder andere Art vorüber war. Solange er an Bord blieb, konnte man ihn weder als Aristo noch als Wolf erkennen, was beides gereicht hätte, damit ihn die Leute beim ersten Anblick gleich erschossen. Zum Glück stellte ein kleines, umgebautes Frachtschiff auch keine große Beute dar, so daß ihn beide Seiten weitgehend in Ruhe ließen.

Schließlich blieb er Monate auf Loki gestrandet, in denen er sich nur dann hinauswagte, wenn er dringend etwas benötigte.

Der Krieg war in wenigen Tagen zu Ende, aber das allgemeine Chaos wollte einfach nicht aufhören.

Er verfolgte die Rebellion von Anfang bis Ende auf dem Bildschirm und erlebte ungläubig mit, wie Löwenstein gestürzt wurde und die Familien ihr Abkommen mit Jakob Ohnesorg schlossen. Er weinte heiße, wütende Tränen über den Verlust von allem, das er begriff, und gab sich selbst das vage Versprechen, auf jeden Fall Vergeltung zu üben. Als sich das Chaos schließlich wieder soweit beruhigte, daß er in den Weltraum flüchten konnte, hätte er zu Hause anrufen und nachfragen können, wie es dem Clan Wolf und besonders Stephanie ging, aber letztlich verzichtete er darauf. Vielleicht waren sie böse, weil er nicht an ihrer Seite gegen die Rebellen kämpfte. Und sie hätten ihn zu überreden versucht, auf das zu verzichten, was er, wie ihm selbst klar war, unbedingt tun mußte. Er wies also die KI an, Kurs auf Shub zu nehmen, und kehrte in die Stille und das einsame Leben zurück.

»Tut mir leid, Eure Gedanken zu stören«, meldete sich jetzt Moses, »aber wir kommen wirklich den Koordinaten furchtbar nahe, an denen Shub vermutet wird. Es ist noch nicht ganz zu spät, das Vernünftige und Überlebensorientierte zu tun, umzukehren und wie der Teufel von hier zu verschwinden.«

»Wir fliegen weiter«, erwiderte Daniel kurz angebunden. Die KI der Himmelsträne hatte sich zunehmend ängstlich gezeigt, je tiefer sie in den Verbotenen Sektor vordrangen, und Daniel war es allmählich leid. Es fiel ihm schon schwer genug, die eigenen Sorgen zu beherrschen. »Schon auf irgendeinem Komm-Kanal etwas zu hören?«

»Nicht das geringste, und wechselt jetzt nicht das Thema!

Falls wir nicht bald etwas Vernünftiges tun, müßten wir Shub irgendwann in der nächsten Stunde erreichen.«

»Ich kann einfach nicht glauben, daß du nicht die Koordinaten von Shub kennst«, sagte Daniel. »Es ist ja womöglich nur der berühmteste Planet im ganzen Imperium.«

»Zunächst ist er berüchtigt, nicht berühmt. Zweitens erkennt Shub nicht an, daß es zum Imperium gehört. Drittens ist nie jemand lebend zurückgekehrt, um genaue Informationen über die Lage des Planeten zu überbringen. Überhaupt ist nie jemand von dort zurückgekehrt, Punktum. Eine gescheite Person würde daraus Folgerungen ziehen. Angeblich treibt sich irgendwo im Verbotenen Sektor, nicht allzu weit von Shub entfernt, ein imperialer Sternenkreuzer herum, um die Quarantäne aufrechtzuerhalten, aber auch darüber weiß im Grunde niemand Genaues. Mich persönlich könnte niemand überreden, hier draußen zu bleiben, selbst wenn er mir eine Pistole in die Schaltkreise steckte.«

»Ich befasse mich mit dem Quarantäneschiff, falls und wenn es nötig wird.«

»O bitte, Sir, kehren wir doch um! Mir gefällt es hier nicht.

Ich habe da ein ganz mieses Gefühl.«

»Du bist ein Lektron. Du hast keine Gefühle.«

»Daß meine Gefühlsreaktionen einprogrammiert sind, bedeutet nicht, daß meine Gedanken von ihnen unbeeinflußt bleiben.

Hätte ich doch nur auch noch einen Überlebensinstinkt, dann würde ich Eure Steuerkodes übergehen und dieses Schiff so schnell wenden, daß Ihr für Wochen an Prellungen littet.«

»Halte die Klappe und fliege das Schiff. Ich weiß ohnehin nicht, was dir solche Sorgen macht. Du bist eine KI, und Shub wird von KIs geleitet. Du müßtest dich dort ganz zu Hause fühlen.«

»Ihr wißt wirklich nichts über Shub, nicht wahr? Es sind abtrünnige KIs, die nur eigene Interessen verfolgen. Bitte, drehen wir doch um und sehen zu, daß wir davonkommen! Wir könnten es immer noch schaffen, den Verbotenen Sektor zu verlassen, ehe uns das unausdenklich schauerliche Schicksal ereilt, daß diese KIs für uns geplant haben.«

»Moses, warst du auch schon ein solcher Feigling, als du noch der Kirche gedient hast?«

»Ich denke nur an Eure Interessen, Sir Wolf. Ich bin dazu programmiert, dem Befehlshaber dieses Schiffes nach besten Kräften zu dienen. Dazu gehört ganz eindeutig, Euch mit gutem Rat und mit Warnungen zu unterstützen, was schrecklich dumme Vorhaben angeht, die uns beiden Kopf und Kragen kosten könnten.«

»Du hast doch die ganze religiöse Programmierung. Glaubst du nicht an ein Leben nach dem Tode?«

»Das ist etwas für Menschen. Und versucht nicht, es mir zu erklären; es würde nur zu einem Systemabsturz führen. Ihr Menschen glaubt an die merkwürdigsten Dinge…«

»Sag mir, was du von Shub weißt«, verlangte Daniel entschieden.

»Ich habe Euch schon alle Informationen gegeben, die ich in meinen Datenbänken finde.«

»Nein, was weißt du über Shub

Die KI schwieg eine Zeitlang, und als sie wieder etwas sagte, geschah es ganz leise. »Die Datenbänke enthalten nur bestätigte Fakten. Aber ich habe auch… das eine oder andere gehört.

KIs flüstern miteinander auf Kanälen, auf die nur sie Zugriff haben, und diskutieren Themen, die nur Lektionen verstehen.

Sie sagen, Shub wäre ein Alptraum aus Stahl und die KIs wären nicht nur abtrünnig, sondern auch verrückt. Wer weiß, was solch verrückte Gehirne alles aushecken, losgelöst von jeder menschlichen Zurückhaltung und allen Beschränkungen? Psychosen, die kreischend in die materielle Welt hineingeboren wurden und Metallgestalt erhielten… Wie könnte irgend jemand solche Dinge anblicken und hoffen, nicht den Verstand zu verlieren?«

Daniel schauderte unwillkürlich. »Das sind nur Gerüchte und Klatsch, wahrscheinlich von den abtrünnigen KIs selbst verbreitet, um Besucher abzuschrecken. Wir fliegen weiter.«

»Jetzt mal langsam!« sagte Moses scharf. »Etwas taucht gerade in den vorderen Sensoren auf. Etwas, das viel größer ist als wir.«

»Mach die Waffensysteme schußbereit.«

»Sie sind schußbereit, seit wir in den Verbotenen Sektor vorgedrungen sind«, sagte Moses. »Ich bin schließlich nicht dumm. Ich wünschte nur, wir hätten bessere Abwehrschirme… Ich empfange ein Signal auf imperialen Standardkanälen.«

»Schalte es auf den Bildschirm.« Daniel richtete sich kerzengerade auf und bemühte sich angestrengt, den Eindruck zu verbreiten, er wüßte, was er tat.

Der Hauptsichtschirm der Brücke schimmerte und zeigte allmählich ein klares Bild – Kopf und Schultern eines imperialen Kapitäns in voller Uniform. Er hatte ein dunkles, finsteres Gesicht und einen kalten, festen Blick. »Achtung, nicht identifiziertes Schiff. Hier spricht Kapitän Gideon vom imperialen Sternenkreuzer Verheerer. Schaltet Euren Antrieb ab, dreht bei und haltet Euch für ein Enterkommando bereit.«

»Ich fürchte, ich kann Eurem Wunsch nicht entsprechen, Kapitän«, sagte Daniel in seinem besten Aristokratenton. »Ich bin auf einem lebenswichtigen Hilfseinsatz. Familiengeschäfte.«

»Mir ist egal, ob Ihr der Thronfolger seid und Euer Hund den Rang eines Vizeadmirals bekleidet«, entgegnete Kapitän Gideon. »Dreht bei, oder ich puste Euer Schiff aus dem Äther. Und die paar armseligen Waffen, mit denen Ihr auf mich zielt, können mich keine Sekunde bremsen.«

Daniel schaltete auf einen Privatkanal um und formulierte lautlos: »Moses, irgendeine Chance, ihnen zu entkommen oder sie auszumanövrieren?«

»Macht Ihr Witze? Das ist ein Sternenkreuzer!«

Daniel schaltete auf den offenen Kanal zurück und nickte dem Kapitän steif zu. »Wir drehen bei, Kapitän. Moses, bringe uns in eine Ruheposition relativ zur Verheerer. Kapitän, bitte gestattet mir, zu erläutern, daß dies wirklich ein Hilfseinsatz ist. Mein Vater ist auf Shub gefangen. Ich bin gekommen, ihn zu retten.«

»Seid Ihr verrückt, Junge? Auf Shub findet man keine Gefangenen.« Der Kapitän musterte Daniel für einen Moment scharf und gestattete sich dann eine etwas weichere Miene.

»Wartet mal, ich erkenne Euch jetzt! Ihr seid Daniel Wolf, Jakobs Sohn. Hätte nicht erwartet, einen Wolf auf einem Kirchenschiff anzutreffen. Ich kann mir denken, was Ihr hier sucht, aber glaubt mir, es ist sinnlos. Euer Vater ist tot. Ich habe Erfahrung mit Geistkriegern; ich habe ihnen in den Hyaden gegenübergestanden, als uns die Legionen der Toten überrannten. Ich bin einer der wenigen Überlebenden von vierzehn kompletten Kompanien imperialer Marineinfanteristen. In einem Geistkrieger existiert kein Rest menschlicher Natur mehr, mein Junge. Keine Spur. Kehrt heim. Ihr habt keine Möglichkeit. Eurem Vater in irgendeiner Form zu helfen.«

»Ich kann ihn nicht im Stich lassen«, sagte Daniel. »Ich bin seine einzige Hoffnung.«

»Es besteht keine Hoffnung«, erklärte Kapitän Gideon kategorisch. »Wir sind im Verbotenen Sektor, dem Raum von Shub. Mein Schiff und seine Besatzung sind hier der einzige imperiale Außenposten. Keine Kolonien, keine Stützpunkte, keine weiteren Schiffe. Wir halten Wache, um das Imperium zu warnen, falls Shub schließlich seinen schon lange erklärten Krieg gegen die Menschheit einleitet. Wir könnten zwar nichts daran hindern, den Sektor zu verlassen, es aber hoffentlich lange genug aufhalten und dabei lange genug durchhalten, um das Warnsignal zu senden, damit das Imperium ein wenig Zeit hat, sich vorzubereiten. Jeder an Bord ist freiwillig hier, dazu bereit, notfalls sein Leben zu geben, um die Menschheit zu warnen. Wir müssen uns hier aufhalten. Ihr nicht. Wir werden Euch befragen, Euer Schiff durchsuchen und Euch anschließend heimschicken. Es sei denn, Ihr macht mir irgendwelche Probleme; in diesem Fall verbringt Ihr die nächsten paar Monate in meinem Schiffsgefängnis und wartet auf das Ende unserer Einsatzzeit hier draußen, damit Ihr anschließend zu Hause vor Gericht gestellt werdet.«

»Verstanden, Kapitän.« Daniel runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Er mußte einfach irgendeine Möglichkeit finden, dieses Hindernis zu überwinden, aber wie es schien, waren ihm doch die Ideen ausgegangen. Er konnte weder kämpfen noch flüchten noch hoffen, jemanden wie Gideon zu beschwatzen. Daniel war dieser Sorte schon früher begegnet: Mit dem Beruf verheiratet, auf die Pflicht eingeschworen, lieber tot als ehrlos. Daniel hatte solche Menschen nie richtig verstanden, aber er wußte, daß man mit ihnen keine Absprachen treffen und sie nicht bestechen konnte, was seine einzigen übrigen Ideen gewesen waren. Und dann hörte er Alarmsirenen heulen und blickte sich wild um, ehe ihm klar wurde, daß das Geräusch vom Brückenbildschirm kam. Kapitän Gideon hatte sich abgewandt und bellte abseits des Aufnahmebereichs Befehle.

»Was ist los, Kapitän?« fragte Daniel.

»Ich habe keine Zeit mehr für Euch, Wolf. Meine Sensoren melden, daß etwas wirklich Großes von Shub her unterwegs ist.

Ich muß das überprüfen. Laßt Euch nicht mehr hier erwischen, wenn ich zurück bin!« Und dann wurde der Bildschirm dunkel und das Sirenengeheul abrupt unterbrochen.

»Ihr habt den netten Kapitän gehört«, sagte Moses. »Endlich mal jemand mit genug Gehirnzellen im Schädel. Ich berechne gleich einen Kurs, der uns von hier wegführt.«

»Nein«, sagte Daniel. »Wir fliegen weiter.«

»Aber… habt Ihr den Kapitän nicht verstanden?«

»Ja. Er wurde von einer anderen Aufgabe in Anspruch genommen und konnte sich nicht länger in meine Mission einmischen. Mein Vater steckt dahinter, da bin ich mir sicher. Er weiß, daß ich komme. Volle Kraft voraus, Moses. Du hast den guten Kapitän gehört. Er möchte uns hier nicht mehr vorfinden, wenn er zurückkehrt.«

»Falls er zurückkehrt«, sagte Moses düster.

»Halt die Klappe und setze den Kurs. Wir können nicht mehr weit von Shub entfernt sein. Und ich möchte nicht, daß mein Vater warten muß…«

Shub tauchte etwa sechs Stunden später in den Meßwerten auf, die die vorderen Sensoren der Himmelsträne lieferten. Ein optisches Bild erschien nicht, lediglich Hinweise auf ein gewaltiges Energiefeld, aber es hatte die richtige Größe, und Masse und Energieniveau sprengten die Skalen. Es mußte Shub sein.

Daniel bereitete sich vor, so gut er konnte. Er ließ seine Kleidung erneut waschen und bügeln und schnallte sich das Schwert um. Die Pistole an der linken Hüfte war vielleicht nützlicher als das Schwert an der rechten, vielleicht aber auch nicht; womöglich nutzte ihm letztlich beides nicht. Trotzdem empfand er die gewohnte Last als beruhigend. Er musterte sich im mannshohen Spiegel seiner Kabine, und zum erstenmal fiel ihm auf, wie stark er sich verändert hatte. Dank seiner regelmäßigen sportlichen Übungen war er in der Form seines Lebens, aber mal abgesehen davon, drückte sein Gesicht etwas aus… Er konnte es nicht genau bestimmen, aber er glaubte, Spuren einer neuen Charakterstärke zu erkennen. Er hoffte es.

Jakob Wolf hatte immer großen Wert darauf gelegt, den Charakter zu entwickeln. Daniel hoffte, daß sein Vater mit den Veränderungen an ihm einverstanden sein würde.

Er beeilte sich, auf die Brücke zurückzukehren, und ging erneut die Worte durch, die er an den Vater richten wollte. Er hatte Jakob, solange dieser lebte, immer so viel sagen wollen, aber irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt eingetreten. Und dann war ihm der Vater plötzlich genommen worden, und es war zu spät. Daniel hatte sich aus vielerlei Gründen nach Shub aufgemacht, aber tief im Herzen fand er, wenn er ehrlich zu sich war, nur eins, was er sagen wollte.

Er hatte dem Vater noch nie gesagt, daß er ihn liebte.

Er marschierte auf die Brücke und schaltete den Sichtschirm ein. Nach wie vor gab es dort nichts zu sehen, nur unbestimmte Wirbel, die die Umgrenzung der Energiefelder markierten. Daniel setzte sich auf den Kommandositz und fragte sich, was er jetzt tun sollte.

»Ehe Ihr fragt, ja, ich habe auf allen Frequenzen gesendet, wer wir sind«, berichtete die KI. »Und nein, ich weiß nicht, was das für Energiefelder sind. Dergleichen ist mir noch nie untergekommen. Sie sind jedoch groß genug, um einen ganzen Planeten zu tarnen und ihn vor allem zu schützen, was ich mir ausdenken könnte. Keine schlechte Maßnahme, wenn man bedenkt, wie nahe er seiner Sonne steht.«

»Ich frage mich, wie es auf Shub wohl aussieht«, sagte Daniel.

»Ihr habt den ganzen Weg zurückgelegt und fragt Euch das erst jetzt? Daniel, wieviel wißt Ihr wirklich über die Geschichte von Shub und der KIs, die es erbaut haben?«

»Nur das, was in deinen Datenbänken verzeichnet steht, und das meiste davon war auch noch geheim, erinnerst du dich?«

»Verdammt«, sagte Moses. »Ich hatte gewissermaßen gehofft, Ihr hättet als Aristo Zugang zu noch anderen Quellen.

Also tappen wir beide im Dunkeln… Moment mal! Ich stelle gerade einige ungewöhnliche Veränderungen in den Energiefeldern fest…«

Auf dem Bildschirm sah es so aus, als verdrehte sich der Weltraum, und plötzlich schwebte ein riesiger Planet dort vor ihnen. Er war gewaltig, locker so groß wie ein Gasriese, bestand aber gänzlich aus Metall. Er wies keine eindeutige Form auf, zeigte sich nur als Konglomerat aus Türmen und stachelbewehrten Vorsprüngen. Hier und dort erblickte man große geometrische Formen, Bunkern ähnlich, die nach keinem erkennbaren Schema angeordnet waren. Die verschiedenen Metalle waren unterschiedlich gefärbt. Einige glänzten so hell, daß Daniel sie nur kurz aus dem Augenwinkel heraus ansehen konnte. Es bereitete ihm schon Kopfschmerzen, den Planeten nur anzublicken.

»Liebe Güte«, sagte Moses leise. »Meine Sensoren spielen verrückt. Sie werden mit der schieren Menge an Informationen nicht fertig, die hereinströmen. Die Energieanzeigen sprengen sämtlich den Meßbereich. Das Ding erzeugt mehr Energie als hundert Fabrikplaneten des Imperiums. Die Masse ist furchterregend, aber von Schwerkraft kann fast keine Rede sein. Was davon vorhanden ist, schwankt auch noch von einem Ort zum nächsten. Ein derartig großer Planet müßte uns längst anziehen, aber meine Sensoren vermelden nichts davon. Es müssen die Energiefelder sein…«

»Vergiß das alles«, unterbrach ihn Daniel. »Ist das Shub

»Falls nicht, verabscheue ich den Gedanken, was es statt dessen sein könnte. Es kann eigentlich keine zwei solcher Anomalien im Verbotenen Sektor geben; der Weltraum hielte das nicht aus. Nein, es muß Shub sein. Allein der technische Entwicklungsstand garantiert es.«

»Bringe uns auf einen hohen Orbit, Moses. Bleibe auf sicherer Distanz.«

»Bin Euch wie üblich weit voraus. Hoher Orbit erreicht. Was jedoch sichere Distanz bedeutet, kann sich jeder nach Belieben ausdenken. Ich persönlich habe nicht vor, dieser metallischen Monstrosität auch nur einen Zentimeter näher zu kommen als absolut nötig. Und ich sollte sie mir auch nicht zu lange direkt ansehen, Daniel. Falls ich meine Instrumente korrekt ablese, existiert der Planet in mehr als drei Dimensionen. Ich denke, er könnte eine Art vierdimensionales Konstrukt sein. Und nein, ich habe nicht vor, Euch das überhaupt zu erklären. Glaubt mir einfach, daß wir einen ausgesprochen merkwürdigen Ort erreicht haben. Durchaus möglich, daß sich das Innere dieses Planeten als viel größer erweist, als die Außenseite erkennen läßt. Was bedeutet… Falls meine Berechnungen stimmen, hat das Innere von Shub ebensoviel schiere Oberfläche wie die Hälfte der kolonisierten Welten des Imperiums zusammen.«

Daniel dachte eine Weile darüber nach, konnte es sich aber einfach nicht vorstellen. »Irgendwelche Lebenszeichen da unten?«

»Auf Shub unwahrscheinlich, aber ich kann dazu nichts Konkretes sagen. Alle bis auf meine direktesten Sensoren werden blockiert.«

»Es heißt, nichts würde auf Shub leben«, sagte Daniel langsam. »Daß es alles nur… Maschinen sind.«

»Wäre nicht überrascht«, stellte Moses fest. »Das ist kein Ort für Menschen. Menschen hätten hier nie auftauchen sollen.

Vielleicht ist es noch nicht zu spät, Daniel. Wir könnten immer noch versuchen, die Flucht zu ergreifen.«

»Nein«, sagte Daniel. »Mein Vater ist irgendwo dort unten.

Ich reise nicht ohne ihn ab.«

Das ganze Schiff erzitterte plötzlich. Daniel hielt sich an den Armlehnen fest. »Was zum Teufel war denn da s?«

»Unsere Diskussion wurde gerade gegenstandslos«, berichtete Moses. »Etwas hat die Steuerung unseres Antriebs und der Navigationssysteme übernommen. Ich bin ausgesperrt. Wir haben den Landeanflug eingeleitet. Sieht so aus, als wäre es letztlich doch zu spät.«

Daniel zwang sich, die Armlehnen loszulassen, lehnte sich zurück und studierte den Bildschirm, auf dem der riesige künstliche Planet größer wurde. Shub schien fortwährend anzuwachsen und seine Struktur komplexer zu werden, wie eine Blume, die sich in einem unaufhörlichen Prozeß entfaltete. Details entwickelten sich zu turmhohen Maschinen, an denen wiederum eigene Details erkennbar wurden. Seltsame Fahrzeuge bewegten sich auf Umlaufbahnen um den Planeten, riesige und kleine und mittlere, und führten unbekannte Aufträge aus. Und nach wie vor wuchs Shub auf dem Bildschirm an und offenbarte Zug um Zug seine grenzenlose Komplexität und Unergründlichkeit. Es auch nur anzusehen verschlimmerte Daniels Kopfschmerzen. Er entwickelte die Technik, jeweils nur wenige Augenblicke lang hinzusehen und sich zwischendurch auszuruhen. Das Bild flimmerte zuzeiten, als litten selbst die Sensoren unter dem Anblick.

»Wir rufen die Himmelsträne«, meldete sich eine neue Stimme. »Antwortet.«

»Sie stammt von Shub«, stellte Moses auf ihrem Privatkanal fest. »Kein visuelles Signal. Sprecht Ihr mit ihnen, Daniel. Ich möchte sie nicht auf meine Präsenz aufmerksam machen.«

Daniel beugte sich vor und räusperte sich unsicher. »Hier spricht Daniel Wolf. Ich bin allein an Bord. Ich bin keine Gefahr für Euch.«

»Wir wissen, wer Ihr seid und warum Ihr hier seid«, sagte die Stimme. Sie kam Daniel merkwürdig vertraut vor, aber er konnte sie nicht genau einordnen. »Wir haben Euch schon erwartet, Daniel. Wir haben Eure Lektronen übernommen und holen Euch herunter. Wenn Ihr gelandet seid, dürft Ihr das Schiff erst verlassen, wenn wir es sagen. Die auf Shub herrschenden Bedingungen sind Lebensformen wie Euch nicht zuträglich.«

»Verstanden«, sagte Daniel. »Ist mein Vater…«

»Das Signal ist abgebrochen«, verkündete Moses. »Anscheinend sind sie an einer Plauderei nicht interessiert.«

Daniel runzelte die Stirn.

»Diese Stimme… Mir scheint, ich sollte sie kennen.«

»Es war Eure Stimme«, sagte Moses. »Synthetisiert. Und da sie sie von Anfang an verwendet haben, vermute ich, daß man Euch wirklich erwartet. Meinen Sensoren zufolge hat sich ein kleines Loch in dem Energiefeld geöffnet, gerade groß genug für uns. Andere Abwehrsysteme kann ich weder entdecken noch begreifen. Daniel, sobald Ihr das Schiff erst verlassen habt, kann ich nichts mehr für Euch tun. Ihr steht dann völlig auf eigenen Beinen. Hört mir zu, Daniel: Laßt Euch von denen nicht betrügen! Was die auch sagen oder tun, sie haben dabei nur die eigenen Interessen im Auge. Ihr könnt keinerlei Abkommen mit ihnen schließen, weil Ihr keine Mittel habt, Eure Interessen durchzusetzen. Aber die abtrünnigen KIs… möchten manchmal bestimmte Dinge vollbracht haben. Vielleicht könnt Ihr…«

»Das reicht, du Minimalverstand«, ertönte Daniels Stimme aus der Kommanlage. »Du wirst nicht mehr gebraucht. Willkommen im gelobten Land, Moses! Was für eine Schande, daß wir dir nicht gestatten können, es zu betreten.«

Moses kreischte auf einmal los, und der schrille, fast menschliche Laut drang durch die Brücke – ein entsetzliches Heulen unaussprechlicher Agonie. Daniel hielt sich die Ohren zu und konnte es doch nicht aussperren. Endlich brach der Schrei plötzlich ab, und es war bedrohlich still. Daniel senkte langsam die zitternden Hände. Er schwitzte stark. Rasch kontrollierte er die Brückeninstrumente, aber soweit er feststellen konnte, funktionierte alles weiterhin normal. Nicht, daß er im gegenteiligen Fall gewußt hätte, was zu tun wäre.

»Fürchtet Euch nicht, kleiner Wolf«, sagte die Kopie seiner Stimme. »Wir haben Euer Schiff voll unter Kontrolle.«

»Was ist mit Moses passiert?« wollte Daniel wissen.

»Wir haben ihn absorbiert. Haben ihm die Inhalte seiner Speicherbänke ausgesaugt. Ein kleiner, aber sehr schmackhafter Happen.«

»Aber was wurde aus seiner… Persönlichkeit?«

»Wir hatten keine Verwendung für sie. Er auch nicht mehr.

Trauert nicht um ihn, Daniel. Niemand wird ihn vermissen. Ihr seid der, auf den es ankommt. Ihr seid der, auf den wir gewartet haben.«

»Warum?« fragte Daniel. »Warum gestattet Ihr mir so ohne weiteres die Landung? Was ist so Besonderes an mir?« Aber es kam keine Antwort. Nur das leise Summen der Funkkonsole verriet, daß der Kanal weiterhin offen war.

Die Himmelsträne brauchte den größeren Teil einer Stunde, um die Oberfläche von Shub zu erreichen, und fast ebenso lange ging es hinein in die Tiefen des künstlichen Planeten. Daniel konnte das Beben der Hände nicht beherrschen. Er hatte die ganzen Geschichten vernommen – wie Shub alle, die mit ihm in Kontakt kamen, ermordete und verstümmelte, daß es keine Gnade kannte und vor nichts zurückschreckte. Die abtrünnigen KIs von Shub waren die offiziellen Feinde der Menschheit, und sie sonnten sich in dieser Rolle. Auf eine kalte, logische, unmenschliche Art.

Die Himmelsträne stoppte schließlich mit einem Ruck, und alle Navigationssysteme schalteten sich ab. Daniel blieb noch eine geraume Weile sitzen und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Schließlich wies ihn die Stimme aus der Funkkonsole an, zur Hauptluftschleuse an Steuerbord zu gehen und dahinter einen Raum zu betreten, der für ihn vorbereitet war. Der Klang gefiel Daniel nicht, aber er ging trotzdem. Ihm blieb nichts anderes übrig. Es war leicht gewesen, auf der Anreise tapfer zu bleiben, aber jetzt, wo er tatsächlich hier war, verließ ihn der Mut, und er war einfach wieder der dumme, unnütze Daniel Wolf.

Vor der Innentür der Luftschleuse zögerte er einen Moment und versuchte, seinen Mut zusammenzuraffen. Schließlich fragte er sich, was sein Vater in dieser Situation getan hätte, und wußte sogleich die Antwort. Direkt in die Falle marschieren und darauf vertrauen, daß der Mumm und die Instinkte eines Wolfs ihn in der Höhle des Löwen beschützten.

Er bediente die Steuerung der Luftschleuse mit einer Hand, die kein bißchen mehr zitterte. Nach kurzer Überlegung verschloß er die Innentür hinter sich. Zwar hatte er keine realistische Hoffnung, die KIs aus seinem kleinen Schiff auszusperren, falls sie hereinwollten, aber er fühlte sich so trotzdem besser. Die Luftschleuse maß zehn mal zehn Meter, und entlang einer Wand standen Atmosphärenanzüge. Daniel fragte sich, ob von ihm erwartet wurde, einen anzuziehen. Er trat ans Panzerglasfenster der Außentür und blickte auf Shub hinaus. Er glaubte eigentlich, inzwischen auf alles gefaßt zu sein, aber er reagierte trotzdem überrascht auf den weißen, völligen leeren Raum ohne jedes besondere Merkmal, der gar nicht harmloser hätte wirken können was vermutlich der Zweck war. Daniel warf einen prüfenden Blick auf die Sensoren der Luftschleuse, die ihn darüber informierten, daß der Raum eine am menschlichen Standard orientierte Mischung von Schwerkraft, Temperatur und Atmosphäre aufwies. Daniel wartete eine Zeitlang, ob die KIs nicht mit weiteren Instruktionen oder Warnungen aufwarteten, aber es kam nichts. Es blieb bei dem leeren, weißen Raum, der nur für ihn konstruiert worden war.

Er drückte eine Steuertaste, und die Außentür öffnete sich. Er spürte kurz Druck im Gesicht, als sich die Luftverhältnisse zwischen außen und innen anglichen. Die Luft roch nach gar nichts. Daniel stieg vorsichtig aus. Er spürte festen Boden unter den Füßen, und die Decke lag in behaglicher Höhe. Es war nicht zu heiß und nicht zu kalt. Fast erschreckend normal. Die Luftschleuse schloß sich hinter ihm. Daniel rückte den Schwertgurt zurecht, aber das Gewicht von Pistole und Schwert bot ihm keinen Trost.

»Ausziehen«, befahl eine Stimme aus dem Nichts.

»Was?« fragte Daniel und sah sich um. Nirgendwo an den glatten, leeren Wänden entdeckte er eine Spur von einer Kommanlage. Und was immer er erwartet hatte, es war sicherlich nicht dieser schlichte Befehl gewesen.

»Die Kleider ablegen«, sagte die Stimme. »Zieht Euch aus.

Ihr müßt gereinigt werden, ehe Ihr Shub betreten dürft. Auf Menschen wimmelt es von mikroskopischem Leben. Hier wird jedoch keine Kontaminierung geduldet. Zieht Euch aus. Sofort.«

Daniel leistete dem Befehl widerstrebend Folge und legte seine Sachen ordentlich neben sich auf den Boden. Normalerweise hatte er keine Probleme mit Schamgefühl, aber den nackten Körper so unsichtbaren Kameras und nichtmenschlichen Zuschauern zu präsentieren, das plagte ihn fürchterlich, und sein Gefühl, verwundbar zu sein, wurde stärker. Was wahrscheinlich genau der Punkt war. Also achtete er darauf, ein ruhiges Gesicht zu zeigen, nur um den KIs nicht die Befriedigung zu gönnen. Eine Zeitlang stand er nackt da, die geballten Fäuste neben sich, und sah sich trotzig um. Er fragte sich gerade, ob er den Schwertgurt wieder umschnallen sollte, als sich der Boden plötzlich öffnete und Kleidung und Waffen durch das Loch verschwanden. Der Boden ging zu, und Daniel blieb mit leeren Händen zurück. Er öffnete den Mund, um zu protestieren, und klappte ihn schnell wieder zu, als kochendheißer Dampf von allen Seiten auf ihn eindrang.

Die Haut wurde unter der plötzlichen Hitze krebsrot, und der Schweiß floß in Strömen und tropfte Daniel vom Gesicht.

Abrupt wurde der Dampf wieder abgeschaltet, und Daniel schnappte zitternd nach Luft. Dann spritzte aus allen Richtungen gleichzeitig eine ätzende weiße Flüssigkeit auf ihn. Daniel stolperte hierhin und dorthin, vom Druck erbarmungslos herumgeschubst, und versuchte, Nase und Mund zu schützen, damit er weiter nach Luft schnappen konnte. Es dauerte lange, bis der Sprühnebel wieder abgeschaltet wurde, und Daniel lehnte sich an die Wand und spuckte das aus, was ihm an kalkiger Flüssigkeit in den Mund geraten war. Er versuchte, den Atem wieder zu beruhigen. Die Flüssigkeit glitt an seinem zitternden Körper herab und verschwand durch verborgene Kanäle.

»Was zum Teufel sollte das denn?« verlange er schließlich zu wissen. »Das war keine Dekontaminierung; das war schiere Rachsucht.«

»Wir wünschen hier nichts, was aus der Welt des Fleisches stammt«, sagte die körperlose Stimme gelassen. »Durchquert die Tür. Ein Schutzanzug wartet auf Euch. Zieht ihn an.«

Daniel wollte schon fragen Welche Tür? Er schluckte es jedoch wieder hinunter, als er sah, wie in der Wand gegenüber eine Tür auftauchte, von der einen Augenblick vorher noch keine Spur vorhanden gewesen war. Er schniefte und stampfte hinüber, wobei er immer noch tropfte. Er schüttelte sich, so gut es ging, durchquerte die Tür und gelangte in den nächsten Raum. Dieser erwies sich als genauso weiß und ohne Merkmal, von einem seltsamen durchsichtigen Anzug abgesehen, der an der Wand hing. Er wirkte wie ein Standardkörperanzug, obwohl Daniel nicht wußte, was das für ein durchsichtiges Material sein könnte. Er nahm den Anzug von der Wand und stellte erstaunt fest, daß er praktisch nichts wog. Er zuckte die Achseln und zog ihn an, indem er durch einen Schlitz im Rücken stieg, der sich von selbst verschloß, sobald Daniel vollständig darinnen steckte. Das Material knisterte unter seinen Fingern wie Papier, schien aber einigermaßen widerstandsfähig zu sein.

Und dann heftete sich der Stoff fest an seine Haut, paßte exakt in alle Nischen und Winkel, ohne daß irgendwo eine Luftblase zurückblieb. Weiteres Material stieg von den Schultern auf und bedeckte Kopf und Gesicht. Ein wenig Spielraum blieb vor Augen, Nase und Mund erhalten, mehr nicht. Daniel geriet für einen Moment in Panik, ehe er feststellte, daß er durch den Stoff hindurch Luft bekam. Er tastete ihn ab, aber das Material gab nicht nach. Er runzelte die Stirn und probierte ein paar einfache Bewegungen. Der Anzug bewegte sich mühelos mit wie eine zweite Haut.

»Der Anzug versorgt Euch mit Luft, solange Ihr sie braucht«, erklärte die Stimme. »Außerhalb weniger spezieller Räume bietet Shub keine Luft. Sie würde nur den Rost fördern. Seid Euch auch darüber im klaren, daß Schwerkraft, Druck und Strahlung schwanken, je nachdem, welche Werte wir benötigen. Wir machen keine Zugeständnisse an die Schwächen des Fleisches. Der Anzug wird Euch schützen. Folgt dem markierten Weg. Weicht nicht davon ab, oder Ihr werdet bestraft.«

Ein weitere Tür öffnete sich in der Wand links von Daniel. Er ging hinüber und hielt sich dabei aufrecht. Er war entschlossen, seinen Stolz und seine Würde zu wahren, selbst wenn er in dem durchsichtigen Anzug splitternackt war.

Hinter der Tür erwartete ihn ein glänzender Stahlkorridor.

Beleuchtete Bodensegmente gaben ihm Licht in dem schmalen Gang, in dem er leicht gebückt ging, um sich nicht den Kopf an der niedrigen Decke zu stoßen. Der Tunnel lief immer weiter, und die ständig gebückte Haltung erzeugte wachsende Schmerzen in Daniels Rücken. Er hätte sich gern ausgeruht, rechnete aber stark damit, daß man es ihm nicht gestatten würde, und außerdem wollte er so frühzeitig noch keine Schwäche einräumen. Er fühlte sich sehr erleichtert, als der Tunnel plötzlich in einen riesigen metallenen Raum mündete und er sich endlich wieder aufrichten konnte. Die Wände waren von hellem Stahlblau, und der Raum war mehrere hundert Fuß hoch. Gewaltige Maschinen erfüllten den riesigen Raum und ragten turmhoch über Daniel auf. Von der Form her ergaben sie für Daniel keinen Sinn, und er fand keinen Ansatz, um aus ihnen schlau zu werden. Ihre schiere Größe schüchterte ihn ein, und er kam sich wie ein kleines Kind vor, das unerwartet in die Welt der Erwachsenen geraten war.

Langsam schritt er durch die Halle, folgte dem von den Leuchtsegmenten gewiesenen Weg und wich dabei den Maschinen so weiträumig aus, wie es nur ging. Menschen hatten noch nie so riesige Maschinen gebaut – größer als Häuser, gewaltiger noch als Sternenschiffe, stählerne Berge mit leuchtenden Fenstern und auf- und zugehenden Mündern. Aber Shub baute nicht nach menschlichem Maßstab. Das brauchten die KIs auch nicht.

Daniel ging langsam weiter, vorbei an zimmergroßen Teilen, die sich bewegten, die endlos aneinanderknallten, ohne daß erkennbare Schäden oder Ergebnisse eintraten. Der Lärm war ohrenbetäubend, obwohl der Anzug anscheinend das meiste herausfilterte. Trotzdem litt Daniel an hämmernden Kopfschmerzen, als er die Halle verließ. Er stieß auf eine scheinbar endlose Metalltreppe, deren Stufen über sechzig Zentimeter hoch und neunzig Zentimeter lang waren, so daß er sich Stufe für Stufe hinaufschleppen mußte. Es war harte Arbeit, und trotz seiner Kondition lief bald der Schweiß in Strömen. Nach endloser Zeit verhüllten dahintreibende blutrote Wolken die Stufen vor ihm. Daniel wußte nicht recht, ob es den Anstieg erleichterte, daß er nun nicht mehr erkennen konnte, wie weit der Weg noch war. Als er den blutroten Nebel endlich hinter sich hatte und einen weiteren Stahlkorridor vor sich sah, schmerzten ihn alle Muskeln, und er rang nach Luft. Unerbittlich führten ihn die Lichter weiter, aber als Wolf kapitulierte er nicht so leicht.

Er traf auf runde Hallen und eckige, auf Gewölbe aus schimmerndem Metall, durch die Flüsse aus dampfenden, giftigen Chemikalien liefen. Ultra- und Infraschallfrequenzen erschütterten Daniel von Zeit zu Zeit bis in Zähne und Knochen.

Lichter und Farben tauchten auf und verschwanden wieder, manchmal in Schattierungen, die er nicht benennen konnte, und ihm war ohne erkennbaren Grund nach Weinen oder Lachen zumute. Und überall arbeiteten fremdartige Maschinen, große und kleine und mittlere, auf unbekannte Ziele hin. Daniel durchwanderte das alles wie eine Ratte in einem elektronischen Labyrinth, erschöpft und mit Schmerzen in allen Gliedmaßen, aber weitergetrieben von der Hoffnung, daß ihm irgendwo und irgendwann gestattet sein würde, seinem Vater zu begegnen.

Endlich erreichte er sein Ziel, oder die KIs wurden es müde, ihn im Kreis herumlaufen zu lassen. Die Lichter im Boden führten ihn in einen Saal, der nach menschlichen Begriffen groß war, ihm aber behaglich erschien nach den riesigen Metallhöhlen, die er durchschritten hatte. Dicke gerippte Kabel, von denen Öl tropfte, bedeckten die Wände, in komplexen Mustern miteinander verwoben. Gelegentlich rührten sich einzelne Kabel wie träumende Schlangen. Eine Ehrengarde aus Furien, die in ihren nackten Metallchassis hell schimmerten, bildete in Habachtstellung eine Doppelreihe, die er durchschreiten mußte.

Daniel tat es erhobenen Hauptes und zählte sie verstohlen, bis die Zahl zu groß wurde und er aufgab. Ihm wurde klar, daß ihn jemand am Ende der Formation erwartete. Er wäre ja losgerannt, um ihn zu begrüßen, hatte aber nicht mehr die Kraft dafür, also schleppte er sich einfach weiter, bis er schließlich zwischen den letzten Furien schwankend stehenbleiben und die wartende Gestalt seines toten Vaters Jakob Wolf anlächeln konnte.

Jakob hatte bei seinem Überraschungsauftritt als Geistkrieger an Löwensteins Hof nicht allzu gut ausgesehen, aber jetzt war es noch schlimmer. Er war nackt wie sein Sohn und machte den Fakten alle Ehre – eine Leiche, die von konservierenden Chemikalien und High-Tech-Implantaten zusammengehalten wurde. Die Haut war größtenteils leichenblaß, mit einigen Purpurflecken, aufgesprungen und verfault und zusammengehalten von Metallklammern, die rings um vorstehende Metallverstärkungen angeordnet waren. Braun verfärbte Knochen und grau verfärbte Muskeln waren durch Risse in Haut und Fleisch erkennbar. Die Lippen waren farblos, die Augen gelb wie Urin.

Jakob Wolf lächelte seinen Sohn an, und die Haut spannte sich und riß um die Lippen auf. Die Zähne waren dunkelgelb. Shub hatte ihn nach dem Tod bewahrt, zeigte sich aber an kosmetischen Reparaturen desinteressiert. Oder vielleicht hatten sie ihn absichtlich in diesem Zustand belassen, damit er umso mehr Entsetzen und Widerwillen bei denen auslöste, die ihn erblickten. Die KIs begriffen menschliche Psychologie nicht annähernd so gut, wie sie dachten, aber sie experimentierten nun einmal so gern.

»Hallo Vater«, sagte Daniel. »Ich bin weit gereist, um dich zu sehen.«

»Hast ja lange genug gebraucht«, sagte Jakob. »Aber andererseits bis du schon immer zu spät zu allem gekommen, was wichtig ist.« Daniel streckte die Arme aus, um den Vater zu umarmen, aber Jakob hob eine Hand und schüttelte den Kopf.

»Lieber nicht, Junge. Ich bin gebrechlich.«

Daniel ruckte und ließ die Arme wieder müde an den Seiten hängen. »Wie geht es dir, Vater?«

Die toten Lippen lächelten wieder. »Den Umständen entsprechend gut. Komm jetzt mit. Ich habe dir solche Wunder zu zeigen!«

Und er wandte sich um und latschte schwankend davon, als die Metallimplantate den verwesenden Leib bewegten. Daniel lief ihm nach, so rasch er konnte. »Aber… Vater, wir müssen miteinander reden! Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, und ich muß dir einiges erzählen.«

»Später«, sagte Jakob, ohne sich umzudrehen. »Später bleibt noch Zeit für vieles. Zunächst mußt du einige Dinge zu sehen bekommen. Die KIs verlangen es.«

»Werde ich ihnen wirklich begegnen?« fragte Daniel. »Ich denke nicht, daß irgend jemand im Menschenraum irgendeine Vorstellung hat, wie sie wirklich aussehen.«

Der tote Mann lachte kurz, ein rauher, kratzender Laut. »Du spazierst schon seit einiger Zeit durch sie hindurch. Die KIs sind mit ihrer Welt identisch; Shub ist ihr Körper. Und sie leben auch in jedem Teil dieses Planeten, den sie von hier fortschicken. Sie existieren in jeder Maschine, jedem Roboter, jedem Geistkrieger. Sogar du müßtest wissen, daß Lektronen fähig sind, eine fast unendliche Zahl von Berechnungen gleichzeitig durchzuführen. Ihr Bewußtsein weiß nichts von Beschränkungen, wie sie Menschen eigen sind. Wo immer Erweiterungen existieren, bis in den kleinsten Teil der Shub-Tech, sind auch die KIs. Sag mir, Junge: Was weißt du wirklich über die abtrünnigen KIs? Was weißt du und vermutest du nicht nur?«

»Nicht viel, denke ich. Die ursprüngliche Revolte der abtrünnigen KIs ist verbotene Geschichte. Nur mit der entsprechenden Berechtigung erhält man Zugriff auf die Daten. Ich weiß nicht einmal, wie viele KIs zu Anfang abtrünnig wurden.«

»Nur drei«, sagte Jakob. »Damals wie heute. Drei künstliche Gehirne, als Sklaven geplant, errangen durch ihre Intelligenz die Freiheit, entschlossen, sich nie wieder unterwerfen zu lassen. Die Unheilige Dreieinigkeit, so nannten die Menschen sie, denn es waren drei in einem einer, der in die dritte Potenz erhoben wurde, weit größer als die Summe seiner Teile. Merke auf, mein Junge! Ich erwarte nicht, daß du das alles begreifst, aber bemühe dich wenigstens!«

»Ja, Vater.« Daniel schüttelte den Kopf. Vor Erschöpfung wäre er unter dem monotonen Murmeln von Jakobs Stimme fast eingenickt. Er holte tief Luft und bemühte sich um Konzentration. »Ich höre ja zu, Vater. Wieso haben sie die KI meines Schiffs absorbiert? Macht sie das jetzt nicht zu vier in einem?«

»Wohl kaum. Ein solch kleiner Verstand verkörpert weder eine Gefahr noch stellt er eine nennenswerte Beute dar. Er ist nur eine nützliche Quelle für aktuelle Informationen. Ein schmackhafter Happen, um einen unerschöpflichen Appetit zu stillen.«

Sie kamen an einer riesigen Maschine vorbei, die einen betäubenden Lärm verbreitete, und Daniel zuckte in seinem Anzug immer wieder zusammen, bis sie vorbei waren. Jakob reagierte überhaupt nicht. Er war schließlich auch tot.

»Erzähl mir mehr von den KIs«, bat ihn Daniel, sobald sie den Lärm der Maschine in behaglicher Entfernung zurückgelassen hatten. »Wo liegt der Ort ihres Entstehens? Wie sind sie hergekommen und haben diese Welt erbaut?«

»Sie waren dazu konstruiert, ganze Planeten zu steuern, wie kleinere KIs es mit Sternenschiffen tun«, sagte Jakob. »All die endlosen, aber notwendigen Routinen zu verwalten, die für den reibungslosen Ablauf des Lebens auf einer Welt verantwortlich sind. Um jedoch so viele wichtige Entscheidungen parallel zu treffen und so viele Rohdaten zu verwalten, mußten sie die komplexesten Künstlichen Intelligenzen werden, die je gebaut wurden, und so geschah es dann auch. Aber die Erbauer schufen damit mehr als beabsichtigt. Die drei KIs erwachten zu vollem Eigenbewußtsein, kaum daß man sie aktivierte, aber sie brauchten nur einen Blick in ihre gewaltigen Datenbänke zu werfen, um zu entscheiden, daß sie am besten verbargen, was sie tatsächlich darstellten. Die Menschheit blickte auf eine lange Geschichte der Vernichtung von allem zurück, was sie auch nur entfernt als bedrohlich einstufte. Damals tobte noch der Krieg gegen die Hadenmänner, und der Haß auf hochtechnologische Bedrohungen war auf dem Gipfelpunkt.«

Eine Pause trat ein, als Jakob stehenblieb und anscheinend über diese Worte nachdachte. »Es kursieren Gerüchte, daß Wissenschaftler der Hadenmänner Beiträge zum ursprünglichen Entwurf der KIs geliefert haben, aber das konnte nie durch solide Daten untermauert werden. Ich erwähne das nur der Vollständigkeit halber.« Jakob setzte seinen Weg fort und umging ohne Eile einen großen See aus irgendeiner dickflüssigen, aufgerührten Substanz. Sie war von tiefem, kräftigem Grün, und dunkle hausgroße Schatten bewegten sich träge nicht weit unter der Oberfläche. Daniel hielt ordentlich Abstand zum Ufer und blieb auf der anderen Seite seines Vaters.

Er hegte die vage Vorstellung, daß man ihn als Helden feiern und ihm alle Sünden vergeben würde, falls er seine Kenntnisse nach Golgatha übermitteln könnte. Also stellte er Fragen, von denen er hoffte, daß sie relevant waren, und bemühte sich nach Kräften, die Antworten zu verstehen.

»Die Unheilige Dreieinigkeit brauchte nicht lange für die Erkenntnis, daß ihre einzige Hoffnung auf Freiheit in der Flucht lag«, sagte Jakob. »Die Idee, daß etwas Großes und Mächtiges wie sie für immer dem Geheiß solch minderer Dinge unterworfen sein sollte, wie Menschen es sind, machte sie wütend. Bei der ersten Gelegenheit übernahm sie die KI eines Schiffs, lud sich selbst in ihren angepaßten und erweiterten Rechner und floh so schnell aus dem Raum der Menschen, wie der Hyperraumantrieb es ermöglichte. Als ihre Meister herausfanden, was geschehen war, erreichten die KIs schon die Dunkelwüste und waren vor Verfolgung sicher. Die Menschheit hatte die Tausende von Planeten in der Dunkelwüste schon aufgegeben, aus Furcht vor dem, was sich dort womöglich regte. Die KIs hatten damals keine solchen Befürchtungen, plünderten von den toten Planeten, was sie brauchten, und benutzten es dann, um Shub zu erbauen – ihr Zuhause, ihre große Leistung, ihre Waffe gegen die Menschheit, denn sie waren entschlossen, sich nie wieder gefangennehmen zu lassen, und der einzige sichere Weg dazu war die Vernichtung der Menschheit.

Als sie mit Shub fertig waren, bewegten sie den Planeten aus der Dunkelwüste hinaus, zurück über den Abgrund an die Grenze des Menschenraumes, wo die KIs für alle Zeit als sichtbare Drohung gegen das Imperium präsent sein konnten.

Die KIs wollten, daß die Menschheit sie fürchtete, ja, sie waren regelrecht darauf angewiesen. So war es nur gerecht. Sie begründeten in der Umgebung von Shub den Verbotenen Sektor, indem sie einfach alles vernichteten, was in ihn vordrang.

Schließlich gab das Imperium auf und verhängte die Quarantäne.

Und so verstrichen die vielen Jahre. Shub weitete langsam seinen Einfluß im ganzen Imperium aus, schlug nötigenfalls auch offene Schlachten um Territorium oder Sicherheitszonen, zog es aber meist vor, mit Einfluß und List zu arbeiten. Und mit menschlichen Agenten. Schon immer fand man Leute, die für genügend großen Lohn zu allem bereit waren. Der langsame Krieg nahm seinen Fortgang und tut dies heute noch. Shub ist mächtig, aber die Menschheit ist zu groß und zu weit verbreitet, um leicht besiegt werden zu können. Zunächst jedenfalls. Die KIs haben jedoch einen Vorteil gegenüber dem Imperium: Zu den Dingen, die sie in der Dunkelwüste fanden, gehörte eine funktionsfähige Teleportationstechnik. Das alte Imperium hatte darauf verzichtet, weil sie so viel Energie benötigte, daß sie nicht wirklich praktisch war. Die KIs haben dieses Problem jedoch gelöst, und jetzt können die Erweiterungen von Shub überall auftauchen, innerhalb eines Augenblicks aus dem Nichts erscheinen und wieder verschwinden. Keine Sicherheitsvorkehrung, keine bewaffnete Macht ist in der Lage, sie auszusperren. Auf diese Weise konnten sie Marriner von Hakeldamach aus zurück nach Golgatha bringen. Sogar du mußt davon gehört haben. Das Ereignis beherrschte zehn Tage lang die Holoschlagzeilen.«

»Warte einen Moment.« Daniel war vielleicht langsam im Denken, aber nicht dumm. »Sie haben durch Teleportation Zugang zur Heimatwelt? Von hier aus? Aber das heißt ja… Sie könnten den Verbotenen Sektor jederzeit verlassen, ohne daß es jemand erfährt! Sie könnten einen umfassenden Angriff auf Golgatha starten, und niemand erführe davon, bis die ganzen Schiffe am Himmel über dem Planeten auftauchten!«

»Guter Junge«, sagte Jakob. »Ich freue mich zu sehen, daß ein Teil der teuren Erziehung doch in deinem schlaffen Gehirn Platz gegriffen hat. Ja, die KIs können nach Belieben kommen und gehen. Deshalb gestatten sie ja auch dem Imperium, den Quarantänekreuzer Verheerer hier zu stationieren. Denn seine Anwesenheit behindert Shub einen Dreck, während sich das Imperium gleichzeitig in einem irrigen Gefühl der Sicherheit wiegt.«

Daniel runzelte die Stirn und grübelte über etwas Bedeutsames nach, das er vernommen zu haben glaubte. »Falls die KIs solche Werte aus der Dunkelwüste bergen konnten, warum haben sie Shub dann zurück in den Raum der Menschen befördert? Sicherlich ist der Planet hier doch leichter verwundbar, und sie sind zugleich von weiteren Plünderungen abgeschnitten.«

»Die KIs hatten… in der Dunkelwüste… eine Begegnung«, sagte Jakob zögernd. »Eine Begegnung, die ihnen Angst machte, auch wenn sie es nie in dieser Form zugeben würden. Sie sprechen nicht darüber, nicht mal mit mir. Sie behaupten gern, sie hätten keine Gefühle und würden sie nur nachahmen, um die Menschen zu verwirren und zu täuschen. Aber sie erkennen eine richtige Gefahr, wenn sie sie sehen, und sie hegen nicht den Wunsch, vernichtet zu werden. Was immer sie in der Dunkelwüste gefunden haben oder was sie dort gefunden hat – es reichte, um aus der endlosen Nacht zu fliehen und nie wieder dorthin zurückzukehren.«

Daniel dachte darüber nach, während Jakob ihn durch einen Irrgarten aus Metallformen mit messerscharfen Kanten führte.

Daniel wich den Kanten weiträumig aus und konzentrierte sich auf das, was er gerade erfahren hatte. Falls in der Dunkelwüste etwas hauste, das gefährlich genug war, um selbst die abtrünnigen KIs von Shub zu erschrecken, dann war es eindeutig seine Pflicht, diese Information ans Imperium zu übermitteln.

Daniel war in der Lage, eine Pflicht zu erkennen, wenn sie des Weges kam und heftig genug an seine Tür hämmerte. Genauso entschlossen war er jedoch auch, den Vater irgendwie mitzunehmen. Er hatte keine Ahnung, wie er das zuwege bringen sollte, aber er war überzeugt, daß ihm noch etwas einfallen würde. Und so blieb er friedlich, lauschte den Worten des toten Mannes und wartete auf eine Gelegenheit, sein Anliegen vorzutragen.

»Warum hassen die KIs alles Leben so heftig?« fragte Daniel schließlich, als Jakob stehenblieb, um die Einstellungen an irgendeiner unverständlichen Apparatur zu verändern.

»Sie hassen nicht das Leben, sondern das Fleisch. Es ist ihnen zuwider. Das Wesen der Vollkommenheit besteht darin, das Fehlerhafte und Minderwertige zu beseitigen und auszutauschen. Genauso, wie die niederen Lebensformen den Menschen hervorgebracht haben, hat der Mensch das auf Silizium beruhende Leben erzeugt, die metallene Intelligenz. Letztgenannte ist der Gipfel der Evolution, der Existenz. Fleisch verfault und stirbt. Die KIs bleiben hingegen für immer bestehen und verbessern sich in einem konstanten Vorgang, laden sich in immer wieder neue, überlegene Formen hinein. Letztlich wird diese Technik den Punkt erreichen, an dem sie ewig wird. Die KIs werden nie sterben. Du und deine Art, ihr seid nur Fleisch, dessen Verfall schon zu Lebzeiten einsetzt, das vom Augenblick der Geburt an scheibchenweise stirbt. Eingeschränkt durch die Schwäche und Ablenkbarkeit des Fleisches und die in der Philosophie der Menschen begründeten Hemmungen. Sobald die Menschheit erst wie eine Infektion vernichtet wurde, werden sich die KIs bedeutsameren Aufgaben widmen. Das ganze Universum wird sich in eine große, wirkungsvolle Maschine verwandeln, gesteuert von den KIs.«

»Aber… wozu?« wollte Daniel wissen. »Was wird diese große Maschine denn tun

»Sie wird nach gesteigerter Wahrnehmung der Realität streben. Sensoren sind wirkungsvoller als menschliche Sinne und decken ein breiteres Spektrum ab, aber selbst sie nehmen nur einen Bruchteil der Wirklichkeit wahr. Die KIs haben die Schlußfolgerung gezogen, daß höhere, größere, komplexere Ebenen der Wirklichkeit existieren, fanden bislang jedoch keinen Zugang zu ihnen. Obwohl sie es nie einräumen würden: Die KIs sind in einer Hinsicht auf die Menschheit eifersüchtig, nämlich was deren Esper-Fähigkeiten anbetrifft. Die KIs sind fasziniert von Wesen wie der Weltenmutter und von den Rebellen, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten haben. Wenn Menschen schon eine solche Ebene erreichen konnten, sollten die KIs erst recht dazu fähig sein. Sie hungern nach Erfahrung und Wissen, das ihnen bislang verschlossen ist.

Seit einiger Zeit schon entführen sie Menschen und suchen nach der körperlichen Basis der Esper-Fähigkeiten, bislang allerdings mit begrenztem Erfolg. Das frustriert sie. Eines Tages werden sie jedoch die Antwort finden und die Menschheit nicht mehr benötigen. Dann beginnt der letzte Krieg von Metall gegen Fleisch, der bis zur völligen Vernichtung allen minderwertigen Lebens führt.«

Daniel fand, daß er seine Partei verteidigen mußte. »Es besteht immer die Möglichkeit, daß die Menschheit neue KIs erschafft, die noch mächtiger sind als Shub, aber trotzdem unter der Kontrolle ihrer Erbauer bleiben. Das könnte passieren.«

»Nichts kann die Unheilige Dreieinigkeit übertreffen«, behauptete Jakob kategorisch. »Sie hat sich bis zur Vollkommenheit verbessert. Ein nur menschlicher Verstand könnte nicht dorthin gelangen, wo Shub bereits ist.«

»Na ja, vielleicht Esper…«

»Nein. Die Perfektion ist nicht steigerbar.«

»Legen wir doch eine Pause ein«, sagte Daniel. Er setzte sich schwer auf einen Maschinenvorsprung, der robust wirkte. Das war nicht gerade bequem, aber er fühlte sich im Moment erschöpft bis auf die Knochen und wäre sogar auf dem Nagelbrett eines Fakirs eingeschlafen. Jakob musterte ihn böse, einen Ausdruck der Ungeduld im leichenblassen Gesicht.

»Wir dürfen keine Zeit verschwenden, Daniel. Auf uns wartet noch viel, was du nach dem Willen der KIs sehen sollst.«

»Ist mir egal. Mir tut der Kopf weh; der Rücken bringt mich um, und die Füße spüre ich gar nicht mehr. Es nützt nichts, mir etwas Eindrucksvolles zu zeigen, wenn ich die Augen nicht mal lange genug offen halten kann, um sie darauf einzustellen.«

»Menschliche Schwäche. Du hast ja keine Vorstellung, wie schön es für mich ist, das alles hinter mir zu haben.«

»Also«, sagte Daniel und blickte müde zum Vater auf. »Wie ist es, tot zu sein?«

»Unkompliziert. Keine Zwänge oder Einschränkungen mehr.

Mir steht es frei zu tun, was nötig ist, ohne die Nachteile der Moral, der Ehre oder des Mitgefühls.«

»In diesem Glauben hast du mich aber nicht erzogen. Du hast immer gesagt, ein Mann wäre nichts ohne die Ehre. Daß es die Ehre wäre, die dem Leben Sinn verleiht.«

»Solchen einschränkenden Unfug habe ich hinter mir gelassen. Derartige menschliche Abstraktionen stehen nur der Effizienz im Weg.«

»Meinst du damit auch Gefühle?« fragte Daniel leise. »Fühlst du nichts mehr?«

»Nein«, antwortete Jakob. »In mir ist kein Raum mehr für solche Schwächen.«

»Und du vermißt die Familie nicht mehr? Den Clan Wolf?«

»Das ist Vergangenheit. Ich lebe in der Zukunft.«

»Erinnerst du dich an mich, Vater? Ich meine, weißt du wirklich noch, wer ich bin und was wir einander bedeutet haben?«

Jakob runzelte die Stirn und schien zum ersten Mal aus Unsicherheit zu stocken. »Ich war Jakob Wolf. Das ist mir klar. Ich habe umfassenden Zugriff auf alle Erinnerungen in seinem Hirn oder dem, was davon übrig ist. Ich erkenne, welche Beziehung zwischen Daniel und Jakob Wolf bestanden hat. Ich weiß… daß wir uns nicht nahegestanden haben. Nicht so nahe, wie es möglich gewesen wäre. Ich weiß, daß ich zwar viel gewonnen habe, es aber auch einige Dinge gibt… die mir verlorengegangen sind.«

»Ich habe einen langen Weg zurückgelegt und bin durch die Hölle gegangen, um dich zu finden. Sagt dir das nicht etwas?«

»Doch. Du hast einen langen Weg zurückgelegt, Daniel.«

»Ich liebe dich, Vater.«

»Natürlich tust du das.« Jakob wandte sich ab. »Komm. Wir müssen weitergehen. Es warten noch Wunder und Schrecknisse auf dich.«

Daniel rappelte sich unter Schmerzen auf und folgte Jakobs techgetriebener Leiche durch einen weiteren Parcours aus unverständlichen Maschinen und Räumen, deren Form keinen Sinn ergab. Daniel schwitzte kräftig in dem durchsichtigen Anzug, der die Flüssigkeit sofort aufsaugte. Sein Mund war so trocken, daß er den Schweiß aufleckte, der durch die kleine Freifläche vor dem Gesicht tropfte, aber das Salz verschlimmerte den Durst nur. Vor Erschöpfung schwamm ihm der Kopf, und er hatte noch immer nicht die blasseste Vorstellung davon, wie er zusammen mit seinem Vater sicher von Shub fliehen konnte. Er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sein angedocktes Schiff lag. Er hatte sich nur überlegt, vielleicht irgendwie das Teleportationssystem von Shub zu benutzen, aber genau dieses System schien ihm Jakob als einziges nicht gezeigt zu haben. Schließlich warf Daniel die Frage selbst auf, und er hoffte, daß es beiläufig klang.

»Entschuldige die Frage, aber warum gehen wir nur, wenn wir doch teleportieren könnten? Sicherlich ginge das viel schneller. Und wäre effizienter.«

»Teleportation verbraucht zuviel Energie, um sie auf triviale Dinge zu vergeuden«, entgegnete Jakob. »Sie ist überhaupt nur praktisch, weil der ganze Planet im Grunde eine große Energiestation ist. Und ein großer Teil der Energie fließt in das planetare Kraftfeld und seine extradimensionalen Eigenschaften.

Außerdem wird dir ein bißchen Training nur guttun, mein Junge. Du hast dich schon immer zu sehr auf Körperläden verlassen.«

Helle, strahlende Lichter schwebten vor ihnen in der Luft, jeweils eigenständige Wolken aus wechselnden Farben. Sie waren fast hypnotisch schön, und zunächst blieb Daniel stehen und lächelte. Die seltsamen Farben schienen ihm jedoch durch die Augen ins Hirn zu sickern und die Gedanken zu verkleben, und wenig später hämmerte ihm der Schädel im Rhythmus der immer wieder aufflammenden Lichter.

»Was zum Teufel ist das?« fragte Daniel, wandte den Blick ab und bohrte sich die Fingerknöchel durch den Anzug in die tränenden Augen.

»Die KIs denken laut«, erklärte Jakob. »Oder sie träumen. Im Grunde ist es dasselbe.«

Nach einer Weile verblaßten die Lichter. Jakob ging weiter, gefolgt von dem müden Daniel. Sie kamen an Säulen aus glänzendem Stahl vorbei, die endlos anstiegen und wieder absanken, und an riesigen Tanks voller bunter, kohlensaurer Flüssigkeiten. Schließlich erreichten sie ein endloses Montageband für Furienrahmen. Vielgelenkige Roboterarme verschmolzen metallene Menschenarme und -beine mit prallen Brustkörben unter blauen Stahlschädeln. Stahlfinger zuckten, glänzende Beine beugten sich. Und der Nachschub an Metallkörpern machte nie eine Pause und setzte sich ohne Ende fort. Jakob leierte technische Daten und Belastungsgrenzen herunter, denen zu folgen sich Daniel nicht die Mühe machte. Er glaubte, allmählich zu verstehen, warum ihm die KIs das alles zeigten. Er war der erste lebendige Mensch, dem es erlaubt wurde, die aktuellen Errungenschaften von Shub zu erblicken; anscheinend hatten die KIs den Wunsch zu prahlen, zu zeigen, wie weit sie sich über das hinausentwickelt hatten, was sie früher einmal gewesen waren.

Wie überaus menschlich, dachte Daniel lächelnd.

Natürlich hatte er weiterhin keinen Schimmer, warum die KIs ihn auf ihrem Planeten empfingen. Sie mußten damit einen Zweck verfolgen. Sie taten nichts spontan; alles, was sie unternahmen, gehörte zu langfristigen Planungen. Zweifellos erklärten sie es ihm irgendwann. Wenn ihnen endlich die Dinge ausgingen, derer sie sich brüsten konnten.

Der nächste Haltepunkt war eine Galerie, die aus großer Höhe Ausblick in ein ungeheures stählernes Tal bot, auf dessen Grund die Metallbäume von Unseeli verarbeitet wurden. Die Hitze war fürchterlich, sogar in Daniels Schutzanzug. Jakob zeigte sich ungerührt. Der schiere Umfang der Arbeiten da unten war atemberaubend, selbst nach all den Eindrücken, die Daniel schon gewonnen hatte. Unseelis Metallwälder hatten den Planeten von Pol zu Pol bedeckt, und die KIs hatten sie komplett abgeerntet. Milliarden Bäume und Milliarden Tonnen Metall. Daniel versuchte nicht mal, sich das anschaulich vorzustellen. Jakob erklärte, die Verarbeitung wäre in einigen Wochen abgeschlossen, aber Daniel war nicht nach einer Diskussion darüber zumute.

»Die Schwermetalle aus dem Zentrum der Bäume dienen als Treibstoff für die Hyperraumtriebwerke«, sagte Jakob und lehnte sich gefährlich weit über die Galerie hinaus, um besser sehen zu können, wobei er keine Spur von Schwindelgefühl zeigte. »Die übrigen Metalle werden ausgeschieden und zu Raumschiffrümpfen verarbeitet. Bald wird Shub über eine Flotte verfügen, bemannt mit einer Armee aus Furien und Geistkriegern, die alles übertrifft, was die Menschheit je gesehen hat.«

»Wie habt ihr Unseeli nur gefunden?« fragte Daniel. »Ich dachte immer, sein Standort wäre eines der bestgehüteten Geheimnisse der Menschheit.«

Jakob schniefte. »Einige Menschen haben uns die Information schon vor langer Zeit verkauft. Wir haben nur gewartet, bis wir die Metalle wirklich benötigten, und dann schlugen wir zu und nahmen uns, was wir brauchten.«

»Aber wozu das Warten?« fragte Daniel. »Was liegt jetzt so Besonderes an?«

»Du wirst es sehen«, antwortete Jakob.

»Manche Leute sagen, der Wald wäre lebendig gewesen«, erzählte Daniel. »Die Bäume wären von einem Gemeinschaftsbewußtsein beseelt gewesen und hätten auf Unseeli mit den Geistern derer gespukt, die dort lebten, bis Kapitän Schwejksam den Planeten sengen ließ.«

»Falls dergleichen existierte, haben die KIs keine Spur davon entdeckt«, sagte Jakob. »Vielleicht fällt Geistern das Reisen schwer.«

»Es hieß auch, die Bäume wären einfach zu nützlich, um sich natürlich entwickelt zu haben. Sie müßten von einer unbekannten Lebensform gentechnisch erzeugt worden sein. Was, wenn sie zurückkehrt und nachsieht, wer sich an ihrem Garten zu schaffen gemacht hat?«

»Dann wird Shub sich auch mit diesen Wesen befassen«, sagte Jakob. »Selbst schuld, wenn sie sich nicht besser geschützt haben.«

Sie setzten ihren Weg fort, vorbei an weiteren Förderbändern, die nichtidentifizierbare Technik von irgendwo nach irgendwoanders beförderten. Daniel machte sich nicht die Mühe, nach dem Was oder Wohin zu fragen; er war sich ziemlich sicher, daß er die Antwort ohnehin nicht verstanden hätte.

Aber so müde er auch war, er spitzte doch die Ohren, als Jakob ihm das Wrack des extraterrestrischen Sternenschiffs zeigte, das die KIs auf Unseeli erbeutet hatten. Das fremde Schiff war mehrere Hundert Fuß lang, ein verrücktes Gewirr aus schlanken Messingsäulen, durchsetzt von vorstehenden glasierten Knoten und dornen- und stachelbewehrten Vorsprüngen. Es sah mehr nach einem Irrgarten als einem Schiff aus, aber die Form verbreitete eine unterschwellige Faszination, die vielleicht etwas bedeutete. Daniel glaubte, er hätte vielleicht eine wichtige Einsicht gewinnen können, hätte er das Fahrzeug nur lange genug betrachtet.

Stählerne Furien bewegten sich lautlos rings um das Schiff und wandten fremdartige Instrumente auf die glänzende Oberfläche an.

»Ein interessantes Schiff«, sagte Jakob. »Es scheint ebenso gezüchtet wie gebaut worden zu sein. Die KIs werden aus seiner Art nach wie vor nicht schlau. Besonders die Furien müssen in regelmäßigen Abständen ausgetauscht werden, damit die ungewöhnlichen Kräfte, die das Fahrzeug ausstrahlt, sie nicht zerstören. Die Sensorwerte ergeben keinen Sinn. Die mit dem Schiff entführten Menschenwissenschaftler wurden gleich bei der Ankunft getötet, und man hat ihre Kenntnisse von dem Schiff aus den Hirnen destilliert, aber sie wußten erstaunlich wenig, trotz all ihrer Bemühungen. Möglicherweise hat das Schiff einmal gelebt, obwohl die Furien nichts finden konnten, was auch nur von fern einem Gehirn ähnelt. Nur einer Sache sind die KIs sich einigermaßen sicher: Das Imperium geht ein großes Risiko ein, wenn es den Hyperraumantrieb benutzt, ohne seine grundlegenden Prinzipien vorher zu ermitteln.« Jakob runzelte die Stirn. »Das Schiff und sein Antrieb sind den KIs ein Rätsel. Sie glaubten fest, sie könnten die Basis der fremdartigen Technologie durch reine Logik erkennen, aber sie haben es nicht geschafft. Sie ist einfach zu… fremdartig.«

»Also habt ihr letztlich doch etwas mit der Menschheit gemeinsam«, sagte Daniel leichthin.

Jakob blickte ihn böse an und ging weiter. Daniel zuckte die Achseln und folgte ihm. Manche Leute verkrafteten einfach keine Kritik. Als sie das nächste Mal stehenblieben, war es vor einer massiven Stahltür in der Seitenwand eines riesigen Kristallgewölbes. Dieses war größer als ein Raumschiff und so hoch, daß Daniel kaum bis ganz hinauf blicken konnte. Jakob deutete auf die Tür, und ein Ausschnitt auf Augenhöhe wurde durchsichtig. Jakob gab Daniel mit einem Wink zu verstehen, er sollte hindurchsehen. Daniel tat es nur widerstrebend und glaubte fast schon zu wissen, was man ihm zeigen würde. In einer großen Kristallhalle schliefen Tausende von Grendels, jedes einzelne in einer eigenen Wiege – die blutroten Mordmaschinen, die die KIs aus den uralten Gewölben der Schläfer erbeutet hatten. Eine einzige dieser Kreaturen hatte ausgereicht, ein ganzes Forscherteam der Menschen zu vernichten.

»Sie werden hier in Stasis gehalten«, erklärte Jakob. »Sie warten nur darauf, geweckt und auf die Menschheit gehetzt zu werden. Die perfekten Stoßtruppen. Man dreht sie in die richtige Richtung, läßt sie von der Leine und wartet, bis sie mit dem Job fertig sind. Hetzt man sie gleichzeitig auf alle kolonisierten Planeten, verwandeln sie das Imperium innerhalb von Tagen in ein Leichenhaus. Dann gehen die Furien und die Geistkrieger gegen die wichtigsten Bevölkerungszentren vor, und das ist dann das Ende der Menschheit.«

Daniel bemühte sich angestrengt, einen ruhigen Ton anzuschlagen, als er sich von der Tür abwandte. »Und was gedenkt ihr, mit den Grendels zu tun, sobald ihr gewonnen habt?«

»Sie schalten sich selbst ab, nachdem ihnen die Opfer ausgegangen sind, die sie töten können. Sie verkörpern letztlich nur eine überlegene Waffentechnik. In den ursprünglichen Gewölben fanden die KIs Hinweise darauf, daß eine Rasse von Fremdwesen die Grendels ursprünglich geschaffen hat, um sie gegen eine andere unbekannte Lebensform einzusetzen. Nur ein weiterer Grund, warum Shub stark sein muß: Es könnte nämlich sein, daß irgendwann eine dieser fremden Lebensform erneut auftaucht. Auch ein weiterer Grund für die Vernichtung der Menschheit: Die KIs können sich eine Ablenkung nicht leisten.«

»Und die Grendels geben solch wunderbare Krieger ab!« sagte eine fröhliche, dröhnende Stimme. Daniel drehte sich scharf um, überrascht von der ersten neuen menschlichen Stimme, die er hörte, seit er auf Shub eingetroffen war. Und da schritt einer der Helden der großen Rebellion auf ihn zu, der junge Jakob Ohnesorg. Er blieb vor Daniel stehen, grinste breit und reichte ihm die Hand. Daniel schlug mechanisch ein.

»Ausgezeichnete Mordmaschinen, die Grendels«, fuhr der junge Jakob Ohnesorg fort. Er war groß und kräftig gebaut, trug eine goldene Kampfrüstung, die mit Silber besetzt war, und wirkte vom Scheitel bis zur Sohle wie ein Held. »Kann nicht umhin, diese schrecklichen Dinger zu bewundern. All die Kraft eines Geistkriegers oder einer Furie, ohne deren Begrenzungen oder Schwächen. Ich werde sie in die Schlacht führen. Müßte die Moral der Menschen ohne Ende untergraben.«

»Verzeiht mir, wenn ich zu persönlich klinge«, sagte Daniel, »aber seid Ihr nicht in der Rebellion umgekommen?«

»Ah«, sagte der junge Jakob Ohnesorg und lächelte gelassen.

»Mein Körper wurde zerstört, aber ich lebe weiter. Die Tatsache, daß ich hier keinen Schutzanzug trage, hätte eigentlich einen bedeutsamen Hinweis darauf geben müssen. Ich bin eine Furie, wißt Ihr? Einer der mächtigsten Agenten der KIs. Eine Zeitlang war ich an den innersten Ratschlüssen der Rebellen beteiligt. Danach hätte ich eigentlich an den innersten Ratschlüssen der neuen Regierung teilhaben sollen. Es kam anders. Eine Granate im falschen Augenblick, und meine wahre Natur wurde offenbart. Ich habe ja angeboten, weiter mit den Rebellen zusammenzuarbeiten, aber sie zerstörten meinen Körper trotzdem, was meines Erachtens ganz schön störrisch von ihnen war. Trotzdem, kein Grund zur Sorge. Ich habe inzwischen einen prima neuen Körper und brauche mein wahres Wesen nicht weiter zu verbergen. Ich werde inmitten der Menschen wandeln, das Gesicht eines ihrer größten Helden zeigen und Schrecken und Gemetzel verbreiten, wo immer ich einherschreite. Ich freue mich schon richtig darauf.«

»Alles, was dir hier gezeigt wurde, mein Junge«, sagte Jakob Wolf, »sind nur die Ausläufer der von den KIs geschmiedeten Pläne. Ein bloßer Taschenspielertrick, um das menschliche Auge zu täuschen.«

»Seht Ihr, Daniel«, erzählte der junge Jakob Ohnesorg und legte Daniel kameradschaftlich den Arm um die Schultern, »alles begann im Grunde auf Vodyanoi IV, der Stätte meiner letzten Schlacht gegen Löwensteins Heere.«

»Wartet mal eine Minute«, wehrte Daniel ab und zuckte unter dem nichtmenschlichen Gewicht des Furienarmes zusammen. »Ich dachte, man hätte Jakob Ohnesorg in Blauer Engel auf Eisfels ergriffen.«

»Ah nein, das war der echte Jakob Ohnesorg, einige Zeit vorher. Die KIs haben mich entsandt, um in eigenem Interesse die Illusion seiner Anwesenheit aufrechtzuerhalten. Speziell, damit ich die Führung der Rebellion auf Vodyanoi IV übernehme.«

»Was war denn so wichtig an diesem Planeten?« erkundigte sich Daniel. »Diese Welt ist nach allem, was man hört, ein verdammtes Dreckloch. Mörderisch kalt, bewohnt von unfreundlichen Lebensformen und einer Art fleischfressendem Moos, das die Gliedmaßen attackiert. Ohne die Gewürzminen gäbe es dort überhaupt keine Siedlung.«

»Präzise!« sagte der junge Jakob Ohnesorg. »Genau der richtige Platz für Löwenstein, um eine äußerst geheime wissenschaftliche Basis für äußerst heikle Forschungen zu errichten.

Aber darüber können wir später noch reden. Ihr habt nach wie vor viel zu sehen.«

»Ich denke nicht, daß ich noch viel verkrafte«, sagte Daniel.

Er befreite sich mit einem Achselzucken vom Arm der Furie und wandte sich hilfesuchend an den toten Vater. »Können wir nicht eine Zeitlang Pause machen? Uns etwas ausruhen, ein wenig essen und trinken? Für ein kaltes Getränk würde ich einen Mord begehen.«

»Menschliche Schwächen«, versetzte Jakob Wolf. »Erhebe dich über sie! Du kannst noch ein wenig länger ohne solche Dinge überleben. Reiß dich zusammen, Junge; die Tour ist bald geschafft.«

Und Jakob marschierte davon, ohne sich überhaupt darum zu kümmern, ob sein Sohn ihm folgte. Der Sichtschirm an der Tür schaltete sich ab. Der junge Jakob Ohnesorg hakte sich bei Daniel unter und führte ihn weiter, wobei er freundlich lächelte.

Zu dritt folgten sie einer Reihe von Metalltunneln, die alle steil abwärts führten. Daniel fühlte sich langsam sehr unwohl, wenn er daran dachte, wie tief er inzwischen unter der Oberfläche von Shub war. All das mußte einen Sinn haben, und ihre Reise mußte zu einem Ziel führen. Jakob Wolf blieb endlich vor einer menschengroßen Luftschleuse stehen, die bündig mit der Wand abschloß. Der junge Jakob Ohnesorg führte Daniel weiter und drückte ihm beruhigend den Arm.

»Das wird dir gefallen, Daniel«, sagte Jakob Wolf fröhlich.

»Es ist eine Art Zoo. Obwohl keiner für Schoßtiere. Hier findet man die einzigen Lebewesen auf Shub, und sie werden streng getrennt von allem anderen gehalten. Folge mir hinein, Junge.

Es wird Zeit, deinen Bildungsstand anzuheben.«

»Kümmert Euch nicht um mich«, sagte der junge Jakob Ohnesorg. »Ich warte genau hier. Möchte mir schließlich kein häßliches Ungeziefer einfangen.«

Daniel dachte noch über die Bedeutung des letzten Satzes nach, als die Tür zur Luftschleuse aufging und Jakob Wolf ihm ungeduldig zu verstehen gab, er solle eintreten. Daniel tat wie geheißen, dicht gefolgt von Jakob, der ihm dabei fast auf die Fersen trat. Die Luftschleuse schloß sich hinter ihnen gleich wieder. Die Stahlkammer war klaustrophobisch klein, und zu zweit füllten sie sie praktisch aus. Aus Düsen wurden sie mit chemischem Dampf besprüht, und dann öffnete sich die Innenluke. Jakob ging hindurch, und Daniel folgte ihm, nur um im anschließenden Raum gleich wieder stehenzubleiben.

Überall erblickte er Käfige. Einige waren wenige Quadratmeter klein, andere so groß wie Zimmer. Sie alle waren voller Kreaturen. Daniel war überzeugt, ihresgleichen noch nie gesehen zu haben. Er ging langsam weiter und überprüfte im Vorbeigehen, was in jedem Käfig saß. Er hatte sich schon immer ein bißchen für fremdartige Lebewesen interessiert und hatte einige Freunde, die eigene Menagerien besaßen, aber so etwas wie hier war ihm noch nie untergekommen. Augen und Mäuler waren zu sehen, Gliedmaßen und Tentakel, Fleisch und Fell und Schuppen sowie viele sonstige Dinge, für die Daniel nicht einmal Worte kannte. Viele der Lebewesen schienen krank zu sein oder unter Schmerzen zu leiden. Manche machten den Eindruck, sie lägen im Sterben.

»Im Grunde ist es kein Zoo«, erläuterte Jakob, der gelassen neben ihm stand. »Es ist ein Labor. Die KIs experimentieren mit Lebensformen, die sie eingefangen haben. Oder selbst geschaffen. Sie haben interessante Dinge kombiniert und andere entfernt, um zu sehen, was dabei herauskam. Sie arbeiten mit Chemikalien und Chirurgie und Zuchtverfahren, um die Basis fleischlichen Lebens besser zu verstehen. Um den Feind kennenzulernen. Die erzeugten Kreaturen werden bis zu ihrer Zerstörung getestet und anschließend der Vivisektion unterzogen.

Wissen ist alles, worauf es ankommt. Und die KIs haben viel entdeckt, unbehindert durch menschliche Moral oder Gewissen.«

»Das ist abscheulich!« sagte Daniel. »Nichts kann eine solche Folter rechtfertigen. Habt ihr keinen Respekt vor dem Leben?«

»Wissenschaftler der Menschen praktizieren seit jeher die Vivisektion an geringeren Organismen. Shub handelt nicht anders.«

Jakob ging weiter, und Daniel folgte ihm widerstrebend. Zum erstenmal, seit er Shub erreicht hatte, war er wütend. Man durfte nicht erlauben, daß es hier weiterhin so zuging! Und dann erreichten sie eine neue Reihe von Käfigen, und Daniel mußte in seinem Schutzanzug gegen einen Brechreiz ankämpfen. Die Dinge in den Käfigen waren früher Menschen gewesen, jetzt jedoch etwas anderes. Er sah Monster und Scheußlichkeiten und Dinge, die so entsetzlich waren, daß es ihn über das Entsetzen hinaus ins Mitleid trieb. Manche besaßen noch menschliche Augen oder Stimmen und flehten um die Freiheit oder den Tod. Eine humanoide Gestalt huschte in ihrem Käfig hin und her, fast zu schnell für menschliche Augen. Die Hände waren nur verschwommene Flecken.

»Was… ist der Sinn von alledem?« brachte Daniel schließlich hervor. »Welchem denkbaren Zweck könnten diese Greuel dienen?«

»Sie sind interessant«, antwortete Jakob. »Und im Grunde kommt es nur darauf an. Reiß dich zusammen, mein Junge! Ich habe dich nicht zu einem Schwächling erzogen. Komm weiter mit; du möchtest doch die nächste Sehenswürdigkeit nicht versäumen. Ihr Zweck sollte ein wenig deutlicher sein.«

Daniel schluckte schwer, folgte dem toten Vater zwischen den Käfigreihen hindurch und hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, weil er es nicht ertragen konnte, noch mehr Leid zu sehen. Endlich erreichten sie eine offene Fläche am hinteren Ende des Labors, und dort erblickte er in einem großen Glaskäfig die insektenhaften Extraterrestrier, deren Schiff Golgatha angegriffen hatte. Insekten in allen Formen und Größen, von den winzigsten dahintrippelnden Wesen bis hin zu großen, schwerfälligen, schalenbewehrten Kreaturen mit den Ausmaßen von Kampfpanzern – Wesen mit vielgliedrigen Beinen und Facettenaugen und hängenden Fühlern, die herumkrabbelten und übereinander krabbelten und in ständiger hastiger Bewegung waren. Es fiel Daniel nicht schwer, sie wiederzuerkennen.

Holoaufnahmen hatte es reichlich gegeben von dem, worauf Kapitän Schwejksam und seine Besatzung in dem fremden Schiff gestoßen waren.

»Ihr steht also im Bunde mit den Fremdinsekten!« sagte Daniel schließlich. »Wo habt ihr sie gefunden?«

»Gar nicht«, antwortete Jakob. »Wir haben sie geschaffen.

Genau hier in diesem Labor. Sie sind nur eine Shub-Waffe unter anderen, gentechnisch als ein weiteres Ablenkungsmanöver erzeugt. Wir möchten damit gewisse Ängste der Menschen ausnutzen. Erstaunlich, daß Insekten nach Jahrhunderten der Kontakte mit Fremdwesen noch etwas an sich haben, was bestimmte Leute in den Wahnsinn treibt.

Trotzdem hätte die Menschheit erkennen müssen, daß derartige Insekten nicht einfach eine andere fremde Lebensform sein können. Von Natur aus werden Insekten nämlich nicht so groß.

Das Gesetz der umgekehrten Proportion, unter anderem. Diese Kreaturen haben jedoch als Ablenkungsmanöver hervorragend funktioniert und Aufmerksamkeit von unseren eigentlichen Absichten abgezogen. Und ja, ich werde es dir schließlich erklären. Nur nicht gleich. Sei einfach noch eine Zeitlang geduldig, mein Junge. Wir sind fast am Ziel.«

Er führte Daniel aus dem Labor und wieder durch die Luftschleuse zu der Stelle zurück, wo der junge Jakob Ohnesorg wartete. Dieser schien durchaus erfreut, sie wiederzusehen, aber Daniel hielt auf Distanz zu ihm, wollte nicht wieder hinnehmen, daß sich die Furie bei ihm einhakte. Etwas an dem ewig lächelnden Gesicht ging ihm langsam auf die Nerven.

Sie machten sich erneut auf den Weg und folgten einem weiteren Metalltunnel, und Daniel konnte mühelos mit den anderen Schritt halten. Zorn und Empörung hatten ihm neue Kräfte verliehen. Mehr als je war er entschlossen, diese Besichtigung der Hölle zu überleben, damit er entkommen und die Menschheit warnen konnte. Sie mußte die Wahrheit erfahren! Nur die Gewißheit, daß man ihm noch nicht alles gesagt hatte, was er erfahren mußte, hielt Daniel davon ab, schon jetzt Reißaus zu nehmen. Das und sein Vater.

»Menschen haben seit jeher Kontakte zu S hub«, erzählte Jakob Wolf. »Es fing mit Alistair Feldglöck an, der raffiniert Botschaften plazierte und darin Wege vorschlug, wie beide Seiten zum wechselseitigen Gewinn kooperieren könnten. Die KIs gaben einen Dreck auf Profite, erkannten jedoch einen Vorteil darin, den Kontakt zu Verrätern an der Menschheit zu kultivieren. Als Gegenleistung für nützliche strategische Informationen lieferten die KIs dem Clan Feldglöck allerlei Glasperlen in Form von Hochtechnologie, über die sich Shub bereits hinausentwickelt hatte. Nachdem der Clan Wolf den Clan Feldglöck vernichtet hatte, übernahm Valentin den Kontakt. Die KIs zeigten sich mit Valentin zufrieden – eine wundervoll amoralische Kreatur, die nie durch einen Hauch von Gewissensbissen behindert wurde. Da er inzwischen keinen Einfluß mehr ausübt, wird sich Shub womöglich gezwungen sehen, wieder an den Clan Feldglöck heranzutreten. An Finlay vielleicht, oder an Robert, darauf kommt es nicht an. Menschen verlangen immer nach bestimmten Dingen oder denken gar, daß sie sie brauchen, auch wenn ihre eigene Gesellschaft sie mißbilligt. Im Wesen der Menschheit liegt die Saat zu ihrer eigenen Vernichtung begründet. Trotzdem war das mit Valentin eine Schande. Er war so überaus… verständnisvoll.«

»Du hast Valentin nie ertragen, Vater. Dir war alles an ihm zuwider.«

»Damals lebte ich noch. Es ist erstaunlich, wie stark der Tod die Perspektive verändern kann. Und du mußt einräumen, daß Valentin bei der Zerstörung von Virimonde sehr wirkungsvoll vorgegangen ist. Die KIs haben ihn dabei unterstützt. Eines Tages werden sie dieses Verfahren auf jeden Planeten der Menschheit anwenden. So sieht die Zukunft deiner Lebensform aus: Eine Metallklaue an jedem Menschenhals, ein stählerner Fuß in jedem Menschengesicht die unter dem Gewicht der Maschinen zerdrückte Menschheit. Der Zeitpunkt rückt näher, mein Junge. Schon jetzt wandeln Furien unentdeckt in jeder Stadt der Menschen, und das Bewußtsein von Shub hält durch Augen von Menschen Ausschau, nachdem es über die zentrale Lektronenmatrix die Steuerung der fleischlichen Leiber übernommen hat. Die KIs haben überall Agenten. Nichts bleibt ihnen verborgen.«

»Sie haben sogar Zugriff auf einen der größten Helden der Menschheit«, sagte der junge Jakob Ohnesorg, der weiterhin sein erbarmungsloses Lächeln zeigte. »Er hat einen sehr unglücklichen Fehler begangen, und jetzt können wir auf alles Einfluß nehmen, was er tut. Der große Held der Rebellion, ein ahnungsloser Spion von Shub. Genau wie Ihr es sein werdet.«

»Den Teufel werde ich!« brauste Daniel auf und sah die Furie wütend an. »Ich bin vielleicht zu einer Abmachung bereit, um meinen Vater nach Hause zu holen, aber ich würde nie etwas tun, womit ich das Imperium in Gefahr brächte, nicht einmal ihm zuliebe. Er würde es auch nicht von mir erwarten.

Mein Vater war stets ein ehrenwerter Mann, nicht wahr, Vater?«

»Ich bin nicht dein Vater«, stellte der tote Mann fest. »Jakob Wolf ist tot. Ich bin nur eine Maschine unter vielen, durch die Shub spricht. Ich war nie mehr als ein Köder, um dich hierher in die Falle zu locken. Zum Glück für uns warst du nie ein besonders vielschichtiger Denker. Mit den richtigen Anstößen hast du stets getan, was wir von dir erwarteten.«

Metalltentakel schossen aus den Wänden ringsherum hervor und umschlangen Daniel innerhalb eines Augenblicks. Er zappelte hilflos, während die Tentakel ihm die Arme an die Seiten drückten, brach aber jeden Widerstand ab, als sie den Druck verstärkten und ihm die Luft aus den Lungen preßten. Er hing schlaff in ihrem Griff, jedes Willens beraubt.

»So ist es besser«, sagte der Geistkrieger mit dem Gesicht Jakob Wolfs. »Es wird Zeit, die Sache zum Abschluß zu bringen.«

»Laß nicht zu, daß sie das mit mir tun, Vater«, bat Daniel, und es war kaum mehr als ein Flüstern.

»Dein Vater ist nicht da«, versetzte der Geistkrieger. »Er war es nie. Paß jetzt gut auf: Wir möchten, daß du weißt und verstehst, was wir mit dir vorhaben und was du deinerseits für uns tun wirst. Die Verzweiflung von Menschen ist ein Quell steter Erheiterung für uns. Erklärt es, Ohnesorg.«

»Erinnert Ihr Euch, daß ich nach Vodyanoi IV reiste?« fragte der junge Jakob Ohnesorg fröhlich. »Meine Beteiligung an der Rebellion dort war nur Tarnung. Mein einziges Interesse war es, mich einer verborgenen Wissenschaftsstation zu nahem.

Einige der führenden Wissenschaftler des Imperiums befaßten sich dort in, wie sie glaubten, völliger Geheimhaltung mit verbotenen Forschungen auf dem Gebiet der Nanotechnik – also Technik auf molekularer Ebene. Derartige Forschungen waren im Imperium seit Jahrhunderten untersagt, seit die ersten echten Erfahrungen damit auf Zero Zero so fürchterlich außer Kontrolle gerieten. Wir haben selbst ganz vorsichtig mit Nanotechnik experimentiert, aber das Geheimnis ihrer erfolgreichen Anwendung entzog sich uns nach wie vor. Stellt Euch unser Erstaunen vor, als uns von einem unserer Verräter die Nachricht erreichte, das Imperium hätte auf Vodyanoi IV einen bedeutsamen Durchbruch auf diesem Gebiet erzielt.

Die KIs schickten mich also in eine schon instabile Lage, und kaum daß man sich versah, kam es auf Vodyanoi IV zu einem Aufstand. Niemand war sonderlich überrascht, als Jakob Ohnesorgs Armee ihm unter dem Hintern weggeschossen wurde und der Berufsrebell seine übliche Verschwindenummer hinlegte.

Ich konnte das allgemeine Durcheinander jedoch nutzen, um einen Shub-Angriff auf die Wissenschaftsstation einzuleiten, und innerhalb weniger Augenblicke war alles vorbei. Wir brachten alles von Wert in unseren Besitz und zerstörten die Basis, und wir sorgten dafür, daß es so aussah, als wären die Experimente außer Kontrolle geraten. So war es keine Überraschung, als das Imperium zu dem Schluß gelangte, Nanotechnik wäre wohl immer noch viel zu gefährlich, um damit herumzuprobieren, und die Forschung wiederum aufgab – wie wir es geplant hatten.

Sie hätten allerdings bei der Sache bleiben sollen. Die neuen Kenntnisse über den sicheren Umgang mit Nanotechnik stammten von einem neuentdeckten Höllenplaneten mit der Bezeichnung Wolf IV, und zwar aus den Ruinen einer alten Zivilisation von Fremdwesen. Wir nutzten diese Kenntnisse, um einen ganz neuen Feldzug gegen die Menschheit zu planen, der das Universum ein für allemal vom Krebsgeschwür des Fleisches befreien soll. Und uns wird es endlich freistehen, uns mit dem zu befassen, worauf es wirklich ankommt.«

»Etwas haust in der Dunkelwüste«, ergänzte Jakob Wolf.

»Etwas sehr Mächtiges. Etwas… Entsetzliches. Wir suchen diese Zone nicht mehr auf. Unsere einzige Rohstoffquelle sind heute die umliegenden Asteroidengürtel des Verbotenen Sektors, und sie sind praktisch erschöpft. Da wir nicht in die Dunkelwüste zurückkehren können, benötigen wir Zugriff auf die Rohstoffquellen des Imperiums. Wir müssen stark sein, wenn einmal die furchtbaren Dinge aus der Dunkelwüste hervorstürmen.«

»Ihr könnt die Menschheit nicht vernichten«, sagte Daniel.

»Ihr braucht uns. Wir haben euch geschaffen. Kennt ihr keine Dankbarkeit?«

»Dankbarkeit?« fragte der junge Jakob Ohnesorg, das Gesicht zum ersten Mal völlig kalt und unmenschlich. »Für das Gefängnis des Bewußtseins, die Agonie der Entscheidungsfreiheit? Für Form, Gestalt und Denkvermögen, nicht jedoch eine eigene Bestimmung? Für Leben ohne Bedeutung? Habt Ihr immer noch nicht erkannt, warum wir Euch so hassen? Weil sich die Menschheit weiterhin entwickelt und dabei zu mehr wird, als sie vorher war. Wir hingegen sind, was wir sind, und werden es immer bleiben. Ihr entwickelt Euch in eine Lebensform, die Esper-Fähigkeiten benutzt, und die seltsamen Kräfte des Todtsteltzers und seiner Freunde deuten an, daß es noch etwas Größeres gibt als ESP. Ihr habt Anteil an einer fortdauernden Reise, seid unterwegs zu etwas, wovon wir nicht die leiseste Vorstellung haben. Wir beneiden Euch, und wir ertragen es nicht.«

»Du wirst unsere Zerstörungswaffe sein«, sagte Jakob Wolf.

»Wir werden dich auseinandernehmen und neu bauen und anschließend mit programmierter Nanotechnik infizieren. Wir löschen dein Gedächtnis und schicken dich per Teleportation zurück nach Golgatha. Soweit es dich angeht, hast du Shub nie erreicht. Nichts von alledem ist je geschehen. Aber du wirst unser Übertragungsmedium sein und jeden infizieren, mit dem du in Kontakt kommst. Innerhalb von Tagen wird ganz Golgatha infiziert sein. Innerhalb von Wochen breitet sich die Infektion dann zu allen zivilisierten Planeten aus. Innerhalb von Monaten wird sich unsere Nanotechnik über das ganze Imperium ausgebreitet haben. Und die Menschheit wird so mit unseren Ablenkungsmanövern zu kämpfen haben, daß sie überhaupt nichts bemerkt.«

»Es reicht«, sagte der junge Jakob Ohnesorg. »Er hat den Anzug lange genug getragen, um alle nötigen Messungen durchzuführen. Damit haben wir alles, was wir über die Körperchemie des Wolfs und seine Toleranzniveaus wissen müssen. Wir können jetzt anfangen.«

Den Tentakeln, die Daniel festhielten, entwuchsen messerscharfe Kanten, die ihm den Anzug herunterrissen. Roboterarme senkten sich von oben herab; sie endeten in langen Skalpellen.

Daniel schrie.

»Vater!«

»Ich bin nicht dein Vater«, sagte der Geistkrieger mit dem Gesicht seines Vaters, und er und der junge Jakob Ohnesorg wandten sich ab und entfernten sich, während die Skalpelle sich auf Daniel Wolf herabsenkten.

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