Ein Vortrag
Ich möchte mich zunächst mit vier unangenehmen Fragen beschäftigen, die Romanschriftstellern bei einer Veranstaltung wie dieser oft gestellt werden. Augenscheinlich sind sie der Preis, den wir zahlen müssen für das Vergnügen, vor Publikum in Erscheinung zu treten. Es sind Fragen, die uns rasend machen — nicht nur, weil sie so oft gestellt werden, sondern auch, weil sie sich, bis auf eine, schwer beantworten lassen und weil es sich, gerade deshalb, lohnt, sie zu stellen.
Die erste dieser wiederkehrenden Fragen lautet: Unter dem Einfluss welcher Autoren schreiben Sie?
Manchmal hätte der Fragensteller wohl einfach gern ein paar Buchtipps, allzu oft aber ist die Frage ernst gemeint. Sie ärgert mich unter anderem deswegen, weil sie immer im Präsens gestellt wird: Wer beeinflusst Sie? Tatsache ist, dass ich, zum jetzigen Zeitpunkt meines Lebens, hauptsächlich von dem, was ich bisher geschrieben habe, beeinflusst bin. Mühte ich mich immer noch im Schatten von, sagen wir, E. M. Forster ab, würde ich sicher angestrengt so tun, als sei dem nicht so. Einem gewissen Harold Bloom zufolge, dessen clevere Theorie vom literarischen Einfluss ihm zu einer Karriere im Unterscheiden von «starken» und «schwachen» Schriftstellern verholfen hat, wäre ich mir des Ausmaßes meiner Bemühungen im Schatten von E. M. Forster nicht einmal bewusst. Darum wüsste einzig Harold Bloom.
Unmittelbarer Einfluss ist nur für sehr junge Schriftsteller sinnvoll, die, solange sie herauszufinden versuchen, wie man schreibt, erst einmal Stil und Duktus und Methode ihrer Lieblingsautoren kopieren. Ich persönlich war, mit einundzwanzig, sehr von C. S. Lewis, Isaac Asimow, Louise Fitzhugh, Herbert Marcuse, P. G. Wodehouse, Karl Kraus, meiner damaligen Verlobten und der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor Adorno beeinflusst. Eine Zeitlang, in meinen frühen Zwanzigern, gab ich mir große Mühe, die Satzmelodien und komischen Dialoge von Don DeLillo nachzumachen; ich war auch sehr angetan von der strapaziös lebhaften und allwissenden Prosa Robert Coovers und Thomas Pynchons. Und die Plots meiner ersten beiden Romane waren in beträchtlichem Umfang von zwei Filmen geborgt, Der amerikanische Freund (von Wim Wenders) und Cutter’s Way — Keine Gnade (von Ivan Passer). Doch kommen mir diese mannigfaltigen «Einflüsse» nicht bedeutsamer vor als die Tatsache, dass, als ich fünfzehn war, die Moody Blues meine Lieblingsband waren. Ein Schriftsteller muss irgendwo anfangen, aber wo genau er oder sie anfängt, ist im Grunde fast Zufall.
Zu sagen, dass mich Franz Kafka beeinflusst hat, wäre schon bedeutsamer. Damit meine ich, dass es Kafkas Roman Der Proceß war, vermittelt vom besten Literaturprofessor, den ich je hatte, der mir die Augen für die Großartigkeit dessen, was Literatur vermag, geöffnet und mich dazu gebracht hat, meinerseits Literatur schreiben zu wollen. Kafkas brillant zweideutige Darstellung Josef K.s, der ein sympathischer und zu Unrecht verfolgter Jedermann und ein selbstmitleidiger und seine Schuld leugnender Krimineller ist, war mein Tor zu den Möglichkeiten von Literatur als Mittel der Selbsterforschung: als Methode, mich mit den Schwierigkeiten und Paradoxien meines eigenen Lebens zu beschäftigen. Kafka lehrt uns, sich auch dann selbst zu lieben, wenn man gnadenlos gegen sich ist, und angesichts schlimmster Wahrheiten über sich doch menschlich zu bleiben. Es reicht nicht, die eigenen Figuren zu lieben, und es reicht nicht, mit den eigenen Figuren hart ins Gericht zu gehen: Man muss immer beides zugleich versuchen. Nur die Geschichten, die Menschen als die gelten lassen, die sie wirklich sind — die Bücher, deren Figuren sich als sympathische Subjekte und dubiose Objekte erweisen — , sind in der Lage, über Kulturen und Generationen hinweg zu reichen. Aus diesem Grund lesen wir Kafka noch immer.
Die Frage nach dem Einfluss jedoch, und das ist das größere Problem, scheint davon auszugehen, dass junge Autoren weiche Tonklumpen sind, in denen bestimmte namhafte Schriftsteller, ob tot oder lebendig, ihre unauslöschliche Prägung hinterlassen. Und was den Schriftsteller, der diese Frage ehrlich zu beantworten versucht, rasend macht, ist, dass so gut wie alle Schriftsteller, die er je gelesen hat, irgendeine Prägung hinterlassen haben. Es würde mich Stunden kosten, jeden Schriftsteller, von dem ich etwas gelernt habe, aufzuzählen, und es würde doch immer noch nicht erklären, warum mir manche Bücher so viel mehr bedeuten als andere: Warum ich, selbst jetzt, beim Arbeiten oft über Die Brüder Karamasow und Der Mann, der seine Kinder liebte nachdenke und nie über Ulysses oder Zum Leuchtturm. Woher kommt es, dass ich nichts von Joyce oder Woolf gelernt habe, wo beide doch ganz offenkundig «starke» Schriftsteller sind?
Das geläufige Verständnis von Einfluss, ob nach Harold Bloom oder eher konventionell, ist viel zu linear und einseitig. Die Geschichte der Kunst, mit ihrer fortlaufenden Darstellung von Einflüssen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, ist ein nützliches pädagogisches Instrument zur Organisation von Wissen, mit der eigentlichen Erfahrung eines Schriftstellers aber hat sie nur sehr wenig zu tun. Wenn ich schreibe, fühle ich mich nicht als Handwerker, der von früheren Handwerkern beeinflusst wird, die wiederum selbst von früheren Handwerkern beeinflusst wurden. Vielmehr fühle ich mich als Mitglied einer einzigen, großen, virtuellen Gemeinschaft, in der ich dynamische Beziehungen zu anderen Mitgliedern dieser Gemeinschaft unterhalte, von denen die meisten nicht mehr leben. Wie in jeder anderen Gemeinschaft auch habe ich meine Freunde und meine Feinde. Ich begebe mich in jene Winkel der literarischen Welt, in denen ich mich am meisten zu Hause fühle, geborgen, aber auch auf höchst anregende Weise unter Freunden. Habe ich erst einmal genug Bücher gelesen, um zu wissen, wer diese Freunde sind — und da kommt für den jungen Schriftsteller der Prozess aktiver Auswahl ins Spiel, der Prozess der Entscheidung, von wem man «beeinflusst» wird — , vertrete ich unsere gemeinsamen Interessen. Mit dem, was ich schreibe und wie ich schreibe, kämpfe ich für meine Freunde und gegen meine Feinde. Ich will, dass mehr Leser die Herrlichkeit der Russen des 19. Jahrhunderts würdigen; es ist mir egal, ob sie James Joyce lieben; und mein Werk ist ein Feldzug gegen all das, was ich nicht mag: Sentimentalität, eine schwache Handlung, allzu lyrische Prosa, Solipsismus, Sichgehenlassen, Misogynie und andere Beschränktheiten, steriles Spielespielen, unverhohlene Belehrung, moralische Simplifizierung, unnötige Schwierigkeit, informationelle Fetische und so weiter. Tatsächlich ist viel von dem, was man «Einfluss» nennen könnte, eigentlich negativ: Ich will nicht wie dieser oder wie jener Schriftsteller sein.
Natürlich ist die Situation nie statisch. Zu lesen und zu schreiben ist eine Form aktiven sozialen Engagements, des Gesprächs und des Wettstreits. Es ist eine Form des Seins und Werdens. Irgendwie gibt es, im rechten Moment, wenn ich mich besonders verloren und elend fühle, immer einen neuen Freund, den ich finden, einen alten Freund, von dem ich mich distanzieren, einen alten Feind, dem ich vergeben, einen neuen Feind, den ich mir machen kann. Tatsächlich — und darüber werde ich später mehr sagen — ist es mir unmöglich, einen neuen Roman zu beginnen, ohne vorher neue Freunde und Feinde gefunden zu haben. Um Die Korrekturen schreiben zu können, habe ich Freundschaft mit Kenzaburō Ōe, Paula Fox, Halldór Laxness und Jane Smiley geschlossen. Für Freiheit fand ich neue Verbündete in Stendhal, Tolstoi und Alice Munro. Eine Zeitlang war Philip Roth mein neuer erbitterter Feind, aber vor nicht allzu langer Zeit ist auch er, unerwartet, zum Freund geworden. Ich ziehe nach wie vor gegen Amerikanisches Idyll zu Felde, aber als ich schließlich Sabbaths Theater las, wurden die Furchtlosigkeit und Wildheit dieses Buchs mir zur Inspiration. Ich war so dankbar wie schon lange keinem Schriftsteller mehr, als ich jene Szene in Sabbaths Theater las, in der Mickey Sabbath von seinem besten Freund in der Badewanne erwischt wird, in der Hand ein Foto der halbwüchsigen Tochter jenes Freundes und eine ihrer Unterhosen. Oder die Szene, in der Sabbath einen Kaffeepappbecher in der Tasche seiner Armeejacke findet und beschließt, sich zu erniedrigen, indem er in der U-Bahn um Geld bettelt. Mag sein, dass Roth mich nicht zum Freund haben möchte, aber ich war, in diesen Momenten, froh, ihn meinen Freund zu nennen. Ich bin froh, die wüste Komik von Sabbaths Theater als Korrektiv und Tadel gegen die Sentimentalität bestimmter junger amerikanischer Autoren und nicht ganz so junger Kritiker zu halten, die, Kafka zum Trotz, zu glauben scheinen, in der Literatur ginge es darum, nett zu sein.
Die zweite immer wiederkehrende Frage lautet: Zu welcher Tageszeit schreiben Sie, und womit?
Den Menschen, die diese Frage stellen, muss sie wie die sicherste und höflichste vorkommen. Ich habe den Verdacht, dass es die Frage ist, die man einem Autor stellt, wenn einem sonst keine einfällt. Und doch ist sie für mich die auf verstörende Weise persönlichste und zudringlichste aller Fragen. Sie zwingt mich, mir vor Augen zu führen, wie ich mich jeden Morgen um acht Uhr an den Computer setze: einen objektiven Blick auf den Menschen zu werfen, der, wenn er sich morgens an den Computer setzt, nichts weiter als reine, unsichtbare Subjektivität sein möchte. Wenn ich arbeite, will ich niemanden sonst im Raum haben, nicht einmal mich selbst.
Frage Nr. 3 lautet: Ich habe ein Interview mit einem Schriftsteller gelesen, der sagt, dass beim Schreiben ab einem bestimmten Punkt die Figuren «übernehmen» und ihm sagen, was zu tun ist. Geht Ihnen das auch so?
Diese Frage treibt meinen Blutdruck in die Höhe. Keiner hat sie besser beantwortet als Nabokov in seinem Interview mit der Paris Review. Da macht er E. M. Forster als den Ursprung des Mythos von den «übernehmenden» Romanfiguren aus und behauptet, er, Nabokov, behandele seine eigenen Figuren wie «Galeerensklaven», im Gegensatz zu Forster, der die seinen auf ihrer Reise nach Indien davonsegeln lasse. Offenkundig trieb diese Frage auch Nabokovs Blutdruck in die Höhe.
Wenn ein Schriftsteller eine solche Behauptung aufstellt wie die von Forster, liegt er bestenfalls einfach falsch. Häufiger jedoch rieche ich, leider, einen Hauch von Selbstüberhöhung, so als wollte er versuchen, seine Arbeit gegen das mechanistische Stricken von Genreromanen abzuheben. Der Autor möchte uns glauben machen, dass er, anders als diese Schmierfinken, die von vornherein wissen, wie ihre Bücher ausgehen, eine so blühende Phantasie hat und dass seine Figuren so echt und lebendig sind, dass er sie nicht kontrollieren kann. Wie gesagt, das ist bestenfalls nicht wahr, setzt diese Vorstellung doch einen Verlust auktorialen Willens voraus, einen Absichtsverzicht. Die primäre Aufgabe eines Romanschriftstellers aber ist es, Bedeutung hervorzubringen, und könnte man diese Aufgabe irgendwie seinen Figuren überlassen, würde man ihr zwangsläufig aus dem Weg gehen.
Doch nehmen wir aus reiner Nächstenliebe einmal an, dass der Schriftsteller, der ein Diener seiner Figuren zu sein behauptet, sich nicht bloß schmeicheln will. Was genau könnte er meinen? Wahrscheinlich meint er, dass eine Figur, ist sie erst einmal so weit ausgearbeitet, ein kohärentes Ganzes zu bilden, eine Art Unausweichlichkeit in Gang setzt. Er meint, konkret, dass oftmals die Geschichte, die er einer Figur ursprünglich zugedacht hat, sich aus den Charakterzügen, die er für sie zu zeichnen in der Lage war, einfach nicht ergibt. Theoretisch kann ich mir einen Charakter, den ich zum Mörder seiner Freundin machen will, vorstellen, muss dann aber möglicherweise, beim eigentlichen Schreiben, feststellen, dass eben der Charakter, den ich auf dem Papier zum Funktionieren bringen kann, zu viel Empathie oder Reflexionsvermögen hat, um zum Mörder zu werden. Der entscheidende Ausdruck in diesem Zusammenhang ist «auf dem Papier funktionieren». Man kann sich theoretisch alles Beliebige vorstellen und vornehmen. Aber ein Schriftsteller ist immer eingeschränkt durch das, was er oder sie wirklich «zum Funktionieren bringen» kann: sodass es plausibel, lesenswert, sympathisch, unterhaltsam, schlüssig und, mehr als alles andere, unverwechselbar und originell ist. Flannery O’Connor meinte, ein Schriftsteller tut alles, was geht und womit er ungeschoren davonkommt — «und das ist noch für keinen viel gewesen». Hat man erst einmal die bloße Planung des Buchs hinter sich gelassen und mit dem eigentlichen Schreiben begonnen, schrumpft das Universum denkbarer menschlicher Typen und Verhaltensweisen radikal zusammen auf den Mikrokosmos jener menschlichen Möglichkeiten, die man selber in sich trägt. Eine Figur stirbt auf dem Papier, wenn man ihre Stimme nicht hört. Das läuft, schätze ich, in sehr eingeschränktem Sinn hinaus auf «die Figur übernimmt», oder «sie sagt dir, was sie tun wird und was nicht». Doch wenn eine Figur etwas nicht tun kann, dann, weil man selbst nicht dazu in der Lage ist. Die Aufgabe besteht eben darin, herauszufinden, was die Figur kann — die Erzählung so weit wie möglich zu treiben und auch sicher keine der aufregenden Möglichkeiten, die in einem selber stecken, zu übersehen, während man die Erzählung immer weiter in Richtung eines Sinns dehnt.
Was mich zur immer wiederkehrenden Frage Nr. 4 bringt: Ist Ihre Literatur autobiographisch?
Jeder Romanschriftsteller, der diese Frage aufrichtig mit nein beantworten würde, ist mir suspekt, und doch bin ich, wenn man sie mir stellt, selbst in großer Versuchung, nein zu sagen. Von den vier wiederkehrenden Fragen wirkt diese auf mich am feindseligsten. Vielleicht ist diese Feindseligkeit eine bloße Projektion von mir, aber ich habe das Gefühl, meine Vorstellungskraft würde in Frage gestellt. So wie: «Handelt es sich wirklich um Literatur oder nur um einen oberflächlich getarnten Erfahrungsbericht? Und weil einem im Leben ja nur so und so viel passieren kann, haben Sie Ihr autobiographisches Material bestimmt bald aufgebraucht — falls Sie es in Wahrheit nicht längst aufgebraucht haben! — , und deshalb schreiben Sie auch keine guten Bücher mehr, stimmt’s? Überhaupt, wenn Ihre Bücher bloß oberflächlich getarnte Autobiographie sind, vielleicht waren Sie dann gar nicht so interessant, wie wir gedacht haben? Denn was macht Ihr Leben letztlich so schrecklich viel interessanter als das irgendeines anderen? Ihr Leben ist nicht so interessant wie das von Barack Obama, oder? Und außerdem, wenn Ihr Werk autobiographisch ist, warum waren Sie dann nicht gleich so ehrlich und haben einen sachlichen Lebensbericht geschrieben? Warum es in Lügen kleiden? Was sind Sie für ein schlechter Mensch, dass Sie uns Lügengeschichten erzählen, um Ihr Leben interessanter und aufregender aussehen zu lassen?» Ich höre all diese anderen Fragen in der einen Frage, und binnen kürzester Zeit wirkt das bloße Wort autobiographisch beschämend auf mich.
Ich selbst verstehe unter einem autobiographischen Roman strikt einen, in dem die Hauptfigur dem Autor stark ähnelt und die beschriebenen Geschehnisse denen des Autors im wirklichen Leben gleichen. Mein Eindruck ist, dass In einem andern Land, Im Westen nichts Neues, Villette, Die Abenteuer des Augie March und Der Mann, der seine Kinder liebte — allesamt Meisterwerke — in dieser Hinsicht substanziell autobiographisch sind. Die meisten Romane jedoch sind es, interessanterweise, nicht. Meine eigenen Romane sind es nicht. In dreißig Jahren habe ich vermutlich nicht mehr als zwanzig oder dreißig Seiten mit Szenen veröffentlicht, die auf Ereignisse im wirklichen Leben zurückgingen, an denen ich beteiligt war. Ich habe versucht, sehr viel mehr als diese zu schreiben, aber autobiographische Szenen funktionieren in einem Roman offenbar nur selten. Sie sind mir peinlich, oder sie kommen mir nicht interessant genug vor, oder, was am häufigsten zutrifft, sie sind für die Geschichte, die ich zu erzählen versuche, nicht wirklich relevant. In den Korrekturen gibt es gegen Ende eine Szene, in der Denise Lambert — die mir insofern ähnelt, als sie das jüngste Kind einer fünfköpfigen Familie ist — ihrem dementen Vater ein paar einfache Dehnübungen beizubringen versucht und sich dann damit befassen muss, dass er ins Bett gemacht hat. Das ist mir wirklich passiert, und ein paar der Details habe ich unmittelbar übernommen. Auch einige der Erfahrungen, die Chip Lambert mit seinem Vater im Krankenhaus macht, sind meine. Und ich habe einen schmalen Band mit Erinnerungen geschrieben, Die Unruhezone, der fast ausschließlich Szenen aus erster Hand enthält. Doch das war kein Roman, und also sollte ich die immer wiederkehrende Autobiographie-Frage mit einem schallenden, ungenierten NEIN beantworten können. Oder doch wenigstens, wie es meine Kollegin Elisabeth Robinson tut, mit einem «Ja, zu siebzehn Prozent. Nächste Frage, bitte».
Das Problem ist, dass meine Literatur in einem anderen Sinn extrem autobiographisch ist und ich es sogar für meine Aufgabe als Schriftsteller halte, sie fortwährend autobiographischer werden zu lassen. Meiner Auffassung nach soll der Roman ein persönliches Ringen sein, eine direkte und kompromisslose Auseinandersetzung mit der Geschichte, die der Autor über sein Leben erzählt. Diese Auffassung übernehme ich, wiederum, von Kafka, der, obwohl er nie in ein Insekt verwandelt wurde und nie ein Lebensmittel (ein Apfel vom Tisch seiner Familie!) in seinem Fleisch stecken blieb und dort verrottete, sein ganzes Schriftstellerleben darauf verwendet hat, sein persönliches Ringen mit seiner Familie, mit Frauen, mit dem Sittengesetz, mit seinem jüdischen Erbe, mit seinem Unbewussten, mit seinen Schuldgefühlen und mit der modernen Welt zu beschreiben. Kafkas Werk, das aus der nächtlichen Traumwelt in Kafkas Hirn erwächst, ist autobiographischer, als jede realistische Nacherzählung seiner Erfahrungen bei Tag, im Büro, bei seiner Familie oder einer Prostituierten je hätte sein können. Denn was schließlich ist Literatur, wenn nicht eine Art absichtsvolles Träumen? Der Schriftsteller arbeitet an der Erschaffung eines Traums, der lebendig ist und eine Bedeutung hat, damit der Leser ihn lebhaft träumen kann und eine Bedeutung erfährt. Und ein Werk wie Kafkas, das dem Traum unmittelbar zu entspringen scheint, ist deshalb eine außergewöhnlich reine Form von Autobiographie. Hier liegt ein wichtiges Paradox, das ich hervorheben möchte: Je größer der autobiographische Gehalt im Werk eines Schriftstellers, desto geringer die oberflächliche Ähnlichkeit mit seinem eigentlichen Leben. Je tiefer der Schriftsteller nach Bedeutung gräbt, desto mehr werden die zufälligen Einzelheiten seines Lebens zu Hemmnissen seines absichtsvollen Träumens.
Und aus ebendiesem Grund ist es fast niemals einfach, gute Literatur zu schreiben. In dem Moment, wo einem Schriftsteller die Literatur leichtzufallen scheint — und hier soll jeder und jede eigene Beispiele beibringen — , ist in der Regel der Moment, wo es sich nicht länger lohnt, diesen Schriftsteller zu lesen. Eine Binsenwahrheit, wenigstens in den Vereinigten Staaten, besagt, dass jeder Mensch einen Roman in sich trägt. Mit anderen Worten, einen autobiographischen Roman. Für Menschen, die mehr als einen Roman schreiben, lässt sich diese Binsenwahrheit wahrscheinlich abändern zu: Jeder Mensch trägt einen leicht zu schreibenden Roman in sich, eine bedeutsame, vorgefertigte Erzählung. Offenkundig spreche ich hier nicht über Unterhaltungsschriftsteller, nicht über P. G. Wodehouse oder Elmore Leonard, deren Bücher sich jeweils ähneln, was die Freude an ihnen nicht mindert — tatsächlich lesen wir sie ja wegen der verlässlichen Behaglichkeit ihrer vertrauten Welten. Ich spreche von komplizierteren Werken, und es ist eines meiner Vorurteile, dass Literatur keine bloße Darbietung sein kann: Dass es, wenn der Autor kein Risiko eingeht — wenn das Buch nicht für den Autor selbst, in gewisser Hinsicht, eine Expedition ins Unbekannte war; wenn er sich nicht selbst eine schwierige Aufgabe gestellt hat; wenn das fertige Buch nicht die Überwindung eines großen Widerstands ist — , dann das Lesen nicht lohnt. Und, was den Autor betrifft, meiner Meinung nach auch nicht das Schreiben.
Das scheint mir in einer Zeit, in der es so viele andere spaßige und preiswerte Dinge gibt, die ein Leser machen kann, statt zu einem Roman zu greifen, umso wahrer. Als Schriftsteller ist man es seinen Lesern heute schuldig, sich die schwierigste Aufgabe zu stellen, der noch gerecht werden zu können man wenigstens hoffen darf. Mit jedem Buch muss man so tief wie möglich graben und so weit wie möglich ausholen. Und wenn man das tut, und es gelingt einem ein halbwegs gutes Buch, dann heißt das, beim nächsten Buch noch tiefer graben und noch weiter ausholen zu müssen, weil es die Mühe sonst wiederum nicht lohnt. Was praktisch heißt, dass man, um das nächste Buch zu schreiben, ein anderer Mensch werden muss. Der Mensch, der man bereits geworden ist, hat das beste Buch, das er schreiben konnte, ja bereits geschrieben. Ohne sich zu ändern, kommt man nicht voran. Ohne, mit anderen Worten, an der Geschichte des eigenen Lebens zu arbeiten. Was bedeutet: an der eigenen Autobiographie.
Meine übrigen Bemerkungen möchte ich der Vorstellung widmen, dass es nötig ist, zu dem Menschen zu werden, der das Buch schreiben kann, das man schreiben muss. Ich weiß, dass ich, indem ich von meiner Arbeit und der Entwicklung vom Scheitern zum Erfolg erzähle, riskiere, so zu wirken, als wollte ich mir selbst auf die Schulter klopfen und wäre übermäßig von mir eingenommen. Nicht dass es weiter verwunderlich oder verurteilenswert ist, wenn ein Schriftsteller stolz auf seine besten Arbeiten ist und viel Zeit damit verbringt, über sein Leben nachzudenken. Aber muss er auch noch darüber reden? Lange Zeit hätte ich darauf mit Nein geantwortet, und dass ich jetzt mit Ja antworte, könnte durchaus etwas Schlechtes über meinen Charakter verraten. Aber ich werde so oder so über Die Korrekturen sprechen und einige der Schwierigkeiten schildern, die ich überwinden musste, um ihr Autor zu werden. Ich möchte vorausschicken, dass viele dieser Schwierigkeiten für mich — wie es, glaube ich, für alle Schriftsteller gilt, die sich ganz dem Problem des Romans verschreiben — darin bestanden, Scham, Schuld und Depression zu überwinden. Ich möchte außerdem vorausschicken, dass bei dieser Schilderung neuerliche Wellen der Scham über mich hereinbrechen werden.
In den frühen Neunzigern bestand meine vordringlichste Aufgabe darin, von meiner Ehe loszukommen. Das Eheversprechen zu brechen und die Gefühlsbande der Loyalität zu zerreißen fällt wohl niemandem jemals leicht, und in meinem Fall war es insofern besonders kompliziert, als ich jemanden geheiratet hatte, der ebenfalls schrieb. Ich war mir vage bewusst, dass wir zu jung und unerfahren waren, um uns lebenslange Monogamie zu schwören, aber mein literarischer Ehrgeiz und mein romantischer Idealismus trugen den Sieg davon. Wir heirateten im Herbst 1982, ich war gerade dreiundzwanzig geworden, und wir machten uns daran, als Team literarische Meisterwerke zu schaffen. Unser Plan war, ein Leben lang Seite an Seite zu arbeiten. Ein Plan B schien nicht notwendig, denn meine Frau war eine talentierte und weltgewandte New Yorkerin, die dazu bestimmt schien, Erfolg zu haben, und zwar wahrscheinlich lange vor mir, und ich wusste, dass ich für mich selber immer würde sorgen können. Und so schrieben wir beide Romane und waren beide überrascht und enttäuscht, als meine Frau ihren nicht verkaufen konnte. Als ich dann meinen verkaufte, im Herbst 1987, war ich gleichzeitig elektrisiert und sehr, sehr schuldbewusst.
Es blieb uns nichts anderes übrig als wegzulaufen, in diverse Städte und Metropolen auf zwei Kontinenten. Irgendwie gelang es mir trotz all des Weglaufens, einen zweiten Roman zu schreiben und zu veröffentlichen. Die Tatsache, dass ich ein klein wenig Erfolg hatte, während meine Frau noch mit ihrem zweiten Roman kämpfte, schrieb ich der allgemeinen Ungerechtigkeit und Unfairness der Welt zu. Schließlich waren wir ein Team — wir gegen die Welt — , und meine Aufgabe als Ehemann bestand darin, an meine Frau zu glauben. Und so war ich, statt mich an meinen eigenen Erfolgen zu freuen, bitterböse auf die Welt. Mein zweiter Roman, Schweres Beben, war der Versuch zu schildern, wie es sich anfühlte, so zu zweit in dieser bitteren Welt zu leben. Wenn ich zurückschaue, kann ich, obwohl ich immer noch stolz auf diesen Roman bin, erkennen, wie sein Ende von meinem ehelichen Wunschdenken deformiert wurde: von meiner Loyalität. Und dass meine Frau es nicht genauso sah, verschlimmerte meine Schuldgefühle nur. Unvergesslich, wie sie einmal behauptete, ich hätte ihre Seele bestohlen, um ihn zu schreiben. Außerdem wollte sie nicht ganz grundlos von mir wissen, warum meine weiblichen Figuren eigentlich ständig umgebracht oder durch Schusswaffen schwer verletzt würden.
Das Jahr 1993 war das schlimmste meines Lebens. Mein Vater lag im Sterben, meiner Frau und mir war das Geld ausgegangen, und beide wurden wir immer deprimierter. In der Hoffnung auf ein bisschen leichtverdientes Geld schrieb ich ein Drehbuch über ein junges, uns beiden sehr ähnliches Paar, das sich gemeinsam auf Einbrüche verlegt, sich beinahe in Affären stürzt, am Ende aber im Triumph ewiger Liebe glückselig vereint ist. An diesem Punkt konnte sogar ich erkennen, dass meine Arbeit von meiner ehelichen Treue deformiert wurde. Doch das hinderte mich nicht daran, einen neuen Roman zu entwerfen, Die Korrekturen, in dem ein junger Mann aus dem Mittleren Westen für zwanzig Jahre ins Gefängnis kommt — für einen Mord, den seine Frau begangen hat.
Zum Glück griff, bevor meine Frau und ich uns oder jemand anderen umbrachten, die Wirklichkeit ein. Diese Wirklichkeit hatte unterschiedliche Gesichter. Eines davon war unser nicht länger zu leugnendes Unvermögen zusammenzuleben. Ein anderes war eine Handvoll enger literarischer Freundschaften, die ich schließlich außerhalb meiner Ehe geschlossen hatte. Ein drittes, das wichtigste von allen, war, dass wir dringend Geld brauchten. Da Hollywood an einem Drehbuch, das nach persönlichen Problemen stank (und eine fatale Ähnlichkeit mit Das Geld liegt auf der Straße aufwies), offenbar nicht interessiert war, sah ich mich gezwungen, journalistisch zu arbeiten, und es dauerte nicht lange, bis mich die New York Times mit einem Artikel über den prekären Zustand der amerikanischen Literatur beauftragte. Während ich dafür recherchierte, lernte ich einige meiner alten Helden kennen, darunter Don DeLillo, und mir wurde bewusst, dass ich nicht nur zum Zweier-Team, bestehend aus mir und meiner Frau, gehörte, sondern zu einer viel größeren und immer noch lebendigen Gemeinschaft von Lesern und Schriftstellern. Der ich, das war meine entscheidende Erkenntnis, ebenfalls verpflichtet war und Treue schuldete.
Sobald das hermetische Siegel auf meiner Ehe erst gebrochen war, fiel alles schnell auseinander. Ende 1994 hatten wir beide unsere eigenen Apartments in New York und führten endlich das Single-Leben, das wir wahrscheinlich in unseren Zwanzigern hätten führen sollen. Das hätte Spaß machen und befreiend wirken sollen, aber ich hatte immer noch schauerliche Schuldgefühle. Loyalität, insbesondere der Familie gegenüber, ist für mich ein grundlegender Wert. Treue bis zum Tod hat meinem Leben schon immer Sinn verliehen. Ich vermute, dass Menschen, die weniger von Loyalitätsgefühlen belastet sind, das Schreiben leichter fällt, andererseits haben alle ernstzunehmenden Schriftsteller zu einer bestimmten Zeit in ihrem Leben mehr oder minder mit den widerstreitenden Bedürfnissen von guter Kunst und gutem Betragen gerungen. Solange ich verheiratet gewesen war, hatte ich diesen Konflikt zu meiden gesucht, indem ich technisch antiautobiographisch blieb und Plots konstruierte, die sich zwanghaft mit intellektuellen und sozialen Fragen beschäftigten — in meinen ersten beiden Romanen findet sich keine einzige nach dem Leben gezeichnete Szene.
Als ich Mitte der Neunziger zu den Korrekturen zurückkehrte, arbeitete ich nach wie vor mit einem absurd verkomplizierten Plot, den ich entwickelt hatte, als ich noch versuchte, innerhalb der sicheren Grenzen ehelicher Loyalität zu arbeiten. Ich hatte viele Gründe, einen großen Gesellschaftsroman schreiben zu wollen, der wichtigste aber war vermutlich mein Wunsch, ganz Intellekt, ganz weltliche Expertise zu sein, um die schmutzige Angelegenheit meines Privatlebens zu meiden. Ich hielt noch ein oder zwei Jahre fest am Versuch, diesen großen Gesellschaftsroman zu schreiben, aber schließlich machte der kaum noch zu leugnende falsche Ton offensichtlich, dass ich ein anderer Schriftsteller werden musste, um einen anderen Roman schreiben zu können. Mit anderen Worten, ich musste ein anderer Mensch werden.
Zuerst dran glauben musste die Hauptfigur des Romans. Ein Mann Mitte dreißig namens Andy Aberant. Er hatte von Anfang an, als ich mir vorgestellt hatte, dass er für einen Mord, den seine Frau begangen hatte, im Gefängnis saß, zum Inventar des Romans gehört, hatte seitdem zahllose Metamorphosen durchlaufen und war schließlich als Anwalt der US-Regierung geendet, der gegen Insidergeschäfte mit Aktien ermittelt. Ich hatte in der dritten Person über ihn geschrieben und dann, umfänglich und völlig erfolglos, in der ersten. Dabei hatte ich mir öfter mal längere und vergnügliche Ferien von Andy Aberant gegönnt, um über zwei andere Figuren zu schreiben, Enid und Alfred Lambert, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und einige Ähnlichkeit mit meinen Eltern hatten. Die Kapitel über sie waren schnell und — im Vergleich mit meinen qualvollen Versuchen, über Andy Aberant zu schreiben — mühelos aus mir herausgeflossen. Da Andy nicht der Sohn der Lamberts war und aus komplizierten Plot-Gründen nicht ihr Sohn sein konnte, war ich nun damit beschäftigt, noch kompliziertere Wege zu erfinden, um seine Geschichte mit ihrer zu verknüpfen.
Auch wenn mir jetzt klar ist, dass Andy einfach nicht in das Buch gehörte, war es mir damals doch alles andere als klar. Ich hatte ein paar wirklich schlimme Ehejahre damit verbracht, es zu einer intimen und enzyklopädischen Kenntnis von Depression und Schuld zu bringen, und da Andy Aberant durch seine Depression und Schuld definiert war (insbesondere in Bezug auf Frauen und ganz besonders in Bezug auf deren biologische Uhr), schien es undenkbar, mir mein hart erarbeitetes Wissen nicht zunutze zu machen und ihn nicht im Buch zu lassen. Das einzige Problem war — wie ich in meinen Roman-Notizen wieder und wieder schrieb — , dass ihm der Humor fehlte. Er war verstörend und verklemmt und abseitig und deprimierend. Sieben Monate lang versuchte ich beinahe jeden Tag, ein paar Andy-Seiten zu schreiben, die mir gefielen. Dann rang ich, in meinen Notizen, zwei weitere Monate darum, ob ich ihn nun abservieren sollte oder nicht. Was genau ich in all diesen Monaten dachte und fühlte, erschließt sich mir heute so wenig wie das Elend einer Grippe, nachdem man sich von ihr erholt hat. Ich weiß nur, dass ich ihn schließlich losließ, weil ich (1) völlig erschöpft war, (2) meine Depression generell abklang und (3) die Schuldgefühle gegenüber meiner Frau plötzlich nachließen. Ein gehörig schlechtes Gewissen hatte ich immer noch, doch hatte ich genug Abstand gewonnen, um erkennen zu können, dass ich nicht an allem schuld war. Außerdem hatte ich mich kürzlich in eine Frau verliebt, die ein kleines bisschen älter war als ich, weshalb ich mir, so lächerlich es klingen mag, meiner Frau gegenüber weniger schurkisch vorkam, weil ich sie in ihren späten Dreißigern kinderlos verlassen hatte. Meine neue Freundin kam aus Kalifornien und verbrachte eine Woche bei mir in New York, und am Ende dieser extrem glücklichen Woche war ich bereit zu erkennen, dass für Andy Aberant im Buch kein Platz war. In meinen Notizen malte ich ihm einen kleinen Grabstein, den ich mit einem Grabspruch aus Faust II versah: «Den können wir erlösen.» Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich damals verstand, was ich damit meinte. Mittlerweile aber ergibt es einen Sinn.
Ohne Andy blieb ich allein mit den Lamberts und ihren drei erwachsenen Kindern zurück, die schon die ganze Zeit an den Rändern des Romans herumgespukt hatten. Ich überspringe, welche Kontraktionen und Subtraktionen er noch durchlaufen musste, um schreibbar zu werden, und erwähne nur zwei weitere Hindernisse, die ich zumindest teilweise überwinden musste, um zu dem Menschen zu werden, der die Geschichte schreiben konnte.
Das erste war die Scham. Mit Mitte dreißig schämte ich mich für so ziemlich alles, was ich in den fünfzehn vorangegangenen Jahren meines Lebens getan hatte. Ich schämte mich dafür, so jung geheiratet zu haben, schämte mich für meine Schuldgefühle, schämte mich für die Jahre moralischer Verwirrtheit auf dem Weg zur Scheidung, schämte mich für meine sexuelle Unerfahrenheit, schämte mich für die lange Zeit meiner gesellschaftlichen Isolation, schämte mich dafür, was für eine peinliche und engstirnige Mutter ich hatte, schämte mich, so ein Sensibelchen und schutzloser Mensch zu sein statt eines distanzierten, kontrollierten und intellektuellen Felsens in der Brandung wie DeLillo oder Pynchon, ich schämte mich dafür, ein Buch zu schreiben, das sich offenbar der Frage widmen wollte, ob eine peinliche Mutter aus dem Mittleren Westen noch ein letztes Weihnachtsfest daheim mit ihrer Familie zustande bekommt. Ich wollte einen Roman über die großen Fragen meiner Zeit schreiben, und stattdessen versank ich, wie Josef K., der sich zu seiner Bestürzung und Verwirrung mit seinem Prozess beschäftigen muss, während all seine Kollegen Karriere machen, in Scham über meine Unschuld.
Ein großer Teil dieser Scham konzentrierte sich in der Figur des Chip Lambert. Ich arbeitete ein ganzes Jahr, um seine Geschichte in Gang zu kriegen, und am Ende dieses Jahres hatte ich ungefähr dreißig brauchbare Seiten. In den letzten Tagen meiner Ehe hatte ich eine kurze Beziehung mit einer jungen Frau gehabt. Ich lernte sie kennen, als ich unterrichtete. Sie war keine Studentin und nie meine Studentin gewesen, und sie war viel reizender und geduldiger als das Mädchen, mit dem sich Chip Lambert einlässt. Aber die Beziehung war sehr unbehaglich und unbefriedigend, mittlerweile wand ich mich vor Scham, wenn ich an sie zurückdachte, und aus irgendeinem Grund war es nötig, sie in Chips Geschichte einzufügen. Das Problem war, dass Chip jedes Mal, wenn ich ihn in eine Situation wie die meine brachte, fürchterlich abstoßend auf mich wirkte. Um seine Lage plausibel und verständlich zu machen, versuchte ich wieder und wieder, eine Vorgeschichte für ihn zu erfinden, die einige Ähnlichkeiten mit meiner aufwies, aber ich konnte nicht aufhören, meine eigene Unbedarftheit zu hassen. Als ich versuchte, Chip weniger unschuldig, weltgewandter und sexuell erfahrener sein zu lassen, klang die Geschichte bloß unehrlicher und uninteressant. Ich wurde vom Geist Andy Aberants heimgesucht und auch von zwei frühen Romanen Ian McEwans, Unschuldige und Der Trost von Fremden, beide derart klebrig, dass ich, nachdem ich sie gelesen hatte, am liebsten unter die Dusche gesprungen wäre. Sie waren mein Musterbeispiel für das, was ich nicht schreiben wollte, aber offenbar zu schreiben nicht lassen konnte. Jedes Mal, wenn ich für ein paar Tage die Luft angehalten und einen neuen Stapel Chip-Seiten produziert hatte, hätte ich am liebsten geduscht. Die Seiten fingen ganz witzig an und gingen dann schnell in ein Eingeständnis von Scham über. Es schien einfach unmöglich, meine singuläre, bizarre Erfahrung in eine allgemeinere und verständnisvolle und unterhaltsame Erzählung zu übersetzen.
Vieles widerfuhr mir in dem Jahr, in dem ich mit Chip Lambert rang, aber zwei Dinge, die ich in diesem Jahr zu hören bekam, ragen ganz besonders heraus. Eines davon sagte meine Mutter, am letzten Nachmittag, den ich mit ihr verbrachte, als wir schon wussten, dass sie bald sterben würde. Ein Kapitel der Korrekturen war im New Yorker erschienen, und obwohl meine Mutter, was ich ihr hoch anrechne, entschieden hatte, es nicht zu lesen, während sie starb, beschloss ich, ihr ein paar Dinge zu gestehen, die ich immer vor ihr geheim gehalten hatte. Es waren keine furchtbar dunklen Geheimnisse — nur mein Versuch, zu erklären, warum ich nicht das Leben führte, das sie sich für mich gewünscht hatte. Ich wollte ihr versichern, dass ich, so seltsam mein Leben für sie auch aussehen musste, schon klarkommen würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Und wie im Fall der New Yorker-Geschichte wollte sie meist gar nicht so genau wissen, wie oft ich nachts aus dem Schlafzimmerfenster geklettert war und wie entschieden ich schon immer hatte Schriftsteller werden wollen, auch wenn ich etwas ganz anderes behauptet hatte. Doch spät am Nachmittag machte sie deutlich, sie hatte sehr wohl zugehört. Sie nickte und sagte wie in einer vagen Zusammenfassung: «Na ja, du bist ein Exzentriker.» Teils drückte das ihren Versuch aus, anzuerkennen und zu vergeben, wer ich war. Vor allem aber entsprach dieser Satz, vage und summarisch, wie er daherkam — und mit seinem fast schon abschätzigen Ton — , ihrer Art zu sagen, dass es für sie am Ende keine Rolle spielte, was für ein Mensch ich war. Dass mein Leben mir wichtiger war als ihr. Dass für sie jetzt ihr eigenes Leben, das gerade zu Ende ging, die größte Rolle spielte. Und das war das letzte ihrer Geschenke an mich: Die implizite Anweisung, mich nicht so sehr darum zu sorgen, was sie oder irgendjemand anders von mir denken könnte. Ich selbst zu sein, so wie sie, in ihrem Sterben, sie selbst war.
Der andere wirklich hilfreiche Kommentar kam ein paar Monate später von meinem Freund David Means, dem ich gestand, dass mich Chip Lamberts Sexualleben in den Wahnsinn treibe. David ist ein echter Künstler, und seine hellsichtigsten Kommentare sind meistens zugleich seine dunkelsten und rätselhaftesten. Zum Thema Scham sagte er zu mir: «Man schreibt nicht durch die Scham hindurch, man schreibt um sie herum.» Ich könnte Ihnen immer noch nicht erklären, was genau er mit diesen kontrastierenden Präpositionen meinte, doch mir war augenblicklich klar, dass jene beiden frühen McEwan-Romane Beispiele dafür waren, wie jemand durch die Scham hindurch schrieb, und dass meine Aufgabe mit Chip Lambert darin bestand, auf irgendeinem Weg die Scham in die Erzählung hineinzubringen, ohne von ihr überwältigt zu werden: Es musste mir gelingen, die Scham als Gegenstand zu isolieren und unter Quarantäne zu stellen, idealerweise als Gegenstand einer Komödie, statt sie jeden einzelnen Satz durchdringen und vergiften zu lassen. Von dort war es ein kleiner Schritt zu dem Einfall, dass Chip Lambert während des Techtelmechtels mit seiner Studentin ein illegales Medikament nimmt, dessen primäre Wirkung es ist, Scham zu unterdrücken. Kaum hatte ich diese Idee und konnte endlich anfangen, über die Scham zu lachen, schrieb ich den restlichen Chip-Teil in ein paar Wochen und den Rest des Romans innerhalb eines Jahres.
Das größte verbliebene Problem in diesem Jahr war die Loyalität. Es stellte sich mir besonders, als ich das Kapitel über Gary Lambert schrieb, der eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit mit meinem ältesten Bruder aufwies. Da gab es zum Beispiel Garys Projekt: ein Album mit seinen liebsten Familienfotos. Mein Bruder war auch mit einem solchen Projekt beschäftigt. Und weil mein Bruder das sensibelste und gefühlvollste Mitglied der Familie ist, wusste ich nicht, wie ich Details aus seinem Leben verwenden konnte, ohne ihn damit zu verletzen und unsere gute Beziehung zu gefährden. Ich fürchtete seinen Zorn, fühlte mich schuldig, weil ich über Dinge aus dem wirklichen Leben lachte, die er gar nicht komisch fand, kam mir illoyal vor, weil ich private Familienangelegenheiten in einer Erzählung öffentlich machte, und fand es rundum moralisch dubios, mir das Privatleben eines Nicht-Schriftstellers für meine professionellen Zwecke anzueignen. Aus all solchen Gründen hatte mir «autobiographische» Literatur in der Vergangenheit widerstrebt. Und doch waren diese Details zu bedeutsam, um sie nicht zu verwenden, und ich hatte ja vor meiner Familie auch nie verborgen, dass ich als Schriftsteller ihnen, egal was sie sagten, gut zuhörte. So drehte und wendete ich das Problem und diskutierte es schließlich mit einer klugen älteren Freundin. Zu meiner Überraschung wurde sie wütend auf mich und hielt mir meinen Narzissmus vor. Was sie sagte, ähnelte der Botschaft meiner Mutter an unserem letzten gemeinsamen Nachmittag. Sie sagte: «Glaubst du, das Leben deines Bruders dreht sich um dich? Glaubst du nicht, dass er ein eigenes erwachsenes Leben führt, voll von Themen, die wichtiger sind als du? Glaubst du, deine Macht ist so groß, dass etwas, was du in einem Roman schreibst, ihm schaden kann?»
Alle Loyalität, ob im Schreiben oder anderswo, ist erst dann bedeutsam, wenn sie auf die Probe gestellt wird. Sich selbst als Schriftsteller treu zu sein ist am schwersten, wenn man gerade erst angefangen hat — wenn einem das Schriftstellerdasein noch nicht genug öffentliche Reaktion eingetragen hat, um die eigene Loyalität ihm gegenüber zu rechtfertigen. Der Wert eines guten Verhältnisses zu Freunden und Familie ist offensichtlich und konkret; der Wert, über sie zu schreiben, ist immer noch größtenteils spekulativ. Es kommt jedoch ein Punkt, an dem sich die Werte angleichen. Und dann lautet die Frage: Will ich es riskieren, einen Menschen, den ich liebe, zu verlieren, um weiter der Schriftsteller werden zu können, der ich sein muss? Lange Zeit, während meiner Ehe, war meine Antwort darauf: nein. Selbst heute gibt es Beziehungen, die für mich so wichtig sind, dass es mir eher Schmerzen bereitet, um sie herum statt durch sie hindurch zu schreiben. Doch ich habe gelernt, im Risiko autobiographischen Schreibens eine Chance zu sehen, nicht nur für das Schreiben, sondern auch für die Beziehungen: Man kann nämlich seinem Bruder oder seiner Mutter oder seinem besten Freund tatsächlich einen Gefallen erweisen, indem man ihnen die Gelegenheit gibt, sich der Tatsache, dass über sie geschrieben wird, gewachsen zu zeigen — weil man darauf vertraut, dass sie einen als Ganzen lieben, den Schriftsteller-Teil eingeschlossen. Was, wie sich herausstellt, zählt, ist, dass man so wahrhaftig wie möglich schreibt. Wenn man den Menschen, über dessen Stoff man schreibt, wirklich liebt, muss das Schreiben diese Liebe widerspiegeln. Das Risiko, dass dieser Mensch die Liebe nicht erkennen kann und dass die Beziehung darunter leiden wird, bleibt bestehen, doch hat man getan, was alle Schriftsteller ab einem gewissen Punkt schließlich tun müssen, nämlich sich selbst treu sein.
Glücklicherweise kann ich, um zum Schluss zu kommen, berichten, dass mein Bruder und ich uns besser verstehen als je zuvor. Bevor ich ihm ein Leseexemplar der Korrekturen schickte, habe ich ihn am Telefon vorgewarnt, er würde das Buch vielleicht hassen, vielleicht sogar mich hassen. Seine Antwort, für die ich ihm immer dankbar sein werde, war: «Hass ist keine Option.» Als ich das nächste Mal von ihm hörte, er hatte das Buch inzwischen gelesen, begrüßte er mich mit den Worten: «Hallo, Jon. Hier ist dein Bruder — Gary.» Wenn er sich heute mit Freunden über das Buch unterhält, macht er kein Geheimnis aus der Ähnlichkeit. Er hat sein eigenes Leben, seine eigenen Prüfungen und Erfüllungen, und einen Bruder zu haben, der Schriftsteller ist, ist nur ein Teil seiner eigenen Geschichte. Wir lieben einander sehr.
(Übersetzt von Wieland Freund)