9


Obwohl über dem großen Raum mehr als zwanzig Personen zusammengekommen waren, herrschte eine fast unheimliche Stille. Draußen, fünfundzwanzig Stockwerke unter dem Konferenzsaal, der in der oberen Etage des Zentralturmes lag, waren die Lösch- und Aufräumungsarbeiten noch immer in vollem Gange. Dann und wann zerriß der Blitz einer kleineren Explosion das Grau der hereinbrechenden Dämmerung.

Obwohl der Überfall mittlerweile gute sechzehn Stunden zurücklag, war es den Männern immer noch nicht gelungen, das brennende Treibstofflager vollkommen zu löschen.

Und vermutlich sterben dort unten selbst in diesem Augenblick noch Menschen, dachte Charity matt. Der Angriff hatte weitaus mehr Todesopfer gefordert, als sie alle in der ersten Euphorie des Sieges erkannt hatten. Die Fremden hatten hart und mit fast chirurgischer Präzision zugeschlagen. Genau wie oben in Skytown sahen die Schäden auf den ersten Blick gar nicht einmal so schlimm aus, um sich beim zweiten Hinsehen dafür als um so verheerender zu erweisen.

Die Rochenschiffe hatten bereits bei ihrem allerersten Angriff mehr als fünfzig Prozent der Verteidigungsanlagen der Basis zerstört. Die drei nachfolgenden Angriffswellen hatten den Rest der Abwehr niedergemacht; dann waren die Landungstruppen gekommen, diese eigentümlichen, furchteinflößenden schwarzen Riesen, die sich hier unten als ebenso unbesiegbar und fast unverwundbar erwiesen hatten wie in der EXCALIBUR.

Der Kampf hatte weniger als eine halbe Stunde gedauert. Trotzdem waren die militärischen Einrichtungen der Basis nach der Auseinandersetzung so gut wie zerstört, und mehr als die Hälfte der Verteidiger war tot oder kampfunfähig.

Hätte Charity den Kommunikationssatelliten mit dem Störsender auch nur zehn Minuten später vernichtet, hätten sie Euro-eins nur noch als brennende Ruine vorgefunden. Charity schätzte, daß es ein Jahr dauern würde, um die angerichteten Schäden auch nur halbwegs wieder zu bereinigen.

Und sie war ziemlich sicher, daß sie dieses Jahr nicht hatten.

Ein besonders greller Blitz löschte für einen Moment die Dunkelheit vor den Fenstern aus und ließ alle Anwesenden für einen Moment in ihren Gesprächen innehalten und erschrocken aufsehen. Charity wurde aus ihren Gedanken gerissen.

Während sie sich mit einer unbewußten Geste über die immer noch schmerzenden Rippen fuhr, suchte ihr Blick Hartmann. Sie versuchte sich zu erinnern, was er in den letzten fünf oder auch zehn Minuten gesagt hatte, doch sie konnte es nicht. Es war vermutlich auch egal.

Diese überflüssigste alle überflüssigen Krisensitzungen, die der Rat in aller Eile einberufen hatte, dauerte nun schon zwei Stunden, und das Gespräch drehte sich seit genau diesen zwei Stunden im Kreise und würde es auch weitere zwei oder auch zweihundert Stunden tun. Wieso waren Skudder und sie eigentlich die einzigen hier im Raum, die das zu begreifen schienen?

»Ich weigere mich einfach zu glauben«, sagte Drasko im diesem Moment, »daß Ihre Leute absolut nichts über die Identität der Angreifer in Erfahrung gebracht haben.«

Hartmann spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, doch seine Stimme klang erstaunlich ruhig, als er antwortete. Charity verstand ohnehin nicht mehr, woher Hartmann die Selbstbeherrschung nahm, die er seit ihrer Rückkehr an den Tag legte.

»Es ist aber leider so«, sagte er. »Jedenfalls im Moment. Wir wissen weder, wer sie sind, noch woher sie kommen oder warum sie hier sind.«

»Über das warum gibt es wohl keine Zweifel«, warf Harris spöttisch ein. »Wenn das ein Freundschaftsbesuch war, möchte ich sie nicht schlecht gelaunt erleben.«

»Der Angriff war ausgezeichnet vorbereitet«, bestätigte Hartmann. »Sie wußten ganz genau, wie und wo sie uns treffen müssen, um den größtmöglichen Schaden anzurichten.«

»Sind sie sicher?« fragte Drasko. »Ich meine... Sie sind Soldat, General Hartmann. Es ist Ihre Aufgabe, Ihre Gegner als gefährlich zu betrachten. Aber wir sollten jetzt nicht in Hysterie geraten. Ich halte diese Fremden nicht für so gefährlich wie Sie.«

»Warum sehen Sie nicht einfach aus dem Fenster?« schlug Skudder vor.

»Ich habe nicht gesagt, daß ich sie für ungefährlich halte«, antwortete Drasko ruhig. »Aber einen Gegner zu überschätzen kann ebenso gefährlich sein wie das Gegenteil. Letztendlich sind Sie mit einem Dutzend Schiffen und einigen hundert Soldaten gekommen -«

»Die um ein Haar ausgereicht hätten«, fiel Skudder ihm ins Wort.

»Wir haben gesiegt, oder?«

Skudder wollte auffahren, doch Hartmann brachte ihn mit einer raschen Geste zum Schweigen und wandte sich betont ernst an Drasko. »Nein, Gouverneur, das haben wir nicht.« sagte er ruhig. »Wir hatten Glück, das war alles. Verdammt großes Glück. Wir hatten rein zufällig die besten Kampfmaschinen dort oben, über die die Erde zur Zeit verfügt. Und hinter ihren Kontrollen saßen - ebenfalls rein zufällig - die mit Abstand besten Piloten, die wir haben. Captain Laird hat das Gefecht praktisch allein entschieden. Und hätten wir nicht - und auch das wieder durch pures Glück - im allerletzten Moment den feindlichen Störsender erwischt, hätte das alles nichts genutzt. Glauben Sie mir, Gouverneur: Die Wahrscheinlichkeit, daß wir noch einmal so viel Glück haben, ist mehr als gering.«

»Ein Grund mehr, herauszufinden, wer die Fremden sind!« sagte Drasko.

»Das werden wir«, sagte Hartmann. »Aber es braucht Zeit. Leider ist es uns nicht gelungen, Gefangene zu machen. Natürlich werden wir die Schiffswracks untersuchen, die uns in die Hände gefallen sind, aber auch das braucht Zeit. Alles, was wir bis jetzt sagen können ist, daß unsere Feinde anscheinend menschenähnlich sind. Ihre Technik ähnelt der unseren, ist aber weiter entwickelt. Vielleicht können wir in ein paar Tagen mehr sagen, aber im Moment ist das leider alles.«

»Was ist mit den gefangenen Piloten?« beharrte Drasko. »Ich weiß, daß die Angreifer auf Skytown Selbstmord begangen haben, aber sie haben doch auch hier eine Anzahl ihrer Schiffe abgeschossen.«

Charity sah aus den Augenwinkeln, wie Hartmann zusammenfuhr, als Drasko die Himmelsstadt erwähnte, und spürte ein kurzes, aber heftiges Aufwallen von Zorn. Drasko wußte so gut wie jeder andere hier im Raum, daß Net und die Kinder dort oben gestorben waren. Anscheinend war es ihm gleich.

»Es gab keine Piloten«, sagte Harris rasch. »Jedenfalls keine, deren Überreste wir noch identifizieren können. Offensichtlich gehört es zur Politik der Fremden, lieber zu sterben, als sich gefangen nehmen zu lassen. Ihre Anzüge sind mit einem modernen Äquivalent der guten alten Zyankalikapsel ausgestattet.«

»Was soll das heißen?« schnappte Drasko.

Harris hob die Schultern. »Alles, was wir gefunden haben, waren fast unidentifizierbare organische Überreste. Sowohl in den abgeschossenen Schiffen als auch in den Kampfanzügen der Bodentruppen, die sie zurücklassen mußten. Wir haben sie noch nicht alle untersuchen können, aber es scheint sich wohl um eine Art Selbstzerstörungsmechanismus zu handeln, der sich automatisch aktiviert, wenn der Träger des Anzuges stirbt.«

»Oder in eine ausweglose Situation gerät«, fügte Skudder hinzu.

Harris nickte. »Möglicherweise finden wir jetzt einen Anzug, bei dem diese Automatik nicht funktioniert hat. Aber bis dahin sind wir auf Vermutungen angewiesen.«

»Das reicht mir nicht«, beharrte Drasko. »Sie lassen keine Gelegenheit aus, uns in den schwärzesten Farben darzulegen, wie überlegen uns diese Fremden sind, aber gleichzeitig wissen Sie nicht einmal, mit wem wir es zu tun haben!«

»Warum nehmen Sie sich nicht ein Schiff und fliegen los, um es herauszufinden?« schlug Skudder vor. »Ich helfe Ihnen gern, eine weiße Fahne an die Antenne zu binden. Vielleicht nutzt es ja was.«

»Mister Skudder, ich -«

»Meine Herren! Bitte!« Hartmann macht eine Geste, die zugleich entschlossen wie auch unendlich müde wirkte. Dann schaute er demonstrativ auf die Uhr. »Es ist spät geworden. Wir alle haben einen harten Tag hinter uns und sind entsprechend müde, und auch ein bißchen gereizt. Ich schlage vor, daß wir die Sitzung bis morgen früh unterbrechen. Möglicherweise liegen uns bis dahin schon neue Erkenntnisse vor.«

Niemand erhob Einspruch. Die meisten Anwesenden waren im Gegenteil sichtlich froh über Hartmanns Vorschlag. Nur Skudder und Drasko starrten sich gegenseitig fast haßerfüllt an. Charity konnte Skudder sogar verstehen. Er verachtete, ja, haßte Politiker beinahe ebenso wie sie selbst, und Skudder war nie ein Mann gewesen, der irgendeinen Hehl aus seinen Gefühlen gemacht hatte.

Was Charity hingegen nicht ganz begriff, war Draskos Feindseligkeit. Selbst sechzehn Stunden nach dem Überfall standen alle hier Anwesenden noch unter dem Schock der Ereignisse, aber selbst der Starrsinnigste hätte eigentlich begreifen müssen, daß sie es mit einem ernstzunehmenden Gegner zu tun hatten. Draskos Benehmen war schlichtweg unlogisch.

Aber vielleicht war es einfach nur Panik - Draskos Art, seiner Hysterie Ausdruck zu verleihen.

Hartmann wartete zwei oder drei Sekunden vergeblich auf eine Antwort, dann stand er ohne ein weiteres Wort auf und verließ den Raum, und kurz darauf auch die meisten anderen.

Charity, Skudder und Harris blieben noch, und für einen Moment sah es so aus, als wolle auch Drasko bleiben, um seinen sinnlosen Streit mit Skudder fortzusetzen. Doch zu Charitys Erleichterung erhob er sich schließlich ebenfalls und verließ den Raum.

Skudder blickte ihm mit finsterem Gesicht nach, aber er sparte sich die Mühe, einen weiteren Kommentar abzugeben. Statt dessen wandte er sich an Harris. »Wie viele Feindschiffe habt ihr erwischt?«

»Vier Stingrays und einen Transporter«, antwortete Harris. »Als sie gemerkt haben, was los ist, waren sie blitzschnell verschwunden.«

»Stingrays?«

»Ich fand den Namen passend.« Harris zuckte mit den Schultern und deutete ein Lächeln an, wurde aber sofort wieder ernst. »Sie haben sofort reagiert. Und sie haben nicht einmal versucht, ihre Leute zu retten.«

Er ballte die Hand zur Faust, als wolle er sie auf den Tisch hämmern, tat es dann aber doch nicht, sondern betrachtete nur nachdenklich seine Knöchel. »Ich habe schon eine Menge erlebt, aber ich bin noch nie auf Soldaten gestoßen, die so kämpfen. Selbst die Ameisen waren harmlos gegen sie.«

»Ich weiß«, sagte Skudder. »Wir hatten ebenfalls das Vergnügen.«

»Aber ihr habt sie besiegt.« Harris' Gesicht verdüsterte sich. »Ich habe gesehen, wie einer von ihnen acht Marines auseinandergenommen hat. Mit bloßen Händen. Ich bin nicht sicher, daß es sich wirklich um Menschen handelt.«

»Das klang vorhin anders«, sagte Skudder.

Harris wiederholte sein beiläufiges Achselzucken. »Ich denke, es ist vielleicht besser, wenn wir nicht alles gleich an die große Glocke hängen.«

»Was genau soll das heißen?« fragte Charity.

Doch sie kannte die Antwort. Sie hatte den gleichen Gedanken schon selbst gehabt, aber er war so absurd - und erschreckend - daß sie sich einfach weigerte, sich länger als eine Sekunde damit zu beschäftigen.

»Soll das etwa heißen, wir haben einen Verräter unter uns?« Skudder schüttelte den Kopf. »Das hier ist der Rat, Harris. Die Regierung. Glaubst du wirklich, daß irgend jemand hier mit den Fremden zusammenarbeitet?«

»Das habe ich nicht gemeint«, verteidigte sich Harris. »Aber wir sollten vielleicht nicht mehr ganz so laut über alles reden. Wenigstens so lange nicht, bevor wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben.«

»Wo wir schon dabei sind«, sagte Charity. »Da ist etwas, das ich bisher noch nicht erzählt habe. Als ich den Transporter enterte, habe ich zwei der Fremden erschossen.«

Skudder blickte sie überrascht an. Auch für ihn war diese Geschichte neu. Charity war bisher einfach nicht dazu gekommen, sie zu erzählen.

»Mit einer Kanone?« fragte Harris.

»Ich weiß selbst nicht genau, wie«, gestand Charity. »Sie hätten mich spielend erledigen können. Aber sie haben es nicht getan.«

»Wieso?« fragte Skudder.

Charity blieb ihm die Antwort schuldig. Sie hatte die kurze Szene mindestens ein Dutzendmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren lassen, doch es gelang einfach nicht, das Gefühl in Worte zu fassen, das sie dabei empfand. Sie hatte den Schock gespürt, den ihr Anblick den beiden Fremden bereitet hatte, aber da war noch mehr. Trotz allem hatte auch sie in der unmittelbaren Nähe der Fremden irgend etwas auf schreckliche Weise... Vertrautes empfunden.

Sie wechselte bewußt das Thema. »Hartmann hat recht. Es ist spät geworden. Wenigstens ist es für mich zu spät, um noch irgendwelche Gespräche zu führen, die uns weiterbringen könnten. Ihr beide könnt gern noch ein bißchen fachsimpeln, aber ich für meinen Teil ziehe mich zurück.«

Sie stand auf. Skudder wollte es ihr gleichtun, aber Charity warf ihm einen raschen Blick zu, den er gottlob richtig deutete. Sie hatte nicht die Absicht, schlafen zu gehen.

»Ich komme dann später nach«, sagte Skudder. Als Charity den Raum verließ, waren Harris und er bereits wieder in ein intensives Gespräch vertieft.

Sie ging zum Lift, drückte den Knopf für das Erdgeschoß, besann sich dann aber anders und stieg eine Etage tiefer bereits wieder aus. Kalter Wind und ein schwacher Brandgeruch schlugen ihr entgegen, als sie die Aufzugkabine verließ.

Auch dieses Gebäude hatte mehrere Treffer abbekommen.

Das Fenster am Ende des langen Korridors war geborsten, der Teppichboden und ein Teil der Wandbekleidung aus Kunststoff geschmolzen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das zersplitterte Fenster irgendwie abzusichern, oder auch nur den Schutt wegzuräumen.

Der Anblick erfüllte Charity mit einer Mischung aus Ohnmacht und Wut. Sie hatten acht endlose Jahre gebraucht, um diese Stadt aus den Ruinen einer zerstörten Welt wieder aufzubauen, acht Jahre, die nur aus Arbeit, Enttäuschung, Rückschlägen und noch mehr Arbeit bestanden hatten. Weniger als eine Stunde hatte gereicht, um einen Großteil dieser Arbeit und Mühe wieder zunichte zu machen.

Warum? Die Erde war ein verheerter Planet, eine verwüstete Welt, der in fünfzig Jahren Besatzungszeit nicht nur neunzig Prozent ihrer Bevölkerung, sondern auch der größte Teil ihrer Bodenschätze genommen worden waren. Es gab hier nichts, was für außerirdische Invasoren noch von großem Interesse sein konnte.

Nichts, außer der Erde selbst.

Die Menschheit hatte nie die Chance bekommen, die Grenzen ihres heimatlichen Sonnensystems zu überschreiten, aber aus dem, was die Moroni nach ihrer Niederlage zurückgelassen hatten, wußten sie, daß bewohnbare Welten zu den kostbarsten Gütern im Universum gehörten. Viele Sonnen hatten Planeten, aber nur sehr wenige davon bewegten sich vielleicht in dem schmalen Bereich zwischen höllischer Hitze und tödlicher Kälte, in dem Leben nach menschlichen Maßstäben möglich war.

Waren die Fremden gekommen, weil sie Lebensraum brauchten, so wie damals die Insektenkrieger von Moroni?

Charity schüttelte den Gedanken ab. Sie würden die Antwort herausfinden, so oder so. Und wahrscheinlich sogar eher, als ihnen allen jetzt schon bewußt war.

Mit einer raschen Bewegung drehte sie sich um und ging in die entsprechende Richtung los. Hartmanns Büro lag am entgegengesetzten Ende des Korridors. Die Tür war geschlossen, aber darunter schimmerte ein blasses, unregelmäßig flackerndes Licht, und Charity hörte ein gedämpftes Rumoren und Poltern.

Sie trat ein, ohne anzuklopfen.

Das große, normalerweise pedantisch aufgeräumte Büro bot einen chaotischen Anblick. Zwei der vier Fenster waren zerborsten. Charity konnte keine Spuren von Feuer entdecken, aber die Druckwelle hatte mindestens ebenso großen Schaden verursacht, wie ein Brand hätte anrichten können. Sämtliche Möbel waren umgestürzt und zum Teil zerbrochen, hatten Bilder von den Wänden gefegt, und ein Teil der Deckenverkleidung war abgerissen, so daß das Gewirr von Rohrleitungen und Kabel zum Vorschein kam, das normalerweise darunter verborgen war.

Die Lampe flackerte in regelmäßigen Abständen; manchmal explodierten Kaskaden winziger Funken aus der Fassung. Selbst Hartmanns schwerer Schreibtisch war auf die Seite gestürzt. Die Papiere, die normalerweise in präzise ausgerichteten Stapeln darauf lagen, waren überall im Zimmer verteilt. Hartmann hockte inmitten dieses Chaos auf den Knien, sammelte mit mechanischen Bewegungen Papierfetzen ein und versuchte sie auf dem Boden glattzustreichen. Seine Hände zitterten heftig, und das flackernde Licht zerhackte seine Bewegungen in eine stroboskopische Pantomime.

Charity trat mit einem langsamen Schritt hinter ihn und streckte die Hand aus. Sie zögerte, Hartmann zu berühren, und als sie es tat, spürte sie, daß nicht nur seine Hände zitterten. Er bebte am ganzen Leib.

»Durcheinander«, murmelte er. »Es ist alles durcheinander. Sieh dir dieses Chaos an! Ich werde Wochen brauchen, um hier wieder Ordnung zu schaffen!«

Seine Bewegung wurde heftiger, zielloser. Charity fragte sich, ob nun der Zusammenbruch kam, auf den sie schon den ganzen Tag wartete. Hartmann hatte bis jetzt mit keinem Wort, ja, nicht einmal mit irgendeiner Geste oder Mine auf den Tod Nets und seiner Kinder reagiert. Doch irgendwann einmal mußte seine Kraft aufgebraucht sein.

Wahrscheinlich war es jetzt soweit.

»Hartmann...«, begann Charity, brach aber wieder ab, als Hartmann mit einem Ruck den Kopf hob und sie anstarrte. Sein Blick schien geradewegs durch sie hindurch zu gehen.

Er hörte auf, Papier von einer Seite auf die andere zu sortieren.

»Warum haben sie das getan?« murmelte er.

»Es war so... unnötig.«

Charity konnte nicht antworten. In ihrem Hals saß ein bitterer, harter Kloß, der ihr das Atmen schwer machte und jedes Wort erstickte. Niemand wußte die Antwort auf Hartmanns Frage. Selbst wenn es den Fremden darum gegangen war, nicht lebend in Gefangenschaft zu geraten, wäre es nicht nötig gewesen, ganz Skytown mit in den Tod zu reißen, wie das Schicksal ihrer Kameraden an Bord der abgeschossenen Schiffe und am Boden bewiesen hatte. Skudder, Harris und die meisten anderen glaubten, daß es sich um einen reinen Terrorakt handelte, aber Charity war nicht ganz dieser Meinung. Vielleicht hatten die Fremden einfach nur zeigen wollen, wie weit sie zu gehen bereit waren.

»Es ist so sinnlos«, fuhr Hartmann fort, so leise, daß Charity die Worte kaum verstand. »Sie hat niemandem etwas zuleide getan.«

»Das haben wir alle nicht«, antwortete Charity. Die Worte klangen billig und dumm. Sie spendeten keinen Trost - und wie konnten sie das auch? Hartmann hörte sie wahrscheinlich gar nicht.

»Sie hat alles überstanden, weißt du?« sagte Harrmann. »Die Wastelands. Die Moroni und... und die Shaits. Die halbe Galaxis hat sie gejagt, aber keiner konnte sie kriegen. Damals, als... als Jack und Christopher geboren wurden, wäre sie beinahe gestorben. Wir haben es niemandem gesagt, auch dir nicht. Sie wollte es nicht, weiß du? Aber die Schwangerschaft war äußerst riskant. Niemand konnte sagen, ob sie die Geburt überleben würde oder nicht. Aber sie hat auch das überlebt. Sie hat alles geschafft, und jetzt... jetzt sind sie tot. Alle. Warum?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Charity leise. »Aber die Fremden werden dafür bezahlen, das verspreche ich dir.«

Irgend etwas in Hartmanns Gesicht veränderte sich. Zum erstenmal hatte Charity das Gefühl, daß er ihre Anwesenheit überhaupt registrierte.

»Das macht sie auch nicht mehr lebendig«, sagte er.

»Aber vielleicht können wir wenigstens verhindern, daß noch mehr unschuldige Menschen sterben«, entgegnete Charity.

»Niemand wird irgend etwas verhindern, Charity«, sagte Hartmann bitter. »Sie sind uns überlegen. Wir hatten Glück, mehr nicht. Vielleicht sollten wir gar nicht gewinnen.«

Plötzlich hatte sie Angst um Hartmann. Sie hatte ihn noch nie so reden hören. Das war nicht der Hartmann, den sie kannte. Charity hatte gar nicht gewußt, daß das Wort Resignation zu seinem Vokabular gehörte.

Er hatte jedes Recht der Welt, verbittert und verzweifelt zu sein, und trotzdem erschreckte sie die Tiefe seiner Reaktion.

Hartmann war einer der stärksten Männer, denen sie jemals begegnet war. Vielleicht war der Zusammenbruch nun um so heftiger.

»Du wirst jetzt nicht aufgeben!« sagte sie ruhig. »Hast du verstanden? Wir alle trauern um Net. Sie war meine beste Freundin, und ich habe die beiden Jungen geliebt, als wären es meine eigenen Kinder. Aber ich werde nicht aufgeben, und du wirst es auch nicht, verstanden? Du wirst mir verdammt noch mal helfen, diese Monster dahin zurück zu jagen, wo sie hergekommen sind. Ich brauche dich dazu, Hartmann. Ohne dich schaffe ich es nicht! Wir sind viel zu wenige geworden. Ich kann es mir nicht leisten, dich auch noch zu verlieren!«

Hartmann starrte sie an. Ein anderer, nicht zu deutender Ausdruck trat in seine Augen, der Charity schaudern ließ.

Bevor Hartmann irgend etwas sagen konnte, gellten die Alarmsirenen durch das Gebäude.

Hartmann schaltete im Bruchteil einer Sekunde. Noch während sie auf die Füße sprangen, verschwand der verbitterte Ausdruck von seinem Gesicht und machte der alten Entschlossenheit und Härte Platz.

Sie stürmten aus dem Büro und rannten zum Aufzug. Das Gellen der Alarmsirenen hielt an, und draußen gesellten sich weitere, wimmernde Töne hinzu.

Charitys Armbandfunkgerät meldete sich, als die Kabine losfuhr.

»Charity, wo bist du?« erklang Skudders Stimme.

»Im Aufzug. Auf dem Weg nach unten. Hartmann ist bei mir. Was ist los?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Skudder. »Die Ortung hat ein Schiff erfaßt. Es kommt näher. Sehr schnell.«

Charity und Hartmann tauschten einen besorgten Blick.

»Ein Schiff der Fremden?«

»Ein Rochenschiff«, bestätigte Skudder. »Seine Schutzschirme sind ausgeschaltet, aber es reagiert auf keinen Funkspruch.«

Charitys Blick huschte nervös über die blinkenden Lichter des Aufzuges. Die Kabine war schnell, aber sie schien sich trotzdem nur im Schneckentempo zu bewegen.

»Wann wird es hier sein?« fragte sie.

»In einer Minute«, schätzte Skudder. »Vielleicht zwei. Beeilt euch. Wir treffen uns vor dem Gebäude.«

Er schaltete ab. Charity ließ den Arm sinken und verfolgte wie hypnotisiert den flackernden Countdown der Liftanzeige.

Die Minute, von der Skudder gesprochen hatte, war lange vorüber, als die Kabine endlich anhielt und die Türen aufglitten. Hartmann und Charity prallten unsanft zusammen, als sie beide gleichzeitig versuchten, aus der Kabine zu stürmen. Charity kämpfte ungeschickt um ihr Gleichgewicht, fand die Balance mit einem raschen Schritt wieder und rannte durch die mit Trümmern und Glasscherben übersäte Eingangshalle.

Das Heulen der Alarmsirenen war so laut, daß es jedes andere Geräusch zu verschlucken schien. Überall waren rennende Menschen, flackernde Lichter, Flammen. Charity stürmte aus dem Gebäude und hob gleichzeitig den Blick in den Himmel.

Dutzende riesiger Scheinwerfer waren aufgeflammt und tauchten die Unterseiten der tiefhängenden Rauchwolken in gleißendes Licht. Von dem fremden Schiff war noch nichts zu sehen, aber genau in diesem Moment starteten auf der anderen Seite des Geländes ein gutes Dutzend Moroni-Jets, dicht gefolgt von drei pfeilförmigen Vipern.

Skudder und Hartmann kamen mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zugerannt. Skudder rief irgend etwas, doch Charity sah nur, wie seine Lippen sich bewegten. Das Brüllen der Alarmsirenen und der tobende Lärm verschluckten seine Worte vollkommen. Charity sah, wie er das Handgelenk an die Lippen hob und irgend etwas in sein Armbandfunkgerät brüllte.

Einen Augenblick später verstummte eine der Alarmsirenen, dann eine zweite. Es wurde nicht sehr viel leiser, aber zumindest konnten sie sich jetzt schreiend verständigen.

»Wo ist er?« rief Charity.

Skudder deutete heftig gestikulierend zum Himmel. »Er wird genau hier landen!« schrie er zurück. »Er wird langsamer, aber er kommt!«

Charity starrte weiter gebannt nach oben. Die Vipern zogen leuchtende Abgasstreifen durch den Himmel, und die Jets bildeten einen unregelmäßigen Kreis tanzender Punkte. In der Mitte dieser tobenden Formation war ein weiterer, flimmernder Funke erschienen, der rasch an Leuchtkraft und Größe zunahm.

»Wir funken sie auf sämtlichen Frequenzen an«, sagte Skudder, »aber bisher haben sie nicht geantwortet.«

»Wenigstens wissen wir gleich, wer sie sind«, sagte Harris. »Ich bin nur gespannt, was sie wollen: Verhandeln, oder uns ein Ultimatum überbringen.«

Charity schwieg dazu. Spekulationen halfen ihnen nicht weiter.

Harris hatte nur in einem Punkt recht: Wenigstens würden sie gleich wissen, mit wem sie es zu tun hatten.

Der glühende Punkt wurde rasch größer und nahm die rochenförmigen, massigen Konturen an. Die Jets umkreisten ihn wie Geier einen verwundeten Adler, der sterbend dem Erdboden entgegentrudelte. Von überallher rannten Männer auf den Platz.

Die meisten waren bewaffnet. Hunderte von Gewehren richteten sich auf den landenden Stingray, und Charity sah aus den Augenwinkeln, wie die Tore eines Gebäude auf der anderen Seite aufglitten und zwei Mark-IV-Panzer auf rasselnden Ketten herausrollten. Die schweren Laserkanonen in den Türmen dieser Ungetüme folgten jeder Bewegung des fremden Schiffes mit computergesteuerter Präzision.

Charity konnte die Anspannung, die sich auf dem Platz ausbreitete, körperlich spüren. Das Rochenschiff verlor weiter an Geschwindigkeit und Höhe und schwebte schließlich sanft wie ein fallendes Blatt zu Boden. Die letzten Alarmsirenen stellten ihr Geheul ein, und plötzlich wurde es fast unheimlich still.

Die Luft schien von elektrischer Spannung zu knistern. Charity betete, daß niemand die Nerven verlor oder der Pilot des Stingray keinen Fehler beging. Ein winziger Funke, und alles würde explodieren wie das berühmte Pulverfaß.

Skudders Gedanken schienen in ähnlichen Bahnen zu verlaufen, denn er hob mit einer nervösen Bewegung das Armbandfunkgerät, schaltete auf die allgemeine Frequenz und sagte: »Ruhig bleiben. Niemand feuert, bevor sie es nicht tun.«

»Rechnest du wirklich damit?« fragte Charity, ohne den landenden Stingray auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

»Daß sie schießen?« Skudder schüttelte den Kopf. »Nein. Aber vielleicht haben sie ja eine andere Überraschung für uns mitgebracht. So etwas in der Größenordnung von fünf bis zehn Megatonnen.«

Charity fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Kinn.

Skudders Worte waren nicht so weit hergeholt, wie sie es gern gehabt hätte.

Die Fremden hatten ja bereits demonstriert, daß sie keine Probleme mit Selbstmordmissionen hatten. Aber für solche Bedenken war es eindeutig zu spät.

Der Stingray schwebte einen Meter über dem Boden. Aus den Unterseiten der Flügel faltete sich ein komplizierter Landemechanismus; die Triebwerke erloschen, kaum daß er den Boden berührt hatte, und eine Sekunde darauf öffnete sich eine asymmetrisch geformte Tür auf der Charity und Skudder zugewandten Seite. Dahinter brannte kein Licht, doch Charity glaubte trotzdem, unbestimmte, schemenhafte Bewegungen in der Dunkelheit wahrzunehmen.

Ein leises Summen erklang, und aus dem Schiffsrumpf wuchs eine schräge, schuppig gegliederte Rampe heraus, die nach wenigen Augenblicken den Boden berührte.

Die schattenhafte Bewegung hinter der Tür wurde deutlicher.

Charitys Herz begann zu hämmern. Selbst sie ertappte sich dabei, wie sie ihre Hand an die Hüfte senkte, dorthin, wo sie normalerweise ihre Waffe trug.

Wie um die Dramatik des Augenblickes noch einmal zu steigern, zögerte die schattenhaft erkennbare Gestalt noch einmal sekundenlang, ehe sie das Schiff verließ und auf die Rampe hinaustrat.

Charitys stockte der Atem. Neben sich hörte sie Hartmann scharf die Luft einsaugen, und Skudder stieß einen kleinen, überraschten Laut aus.

Es war kein schwarzer Riese. Statt eines Zweieinhalb-Meter- Giganten in einem schwarzen Kampfanzug blickte Charity in das Gesicht einer vielleicht dreißigjährigen, schlanken Frau mit kurzgeschnittenem Haar.

»Net!« flüsterte Hartmann erschüttert.

Hinter Net erschienen zwei kleinere Umrisse mit kindlichen Proportionen, und noch bevor Hartmann den Namen seiner Frau ein zweites Mal schreien und losstürmen konnte, traten hinter den Zwillingen auch Melissa und ihre Mutter auf die Rampe.

Alle sahen sehr erschrocken und zutiefst verwirrt aus, waren aber unverletzt.

Den Abschluß bildete eine sechste Gestalt, die kaum größer als Melissa war.

Und ihr Anblick versetzte Charity wirklich einen Schock.

Es war ein Mann. Er war allerdings kaum größer als ein zehnjähriges Kind und trug eine alberne, kunterbunt bestickte Toga, die seine Gestalt vom Hals bis hinunter zu den nackten Füßen verbarg. Sein Kopf war übergroß und kahl und schien auf dem viel zu kurzen Hals ununterbrochen hin und her zu wackeln, und sein Gesicht war dermaßen grotesk, daß Charity unter allen anderen vorstellbaren Umständen vor Lachen laut herausgeplatzt wäre. Jetzt aber nicht.

Sie starrte den Zwerg einfach nur an und zweifelte an ihrem Verstand. Der Gnom erwiderte ihren Blick eine Sekunde lang, dann verzog er seine kaum sichtbaren, blutleeren Lippen zu einem Grinsen, das sein Gesicht buchstäblich von einem Ohr zum anderen spaltete.

»Hallo, Cherryschätzchen!« krähte Gurk.


ENDE des 11. Teils

Загрузка...