1.


Der Moroni-Jet jagte im Tiefflug über die Ruinenstadt hinweg. Rechts und links des flachen, scheibenförmigen Fluggeräts schossen Feuersäulen aus dem Boden. Grelle Explosionsblitze zermalmten Trümmer zu noch kleineren, staubfeinen Bruchstücken.

Unsichtbare Laserstrahlen ließen Gestein zerkochen und den Boden für Sekunden zu gelbflüssiger Lava werden, superschnelle Vibrationen zerkrümelten Stahlbeton in Bruchteilen von Augenblicken zu feinkörnigem Mehl. Hinter der Maschine brannte der Boden, und wäre der Luftdruck des nahezu dreifach überschallschnellen Jets nicht wie eine unsichtbare Riesenfaust über die Ruinenlandschaft gefahren, hätte man seinen Kurs anhand der mit mathematischer Präzision plazierten Einschüsse über Meilen hinweg zurückverfolgen können. Charity war mehr als unzufrieden.

Das Kontrollpult vor ihr flackerte in rot und gelb wie ein außer Kontrolle geratener, elektronischer Weihnachtsbaum, und das gleichmäßige Summen der Motoren wurde immer mehr vom Piepen, Heulen, Wimmern und Kreischen der unterschiedlichsten Alarmsirenen überlagert, die jede auf ihre Weise versuchten, ihr klar zu machen, daß sie das tapfere kleine Fahrzeug hoffnungslos überforderte. Der Jet war für Hochgeschwindigkeitsflüge unter extremen Bedingungen konstruiert und gebaut; aber nicht für solche Geschwindigkeiten und solche Extrembedingungen.

Ein weiteres, flackerndes rotes Licht gesellte sich zu den anderen auf dem Kontrollpult vor ihr, und eine nervtötend sanfte, elektronische Stimme erklärte ihr in perfektem Neu-Englisch, daß die Automatik in zehn Sekunden eine Notfallabschaltung einleiten würde.

»Das glaubst du aber auch nur, Schätzchen«, murrte Charity.

Mit einer raschen, wenngleich fast unbewußten Bewegung der linken Hand tippte sie den Override-Code in die Tastatur des Bordcomputers, während sie mit der anderen rasch hintereinander ein gutes Dutzend Schalter und Tasten betätigte. Zwei oder drei weitere Alarmsirenen gesellten sich zu dem plärrenden Chor, doch mit einem plötzlichen, gewaltigen Ruck wurde die Maschine noch schneller. Die Geschwindigkeitsanzeige näherte sich Mach vier, und ein Blick auf den rückwärtigen Bildschirm zeigte Charity, daß der Einsatz der Bordwaffen wahrscheinlich gar nicht mehr nötig gewesen wäre: Der Jet verursachte eine Druck- und Hitzewelle, die eine gut hundert Meter breite Schneise vollkommener Zerstörung hinterließ.

Charitys Unzufriedenheit steigerte sich zu einem Gefühl, das verdächtig nahe an Wut grenzte. Ihre destruktiven Gefühle galten allerdings nicht der Maschine. Völlig ungeachtet dessen, was ihr der Bordcomputer und die durcheinanderkeifenden Alarmsirenen mitzuteilen versuchten - sie flog diese Maschinen jetzt seit guten acht Jahren und wußte vermutlich besser als ihre Konstrukteure, was sie zu leisten vermochten.

Das Problem war nicht der Jet. Das Problem war sie.

Die kleine, aber unvorstellbar effektive Kampfmaschine war nicht nur von, sondern vor allem für Wesen konstruiert worden, die vier Arme besaßen, über einen zweihundert-Grad-Sichtbereich verfügten und deren durchschnittliche Reaktionszeit kaum ein Viertel der eines Menschen betrug. Hartmanns Ingenieure hatten ihr Möglichstes getan, um die Maschine den Bedürfnissen eines menschlichen Piloten gemäß umzubauen, doch schon der Begriff ›Ihr Mögliches‹ beinhaltete das Eingeständnis, daß das Ergebnis nicht perfekt war - vorsichtig ausgedrückt.

Charity schob den Beschleunigungshebel noch ein Stück nach vorne, riß ihn aber dann mit einem brutalen Ruck zurück und biß die Zähne zusammen, als der Jet sich mit einem protestierenden Kreischen aufrichtete, im gleichen Augenblick zehn oder zwölf Meter in die Höhe schoß - und dann zitternd zur Ruhe kam.

Charitys Magen zitterte noch ein ganze Weile, und für einen kurzen Moment wurde ihr übel. Trotzdem stellte zumindest dieser Teil des Testfluges sie zufrieden. Sie hatte den Jet von annähernd fünftausend Stundenkilometern auf Null abgebremst und dabei weniger als eine Meile zurückgelegt. In einem von Menschen gebauten Fahrzeug wäre sie jetzt tot; von den Sicherheitsgurten in Stücke geschnitten und anschließend an der Kabinenwand zerschmettert. Die Trägheitsdämpfer des Jet hatten sie vor diesem Schicksal bewahrt. Aber das war auch schon alles.

Charity drehte die Flugscheibe um einhundertachtzig Grad, ließ die Panzerplatten vor den Sichtluken nach oben gleiten und betrachtete mißmutig die rauchende und glühende Schneise der Vernichtung, die den Kurs des Jet markierte. Der Tornado, den Charity mit ihrem Höllenflug entfesselt hatte, verschwand so schnell, wie er entstanden war, doch die in verschiedenen Rottönen glühenden Trümmer, die ihren Kurs zu beiden Seiten flankierten, würde noch eine geraume Weile zu sehen sein. Charity brauchte nicht auf ihre Instrumente zu schauen - sie wußte auch so, daß die Einschläge in mathematisch präzisen Abständen erfolgt waren. Die Waffen des Jet hatten sechzig Jahre alte Ruinen ein zweites Mal und zugleich stärker zerstört.

Das Problem war nur, daß es Ruinen waren. Sollte der Tag, den sie befürchteten, tatsächlich einmal kommen, würden sie nicht von verrotteten Betonmauern und rostigen Stahlträgern angegriffen werden...

Das Kontrollpult vor Charity hatte sich mittlerweile wieder beruhigt. Der ohrenbetäubende, mißtönende Chor aus Alarmsirenen war verstummt, und sie sah nur noch ein einziges, flackerndes Licht.

Charity betrachtete das Pult einige Sekunden lang unschlüssig, dann beugte sie sich vor und drückte auf eine darunter angebrachte, übergroße Taste. Nur einen Augenblick später leuchtete ein handgroßer sechseckiger Bildschirm in dem Kontrollpult vor ihr auf. Charity war kein bißchen überrascht, als sie Skudders Gesicht in der dreidimensionalen Darstellung erkannte. Der verärgerte Ausdruck darauf überraschte sie noch weniger.

»Was, zum Teufel, treibst du eigentlich da draußen?« polterte Skudder übergangslos und ohne sich mit einer irgendwie gearteten Begrüßung aufzuhalten. Genau das, was sie jetzt brauchte.

»Halle, Schatz«, antwortete Charity. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.«

Skudder setzte zu einer wütenden Entgegnung an, beherrschte sich im letzten Moment und beließ es bei einem Kopfschütteln und einem Seufzen, das mehr sagte als alle Worte.

»Was soll das?« fragte er.

»Was soll was?« gab Charity zurück, vielleicht nicht mehr ganz so freundlich wie zuvor, aber immer noch lächelnd. »Ich teste Hartmanns neuestes Spielzeug. Das ist mein Job, weißt du? Ich bin Testpilotin.«

»Du warst Testpilotin«, verbesserte Skudder sie, nur noch mühsam beherrscht und ohne auf das Friedensangebot einzugehen, das Charity ihm mit ihren scherzhaften Bemerkungen unterbreitet hatte. »Vor ungefähr sechzig Jahren. Du sitzt in einem Prototyp, der noch nie unter Ernstfallbedingungen getestet wurde, und wir haben hier etwa zweihundert Männer, die diese Maschine besser kennen als du und die schnellere Reaktionen haben und nicht einmal halb so alt sind, und so ganz nebenbei möchte ich hinzufügen -«

»Vielen Dank für das Kompliment«, sagte Charity, doch Skudder ignorierte ihre Worte einfach und fuhr fort:

»- und so ganz nebenbei, Captain Charity Laird, bin ich Ihr persönlicher Sicherheitsbeauftragter und werde fürstlich dafür bezahlt, über Ihre körperliche Unversehrtheit zu wachen.«

Charity zog eine Grimasse. »Bist du bald fertig?«

»Mit den Nerven, ja«, antwortete Skudder. Er war nun sichtlich mit seiner Beherrschung am Ende. »Charity, bitte! Du bist kein Teenager mehr, der ab und zu mal über die Stränge schlägt, sondern -«

»Das ist jetzt das zweite Mal, daß du auf mein Alter anspielst«, fiel Charity ihm ins Wort. »Sollte ich anfangen, mir gewisse Sorgen hinsichtlich unserer privaten Beziehung zu machen?«

Skudder preßte die Lippen aufeinander und schwieg geschlagene drei Sekunden. Sein Gesicht wirkte wie Stein, aber Charity kannte ihn weiß Gott lange und gut genug, um zu wissen, wie es hinter dieser Maske wirklich aussah. Sie gemahnte sich in Gedanken zur Mäßigung. Skudder stand kurz davor, zu explodieren, und das vollkommen zu recht. »Das hier ist ein offener Kanal«, fuhr sie nach einigen weiteren Sekunden fort. »Vielleicht sollten wir unsere privaten Meinungsverschiedenheiten an einem Ort austragen, an dem uns nicht die halbe Galaxis zuhören kann.«

»Ganz wie du willst.« Skudder nickte abgehackt. »Hartmann erwartet uns in einer halben Stunde in seinem Büro. Und ich«, fugte er mit leicht erhobener Stimme und eine halbe Nuance lauter hinzu, »erwarte dich in zehn Minuten im Hangar.«

Skudder unterbrach die Verbindung, ehe Charity Gelegenheit zu einer Erwiderung fand, aber der Bildschirm wurde nicht schwarz, sondern zeigte ein verschlungenes Symbol in rot und blau. Charity zog eine Grimasse. Skudder hatte nicht einfach abgeschaltet, sondern eine Online-Verbindung zwischen dem Bordcomputer des Jet und seinem eigenen Rechner bestehen lassen. Charity hatte keine Ahnung, ob er auf diese Weise vielleicht sogar in der Lage war, die Kontrolle über die Maschine zu übernehmen. Auf jeden Fall konnte er genau verfolgen, was sie tat.

Charitys Laune verschlechterte sich noch weiter. Skudder tat strenggenommen nur seinen Job, doch er übertrieb es gewaltig. Sie hatte ihn als Sicherheitsbeauftragten engagiert, nicht als Kindermädchen. Du hättest auf Hartmann hören und Privatleben und Beruf auseinanderhalten sollen, sagte sie sich mißmutig.

Ohne große Hoffnung auf Erfolg versuchte sie, die Funkverbindung zu unterbrechen. Natürlich gelang es ihr nicht. Sie seufzte, bedachte das flackernde Symbol auf dem Monitor mit einem weiteren bösen Blick und programmierte den Kurs zurück zur Basis. Als Charity die letzte Ziffer eingeben wollte, begann auf dem asymmetrischen Pult vor ihr plötzlich ein rotes Licht zu blinken.

Charity runzelte die Stirn. Ihr Finger schwebte noch eine Sekunde unentschlossen über der Tastatur des Nav-Computers, dann zog sie die Hand unverrichteter Dinge wieder zurück und wandte ihre ganze Konzentration dem flackernden roten Licht zu. Der Bewegungsscanner des Jet hatte ein Ziel erfaßt.

Und das hätte eigentlich nicht der Fall sein dürfen.

Nicht eigentlich, verbesserte Charity sich in Gedanken. Überhaupt nicht.

Die Ruinenstadt, die sich unter dem Jet ausbreitete, so weit man sehen konnte, diente den Piloten der Basis seit fünf Jahren als Schießübungsplatz. Bis vor ein paar Sekunden war Charity felsenfest davon überzeugt gewesen, das nichts, was wesentlich größer als eine Katze war, den Sicherheitsbereich durchdringen konnte, den Hartmanns Ingenieure mit einem enormen Aufwand an Technik und Energie rings um die zerstörte Stadt errichtet hatten.

Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Charitys Magen aus, während sie nach dem Steuerungsknüppel griff und gleichzeitig den Autopiloten deaktivierte. Sie hatte noch die kleine Chance, daß der Scanner des Jet einfach defekt war. Wenn nicht... Noch vor ein paar Minuten hatte sie genug tödliche Energie auf diese Stadt abgefeuert, um ganz Skytown damit eine Woche lang zu erleuchten. Allein bei dem Gedanken, daß sich inmitten der Trümmerlandschaft unter ihr Menschen aufhalten könnten, wurde ihr beinahe körperlich übel.

Der Jet setzte sich lautlos in Bewegung und gewann dabei langsam an Höhe. Charitys Blick wanderte beständig zwischen dem Anblick der Trümmereinöde unter ihr und dem blinkenden roten Punkt auf dem Scannerbildschirm hin und her. Der Knoten in ihrem Magen wurde härter, als sie die rasch wechselnden Zahlenkolonnen am unteren rechten Rand des Bildschirmes sah. Die Zahlen waren noch nicht ganz eindeutig, aber es konnten Menschen sein. Vier, fünf, sechs... Der rote Leuchtpunkt zerfiel in ein knappes Dutzend kleinerer, flackernder Blips, und die Zahlenkolonnen darunter begannen sich zu überschlagen.

Charity fluchte lautlos in sich hinein. Es waren Menschen, ganz zweifellos. Sie bewegten sich ziemlich schnell, zumindest für Menschen, die zu Fuß unterwegs waren. Sie schienen zu rennen. Vermutlich waren sie auf der Flucht. Und Charity hatte auch eine ziemlich klare Vorstellung, vor wem sie flüchteten. Sie jedenfalls wäre wie der Teufel gerannt, wenn plötzlich eine Kampfmaschine der Moroni über ihr am Himmel erschienen wäre und damit begonnen hätte, mit Gigawatt-Lasern auf Mauerreste zu feuern.

Sie konnte draußen immer noch keine Spur von Leben erkennen, aber der Knoten in ihrem Magen zog sich noch weiter zusammen, als sie ihren jetzigen Kurs in Gedanken verlängerte und sah, wie nahe einige der Einschläge an der Position der Menschen dort unten lagen. Sie beschleunigte noch etwas mehr. Der Computer informierte sie, daß sie weniger als drei Meilen von den Verursachern der roten Scannerpunkte entfernt sei. Charity hätte sie längst sehen müssen. Aber alles, was sie erkannte, waren Trümmer, brandgeschwärzte Ruinen und zu schwarzem Glas geschmolzener Boden.

Plötzlich erlosch einer der roten Leuchtpunkte. In der nächsten Sekunde flackerte der Bildschirm und beruhigte sich dann wieder. Zu dem Dutzend daumennagelgroßer Punkte hatten sich zahllose winzige, rote Funken gesellt.

Das Symbol auf dem Überwachungsmonitor erlosch und machte Skudders Gesicht Platz.

»Jetzt nicht«, sagte Charity rasch. »Hier stimmt etwas nicht.«

»Ich sehe es«, antwortete Skudder. Er wirkte sehr konzentriert. In seiner Stimme war nicht mehr die Spur von Vorwurf oder Tadel. »Was geht da vor?«

»Gib mir eine Minute, und ich sage es dir«, antwortete Charity. »Ich -«

Sie brach ab. Inmitten der Trümmer vor ihr bewegte sich etwas. Sie konnte keine Umrisse erkennen, nur ein rasches Aufflackern von Bewegungen, aber das war alles, was sie brauchte. Der Jet überwand die restliche Distanz mit einem einzigen Satz, kam ruckartig zum Stehen, und Charity sah aus fünfzig Metern Höhe endlich, was wirklich geschah. Ihre Reaktion darauf bestand in einem nicht gerade damenhaften Fluch.

»Was ist?« fragte Skudder alarmiert.

»Wanzen«, antwortete Charity. »Verdammte Scheiße! Wanzen!«

Fünfzig Meter unter ihr tobte ein verzweifelter Kampf. Aus dem Dutzend toter Leuchtpunkte war eine Gruppe zerlumpter Gestalten geworden, Männer, Frauen und Kinder, die selbst aus fünfzig Metern Höhe einen erbärmlichen Eindruck machten. Die Gruppe hatte sich, so gut es ging, in einer Ruine verschanzt und wehrte sich mit Stöcken, Knüppeln und Eisenstangen gegen irgend etwas, das Charity aus der Höhe nur als weißes Gewusel erkennen konnte. Mehr war aber auch nicht nötig. Sie wußte nur zu gut, was sie vor sich hatte.

»Bleib, wo du bist«, sagte Skudder. »Ich schicke ein SWAT-Team. Sie sind in drei Minuten da!«

»So lange kann ich nicht warten«, antwortete Charity. »Beweg deinen Hintern hierher. Ich gehe auf Wanzenjagd. Ende und aus.«

»Aber -«

Charity schaltete den Monitor ab. Sie konnte keine drei Minuten warten. Nicht mal eine. Die Lage unter ihr spitzte sich zu. Die Wanzen überrannten die verkohlten Mauerreste ohne die geringste Mühe und fielen über das Dutzend Männer und Frauen her. Die Verteidiger wehrten sich mit verbissener Wut und einem Geschick, das Charity erkennen ließ, daß sie es nicht zum ersten Mal mit diesen Kreaturen zu tun hatten. Doch am Ausgang des Kampfes bestand trotzdem nicht der geringste Zweifel. Die Übermacht war einfach zu groß, und die Wanzen kämpften mit der mechanischen Gnadenlosigkeit von Insekten, die weder Schmerzen noch Furcht kannten.

Charitys Gedanken überschlugen sich, während der Jet wie ein Stein in die Tiefe stürzte. Das Problem bestand darin, daß sie nicht allzuviel unternehmen konnte. Der Jet verfügte über genügend Feuerkraft, um einen kleinen Mond einzuäschern, aber ihre Bordwaffen nutzten Charity gar nichts. Sie hätte die beiden kleinen Laser eng genug fokussieren können, um gezielte Einzelschüsse auf die Wanzen abzugeben, ohne jedes Leben im Umkreis von fünfzig Metern auszulöschen, aber dazu reichte die Zeit einfach nicht. Selbst wenn sie dem Computer diese Aufgabe übertrug, würde es Minuten dauern, um auch nur die Hälfte der Biester zu erledigen.

Sie konnte nur eines tun. Skudder würde der Schlag treffen, wenn er ihr Manöver an seinen Kontrollen verfolgte, aber das war jetzt egal. Es ging um ein Dutzend Menschenleben.

Der Jet stürzte weiter in die Tiefe. Charity sah, wie die Köpfe einiger Männer und Frauen im letzten Moment herumruckten und sich ein Ausdruck verblüfften Entsetzens auf ihren Gesichter ausbreitete, als sie das heulende Ungeheuer wie einen aus der Bahn geworfenen Mond auf sich herabstürzen sahen.

Dann traf die Säule komprimierter Luft, die das Schiff vor sich herschob, mit der Gewalt eines Hammerschlages auf den Boden. Menschen, Wanzen, Steine und Staub wurden in die Höhe geschleudert und davongewirbelt, und für eine oder zwei Sekunden konnte Charity rein gar nichts mehr erkennen. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß die Notfallautomatik das Schiff abfangen würde, bevor sie sich selbst eine halbe Meile tief in den Boden rammte, löste mit der linken Hand den Sicherheitsgurt und hämmerte die andere auf einen großen, sechseckigen Schalter unmittelbar vor sich.

Alles geschah gleichzeitig. Der Jet kam mit einem so brutalen Ruck zum Stehen, daß Charity trotz der Trägheitsdämpfer aus dem Sitz gerissen und gegen das Pult geschleudert wurde, und eine zweite, womöglich noch heftigere Druckwelle fegte über den Boden. Gleichzeitig flammten Staub, Trümmerstücke und davongeschleuderte Wanzen entlang einer perfekten Kreislinie rings um das Schiff herum auf. Für einen winzigen Moment schien die Ruine unter einer giftgrünen, leuchtenden Halbkugel zu verschwinden, aus der immer wieder Blitze und grelle Flammen schlugen.

Charity rappelte sich mühsam hoch und warf einen raschen Blick aus dem Fenster. Der Jet hing schwerelos drei Meter über den Boden, und die Luft war noch immer so voller Staub und hochgewirbeltem Dreck, daß sie praktisch nichts erkennen konnte. Immerhin sah sie, daß zumindest der erste Teil ihres Planes funktioniert hatte. Die Schutzschirme des Jet hatten sich entfaltet und bildeten eine undurchdringliche Barriere rings um das Schiff und die Ruine. Der Durchmesser dieses Todeskreises betrug etwas weniger als dreißig Meter. Charity betete darum, daß es reichte.

Mit einer hastigen Bewegung wandte sie sich um, eilte zum Ausgang und schlug auf den Schalter, mit dem das Schott geöffnet wurde. Die Irisblende schob sich mit enervierender Langsamkeit auseinander. Staub und trockene Luft, die zum Husten reizte, wirbelten ins Innere, gefolgt von einem Chor gellender Schmerz- und Schreckensschreie, dem Prasseln von Flammen und einer Aufeinanderfolge dumpfer, sonderbar weich klingender Explosionen.

Charity zwängte sich durch die Öffnung. Sie wartete nicht ab, bis die Rampe sich unter ihr entfaltet hatte, sondern überwand die drei Meter bis zum Boden mit einem Sprung, fiel, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und zog noch im Aufspringen ihre Waffe.

Im allerersten Moment gab es allerdings nichts, worauf sie hätte schießen können.

Sie war so gut wie blind. Die Luft war dermaßen voller Staub, daß sie kaum zu atmen vermochte. Rings um sie herum waren nur Schatten und tanzende Bewegungen.

Plötzlich sah sie etwas Kleines, Weißes, das wie ein Gummiball auf sie zuhüpfte. Instinktiv hob sie die Waffe, drückte jedoch nicht ab, sondern schlug statt dessen mit der flachen Hand auf den postkartengroßen Schalter, der ihre Gürtelschnalle bildete. Die Wanze prallte gegen ihre Schulter und ließ sie taumeln. Aber das Raubinsekt bezahlte die Attacke auch mit dem Leben. Charitys Körperschild verbrannte sie zu Asche.

Charity taumelte herum, stolperte mehr blind als sehend in das wirbelnde graue Chaos hinein und wurde mit einem doppelten Auflodern belohnt, als zwei weitere Wanzen an ihrem Körperschild verglühten. Dann war sie aus dem Schlimmsten heraus und konnte wieder sehen.

Doch was sie sah, erleichterte sie nicht.

Im Gegenteil.

Der Kampf war keineswegs vorbei.

Die Druckwelle hatte die viel leichteren Insekten ungleich weiter davongeschleudert als die menschlichen Verteidiger, aber eben nicht alle; nicht einmal annähernd so viele, wie Charity insgeheim gehofft hatte. Das Dutzend zerlumpter Gestalten wehrte sich noch immer verzweifelt gegen eine hoffnungslose Übermacht katzengroßer, sechsbeiniger Scheusale, die nur aus Scheren und messerscharfen, schnappenden Mandibeln zu bestehen schienen. Mindestens zwei Männer lagen reglos am Boden, bewußtlos oder tot, und nur ein paar Meter neben ihr wehrte sich eine alte Frau verzweifelt gegen gleich vier Wanzen, die sie eingekreist hatten. Charity erschoß zwei der Ungeheuer, schleuderte ein drittes mit einem Fußtritt davon und erledigte das letzte mit einem Schlag mit der flachen Hand. Die Wanze flammte auf und verbrannte, und die alte Frau taumelte mit einem erschöpften Seufzen zurück und fiel auf die Knie.

Charity war mit einem Satz an ihr vorbei, suchte nach einem neuen Ziel und jagte ein halbes Dutzend Laserblitze in eine wuselnde weiße Masse, die sich auf einen der reglos daliegenden Männer zu bewegte. Die Wanzen verbrannten oder explodierten mit sonderbar weichen, dumpfen Lauten.

Charity schoß weiter. Drei, vier Wanzen versuchten sie anzuspringen und verkohlten an ihrem Körperschild. Sie taumelte zur Seite, erschoß drei, vier weitere Wanzen und sprang einem Mann bei, der gleich von einem halben Dutzend der gefräßigen Insekten attackiert wurde.

Sie konnte ihre Waffe nicht einsetzen, ohne den Mann zu gefährden, so daß sie die Bestien mit den Händen davonschleuderte.

Die Wanzen verbrannten bei der bloßen Berührung mit ihrem Körperschild, aber auch der Mann schrie gepeinigt auf, als der Stoff seiner Jacke über dem linken Arm aufflammte und die Haut darunter verkohlte.

Der Schildgenerator in Charitys Gürtel brummte protestierend. Das Gerät war für extreme, aber kurzfristige Belastungen gebaut. Sie fragte sich, wann es den Geist aufgeben würde.

Der Kampf flammte immer wieder auf, wenn Scharen der weißen Raubinsekten attackierten, um sich auf die vermeintlich sichere Beute zu stürzen. Doch die Wanzen, die im Inneren des Schirmes gefangen waren, starben eine nach der anderen unter Charitys Laserdüsen oder den Hieben der Knüppel und Eisenstangen.

Trotzdem gaben sie nicht auf. Jeder vernünftig und sachlich denkende Gegner hätte den Angriff irgendwann abgebrochen und sein Heil in der Flucht gesucht, aber dieser Gegner dachte nicht. Charity wußte, daß die Biester praktisch nur aus Freßwerkzeugen und dem dazugehörigen Verdauungsapparat bestanden, dafür aber praktisch so gut wie kein Gehirn besaßen.

Dies machte sie auf der einen Seite zwar zu mörderischen Gegnern, auf der anderen aber auch berechenbar. Die Wanzen versuchten nicht, sich zu verstecken oder ihre Beute aus einem Hinterhalt heraus anzuspringen, sondern griffen mit fast mechanischer, berechenbarer Beharrlichkeit an, so daß Charity die Kreaturen schließlich fast wie auf dem Schießstand erledigen konnte.

Als es vorbei war, drehte sie sich erschöpft einmal im Kreis und schwenkte ihre Waffe herum. Überall lagen tote oder brennende Wanzen, aber es war ein bitterer, vielleicht allzu teuer erkaufter Sieg. Nicht einer der Verteidiger war ohne schwere Verletzungen davongekommen. Mindestens zwei Männer und eine Frau waren tot. Die anderen saßen oder lagen am Boden, preßten die Hände auf ihre Wunden oder stöhnten vor Schmerz. Niemand sagte etwas, doch auf den wenigen Gesichtern, die sich Charity zuwandten, stand die nackte Angst geschrieben - nur zu verständlich angesichts der Situation, in der sie sich befanden. Aber Charity hatte das sichere Gefühl, daß ein Gutteil dieser Angst ihr galt.

Sie steckte ihre Waffe ein, schaltete den Körperschild aus, dessen Generator mittlerweile wie ein zorniger Hornissenschwarm brummte, und ging dann zu den beiden Toten hinüber.

Einer von ihnen war den Wanzen zum Opfer gefallen, während der andere keine äußeren Verletzungen aufzuweisen schien. Als Charity ihn auf den Rücken drehte, sah sie, daß sein Genick gebrochen war.

Der harte Knoten in ihrem Magen war plötzlich wieder da. Der Mann war der Druckwelle zum Opfer gefallen, die der herabstoßende Jet verursacht hatte. Sie hatte ihn umgebracht.

In ihrem Mund war plötzlich ein bitterer Geschmack. Ihre Logik versuchte vergeblich, sie davon zu überzeugen, daß sie keine andere Wahl gehabt hatte, als anzugreifen. Ihr Manöver hatte diesen Mann getötet, alle anderen jedoch gerettet. Aber das waren billige Worte, die es für Charity nicht einfacher machten. Es war zwar die reine Wahrheit, doch die Mathematik versagte, wenn man mit Menschenleben statt mit Unbekannten rechnete.

Charity sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln und reagierte instinktiv, ohne zu nachzudenken. Sie ließ sich blitzschnell zur Seite fallen, und die Eisenstange, die auf ihren Hinterkopf gezielt hatte, zischte zwei Handbreit über sie hinweg.

Instinktiv rollte Charity sich über die Schulter ab, riß schützend die Hand vor das Gesicht und griff mit der anderen nach einem schmutzstarrenden Fuß, der nach ihr stieß. Sie packte ihn, drehte ihn mit einem kräftigen Ruck herum und kam im gleichen Moment auf die Füße, als der Mann, der sie angegriffen hatte, auf den Rücken fiel und keuchend nach Atem rang.

Ein zweiter Mann attackierte sie. Charity blockte zwei, drei ungeschickte Hiebe ab, verlor endgültig die Geduld und streckte den Angreifer mit einem punktgenauen, perfekten Kinnhaken zu Boden. Noch in der Bewegung wirbelte sie herum und wandte sich einem dritten Angreifer zu, der sich von hinten auf sie stürzen wollte.

Der Bursche gab sein Vorhaben im letzten Moment auf. Wahrscheinlich hatte ihn die Leichtigkeit, mit der Charity seine beiden Vorgänger besiegt hatte, schockiert.

»Was... was soll denn das?« fragte Charity stockend. »Seid ihr verrückt geworden? Nur für den Fall, daß es eurer Aufmerksamkeit entgangen ist: Ich stehe auf eurer Seite!«

Weder der Mann noch einer der anderen antworteten. Charity war nicht einmal sicher, ob sie ihre Worte überhaupt verstanden hatten. Die Angst auf den Gesichtern war jedenfalls immer noch unverkennbar.

»Versteht ihr mich?« fragte sie.

Keine Antwort.

Die beiden Männer, die sie niedergeschlagen hatte, richteten sich stöhnend auf und krochen hastig von ihr weg. Eine junge Frau mit strähnigem blondem Haar begann leise zu weinen, und auch die anderen versuchten, sich ein Stück von ihr weg zu bewegen.

»Verdammt noch mal, was geht hier eigentlich vor?« fragte Charity. »Ich verlange ja nicht, daß ihr mir die Füße küßt, aber wieso versucht ihr mich umzubringen?«

»Tu uns nichts«, stöhnte einer der Männer; es war der, den sie niedergeschlagen hatte. »Wir... wir sind nicht dein Feind. Laß uns gehen.«

»Na ja, wenigstens in einem Punkt scheinen wir derselben Meinung zu sein«, sagte Charity kopfschüttelnd. Sie verstand immer weniger, was hier eigentlich vor sich ging. Diese Menschen hatten eindeutig Angst vor ihr. Aber warum?

Sie wandte sich der weinenden jungen Frau zu.

»Du«, sagte sie. »Wie ist dein Name?«

»Melissa«, wimmerte die junge Frau.

»Melissa«, sagte Charity. »Jetzt sieh mich bitte an, Melissa, und -«

»Melissa«, stammelte die junge Frau. »Sie... sie haben Melissa. Sie haben sie verschleppt.«

Charity stockte. »Verschleppt? Was... was meinst du damit?«

»Die Ungeheuer.« Die blonde Frau deutete zitternd auf eine der toten Wanzen. »Sie haben sie verschleppt.«

»Die Wanzen?« Charity erschrak. Sie hatte davon gehört, daß die Raubwanzen manchmal auch lebende Opfer fingen und verschleppten, vermutlich, um sie später zu fressen. Bislang aber hatte sie diese Geschichte für ein bloßes Gerücht gehalten.

»Sie haben Melissa weggebracht«, stammelte die Frau. »Ich wollte ihr helfen, aber es waren zu viele.«

Sie hatte nicht die Kraft, Charity anzuschauen. Tränen liefen über ihr Gesicht und vermischten sich mit dem Blut, das aus einer Schnittwunde an ihrer Wange quoll.

»Wer ist Melissa?« fragte Charity betont.

»Ihre Tochter«, sagte eine andere Frau. »Die Ungeheuer haben sie geschnappt, als wir nach oben kamen.«

Sie schien noch mehr sagen zu wollen, doch der Mann neben ihr versetzte ihr einen derben Stoß, der die Frau verstummen ließ.

»Also gut«, sagte Charity. Sie verstand immer noch nicht, was hier eigentlich los war, aber jetzt war auch nicht der Moment, darüber nachzudenken. Sie wandte sich wieder an die junge Frau vor ihr. »Wann ist das passiert?«

»Gerade«, antwortete sie. »Als wir... nach oben mußten.«

Also vermutlich kurz vor dem Moment, als die Gruppe auf dem Monitor ihres Bewegungsscanners aufgetaucht war. Obwohl es ihr wie eine Ewigkeit vorkam, waren seither erst wenige Minuten vergangen. »Dann ist sie vielleicht noch am Leben«, sagte Charity. »Kannst du mir zeigen, wo das passiert ist?«

Die Frau starrte sie an. Sie sagte nichts.

»Hör mir zu«, sagte Charity eindringlich. »Deine Tochter ist vielleicht noch am Leben. Wenn du mir zeigst, wo es passiert ist, können wir sie möglicherweise retten. Aber es kommt auf jede Sekunde an!«

»Glaub ihr nicht«, sagte einer der Männer. »Das ist eine Falle. Wenn du mit ihr gehst, wird sie dich töten!«

»Kannst du mir irgendeinen Grund nennen, daß ich es nicht gleich hier und jetzt erledige, wenn das wirklich meine Absicht wäre?« fragte Charity mit aufkeimendem Zorn. Dann wandte sie sich wieder an die junge Frau. »Ich hole deine Tochter, aber du mußt mir schon sagen, wo sie ist!«

Die junge Frau zögerte noch eine letzte, endlose Sekunde, dann nickte sie und deutete nach Westen. »Zweihundert Schritte von hier. Der Schacht.«

Charity erinnerte sich vage, über einen halb zusammengestürzten U-Bahn-Schacht hinweggeflogen zu sein, der etwa in der angegebenen Entfernung lag. Die junge Frau wollte aufstehen, aber Charity schüttelte den Kopf und drückte sie mit sanfter Gewalt wieder zu Boden.

»Ich gehe allein«, sagte sie. »Wenn deine Tochter noch lebt, dann finde ich sie.«

Sie stand auf, warf einen suchenden Blick in den Himmel und schüttelte den Kopf. Die drei Minuten, von denen Skudder gesprochen hatte, waren längst verstrichen, aber von dem angekündigten SWAT-Team war keine Spur zu sehen.

»Typisch«, murmelte sie. »Wenn man die Cops mal wirklich braucht, kommen sie zu spät.«

Laut und an die Männer und Frauen ringsum gewandt, fuhr sie fort: »Ich gehe jetzt und suche das Mädchen. Ihr bleibt hier. Haltet euch von dem Schutzschirm fern. Ihr könnt ihn nicht sehen, und ihn zu berühren, würde euch auf der Stelle töten. In ein paar Minuten kommen weitere Schiffe wie meines. Was immer ihr auch über uns glauben solltet - diese Männer sind nicht eure Feinde. Sie kommen, um euch zu helfen. Sagt ihnen, wo ich bin. Und sie sollen sich verdammt noch mal beeilen!«

Загрузка...