Laudatio auf James Purdy anlässlich der Verleihung des Center for Fiction’s Fadiman Award für Die Preisgabe im Jahr 2005
Ich weiß nicht, ob sich jemand an das Footballspiel Stanford gegen University of California im vergangenen Jahr erinnert. Um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Stanford hatte eine viel kleinere und schwächere Mannschaft, die zwei Spiele gewonnen und sieben verloren hatte, aber in der ersten Halbzeit sah es so aus, als könnte es Stanford tatsächlich gelingen, Cal zu schlagen, denn die Abwehr stand derart unter Adrenalin, dass die Spieler ihre Angst vor Verletzungen vollkommen verloren hatten. Man sah junge Männer, die mit ausgestreckten Armen rannten, so schnell sie konnten, und gegen stärkere junge Männer prallten, die ebenso schnell in die entgegengesetzte Richtung rannten. Es kam zu schrecklichen, spektakulären Zusammenstößen — als sähe man Menschen zu, die mit voller Wucht Telefonmasten rammten — , und Stanford-Spieler wurden in bestürzender Zahl ernsthaft verletzt vom Spielfeld getragen. Dennoch hörten sie nicht auf, sich der gegnerischen Mannschaft entgegenzuwerfen. Ihr zum Scheitern verurteiltes Bemühen zu sehen, diese wiederholten freudigen, selbstzerstörerischen Zusammenstöße junger Männer, die etwas mit aller Macht wollten, das ganze Chaos im Kontext eines größeren, spannenden, seiner äußeren Form nach beeindruckenden Spiels, dessen Ausgang im Grunde von vornherein feststand — für das Erlebnis, das es darstellt, Die Preisgabe zu lesen, fällt mir eine bessere Analogie nicht ein.
James Purdys Roman ist so gut, dass im Vergleich dazu beinahe jeder andere, den man gleich im Anschluss daran liest, zumindest ein wenig posierend oder unaufrichtig oder selbstverliebt wirkt. Der Fänger im Roggen zum Beispiel, laut Purdy «eines der schlechtesten Bücher, die je geschrieben wurden», offenbart seine Sentimentalität und seine rhetorischen Manipulationen wie nie zuvor. Richard Yates, der manchmal beinahe so heftig ist wie Purdy, könnte ein bisschen besser abschneiden, doch müsste man alle Spuren seines Selbstmitleids tilgen und es durch vorbehaltlose Liebe ersetzen; man müsste Yates’ Depression zu einem Fatalismus von solcher Trostlosigkeit erhöhen, dass er etwas Ekstatisches bekommt. Selbst Saul Bellow, dessen Liebe zur Sprache und zur Welt so ansteckend sein können, erscheint einem gespreizt, akademisch und hochgestochen, wenn man ihn direkt nach Die Preisgabe liest. Eines der dunkleren Kapitel von Die Abenteuer des Augie March von Bellow endet damit, dass Augie seine Freundin Mimi zur Praxis eines Abtreibungsarztes in der South Side von Chicago begleitet. Während Bellow das, was dort geschieht, ausspart, schildert Purdy in Die Preisgabe den Schrecken auf unnachahmliche, unvergessliche Art. (Es ist eine unglaubliche Szene.) Der äußerste Rand der stabilen, vertrauten Welt, in der Saul Bellow lebt (und in der die meisten Schriftsteller, darunter auch ich, leben), ist das innerste Zentrum von Mr. Purdys Welt. Er macht da weiter, wo wir anderen aufhören. Er folgt seinen schwulen Jungs und aufstrebenden Künstlern und ausschweifenden Millionären zu Orten wie
dem abgelegenen Eissalon in der Nähe der Grenze, der vorzugsweise von Fernfahrern mit Schmuggelware frequentiert wurde, und von Damen, die mit den Direktoren der örtlichen Bausparkasse Ehebruch trieben, und — am späten Nachmittag — von den Schwulen der Umgebung. Auch war dort ein Prediger erschossen worden — von einer Witwe, die seine Liebe zu verlieren drohte …
und er versieht diese Örtlichkeiten mit einer seltsamen, verdrehten Gemütlichkeit. Man bedauert, nicht selbst dort gewesen zu sein, wie man es bedauert, keine Schlittenfahrt mit Natascha Rostow gemacht zu haben. Gegen Ende von Die Preisgabe steigen zwei Protagonisten auf die am Ufer des Lake Michigan aufgetürmten Felsen:
Sie setzten sich hin und dachten daran, wie viel weniger verzweifelt sie, trotz allem, gewesen waren, als sie im vorigen Jahr hier saßen, wie viel zufriedener, obwohl sie doch damals auch nicht gerade hoffnungsfreudig in die Zukunft geblickt hatten. Ein paar Möwen flatterten um irgendwelchen Abfall herum, der auf dem öligen Wasser dahintrieb.
Was für die meisten von uns eine Extremsituation wäre, ist in Mr. Purdys Welt ganz alltäglich. Bei ihm kann man Verzweiflung anprobieren und feststellen, dass sie einem besser passt, als man dachte. Selbst seine bizarrsten Figuren kommen mir nicht absonderlich vor. Eigenartigerweise kommen sie mir vor wie ich. In Die Preisgabe lese ich von Demütigungen und Inzest, von Selbsthass und Selbstzerstörung, und zwar mit demselben lebhaften, anteilnehmenden, moralisch gefestigten Interesse, mit dem ich bei Jane Austen von gelösten Verlobungen und verletzten Gefühlen lese. Wenn man einen Roman von Purdy beginnt, kann man sicher sein, dass er ganz und gar nicht gut enden wird. Purdys große Kunst besteht darin, die unaufhaltsame Entwicklung zur Katastrophe hin auf eine Weise zu erzählen, dass sie so befriedigend und irgendwie lebensbejahend ist wie eine Entwicklung, die auf ein Happy End zusteuert. Und wenn Purdy dem Leser schließlich — wie auf den letzten drei Seiten von Die Preisgabe — ein winziges Stückchen Hoffnung und Glück zuwirft, möchte man in Tränen der Dankbarkeit ausbrechen. Es ist, als wollte das Buch einem, allem Anschein zum Trotz, vor Augen führen, welch ein Wunder es ist, dass überhaupt jemals eine Liebe erfüllt wird, dass zwei Menschen, die zusammenpassen, überhaupt jemals zueinanderfinden. Man hat sich derart mit dem Desaster arrangiert, hat sich Purdys fatalistische Sicht der Dinge so sehr zu eigen gemacht, dass ein Augenblick ganz gewöhnlichen Friedens, ganz gewöhnlicher Freundlichkeit einem wie ein Akt göttlicher Gnade erscheint.
Man sollte Mr. Purdy nicht mit seinem verstorbenen Zeitgenossen William Burroughs oder dessen zahlreichen grenzüberschreitenden Nachfolgern verwechseln. Grenzüberschreitende Literatur richtet sich, sei es offen oder uneingestanden, immer an die bürgerliche Welt, von der sie abhängig ist. Als Leser grenzüberschreitender Literatur hat man zwei Möglichkeiten: Man ist entweder schockiert, oder aber man schockiert andere mit seiner Weigerung, schockiert zu sein. Mr. Purdys öffentliche Äußerungen zeugen von einer unversöhnlichen Feindschaft gegenüber der amerikanischen Gesellschaft, doch in seinen Romanen richtet er den Blick nach innen. Jedem einzelnen Satz in Die Preisgabe ist anzumerken, wie gleichgültig es dem Autor ist, ob irgendein Leser davon schockiert ist oder nicht. Der Antiheld des Buches — ein grausamer, arroganter, schnorrender bisexueller Dichter, der auf alten Zeitungen mit einem Kohlestift ein episches Gedicht über das moderne Amerika schreibt — ist ein obsessiver Leser der Briefe und Tagebücher anderer Menschen:
Anders als in kleinen Orten finden sich in Großstädten Durchreisende, … die ihre Briefe achtlos mit sich herumtragen und sie entweder verlieren oder wegwerfen. Die meisten Passanten würden es nicht der Mühe wert halten, sich zu bücken, um einen solchen Brief aufzuheben, da sie annehmen, dass der Inhalt sie keinesfalls interessieren oder gar fesseln könnte. Das traf bei Eustace nicht zu. Er vertiefte sich in fremde Briefe, deren Botschaften nicht für ihn bestimmt waren. Für ihn waren es Kostbarkeiten, die eine beredte Sprache führten. Es hätte ihm das Paradies auf Erden bedeutet, die Liebesbriefe eines jeden Briefschreibers zu lesen, ganz gleich, wie ungelenk, ungebildet oder primitiv sie waren — wenn es sich um einen wirklichen Liebesbrief handelte. Was die Jagd so aufregend machte, war, auf dieses eine seltene Juwel zu stoßen: die echte, nackte, unverstellte Stimme der Liebe.
Eustace wird schließlich so süchtig nach den wahren Lebensgeschichten anderer Menschen, dass er aufhört zu arbeiten und seine Aufmerksamkeit ganz und gar der zentralen Liebesgeschichte des Buches widmet, einer verrückten, unerfüllten Beziehung zwischen Daniel Haws, einem jungen ehemaligen Bergarbeiter, und Amos Ratliffe, einem schönen, blonden Jungen vom Land. Purdy ist unendlich viel größer und härter und proteischer als seine Figur Eustace — immerhin hat er sechsundvierzig Romane, Gedichtsammlungen und Dramen verfasst — , doch als Autor wird er offensichtlich von derselben hilflosen Faszination, derselben Identifikation mit menschlichem Leiden getrieben wie dieser. Ganz gleich, wie sehr Mr. Purdy von sich als Autor eingenommen ist, ganz gleich, wie sehr er sich in der Öffentlichkeit als harter Knochen geriert — wenn er sich daran macht, eine Geschichte zu erzählen, gelingt es ihm irgendwie, sein Ego an der Garderobe abzugeben und ganz und gar in seine Figuren einzutauchen. Kaum ein Schriftsteller Amerikas wurde und wird so unterschätzt und übergangen. Von allen hervorragenden Büchern, die er geschrieben hat, ist Die Preisgabe das reichste, das am besten geschriebene, das am stringentesten erzählte, das am schönsten konstruierte. Im Amerika der Nachkriegszeit gibt es nur sehr wenige bessere Romane, und ich kenne keinen einzigen von ähnlicher Qualität, der so trotzig darauf beharrt, er selbst zu sein. Ich liebe dieses Buch, und es ist mir eine große Ehre, es mit dem Fadiman Award auszeichnen zu dürfen.
(Übersetzt von Dirk van Gunsteren)