Die Halle war so groß wie ein Flugzeughangar, aber sehr viel niedriger, so daß Charity trotz seiner enormen Ausmaße manchmal einen Anflug von Klaustrophobie empfand, wenn sie ihn betrat - was in letzter Zeit viel zu selten der Fall war. Der Hangar war irgendwann während der fünfzigjährigen Besatzungszeit von den Moroni angelegt worden und befand sich nahezu hundert Meter unter der Erde, und weder Charity noch Hartmanns emsige Forscher hatten jemals herausgefunden, welchem Zweck er ursprünglich einmal gedient hatte. Es spielte auch keine Rolle.
Heute diente er einem Zweck, an dem Seybert, Drasko und all diese anderen Papierfresser dort oben ihre helle Freude gehabt hätten: Auf dem spiegelblank geputzten Betonfußboden reihten sich in präzise ausgerichteten Dreiergruppen nahezu hundert stumpfnasige Viper-Jäger, die tot wirkten, in Wahrheit aber vollgetankt und mit scharfen Waffen bestückt waren. Der leblose Eindruck täuschte. Charity wußte, daß die Maschinen im Notfall binnen weniger Minuten startbereit sein konnten. Jedes einzelne der zwölf Meter langen, deltaförmigen Schiffe verfügte über zwei Hochenergie-Laser, Abschußvorrichtungen für zwei Dutzend Raketen und eine Miniatur-Railgun, die sich unter dem gesamten Rumpf entlangzog und den Vipern ein bißchen das Aussehen jener dreieckigen Spielzeugflugzeuge verlieh, die Charity aus ihrer Kindheit kannte und die man mit einem Gummiband abschoß, um sie dann prinzipiell auf der Garage des Nachbarhauses oder in den obersten Zweigen eines Baumes wiederzufinden.
Darüber hinaus gab es noch eine Reihe weiterer, sekundärer Waffen und Störsysteme, welche die Vipern zusammen mit dem überdimensionierten Staustrahl-Triebwerk zur wohl schnellsten und gefährlichsten Kampfmaschine machten, die auf diesem Planeten jemals gebaut worden war.
Und die Vipern hatten noch einen, im Moment sogar ganz besonders großen Vorteil: Weder Seybert noch irgendein anderes Mitglied des Rates wußten etwas von ihrer Existenz.
Charity ging langsam, beinahe ziellos, zwischen den mathematisch präzise aufgereihten Raumjägern hindurch. Sie war allein. Ihre Schritte verursachten hallende, sonderbar helle Echos auf dem Betonfußboden, und sie hatte das Gefühl, daß in den zurückgeworfenen Geräuschen noch mehr war; ein lautloses, vertrautes Wispern und Locken, das Geräusch der Kraft, die in diesen stählernen Dreiecken gebändigt war und nur darauf wartete, endlich entfesselt zu werden. Sie nahm den vertrauten Geruch von Maschinenöl in sich auf, von heißem Schmiermittel und Kunststoff, von Metall und Kerosin... das war etwas, was sie bei den Moroni-Jets vermißte. Die scheibenförmigen Raumjäger waren absolut steril, zweckmäßige Maschinen ohne überflüssigen Schnickschnack, und ohne Charakter.
Und so ganz nebenbei war vermutlich ein einziges davon in der Lage, diese ganze Jäger-Schwadron vom Himmel zu fegen.
Drasko hatte recht, dachte Charity mißmutig. Sie bastelten an einer Technologie, die der, die sie bereits besaßen, um mindestens fünfhundert Jahre hinterherhinkte.
Sie spürte, daß sie nicht mehr allein war, aber sie drehte sich nicht herum, sondern lauschte nur auf das Geräusch der Schritte und erkannte an ihrem Rhythmus, daß Hartmann sich näherte. Charity war froh, daß er es war, und nicht Skudder, denn Skudder hätte nur an ihre Vernunft appelliert und versucht, sie irgendwie zu beruhigen, und das konnte sie im Moment am wenigsten gebrauchen. Sie war nicht in der Stimmung, vernünftig zu sein, und sie wollte sich aufregen, verdammt noch mal.
»Ich wußte, daß ich dich hier finde«, sagte Hartmann leise und erst nach endlosen Sekunden. Charity konnte hören, wie er lächelte, als er weitersprach. »Sie sind wunderschön, nicht?«
Statt zu antworten, trat sie näher an eine der Vipern heran und strich behutsam mit den Fingern über die Spitze einer der Deltaflügel. Je nach dem Winkel des einfallenden Lichts schimmerte der graue Lack, als wären Milliarden mikroskopisch kleiner Diamantsplitter darin eingeschlossen; eine spezielle Beschichtung, die nahezu hundert Prozent des auftreffenden Lichts reflektierte. Zumindest gegen die Laserwaffen, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatten, boten sie einen wirksamen Schutz. Nicht hundertprozentig, aber es war das Beste, was sie hatten.
Wie alles, dachte Charity. Das Beste, das wir haben. Es klang gut, aber es konnte auch bedeuten, daß es eben nicht reichte.
»Wie kann etwas so Tödliches so schön sein?« fragte Charity leise.
»Ich finde sie nicht schön«, erwiderte Hartmann. »Es sind Waffen. Sie sind zu keinem anderen Zweck da, als zu zerstören und zu töten. Es ist die Faszination der Macht, die du spürst. Du glaubst nur, sie wären schön.«
Charity drehte sich herum und musterte ihn einen Moment lang verwirrt, ehe sie das verräterische Glitzern in seinen Augen bemerkte.
»Woher hast du diesen Satz?« fragte sie. »Aus dem Handbuch für Hobbypsychologen?«
»Aus dem gleichen Kitschroman, aus dem du die Frage hast, wieso sie so schön sind«, antwortete Hartmann todernst. »Außerdem wollte ich dich nur auf das vorbereiten, was du zu hören bekommst, wenn Seybert diese Schiffe sieht.«
»Wird das der Fall sein?«
Hartmann hob die Schultern. »Früher oder später«, murmelte er. »Ich fürchte, auf die Dauer werde ich es nicht vor dem Rat verheimlichen können. Die Dinger kosten Geld. Viel Geld.«
Charity seufzte. »Das letzte Mal, als ich Geldsorgen hatte, war meine Kreditkarte gesperrt«, sagte sie. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich mich noch einmal mit so etwas herumschlagen muß.«
»Manche Dinge ändern sich nie«, sagte Hartmann.
Charity strich erneut mit den Fingerspitzen über das Metall der Viper. Sie wußte zwar, daß es unmöglich war, aber für einen Moment hatte sie trotzdem das Gefühl, daß die Maschine irgendwie auf die Berührung reagierte - wie ein großes, starkes Tier, das sich unter ihren Fingern regte.
»Haben sie recht?« fragte sie unvermittelt.
»Wer?«
»Seybert«, antwortete Charity. »Drasko, und die anderen. Haben sie recht? Sterben dort draußen Menschen, weil wir diese Dinger bauen?«
Hartmann schwieg eine ganze Weile. Dann sagte er: »Ja.«
Charity drehte sich zu ihm herum. Hartmann sah sehr ernst aus.
»Ja«, sagte er noch einmal. »Wir könnten jeden Credit, den wir für das Militär aufbieten, an hundert anderen Stellen dringender gebrauchen. Sie haben recht. Aber du hast auch recht, weißt du. Vielleicht.«
»Vielleicht?«
»Das Dilemma ist, daß ihr vielleicht beide recht habt - oder euch beide irrt«, sagte Hartmann achselzuckend. »Vielleicht hat Seybert recht, und die Moronie kommen nie. Dann ist das alles hier eine furchtbare Verschwendung von Arbeitskraft und Material, die wir uns weiß Gott nicht leisten können. Selbst einige meiner Wissenschaftler sind der Auffassung, daß das Transmitternetz der Moroni vielleicht nie wieder eingeschaltet werden kann.«
»Das hast du mir nie gesagt«, sagte Charity.
Hartmann zuckte erneut mit den Schultern. »Eine dumme Angewohnheit von mir«, erwiderte er. »Schlechte Nachrichten behalte ich lieber für mich. Und was ist, wenn du recht hast? Wenn wir Baumaschinen und Atmosphärengeneratoren bauen statt Raumjäger, und in fünf Jahren erscheint ein weiteres Trägerschiff der Moroni? Und wir sind nicht vorbereitet?« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dir die Antworten nicht geben, die du haben willst, Charity. Ich bin Soldat, genau wie du. Ich tue das, was ich gelernt habe, und kann einfach nur hoffen, daß es richtig ist.«
»Das hilfst mir jetzt wirklich weiter«, sagte Charity säuerlich.
Natürlich war es ziemlich naiv gewesen, von Hartmann eine Antwort auf eine Frage zu erwarten, die nicht zu beantworten war, denn im Grunde sprach aus dieser Frage nur der verzweifelte Wunsch, daß sie sich irrte.
»Und jetzt laß uns gehen«, sagte Hartmann. »Es sei denn, du möchtest gleich schon einen Krieg erleben. Und den wird es geben, wenn wir zu spät zum Essen kommen. Net versteht da keinen Spaß.«
Sie lachten, nicht ganz echt, aber trotzdem befreiend, und wandten sich um. Charity hatte gar nicht gemerkt, daß sie den Hangar fast vollkommen durchquert hatte, so daß sie eine ganze Weile brauchten, um den Ausgang zu erreichen.
Während Hartmann seine Codekarte in den Schlitz neben der Tür schob und darauf wartete, daß der Computer den Code identifizierte und die Tür freigab, fragte Charity: »Wie viele von diesen Jägern habt ihr gebaut?«
»Nur diese hier«, antwortete Hartmann. »Plus eine Schwadron, die sich bereits an Bord der EXCALIBUR befindet. Vierundzwanzig Schiffe.«
»Dann solltest du sie gut verstecken«, sagte Charity. »Damit Seybert und Drasko sie nicht sehen.«
Hartmann blickte fragend und ein wenig erschrocken, wie es Charity vorkam.
»Ich habe die Absicht, Seybert und Drasko mit zur EXCALIBUR zunehmen«, erklärte Charity. »Vielleicht ändern sie ihre Meinung ja doch noch, wenn sie sehen, wofür wir all diese Mittel aufwenden.«
Hartmann sah nicht begeistert aus, aber er antwortete auch nicht, sondern hob nur abermals die Schultern und zog seine Codekarte aus dem Schlitz. Die Tür glitt mit einem saugenden Geräusch auf, und sie traten nebeneinander in den dahinterliegenden Aufzug. Charity wartete darauf, daß Hartmann irgend etwas zu ihrem überraschenden Vorschlag sagte, aber er schwieg beharrlich, während der Lift mit einem kaum wahrnehmbaren Summen die zwanzig Stockwerke bis zur Erdoberfläche hinaufglitt.
Schließlich gab Charity es auf. Hartmann hatte ja vollkommen recht: Sie hatten nun einige wenige Stunden Freizeit vor sich, die einfach zu kostbar waren, um sie auch noch mit düsteren Gedanken zu verschwenden. Charity hatte Net und die Kinder fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, und mit einiger Wahrscheinlichkeit würde auch wieder ein Jahr vergehen, bevor sie sich das nächste Mal zu sehen bekamen. Zum Teufel mit Drasko und Seybert, wenn sie sich von diesen Sesselfurzern auch noch ihren winzigen Rest an Freizeit verderben ließ!
Sie vermieden beinahe krampfhaft alles, was auch nur ungefähr in diese Richtung wies, und schafften es tatsächlich, ihre Gespräche auf dem Weg zu Hartmanns Haus auf ein beinahe normales Niveau zu bringen. Es war ja nicht so, als gäbe es zwischen Hartmann und Charity nichts, was sie privat verband. Im Gegenteil: Abgesehen von Skudder vielleicht waren Hartmann und Net die beiden Menschen auf dieser Welt, die Charity am nächsten standen. Was sie zusammengeschmiedet hatte, das war natürlich auch - und vor allem - der Kampf gegen die Besatzer gewesen, aber darüber hinaus noch sehr viel mehr. In Net hatte Charity, trotz aller sichtbaren Unterschiede, letztendlich sich selbst wiedererkannt; nicht den Menschen, der sie war, aber sehr wohl den Menschen, der aus ihr hätte werden können, wäre sie fünfzig Jahre später und unter der Herrschaft der Moroni geboren worden.
Und Hartmann... Charity war nicht ganz sicher gewesen und war es bis heute nicht, ob sie in dem grauhaarigen Soldaten nun nur einen Freund, den Vaterersatz oder nicht sehr viel mehr sah, und eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen. Es gab Dinge, die ihren Zauber verloren, wenn man ihnen zu sehr auf den Grund ging.
Sie passierten mehrere Sicherheitsbarrieren, die teils elektronischer Art, teils von Menschen besetzt waren, und überquerten den Paradehof, der nicht nur das geographische Zentrum der Basis bildete, sondern auch den gesamten Ort markierte, an dem sie nach Ende der Invasion die erste freie Stadt auf europäischem Boden gegründet hatten. Die Stadt selbst war einige Meilen weiter westlich entstanden, aber dieses spezielle Fleckchen Erde würde seine historische Bedeutung niemals verlieren - wenigstens nicht für Charity. Und wohl auch nicht für Hartmann, denn sein Haus befand sich in unmittelbarer Nähe des Platzes.
Er behauptete, daß dies aus ganz praktischen Gründen geschehen sei, einfach nur, um Net und ihm einen langen Weg zur Arbeit zu ersparen. Zum Teil traf das vermutlich zu, doch Charity war auch sicher, daß ein Gutteil Sentimentalität bei dieser Entscheidung eine Rolle gespielt hatte.
Nach einem Tag, der nach Charitys Auffassung dem Begriff Katastrophe ziemlich nahe gekommen war, freute sie sich auf einen ganz normalen, entspannenden Abend im Kreise ihrer Freunde, und sie wurde nicht enttäuscht. Net und die Zwillinge begrüßten sie so überschwenglich, daß Charity vollkommen außer Atem war, noch ehe sie das Haus betrat. Jack und Christopher waren knapp fünf Jahre alt, aber sie hatten nicht nur die kräftige Statur ihres Vaters, sondern auch die Wildheit und den Übermut ihrer Mutter geerbt, und obwohl sie Charity noch seltener zu Gesicht bekamen als ihre Eltern, hatten die Kinder sie in ihr Herz geschlossen und zeigten dies auf ihre ganz persönliche Art und Weise. Es dauerte gut fünf Minuten, bis Net dem Überfall lachend, aber energisch ein Ende bereitete und die Hand ausstreckte, um Charity vom Boden hochzuhelfen.
Charity richtete sich ächzend auf und mußte sich schon wieder eines Ansturms der beiden Racker erwehren, aber diesmal war sie vorbereitet und wurde wenigstens nicht von den Füßen gerissen. Net rief die Zwillinge ein zweites Mal zur Ordnung, doch Charity winkte mit einem Kopfschütteln ab.
»Laß sie ruhig«, sagte sie. »Es macht mir wirklich nichts aus. Ganz im Gegenteil. Offenbar gibt es hier wenigstens zwei Menschen, die sich freuen, mich zu sehen.«
»Drei«, wurde sie von Net verbessert. Dann fragte sie: »War es so schlimm? Hartmann hat nicht viel von der Ratssitzung erzählt. Nur, daß es nicht sehr erfreulich war.«
Charity griff rasch zu, nahm Jack auf den linken und Christopher auf den rechten Arm und zog eine Grimasse. »Frag lieber nicht.«
»So schlimm?«
»Schlimmer.« Charity wankte ein bißchen unter dem Gewicht der beiden Jungen. Sie waren für ihr Alter nicht nur erstaunlich groß, sondern auch überraschend schwer.
»Manchmal frage ich mich, ob die Moroni uns die Bürokraten nicht absichtlich zurückgelassen haben, um uns fertig zu machen.«
»Seybert als Ameise?« Net legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. »Wenn sie zwei Arme mehr hätte...«
Lachend gingen sie weiter. Skudder erwartete sie in dem großen, behaglich eingerichteten Wohnzimmer. Er stand auf, als Charity und Net hereinkamen, und sofort sprangen Christopher und Jack von Charitys Armen und stürzten sich mit Kriegsgeheul auf ihn. Net holte Luft, um sie zurückzupfeifen, schüttelte dann aber nur den Kopf und deutete auf den Tisch.
»Setzt euch«, seufzte sie. »Wir essen später, sobald dein Indianer und meine Söhne vom Kriegspfad zurück sind. Außerdem ist da noch jemand, der auf dich wartet.«
Sie trat zur Seite, und Charity war für einen Moment so überrascht, daß sie mitten im Schritt stockte.
An dem großen Glastisch in Nets Wohnzimmer saßen Melissa und ihre Mutter.
»Die beiden sind vorbeigekommen, um sich bei dir zu bedanken«, sagte Net. »Ich habe sie gebeten, zum Essen zu bleiben - vorausgesetzt, du hast nichts dagegen.«
»Natürlich nicht«, antwortete Charity bestimmt. Ganz im Gegenteil - sie freute sich ehrlich, das Mädchen und seine Mutter wiederzusehen. Die Marines hatten Melissa, Walter und sie in einem Jet verfrachtet und mit Höchstgeschwindigkeit zur Basis zurückgeflogen, und sie hatte nicht einmal richtig Zeit gehabt, sich von der Kleinen zu verabschieden. Um so überraschter war Charity nun, als sie das Mädchen und seine Mutter wiedersah.
Sowohl Melissa als auch ihre Mutter hatten sich auf ganz erstaunliche Weise verändert. Ihre zerrissenen Kleider waren verschwunden und hatten den einfachen, aber kleidsamen Overalls Platz gemacht, die hier in der Basis allgemein getragen wurden.
Sie wirkten beider jünger, als Charity sie in Erinnerung hatte, was wahrscheinlich daran lag, daß sie vielleicht zum erstenmal im Leben sauber und frisch gewaschen waren und gekämmtes Haar hatten.
Charity war erstaunt, wie attraktiv Melissas Mutter war. Wäre der Ausdruck tief eingegrabener Furcht in ihren Augen nicht gewesen, hätte sie eine wirkliche Schönheit sein können.
Charity wartete zwei oder drei Sekunden lang vergeblich darauf, daß einer der beiden irgend etwas sagte, dann trat sie einen weiteren Schritt auf den Tisch zu und zwang ein nicht ganz geglücktes Lächeln auf ihr Gesicht.
»Hallo«, sagte sie. »Das ist aber wirklich eine Überraschung.«
Melissas Mutter sagte nichts, doch das Flackern in ihrem Blick verstärkte sich. Ihre Tochter jedoch erwiderte Charitys Lächeln ganz offen. »Wir wollen uns noch einmal bedanken«, sagte sie. »Der Mann im Lazarett hat gesagt, daß wir morgen weg müssen, aber daß Sie wahrscheinlich nichts dagegen hätten, wenn wir noch einmal herkommen, um auf Wiedersehen zu sagen.«
Charity warf Hartmann einen fragenden Blick zu.
»Wir bringen sie in ein Auffanglager«, sagte er. »Das hier ist eine Militärbasis.«
Bei dem Wort Lager blitzte es in den Augen der jungen Frau neben Melissa erschrocken auf, und Hartmann fügte rasch hinzu: »Das ist nichts Schlimmes. Wir bringen alle dorthin, die wir draußen in der Wildnis antreffen. Sie werden dort endgültig gesund gepflegt und lernen ein paar einfache Regeln, nach denen unsere Gesellschaft funktioniert.«
Die Worte schienen keine besonders beruhigende Wirkung auf Melissas Mutter zu haben. Vermutlich verstand sie nicht einmal richtig, was Hartmann ihr zu sagen versuchte - und wie auch? Wenn Charitys Vermutung stimmte, dann hatten diese Menschen ihr ganzes Leben in Höhlen, unterirdischen Stollen und Kellern verbracht, ununterbrochen auf der Flucht und vermutlich immer voller Angst. Niemand konnte realistisch erwarten, daß sie Hartmann oder auch Charity trauten.
»Ich... möchte nicht dorthin«, sagte sie schließlich, schleppend und mit angstvoll gesenktem Blick. Ihre Finger spielten nervös an der Tischkante. »Wir wollen nach Hause.«
Hartmann wollte widersprechen, doch Charity brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Verstummen, ging um den Tisch herum und setzte sich neben die junge Frau auf die Couch. Sie vermied es, sie zu berühren, um sie nicht noch mehr zu erschrecken.
»Das verstehe ich gut... wie ist dein Name?«
»Sandra«, antwortete die junge Frau. Sie sah Charity nicht an.
»Das verstehe ich gut, Sandra«, begann Charity von Neuem. »Das alles hier muß sehr fremd für dich sein, und sehr erschreckend. Aber du kannst nicht nach Hause.«
»Warum nicht? Wir haben nichts getan!«
»Natürlich nicht«, antwortete Charity. »Aber das, was du bis jetzt als dein Zuhause angesehen hast, existiert nicht mehr. Und es ist dort viel zu gefährlich. Ihr könnt nicht zurück.«
»Aber wo sollen wir hin?« fragte Melissa.
»Ihr bleibt bei uns«, antwortete Charity. »Nicht hier bei uns, aber ganz in der Nähe. In einer großen Stadt, in der viele Menschen wie wir leben. Dort ist es sehr schön. Und vor allem friedlich. Niemand wird euch dort etwas tun. Ihr müßt vor niemandem mehr davonlaufen, und ihr werdet nie mehr hungern müssen.«
Auf der anderen Seite des Zimmers erscholl ein zweistimmiges, gellendes Kriegsgeheul, und Charity sah aus den Augenwinkeln, wie Skudder unter dem Ansturm der Zwillinge zu Boden ging und in gespielter Verzweiflung die Hände über das Gesicht hob.
Net verdrehte die Augen, und Hartmann unterdrückte ein Grinsen, doch Charity sah auch, daß der Schrecken in Sandras Gesicht neue Nahrung bekam.
»Wir werden darüber reden«, fuhr sie fort, und etwas lauter und mit mehr Betonung in Skudders Richtung: »In aller Ruhe.«
Skudder grinste, setzte sich mit einem Ruck auf und wäre fast nach vorne gefallen, als Jack mit gellendem Indianergeheul auf seinen Rücken sprang und beide Arme um seinen Hals schlang. Christopher hatte ihn derweil am Kragen gepackt und versuchte ihn zusätzlich nach vorne zu zerren. Vielleicht war es auch umgekehrt. Charity hatte die beiden noch nie auseinanderhalten können, und obwohl Net natürlich hartnäckig das Gegenteil behauptete, argwöhnte sie, daß es ihr ebenso erging.
Net mußte die beiden Kleinen und das zu groß geratenen Kind noch zweimal zur Ordnung rufen, aber schließlich saßen sie alle zusammen am Tisch und aßen.
Hartmann hatte nicht übertrieben. Das Essen hätte zwar keinem professionellen Gastronomiekritiker stand gehalten, war aber schmackhaft und ganz und gar nicht mit dem Essen zu vergleichen, mit dem die Army Charitys Geschmacksnerven früher attackiert hatte. Vor allem Melissa und ihre Mutter langten nach anfänglichem Zögern kräftig zu, und man mußte nicht fragen, um zu begreifen, daß sie nie im Leben etwas Köstlicheres gegessen hatten. Vermutlich, dachte Charity, haben sie in ihrem ganzen Leben noch nichts gegessen, bei dessen bloßem Anblick sich mir nicht der Magen umgedreht hätte.
Der Gedanke rief ihr wieder massiv ins Gedächtnis, wo und unter welchen Umständen sie diese Leute kennengelernt hatte, und eine Mischung aus Entsetzen und Zorn machte sich in ihr breit. Entsetzen über die Umstände ihres Zusammentreffens, und Zorn auf die Geschöpfe, die ihre Heimatwelt in eine Hölle verwandelt hatten, in der so etwas nicht nur möglich war, sondern beinahe schon zur Tagesordnung gehörte.
Charitys Gedanken mußten sich wohl ziemlich deutlich auf ihrem Gesicht widergespiegelt haben, denn Melissa hörte plötzlich auf zu kauen, schaute sie einen Moment lang aus großen Augen an und fragte dann unsicher: »Habe ich... irgend etwas falsch gemacht?«
»Falsch?« Charity schüttelte hastig den Kopf und versuchte, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zwingen. »Natürlich nicht. Warum fragst du?«
»Du siehst zornig aus«, sagte Melissa. Sie legte das Stück Fleisch, von dem sie gerade abgebissen hatte, aus der Hand und nickte. »Ihr seid wütend, weil wir zu viel essen«, stellte sie fest.
»Ach, was«, widersprach Charity. »Es gibt hier für alle genug. Mehr als genug, glaub mir. Ich mußte nur... an etwas denken.«
»An die Ungeheuer im Himmel?«
»Ungeheuer im Himmel?«
Melissa deutete nach oben. »Die Götter, die zwischen den Sternen wohnen und den Tod bringen.«
»Dort oben leben keine Götter«, sagte Charity lächelnd. »Jedenfalls keine, vor denen du dich zu fürchten brauchtest.«
»Aber die Alten erzählen, daß die Ungeheuer von den Sternen gekommen sind und uns unter die Erde vertrieben haben«, widersprach Melissa.
»Das stimmt«, antwortete Charity nach kurzem Zögern. »Aber es ist lange her. Niemand muß heute mehr unter der Erde leben.«
Melissa warf einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Die Nacht war hereingebrochen, aber wie in jeder Nacht seit acht Jahren wurde es nicht richtig dunkel. Nach der Implosion des Mondes waren die Nächte nicht finsterer geworden, wie Charity damals ganz instinktiv erwartet hatte, sondern ganz im Gegenteil heller. Statt eines einzelnen großen Mondes leuchteten am Himmel nun Millionen von Bruchstücken, die bereits begonnen hatten, einen Ring zu bilden; nicht so formvollendet und ästhetisch wie die des Saturn, aber leuchtstark genug, um aus der Nacht eher ein graues Zwielicht zu machen, statt undurchdringliche Dunkelheit.
Manchmal blitzte es vor dem Hintergrund des zerfaserten Leuchtbandes kurz und heftig auf. Auch das gehörte zu den Nächten auf der neuen Erde: Sternschnuppen waren nichts Besonderes mehr, sondern alltäglich.
»Und wo sind sie jetzt?« fragte Melissa schließlich.
»Sie sind fort«, antwortete Skudder. »Charity hat sie vertrieben.«
Melissa blinzelte. »Du allein?«
»Skudder übertreibt, wie immer«, sagte Charity, während sie Skudder einen zornigen Blick zuwarf - den dieser natürlich mit einem Grinsen beantwortete. »Ich habe mitgeholfen, sie zu verjagen, das ist richtig. Aber ich war es nicht allein. Auf jeden Fall gibt es nun keinen Grund mehr, Angst vor dem Himmel zu haben. Ganz im Gegenteil - dort oben leben Menschen. Sie sind unsere Freunde und passen auf uns auf.«
Melissas Augen wurden groß. »Dort oben? Das glaube ich nicht!«
»Melissa!« sagte Sandra scharf.
Charity winkte ab, stand auf und bedeutete Melissa mit einer Handbewegung, ihr zum Fenster zu folgen.
»Siehst du diesen hellen Stern dort oben?« Sie deutete auf einen besonders hellen, gleichmäßig leuchtenden Fleck inmitten des flimmernden Lichtbandes am Himmel. Melissas Blick folgte Charitys Hand. Sie nickte.
»Das ist kein Stern«, fuhr Charity fort. »Sondern eine Stadt. Sie schwebt hoch am Himmel, und es leben Hunderte von Menschen darin. Sie sind unsere Wächter, weißt du? Sie passen auf, daß die Ungeheuer nicht wiederkommen.«
»Das... das glaube ich nicht«, flüsterte Melissa. »Das sagst du nur, damit ich keine Angst mehr habe.«
Charity lachte, strich Melissa mit der linken Hand über den Kopf, und plötzlich hatte sie einen Einfall. Rasch sah sie auf die Uhr und drehte sich zu Hartmann und den anderen um.
»Es ist eigentlich noch früh«, sagte sie. »Was haltet ihr davon, wenn wir den Nachtisch auf dem Aussichtsdeck von Skytown essen?«