3. WELPENALARM

EINS

Unfassbar! Es ist einfach unfassbar! Irgendetwas muss?ber Nacht mit meinem Frauchen Carolin passiert sein, und jetzt hat sie offensichtlich eine Nase, die der eines alten K?nigspudels gleicht. Um hier Missverst?ndnissen vorzubeugen: Damit meine ich nicht etwa gross, feucht und eingerahmt von leicht ergrautem, lockigem Fell. Nein, sondern vielmehr mit dem Geruchssinn eines in die Jahre gekommenen Begleithundes ausgestattet. Also f?r einen Menschen geradezu sensationell gut.

Wie ich darauf komme? Ganz einfach: Vor etwa zehn Minuten habe ich es mir auf dem neuen Sofa im Wohnzimmer so richtig gem?tlich gemacht. Die Gelegenheit war g?nstig, denn weit und breit war kein Mensch zu sehen, der es mir h?tte verbieten k?nnen. Frauchens Freund Marc war schon morgens in seine Tierarztpraxis im Erdgeschoss verschwunden, sein T?chterchen Luisa in der Schule und Carolin selbst in ihrer Geigenbauwerkstatt auf der anderen Seite des Parks. Dachte ich jedenfalls.

Auf dem alten Sofa durfte ich immer ohne weiteres Platz nehmen, aber seitdem das neue die sonnigste Ecke des Wohnzimmers ziert, ist mein Leben deutlich unkomfortabler geworden. Am Tag seiner Lieferung stellte Marc n?mlich eine neue, sehr spiessige Regel auf: Hunde geh?ren ins K?rbchen, auf den Teppich oder vor die Couch, keinesfalls aberauf Letztere. Begr?ndet wurde das mit meinen Haaren und dem

sch?nen, flauschigen Wollbezug der Neuerwerbung. Was nat?rlich totaler Bl?dsinn ist, denn das Sofa ist dunkelgrau und damit ziemlich genau meine Haarfarbe. Schliesslich bin ich ein Rauhaardackel, jedenfalls fast. Selbst wenn ich also haaren w?rde – was ich selbstverst?ndlich nicht tue –, w?rde es nicht weiter auffallen.

Gut, Regeln sind, was man selbst daraus macht – und so liege ich nun eben ab und zu heimlich auf dem Sofa und geniesse die Sonne und das kuschelige Gef?hl an meinem Bauch. Bis jetzt hat es noch niemand von meinen drei menschlichen Mitbewohnern bemerkt – so viel zum Themast?rende Haare.

Auch in diesem Moment fl?ze ich mich auf meinem neuen Lieblingsplatz und freue mich ?ber die Ruhe in der Wohnung. Eigentlich bin ich als Rudeltier nicht besonders gern allein, aber wenn es denn schon sein muss, dann bitte auf diesem Fleckchen. Hier f?hlt sich selbst die Wintersonne, die um diese Tageszeit genau ins Fenster scheint, ganz warm und sommerlich an. Herrlich!

Ein Schl?ssel wird im Haust?rschloss gedreht. Mist! Ich springe schleunigst auf den Teppich, entferne mich weit genug vom Corpus Delicti und setze eine m?glichst unschuldige Miene auf. Carolin streckt den Kopf durch die T?r.

»Hallo Herkules, ich bin wieder zur?ck. Muss mich mal ein bisschen hinlegen. Irgendwie ist mir heute flau. Vielleicht zu viele Schokoweihnachtsm?nner zum Fr?hst?ck.«

Sie z?gert kurz, dann geht sie in meine Richtung.

»Ach, ich komm zu dir ins Wohnzimmer. Ein wenig Gesellschaft ist vielleicht nicht schlecht.«

Sie nimmt auf dem Sofa Platz, dann legt sie sich mit dem Kopf auf eben jene Stelle, auf der auch ich gerade ein Nickerchen machen wollte. Normalerweise?berhaupt kein Problem. Die Nase eines Menschen reagiert auf Duftmarken schliesslich

so empfindlich wie ein dickfelliger Berner Sennenhund auf die Temperaturen beim ersten Schneefall des Winters. Ich bin also ganz entspannt.

Kaum liegt Carolin jedoch, rappelt sie sich schon wieder auf.

»Sag mal, Herkules, du b?ser Hund – hast du etwa auf dem sch?nen neuen Sofa gelegen?«

Ich bin v?llig verdutzt. Wie hat sie das gemerkt? Sollte ich etwa doch haaren?

»Du brauchst gar nicht so unschuldig zu gucken! Das ganze Sofa riecht nach dir. Also ehrlich – es stinkt regelrecht nach Hund! Igitt!«

Bitte? Sie hat es gerochen? Das KANN gar nicht sein. Denn ich habe maximal f?nf Minuten dort gelegen, und nass war ich auch nicht. F?r einen Menschen ist das genau so, als w?re ich niemals da gewesen. Ich bin – ich erw?hnte es bereits – also fassungslos. Und, nebenbei bemerkt, was heisst hier eigentlichstinkt nach Hund? Ich bin mir sicher, dass ich sehr angenehm dufte. Carolin sollte sich lieber mal klarmachen, dass das W?sserchen aus dem kleinen Glasfl?schchen, das sie selbst h?ufig benutzt, geradezu penetrant stinkt.

»Tja, mein Lieber, da staunst du, was? Ich habe dich erwischt. Du hast hier gelegen, hundert Prozent. Das rieche ich drei Meilen gegen den Wind. Und du weisst genau, dass wir dir das verboten haben. Also sei froh, dass ich dich erwischt habe und nicht Marc. Bei diesem sauteuren Designerst?ck kennt Herrchen keinen Spass.«

Okay, sie hat es offenbar tats?chlich erschnuppert. Ich richte mich zu voller Gr?sse auf und starre Carolin an. Sieht sie irgendwie anders aus? Irgendetwas, das ihren pl?tzlich sensationellen Geruchssinn erkl?ren k?nnte? Nein, alles v?llig normal und wie immer: Carolin hat ihre blonden langen

Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, die hellen Augen strahlen, und ihre Nase ist kein St?ck gr?sser geworden. Sehr seltsam. Seeehr seltsam!

Bevor ich aber noch dazu komme, Carolin eingehender zu untersuchen, springt sie vom Sofa auf.

»Ich lege mich ins Bett. Hier wird mir ja ganz anders, ich f?rchte, die Couch muss erst einmal ausl?ften. Sch?m dich, Herkules!«

»Und du bist dir wirklich sicher, dass sie es gerochen hat?« Auch Herr Beck guckt erstaunt, als ich ihm am n?chsten Tag von der Sofageschichte erz?hle. Und das will etwas heissen. Denn der dicke schwarze Kater hat schon ziemlich viele J?hrchen auf dem Buckel und mit Menschen wohl alles erlebt,was man als Vierbeiner so mit ihnen erleben kann. Seit ich ihn im Sommer vor zwei Jahren kennen gelernt habe, ist er deswegen nicht nur mein bester Freund, sondern auch mein wichtigster Ratgeber geworden.

»Ich meine, vielleicht hat sie es auch nur erraten. Du lagst immerhin neben dem Teil, und vielleicht hast du gleich so schuldbewusst geschaut.«

Ich sch?ttle den Kopf.

»Nee, v?llig ausgeschlossen. Zum einen hatte ich ?berhaupt kein schlechtes Gewissen. Und zum anderen habe ich wirklich einen Sicherheitsabstand zwischen das Teil und mich gebracht,bevor Carolin ins Zimmer gekommen ist. Nicht nur das: Sie hat sogar behauptet, ihr w?rde ganz anders von dem Geruch.«

»Hm.« Beck guckt nachdenklich und r?ckt von dem Treppenabsatz unseres Hauseingangs n?her an die Hauswand heran. Tats?chlich hat es angefangen zu schneien, und wie die meisten Katzen ist Beck wettertechnisch ein echtes Weichei.

Wenn mein Opili – Gott hab ihn selig! – das sehen k?nnte, es w?rde ihn in seiner Meinung ?ber diese Gattung vollauf best?tigen. Ich bleibe selbstverst?ndlich wie angenagelt liegen und trotze dem Schneesturm. Na ja, drei Flocken mindestens haben schon meine Nase gestreift. Ich muss niesen. Herrn Beck scheint das an unser Ausgangsthema zu erinnern.

»Ja, ja, die Nase. Damit hat sie dich also ertappt. F?r einen Menschen ist das wirklich eine unglaubliche Leistung. Selbst mir f?llt es mittlerweile schon deutlich schwerer, Duftmarken exakt zuzuordnen. Das Alter!« Er seufzt. »Ist dir denn sonst noch etwas aufgefallen? Vielleicht sind das ja Anzeichen irgendeiner seltenen Krankheit?«

Ich denke kurz nach.

»Nein. Oder, na ja. Ich finde, Carolin ist in letzter Zeit immer sehr m?de. Normalerweise dreht sie bei sch?nem Wetter gerne eine Extrarunde mit mir im Park. Das ist schon l?nger nicht mehr vorgekommen, sie ist immer zu schlapp daf?r. Meinst du, ich muss mir Sorgen um Carolin machen?«

Becks Schwanzspitze zuckt. Ein untr?gliches Zeichen daf?r, dass er nachdenkt.

»Tja, so spontan weiss ich damit auch nichts anzufangen. Geruchsempfindlichkeit und M?digkeit – habe ich so als Krankheitssymptome beim Menschen noch nicht erlebt. Beim Kater erst recht nicht. Vielleicht sind das auch alles nur Zuf?lle? Ihre Nase hatte heute nur einen guten Tag, und ausserdemist es ihr momentan schlicht zu kalt, um mit dir spazieren zu gehen? Ich f?rchte, wir m?ssen das weiter beobachten, mein Freund. Nur so kommen wir zu einer fundierten Diagnose.«

Ich nicke, dann w?lze ich mich hoch und trotte Richtung Terrassent?r zur Werkstatt. Beobachten ist bestimmt eine gute Idee, und wenn ich schon dabei bin, kann ich auch gleich

mal beobachten, ob sich schon etwas Essbares in meinem Napf befindet.

Carolin l?uft in dem grossen Raum mit den Werkb?nken hin und her und telefoniert. Aus der kleinen K?che hinter dem Flur, in der sich Caro und ihr bester Freund und Kollege Daniel immer Tee oder Kaffee kochen, h?re ich es verd?chtig klappern. Vielleicht denkt wirklich jemand an mich? Muss ja nicht unbedingt frisches Rinderherz sein, eine Zwischenmahlzeit in Form von Hundekuchen w?rde mir auch gefallen.

Hoffnungsfroh renne ich hin?ber und schaue durch die T?r: Tats?chlich hantiert Daniel mit einem Karton. Ich schnuppere kurz in die Luft – nein, bedauernswerterweise sind keine Hundekuchen darin, sondern wohl nur die kleinen Papiert?ten, in die er immer das Kaffeepulver f?llt. Vielleicht kann ich ihm trotzdem einen Snack aus den Rippen leiern. Direkt neben der T?r stehen mein Trink-und mein Fressnapf. Letzterer ist – leider! – leer. Ich gebe ihm einen kr?ftigen Stoss mit meiner Schnauze und werfe ihn damit gegen den Trinknapf, so dass es ziemlich laut scheppert. Daniel dreht sich erschrocken zu mir um. Recht so! Ein schlauer Kerl und Hundefreund wie er sollte doch mit dieser Botschaft etwas anfangen k?nnen.

»He, du Randale-Dackel! Oder sollte ich besser Hooligan-Hund sagen? Was soll das denn?«

Also bitte, Daniel, das ist jetzt nicht der passende Moment f?r sprachliche Spitzfindigkeiten, die mir pers?nlich auch rein gar nichts sagen. Ich will etwas zu fressen, und zwar schnell! Um die Botschaft noch etwas klarer zu machen, gebe ich dem umgekippten Fressnapf noch einen Stups und knurre ein bisschen.

»Ach, daher weht der Wind. Monsieur verlangt nach einer Mahlzeit!«

Sehr gut, hundert Punkte, Daniel. Und nun mach schon, du weisst bestimmt, wo Carolin meine Leckerlis aufbewahrt – in dem kleinen Schr?nkchen, auf dem die Kaffeemaschine steht. Das ist doch f?r dich nur ein Griff!

Aber leider?ffnet Daniel nicht einfach die Schrankt?r, sondern sieht sich etwas hilfesuchend in der kleinen K?che um und f?hrt sich dann ratlos mit den H?nden durch die vielen hellen Locken auf seinem Kopf.

»Hm, wo mag denn dein Frauchen etwas f?r dich verstaut haben?« Er ?ffnet den Schrank ?ber dem Herd mit den zwei Platten. »Also, das hier sieht schon mal schlecht aus. Vielleicht daneben? Nee, auch nicht.« Er beugt sich zu mir herunter. »Tja, Herkules, da siehst du es – ich war wirklich verdammt lange weg. Ich muss mich hier erst einmal wieder einleben.«

Mit diesen Worten verl?sst er die K?che und geht in den grossen Werkraum.

»Sag mal, Carolin«, h?re ich ihn fragen, »hast du hier unten irgendetwas zu fressen f?r Herkules? Er scheint Hunger zu haben.«

»Kann zwar eigentlich nicht sein, aber vielleicht hat ihn die allgemeine Vorweihnachtsv?llerei angesteckt. Moment, ich zeig’s dir.« Sie kommen beide in die K?che.

»Danke!«

»Keine Ursache, ist ja auch in meinem Interesse, wenn du dich so schnell wie m?glich wieder heimisch f?hlst.«

Recht hat sie. Ich will doch schwer hoffen, dass Daniel diesmal f?r immer dableibt. Carolin und Daniel haben sich n?mlich schon einmal die Werkstatt geteilt und zusammen Geigen gebaut. Das war zu der Zeit, als mich Caro aus dem Tierheim gerettet hat. Aber dann war Danielals Mann zu nett f?r Carolin, aber nicht f?r Aurora, und deswegen verliebte sich Carolin in Marc, und Daniel zog mit der doofen Aurora

weit, weit weg und kam nur noch ganz selten bei uns vorbei. Also, das ist jetzt die sehr verk?rzte Fassung, aber so ungef?hr war’s. Es ist auch m?ssig, sich bei Menschenalles merken zu wollen. Ich habe es jedenfalls mittlerweile aufgegeben. Daf?r passiert bei denen einfach viel zu viel.

Das soll mich jetzt auch nicht weiter kratzen, denn immerhin ist Daniel nun wieder da und scheint auch bleiben zu wollen. Umso sinnvoller ist es deswegen nat?rlich, dass Carolin ihn gr?ndlich in die wesentlichen Dinge der Werkstatt einweist. Wozu selbstverst?ndlich auch geh?rt, wo sich mein Futter befindet.

Nach einer solchen Einarbeitung sieht es allerdings momentan nicht aus. Stattdessen stehen die beiden in der K?che voreinander und schweigen sich an. Dann l?chelt Daniel und knufft Caro in die Seite.

»Carolin, ich bin froh, dass wir jetzt wieder ein richtiges Team sind.« Sie nickt.

»Ja, ich auch. Ich hoffe nur, du wirst M?nchen nicht zu sehr vermissen. Und alles, was damit zusammenh?ngt.«

Daniel brummt irgendetwas Unverst?ndliches, und diesmal ist es Carolin, die ihn knufft.

He! Das ist ja geradezu r?hrend, wie ihr hier den Geist eurer Freundschaft beschw?rt, aber: WO BLEIBT MEIN FUTTER? Ich winsle ein bisschen, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen.

»Ist ja gut, S?sser, geht schon los!« Carolin beugt sich zu dem Schr?nkchen, ?ffnet eine der T?ren und nimmt eine Dose heraus.Na endlich!, m?chte ich laut rufen, beschr?nke mich aber meinen F?higkeiten entsprechend auf ein gutgelauntes Schwanzwedeln.

Als Carolin die Dose?ffnet, passieren mehrere Dinge, und zwar fast zeitgleich: Erst str?mt der verf?hrerische Duft

von Pansen und Leber in die K?che – und nur den Bruchteil einer Sekunde sp?ter l?sst Carolin die Dose auf den Boden fallen, gibt ein tiefes, w?rgendes Ger?usch von sich, dreht sich blitzschnell zur Seite und ?bergibt sich in die Sp?le neben der Kaffeemaschine.

ZWEI

Heilige Fleischwurst! Das letzte Mal, dass ich erleben musste, wie sich Carolin?bergab, war mit Sicherheit der absolute Tiefpunkt meiner Karriere als Haustier. Carolin hatte aus Liebeskummer eine ganze Flasche Cognac niedergemacht, dann ihren Wohnzimmerteppich in kleine Teile geschnitten und war schliesslich ohnm?chtig geworden. Also, nachdem sie gespuckt hatte. Und wer warschuld daran? Genau. Ich, Herkules, der Ungl?cksrabe, mit freundlicher Unterst?tzung von Herrn Beck. Kurz zuvor hatten wir zwei n?mlich Carolins gruseligen Freund Thomas aus dem Haus geekelt. Die beiden passten einfach nicht zusammen. Trotzdem war Caro danach so ungl?cklich, dass sie auf die Sache mit dem Cognac verfiel.

Heute liegen die Dinge aber v?llig anders – Carolin hat keinen Liebeskummer, sondern ist schon ziemlich lange gl?cklich mit ihrem Freund Marc, der praktischerweise auch mein Tierarzt ist. Und Cognac hat sie auch keinen getrunken, auch keine andere Sorte von diesem scheusslichen Zeug namens Alkohol. Wenn ich es mir recht ?berlege, nicht nur heute nicht, sondern schon ziemlich lange nicht mehr. Daran kann es demnach auch nicht liegen.

Herr Beck hatte also Recht mit seinem Verdacht. Mein Frauchen ist krank! Und wir brauchen einen Arzt, dringend! Offenbar bin ich aber der Einzige, der die Lage besorgniserregend findet, denn weder Daniel noch Carolin wirken im

Geringsten alarmiert. Daniel klopft Caro lediglich auf die Schulter, reicht ihr dann ein Taschentuch und fragt:»Geht’s wieder?«

Sie nickt.

»Danke, alles in Ordnung. Es war nur dieser Geruch … der hat mich gerade echt umgehauen.«

Ha! Da ist es wieder! Geruchsempfindlichkeit! Mensch, Carolin, lass uns doch mal zu einem Arzt gehen, das ist doch nicht normal! Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass Pansen sehr lecker riecht, war es nat?rlich nicht die erste Hundefutterdose, die Carolin in ihrem Leben ge?ffnet hat, und bisher hat es ihr nie etwas ausgemacht, am Inhalt zu schnuppern.

»Vielleicht setzt du dich einen Moment in den Sessel?«, schl?gt Daniel vor. Als keine Widerrede kommt, nimmt er Caros Hand und zieht sie sanft in das grosse Zimmer vor der Terrasse, in dem neben den beiden Werkb?nken von Carolin und Daniel auch ein gem?tlicher Korbsessel steht. Er dr?ckt Carolin in das weiche Sitzkissen und marschiert dann noch einmal in die K?che, um kurz darauf mit einem Glas zur?ckzukehren.

»Hier, ein stilles Wasser f?r die Patientin! Ich werde mich demn?chst als dein hauptamtlicher Krankenpfleger bewerben.«

»Tu das, der Job liegt dir ja offensichtlich, und mein Arzt w?re begeistert. Er hat neulich wegen meines Arbeitspensums schon mit mir geschimpft und verlangt, dass ich mich mehr schone.«

Aha. Anscheinend weiss Carolin selbst um ihren schlechten Gesundheitszustand und war schon beim Arzt. Und sollte Daniel etwa auch eingeweiht sein? Wieso weiss ich dann nichts N?heres und muss mir hier meinen Teil zusammenreimen?

Gut, als Dackel bin ich Jagd-und nicht Schutzhund, aber ich muss doch wohl nicht erst bei der Bergrettung anheuern, damit ich in Fragen des Wohlergehens meines Frauchens eingebunden werde.

Egal: Wenn ihr es mir nicht freiwillig erz?hlen wollt, muss ich euch wohl noch ein wenig belauschen. Dann kriege ich es schon selbst heraus und werde dann entsprechende Massnahmen f?r die Genesung von Carolin ergreifen. Welche das im Einzelnen sein k?nnten, ist mir noch nicht ganz klar. Aber die meisten Krankheiten des Menschen bekommt man mit viel Bewegung und frischer Luft wieder hin. Das jedenfalls war die unersch?tterliche Meinung meines Z?chters, des alten von Eschersbach. Er erw?hnte in diesem Zusammenhang auch immer wieder gerne einen l?ngeren Spaziergang – oderFussmarsch –, der an einem Ort namens Ostpreussen begann. Ich bekomme es nicht mehr ganz zusammen, aber irgendwie war der Alte der Meinung, dass er als Kind mit seiner Mutter sehr viel gelaufen und er deswegen heute bei so robuster Gesundheit sei, w?hrend die Jugend heute vom vielen Rumsitzen v?lligverweichliche.

Ich hoffe also, Carolins Krankheit hat mit ihrem Bewegungsmangel in letzter Zeit zu tun, denn den werde ich mit Sicherheit ganz schnell in den Griff bekommen. Die Sache mit dem»Schonen« k?nnen wir dann immer noch machen, aber wenn Carolins Arzt wirklich Ahnung h?tte, w?re sie doch l?ngst wieder gesund.

Es sei denn … es w?re etwas Ernsteres. Hm. Kann das sein? Ist Caro vielleichtrichtig krank? Nicht nur ein bisschen? Verstohlen betrachte ich sie von dem Platz neben dem Sessel, auf den ich mich gelegt habe. Aus diesem Blickwinkel sieht sie eigentlich ganz normal aus. Ein bisschen blass, aber sonst ganz die Alte. Ich robbe ein St?ck vor und lege mich auf Caros

F?sse. Was auch immer sie haben mag, K?rperkontakt ist immer gut.

Sie beugt sich zu mir herunter und krault mich zwischen den?hrchen. Sehr gut, zumindest die alten Reflexe scheinen noch zu funktionieren!

»Herkules, mein S?sser, vielleicht sollte ich mich einfach zu Hause hinlegen und dich als W?rmflasche gleich neben mich packen. Von mir aus auch auf Marcs heiliges Sofa. In meinem Zustand darf ich das doch wohl.«

Oh, oh – einerseits eine verlockende Vorstellung, andererseits – was meint sie bloss mitZustand? Klingt nicht gut. Daniel zieht sich einen der Werkbankschemel neben ihren Sessel und setzt sich.

»Habt ihr es Luisa eigentlich schon gesagt?«

Klingt gar nicht gut.

Carolin sch?ttelt nur den Kopf.

»Meinst du, sie ahnt schon etwas?«

»Ich hoffe nicht, ich will ja nicht, dass sie sich unn?tig Sorgen macht. Wir wollten erst mal abwarten, wie es sich entwickelt.«

Schluck! Klingt?berhaupt rein gar nicht auf keinen Fall gut!

»Wann wollt ihr es Luisa denn sagen? Viel Zeit habt ihr ja nicht mehr.«

O MEIN GOTT! Viel Zeit ist nicht mehr! Ich bin schockiert – was mache ich mir denn hier ?bers Gassigehen Gedanken? Carolin ist offenbar schwer krank. Sehr schwer krank.

»Na, wir dachten, an Weihnachten. Seitdem Luisa bei Marc wohnt, feiert sie Weihnachten eigentlich immer bei ihrer Mutter Sabine in M?nchen. Aber Sabine war einverstanden, dass Luisa diesmal Heiligabend noch bei uns verbringt. Ist ja schliesslich das letzte Weihnachten in dieser Besetzung.«

Das letzte Weihnachten? Ich bekomme Ohrenrauschen und Atemnot, der Raum beginnt sich zu drehen. Carolin wird sterben. Ich werde mein geliebtes Frauchen verlieren! Ich werde eine einsame Dackelwaise sein, verlassen von der Welt, ich werde …

»Herkules, was ist denn auf einmal mit dir los?« Carolin hebt mich auf ihren Schoss und streichelt mich z?rtlich. »Du zitterst ja pl?tzlich am ganzen Leib. Ist dir kalt? Oder bist du schon so geschw?cht vor Hunger?«

Carolin, du g?tigster Mensch auf der Welt – selbst im Angesicht deines eigenen Todes denkst du noch an deinen treuen, kleinen Freund Herkules. Am liebsten w?rde ich jetzt weinen – eine F?higkeit, um die ich die Menschen schon oft beneidet habe –, aber so bleibt mir nur ein schwaches Winseln.

Daniel steht von seinem Schemel auf.

»Richtig, das Fressen f?r Herkules. Das haben wir ja ganz vergessen. Ich schau mal, ob man die Dose noch nehmen kann, sonst mache ich ihm eine neue auf.«

Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich jetzt etwas fressen kann? Mir ist nat?rlich ob dieser grausamen Nachricht v?llig der Appetit vergangen. Daniel verschwindet in Richtung K?che. Wie abgebr?ht die beiden sind – sie m?ssen die furchtbare Wahrheit schon lange kennen. Wahrscheinlich ist Daniel auch deswegen zu Carolin zur?ckgekommen: Er will seine alte Freundin auf ihrem letzten, schweren Weg begleiten. Wahre Freunde. Ob Herr Beck das auch f?r mich tun w?rde? Wobei – eigentlich stellt sich die Frage eher umgekehrt. Herr Beck ist ja schon ganz sch?n betagt, w?hrend ich mit meinen drei Jahren noch fast ein junger H?pfer bin. Also werde ich Herrn Becks Tatze halten, wenn es irgendwann mit ihm zu Ende geht?

In diesem Moment h?lt mir Daniel einen bis zum Rand gef?llten Fressnapf direkt vor die Nase.

»Na, mein Freund – wie sieht das f?r dich aus? Lecker, oder?«

Pah, st?re meine Trauer nicht! Wobei – es riecht schon ziemlich gut. Und durch Hunger geschw?cht bin ich nat?rlich auch keine Hilfe f?r Carolin. Was sie jetzt braucht, ist ein ganzer Kerl. Von mir aus auch dank Chappi. Ich h?pfe von ihrem Schoss, Daniel stellt das Sch?lchen auf den Boden. Hastig schlinge ich los, immerhin ist meine letzte Mahlzeit schon eine ganze Zeit her. Hinzu kommt, dass Marc dem Di?twahn anheimgefallen ist. Leider nicht bei sich selbst, das w?re mir egal. Aber nein – er findet tats?chlich, dass ich zu viel angesetzt habe. Zum einen eine Frechheit. Und zum anderenist eine leichte Gewichtszunahme jahreszeitlich v?llig angemessen. Es ist schliesslich kalt draussen, und ich habe beobachtet, dass auch die Menschen momentan einen gesteigerten Appetit zu haben scheinen. Vor allem auf S?ssigkeiten. Die sind zwar f?r mich streng verboten, aber Luisa hat mir heimlich schon den ein oder anderen Schokoweihnachtsmann zugesteckt. Braves M?dchen.

»Sag mal, wo feierst du eigentlich Weihnachten?«, will Carolin von Daniel wissen.

»Ich weiss noch nicht so genau. Aurora hat mich gefragt, ob ich nicht doch mit ihr nach New York kommen will. Aber das halte ich f?r keine so gute Idee. Ich glaube, ein bisschen Abstand tut uns beiden nach dem ganzen Desaster erst einmal gut. Ausserdem hat sie bei Konzertreisen erfahrungsgem?ss sowieso wenig Zeit, und ich s?sse nur allein im Hotel.«

»Hm.« Mehr sagt Caro dazu nicht, was schade ist, denn die Kombination ausAurora undDesaster klingt selbst in meinen Dackelohren interessant. Gut, nat?rlich ist Daniel

gekommen, um Carolin beizustehen, so viel steht fest. Aber offenbar gibt es Zoff mit Aurora, derStargeigerin. Das ist nat?rlich grossartig, denn es erh?ht nach meiner Kenntnis von menschlichen Beziehungen die Wahrscheinlichkeit, dass Daniel wirklich f?r immer hierbleibt, erheblich.

»Ach, ich glaube, ich besuche einfach meine Eltern in L?beck. Die w?rden sich freuen, mich zu sehen.«

»Du kannst nat?rlich auch mit uns feiern. Marc und Luisa h?tten bestimmt nichts dagegen.«

»Danke, das ist ein liebes Angebot. Aber du hast es ja schon selbst gesagt – dieses Weihnachten ist in gewisser Weise besonders f?r euch. Da m?chte ich nicht st?ren.«

»Du st?rst ?berhaupt nicht.«

»Nee, danke, lass mal. Ich fahre nach L?beck und lasse mich von meiner Mutter m?sten.«

Carolin rappelt sich aus ihrem Sessel hoch.

»Tja, vielleicht hast du Recht. Ich bin auch schon sehr gespannt, wie Luisa reagieren wird.« Na, wie wohl? Entsetzt! »Ich meine, ich bin nicht ihre Mutter, aber trotzdem …« Also, da fallen mir doch so langsam die Schwanzhaare aus – f?r wie herzlos h?lt sie das Kind?

»Ja, ihr m?sst sie gut darauf vorbereiten«, pflichtet ihr Daniel bei, »f?r die Kleine wird sich eine Menge ?ndern, und die Familie, die ihr jetzt seid, wird es so nicht mehr geben.«

Vielen Dank, Daniel. Jetzt hast du es geschafft. Mein Appetit ist mir endg?ltig vergangen. Ich lasse den Napf stehen und beschliesse, die traurigen Nachrichten mit jemandem zu teilen, der zur Abwechslung mal mich tr?sten kann.

»Und du bist dir da ganz sicher?« Herr Beck ist fassungslos.

»Ja, leider. Im wahrsten Sinne des Wortes: todsicher.«

»Aber, aber – das ist ja schrecklich! So eine junge Frau! Was ist denn das bloss f?r eine f?rchterliche Krankheit?«

»Das hat sie nicht so genau gesagt. Aber sie hat nicht mehr viel Zeit. Weihnachten wollen sie es Luisa sagen.«

»O nein. Das arme Kind.«

»Ach, Beck, ich bin so ungl?cklich.« Ich beginne zu jaulen. Beck macht ein Ger?usch, das dem menschlichenhm, hm sehr nahekommt.

»Aber vielleicht ist es auch blinder Alarm, und du hast die beiden einfach falsch verstanden. Vielleicht wollen sie Luisa an Weihnachten etwas ganz anderes sagen. Weisst du, Menschen sind Meister der Doppeldeutigkeit, das ist als Haustier nicht immer leicht zu verstehen.«

Typisch Beck. Nie nimmt er mich ernst. Ein toller Freund. Ich jaule noch ein bisschen lauter.

Beck seufzt.

»Okay. Nehmen wir mal an, du h?ttest Recht. Dann musst du dich ein bisschen ablenken. Sonst wirst du noch schwerm?tig. Und mit einem schwerm?tigen Dackel ist auch niemandem gedient. Am wenigsten Carolin.«

»Ich bin bereits schwerm?tig. Mein Frauchen wird sterben, wie k?nnte ich da gut gelaunt sein?«

Beck seufzt.

»Noch mal: Vielleicht hast du sie einfach falsch verstanden. Leider k?nnen wir sie das nicht einfach fragen. Bis wir Gewissheit haben, bist du gut beraten, nicht die ganze Zeit ?ber den Tod nachzudenken. Zu viel denken ist f?r Haustiere insgesamt nicht gut. F?r Menschen eigentlich auch nicht, aber die sind f?r sich selbst verantwortlich. Also, lass uns ?ber etwas anderes reden.«

Dieser fette Kater ist so verdammt herzlos! Wor?ber soll ich denn jetzt mit ihm reden?

»Mir f?llt nichts ein, wor?ber ich mich im Moment mit dir unterhalten m?chte.«

»Wie w?re es denn zum Beispiel mit dem Thema Weihnachten?«

»O nein! An Weihnachten wollen sie es doch Luisa sagen. Und dann wird das arme Kind erfahren, dass …«

»Herkules!«, unterbricht mich Beck r?de. »Keine Gespr?che ?ber den Tod!«

Na gut, dann eben nicht. Wir schweigen uns an.

»Wann ist eigentlich Weihnachten?«, will ich schliesslich von Beck wissen.

»Na, so wie jedes Jahr.«

»Das ist mir klar, ich habe es nun schliesslich auch schon zweimal mitgemacht – aber trotzdem habe ich es mit der menschlichen Zeiteinteilung nicht so. Also – ist Weihnachten eher morgen, oder dauert es noch ein bisschen?«

Beck bewegt den Kopf bed?chtig hin und her. Offenbar weiss er es auch nicht so genau.

»Lass mal ?berlegen. Auf Ninas Wohnzimmertisch steht so ein rundes Teil mit Kerzen drauf. Vier St?ck. Und soweit ich weiss, m?ssen alle brennen, damit Weihnachten ist.«

»Aha. Aber die brennen doch, weil die Menschen sie anz?nden. Dann k?nnte ja jeder selbst bestimmen, wann das ist. Einfach alle Kerzen angez?ndet, fertig.«

Herr Beck zieht seine buschigen Augenbrauen hoch und schaut mich tadelnd an.

»Nein, so geht das nat?rlich nicht. Diese Kerzen kann man nicht einfach so anz?nden.«

»Kann man nicht? Brennen die dann nicht?«

»Quatsch, das meine ich nicht. Ich meine, sie werden nach einem bestimmten … na … wie nenne ich es? Genau – sie werden nach einem bestimmten Ritus angez?ndet. Erst eine,

dann zwei … und so weiter. Bis sie schliesslich alle brennen. Dazwischen m?ssen aber immer ein paar Tage liegen.«

»Welchen Sinn soll das denn haben?«

»Herkules, manchmal stellst du Fragen wie ein Maik?tzchen. Als ob bei den Menschen immer alles einen Sinn h?tte.«

Nee, nee, mein Lieber – so einfach kommst du mir nicht davon. Wer den Spezialisten gibt, muss auch mit kritischen Nachfragen rechnen.

»Ich sage ja gar nicht, dass bei den Menschen immeralles einen Sinn haben muss. Aber wenn sie es so kompliziert machen, haben sie sich doch in der Regel schon etwas dabei gedacht«, halte ich dagegen. Herr Beck macht ein Ger?usch, das wiePFFF klingt und wahrscheinlich Missbilligung ausdr?cken soll, aber an den Bewegungen seiner Schwanzspitze kann ich erkennen, dass er tats?chlich ?ber meinen Einwurf nachdenkt.

»Okay, wenn ich mich richtig erinnere, hat das irgendetwas mit Abwarten zu tun.«

»Abwarten?«

»Ja. Die Menschen warten auf irgendetwas oder irgendjemanden. Und damit die Zeit schneller vergeht, z?nden sie nach jeder Woche, die sie erfolgreich hinter sich gebracht haben, eine neue Kerze an.«

»Aber auf wen oder was warten sie denn? Das muss ja etwas ganz Besonderes sein, wenn daf?r so ein Brimborium veranstaltet wird. Ich meine – Carolin wartet auch h?ufiger mal auf einen Kunden, der sich versp?tet. Oder auf Marc, dem ein Notfall dazwischengeplatzt ist. Meines Wissens hat sie deswegen aber noch nie eine Kerze angez?ndet.«

Jetzt guckt Herr Beck wirklich sehr nachdenklich.

»Du hast Recht. So habe ich es noch nie betrachtet. Ich sch?tze mal, sie warten auf den Weihnachtsmann.«

»Den Weihnachtsmann? Aber den gibt es doch momentan an jeder Ecke. Auf den muss man nicht warten, man kann ihm zurzeit eigentlich kaum entgehen. Erst heute Morgen hat mir Luisa einen kleinen Schokoweihnachtsmann zugesteckt. Sehr lecker! Und ein grosser, dicker Weihnachtsmann sitzt jetzt auch vor dem riesigen Haus, in dem man von der Fleischwurst bis zur Unterhose alles besorgen kann. Vor ein paar Tagen war ich mit Carolin dort, es war unglaublich voll, und gleich am Eingang war dieser Weihnachtsmann und br?llteho ho ho und bimmelte ununterbrochen mit einer sehr lauten Klingel. Also, f?r den w?rde ich garantiert keine Kerze anz?nden. Ich w?re eher froh, wenn dernicht kommt.«

Beck seufzt.

»Herkules, mein Freund. Das war mit Sicherheit nicht der echte Weihnachtsmann.«

»War er nicht? Er sah aber so aus. Genau wie so ein Schokoladenkerl, nur in echt.«

»Nein. Der echte Weihnachtsmann kommt nur an Weihnachten und bringt die Geschenke.«

»Ach? Die Geschenke sind vom Weihnachtsmann? Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Er kommt und verteilt sie an die Kinder. Ich habe ihn schon selbst dabei gesehen.«

»Wo denn? Nina hat doch gar keine Kinder. Weder eigene noch geliehene. Und ihr Freund Alex hat auch keine.«

Herr Beck lebt n?mlich bei Nina, Carolins bester Freundin, und das praktischerweise in der Wohnung ?ber Carolins Werkstatt. Insofern kenne ich Nina sehr gut und weiss aus eigener Anschauung, dass sie eine echte Kinderallergie hat. Die Vorstellung, dass Nina eine f?r Menschen so wichtige Veranstaltung wie Weihnachten wom?glich freiwillig mit

fremden Kindern verbringen k?nnte, ist geradezu ausgeschlossen. Der Kater gibt also nur an, sonnenklar.

»Doch nicht bei Nina. Ich habe ihn bei Frau Wiese gesehen.« Frau Wiese war Becks altes Frauchen. Die hatte allerdings auch keine Kinder. Ich hole tief Luft, Beck macht eine hektische Bewegung mit seiner Tatze.

»Stopp, stopp – ich weiss, was du sagen willst: Ja, Frau Wiese hatte auch keine Kinder. ABER sie hatte ja diesen nichtsnutzigen Neffen. Der wiederum bekanntermassen drei ungezogene Kinder hat.«

Stimmt. Ich erinnere mich. Herr Beck war einmal ein paar Tage bei Wiese junior untergebracht und kehrte danach mit Geschichten heim, die denen vom alten Eschersbach?ber etwas, was erKrieg nannte, in nichts nachstanden. Herr Beck blickt nur bei dem Gedanken an diese Familie ausgesprochen finster drein.

»Und diese ganze grausame Sippe war auch an Weihnachten einmal zu Besuch. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie schlimm –«

»Beck«, unterbreche ich ihn, »was war denn nun mit dem Weihnachtsmann?«

»?h, richtig. Der Weihnachtsmann. Na, der kam mit einem grossen Sack voller Geschenke f?r diese furchtbaren G?ren. Die Kinder sangen ein Lied, der Weihnachtsmann guckte sehr streng und las vor, wann die Kinder im letzten Jahr unartig waren. Das hat nat?rlich ziemlich lange gedauert, und als der Weihnachtsmann dann auch noch mit der Rute gewedelt hat, fing das kleinste Kind an zu weinen, und die anderen beiden versteckten sich hinter dem Sofa. Da hat sich der Weihnachtsmann beeilt, doch noch etwas Nettes zu sagen und Geschenke zu verteilen. Die Kinder haben dann gelobt, in Zukunft immer brav zu sein. Aber als der Weihnachtsmann

wieder weg war, haben sie sich nat?rlich sofort um das Spielzeug gestritten, das er ihnen mitgebracht hatte. Die Erwachsenen tranken viel Alkohol und stritten sich schliesslich auch. Irgendwann fing Frau Wiese an zu weinen, die Frau des Neffen keifte sehr laut, und der Neffe selbst schlief auf dem Sofa ein. Das ist also Weihnachten. Wenn alle vier Kerzen brennen.«

Wow! Da bin ich geradezu froh, dass bei uns der Weihnachtsmann noch nie da war. Allerdings haben wir bisher auch immer ohne Kind gefeiert. Sondern sehr kuschelig zu dritt, nur Caro, Marc und ich. Gestritten hat niemand, gesungen Gott sei Dank auch nicht. Stattdessen gab es ausgesprochen leckeres Essen, sogar f?r mich. Allerdings gab es auch Geschenke. Ein Punkt, der mich stutzig macht.

»Beck, bei uns gab es aber auch Geschenke f?r Marc und Carolin. Vom Weihnachtsmann hingegen keine Spur.«

Becks Schwanzspitze zuckt wieder hin und her.

»Hm. Wahrscheinlich schickt der Weihnachtmann die den Leuten ohne Kinder mit der Post. Damit er mehr Zeit f?r die Familien hat. Der gute Mann kommt ja ganz sch?n rum.«

Aha. Ob der Weihnachtsmann wegen Luisa diesmal also auch zu uns kommt? Ich muss dringend nachschauen, wie viele Kerzen auf diesem Kranzdings schon gebrannt haben. Vielleicht habe ich noch etwas Zeit, mich zu wappnen. Schliesslich werde ich Luisa wegen Carolin tr?sten und wom?glich diesen Weihnachtsmann im Auge behalten m?ssen. Dieses Weihnachtsfest, so viel ist schon jetzt klar, wird den ganzen Hund erfordern.

DREI

Hatte ich Beck wirklich erz?hlt, dass es in diesem grossen Kaufhausdings neulich voll war? Ich hatte ganz offensichtlich keine Ahnung. Dennjetzt ist es voll. Ich hetze hinter Marc her und versuche, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Das ist keine leichte Aufgabe, vor und neben mir sind dermassen viele Menschenbeine unterwegs, dass ich mich eigentlich in Marcs Hose verbeissen m?sste, um sicher an ihm dranzubleiben. Luisa ist schon vor einiger Zeit verschwunden, ich hoffe sehr, dass das Absicht war und sie einen guten Plan hat, wie sie zu uns zur?ckfinden will.

Es ist im?brigen auch nicht so, dass die anderen Menschen nur einfachda sind und gem?tlich herumstehen oder – gehen. Im Gegenteil – verglichen mit dem sonst eher schwach ausgepr?gten Bewegungsdrang von Zweibeinern scheinen nun gerade hier und heute alle wild entschlossen, den diesbez?glichen Mangel ganzer Monate auszugleichen. Sie rennen wild hin und her, bleiben sehr abrupt stehen, wenn sie etwas entdeckt haben, nur um einen Augenblick sp?ter wieder loszusprinten. Noch dazu schieben sie sehr rigoros andere Menschen zur Seite, die ihnen dabei in die Quere kommen. Ich muss h?llisch aufpassen, dass mir hier niemand auf die Pfoten tritt.

Warum habe ich bloss darauf bestanden, Marc und Luisa zu begleiten? Das war wirklich eine saubl?de Idee – allerdings hatte mich auch niemand gewarnt. Ich dachte, die beiden

gehen einfach ein bisschen in dem frisch gefallenen Schnee spazieren. F?r einen kleinen Kerl wie mich ist das hier der v?llig falsche Ort. Das scheint auch Marc gerade zu d?mmern. Jedenfalls beugt er sich zu mir runter, um mich hinter den ?hrchen zu kraulen, und riskiert dabei, von seinen Mitmenschen ?berrannt zu werden.

»Na, Herkules, geht’s noch? Ganz sch?n viel los hier. So sind die Menschen eben: Jeder will noch auf den letzten Dr?cker Weihnachtsgeschenke kaufen.«

H?? Ich denke, die bringt der Weihnachtsmann? Und wenn er schon nicht pers?nlich vorbeikommen kann, besorgt er sie wenigstens. Irgendetwas stimmt hier doch nicht. An dieser Weihnachtsmanngeschichte ist etwas faul, das sp?re ich genau. Bloss was? Wenn Herr Beck es w?hrend seiner gesamten Karriereals Haustier noch nicht herausgefunden hat, muss es schon sehr, sehr mysteri?s sein. Ich mustere Marc. Bestimmt weiss er mehr. Leider kann ich ihn nicht fragen.

»Aber ich kann dich beruhigen, Kleiner. Ich habe fast alle Geschenke zusammen. Nur eine Sache f?r Luisa fehlt noch, dann machen wir hier die Biege, versprochen!«

Wir sind also hier, um ein Geschenk f?r Luisa zu besorgen. Sehr aufschlussreich! Es kann also auch nicht sein, dass der Weihnachtsmann sich um die Geschenke f?r die Kinder k?mmert und alle anderen selbst sehen m?ssen, wo sie ihren Kram herbekommen. Denn dann m?sste Marc sich ja nicht in dieses entsetzliche Get?mmel st?rzen, sondern k?nnte an Weihnachten sch?n abwarten, was der Weihnachtsmann f?r sein T?chterchen mitgebracht hat. Ich bin verwirrt.

In diesem Moment tritt mir eine grosse, dicke Frau kr?ftig auf die linke Pfote. Autsch! Ich jaule auf und knurre, schnappe aber nicht zu. Bin schliesslich wohlerzogen. Die Frau f?hrt zu uns herum.

»Was war das denn? Wer kommt denn auf die bekloppte Idee, einen Hund in dieses Gedr?nge … oh, hallo, Herr Dr. Wagner! Das ist aber eine ?berraschung! Habe ich etwa gerade Ihren kleinen Hund getreten? Das tut mir leid, aber bei diesen Menschenmassen habe ich den Winzling wirklich ?bersehen.«

Winzling? Unversch?mtheit! Ob es noch als Reflex durchgeht, wenn ich sie jetzt doch beisse? Bevor ich mich entscheiden kann, hat mich Marc schon hochgehoben.

»Sind noch alle Pfoten dran, S?sser?«

Er h?lt mich vorsichtig in seinen Armen, ich jaule so mitleiderregend, wie ich nur kann. Nat?rlich bin ich im engeren Sinne nicht schwer verletzt, aber erst getreten und dann auch noch geschm?ht zu werden, ist eindeutig zu viel. Es gibt folglich keinen Grund, besonders tapfer zu sein. Die Frau stellt sich neben Marc und grinst bl?de. Jetzt erst dreht sich Marc zu ihr um.

»Hallo, Frau Winkelmann. Sie haben Recht, es war keine gute Idee, ihn hierher zu schleifen. Gassigehen und Powershopping vertragen sich nicht besonders gut.«

»Ja, ja, Weihnachten, das Fest der Liebe – Zeit f?r Ruhe und Besinnlichkeit.«

Beide lachen. Warum, verstehe ich nicht. Das ist wohl wieder menschliche Ironie. Also, das Gegenteil von dem sagen, was man meint. Um deutlich zu machen, dass man das garantiert nicht meint. Und das finden Menschen dann auch noch komisch. Verr?ckt, oder? Ich lebe jetzt schon drei Jahre mit ihnen zusammen und kann bis heute nicht nachvollziehen, was an Ironie lustig sein soll. Eine wertvolle Information ist allerdings, dass Frau Winkelmann vom Fest der Liebe gesprochen hat. Klingt vielversprechend. Aber wie passt der Weihnachtsmann da rein? Vielleicht, weil alle behaupten, dass

er die Geschenke bringt? Und Geschenke ein Zeichen von Liebe sind? Ist das etwa die heisse Spur, die ich brauche, um das R?tsel zu l?sen.

Frau Winkelmann ist ein St?ck an uns herangekommen und streichelt mir ?ber den Kopf. Pah, plumpe Vertraulichkeit! Von hier oben kann ich sehen, dass sie ein sehr rundes Gesicht hat, versehen mit einem Paar ziemlich kleiner Augen. Letztere kneift sie nun zusammen und mustert mich eindringlich. Dabei erinnert sie mich an irgendein Tier. Eine Bulldogge vielleicht? Nein, kein Hund. Irgendetwas anderes auf vier Beinen. Ich komm schon noch drauf.

»Ach, das muss doch der Dackelmix sein, von dem mir Ihre Frau Mutter mal erz?hlt hat. Herbert, richtig?«

Marc lacht. Was bitte ist daran so lustig? Es betrifft einen der dunkelsten Flecken meines bisherigen Lebens!

»Na ja, fast richtig. Er ist tats?chlich ein Dackelmix, aber er heisst Herkules.« Frau Winkelmann prustet laut los.

»HERKULES? Das ist aber ein grosser Name f?r ein so kleines Kerlchen!«

»Finden Sie? Immerhin stammt Herkules aus einer bedeutenden Dackelzucht. Zwar das Ergebnis eines kleinen Betriebsunfalls, aber m?tterlicherseits mit einer Ahnengalerie von hier bis an die Ostsee.«

Ja, mindestens bis an die. Obwohl ich nicht weiss, wer oder was die Ostsee ?berhaupt ist. Auch egal, der Rest stimmt. Meine Mama, ihres Zeichens deutscher Jugendchampion und versehen mit dem Pr?dikat »vorz?glich 1«, hatte sich eines Tages unsterblich in den Terrier des Nachbarn verliebt. Das Ergebnis waren meine Schwester Charlotte und ich. Charlotte durfte auf Schloss Eschersbach bleiben – die K?chin hatte sich erbarmt. Ich hingegen wurde ins Tierheim abgeschoben. Eine Schmach, an die ich ?usserst ungern erinnert

werde. Schon gar nicht von einer Frau, die aussieht wie … wie … genau: wie ein Schwein! Diese Frau siehtaus wie ein Schwein! Nat?rlich riecht sie anders, aber der Rest stimmt. Die aufdringliche Art, das Vorwitzige, Neunmalkluge.

Ich sage nur ungern etwas Schlechtes?ber andere Tiere, im Gegenteil, ich bin ein entschiedener Verfechter von Solidarit?t unter Haustieren – aber bei Schweinen mache ich eine Ausnahme. Ich mag sie nicht. Nicht, dass ich in meinem t?glichen Leben viel mit ihnen zu tun h?tte. Schweine scheinen nicht die Sorte Tier zu sein, die in der Stadt wohnen. Aber als Welpe bin ich bei einer Erkundungstour auf dem benachbarten Bauernhof einmal mit diesen unangenehmen Zeitgenossen aneinandergerasselt. Ich kam in friedlicher Absicht und wollte mit den Ferkeln spielen – die Sau hatte daf?r kein Verst?ndnis und jagte mich quer durch den Koben. Hinterher durfte ich mir h?mische Bemerkungen der ganzen Truppe anh?ren. Die taten gerade so, als seien Schweine die schlausten Vierbeiner der Welt. L?cherlich! Wo doch jeder weiss, dass dieser Titel uns Hunden zusteht. Gut, ich k?nnte mich mit Herrn Beck auf ein Unentschieden mit denKatzen einigen. Aber Schweine? Auf keinen Fall!

»Na ja, dann gr?ssen Sie den Weihnachtsmann von mir!«, verabschiedet sich die Schweinefrau jetzt von Marc. Mist! Ich war so in Gedanken, dass ich von der Unterhaltung der beiden nichts mehr mitbekommen habe. Offenbar sind dort weitere wertvolle Informationen ?ber den Weihnachtsmann gefallen. Oder ?ber die Liebe zum Fest. Bloss welche? Ich werde es nie erfahren, denn Marc sagt dazu nichts mehr, sondern nickt der Frau nur freundlich zu, bevor er sich zum Gehen wendet. Wenigstens h?lt er mich immer noch auf dem Arm. Von hier oben aus sieht das Menschengewimmel nicht mehr ganz so bedrohlichaus. Nur Luisa kann ich auch aus diesem

Blickwinkel nirgendwo sehen. Stattdessen einige andere Kinder, Marc steuert jetzt auf eine Ecke zu, wo diese geradezu im Rudel vorkommen. Sie dr?ngen sich vor hohen Tischen und scheinen dort etwas sehr Interessantes zu beobachten, jedenfalls schubsen sie sich fast gegenseitig im Kampf um die besten Pl?tze. Leider stehen sie so dicht an dicht, dass ich nicht sehen kann, was das sein k?nnte. Von Zeit zu Zeit blinkt es allerdings, und laute Ger?usche kommen auch von den Tischen. Nicht gerade Musik, aber so ?hnlich.

Los, Marc, geh mal n?her ran! Ich will auch sehen, was die kleinen Zweibeiner da so spannend finden! Meiner Erfahrung nach haben Menschenkinder n?mlich einen guten Geschmack. Will sagen: Die meisten Sachen, die Luisa mag, gefallen mir auch. Schokolade in jeglicher Form, Rumtoben im Garten, Zwergkaninchen. Wenn also Marc, ob nun im Auftrag des Weihnachtsmannes oder auf eigene Faust, hier nach einem Geschenk f?r Luisa sucht, dann w?re vielleicht auch etwas Passendes f?r mich dabei. Marc steht jetzt direkt hinter den Kindern und lugt ?ber ihre K?pfe. Na prima! Sch?n, dass der Herr jetzt offenbar einen guten?berblick hat. Ich sehe immer noch rein gar nichts! Einen Moment scheint Marc zu ?berlegen, dann geht er wieder einen Schritt zur?ck und verl?sst diese Ecke des Raumes. Menno! Diesen Ausflug h?tte ich mir echt sparen k?nnen – so etwas Langweiliges und gleichzeitig Gef?hrliches! H?tte ichdas vorher gewusst, ich w?re zu Hause geblieben. Notfalls h?tte ich mich eben im Designersofa verbissen.

»So, Herkules, jetzt pass auf deine Pfoten auf. Ich muss eben mal Carolin anrufen.«

Mit diesen Worten setzt mich Marc wieder auf den Boden. Der ist ja lustig! Wie soll ich denn hier bitte sch?n auf meine Pfoten aufpassen? Es sind doch wohl die Zweibeiner, die

v?llig ausser Rand und Band sind. Beleidigt kauere ich mich zwischen Marcs F?sse, der mir prompt einen kleinen Schubs gibt. Von wegen Fest der Liebe!

»Hallo, Carolin! Du, ich steh jetzt bei Karstadt. Die haben hier aber lauter verschiedene Spielekonsolen – welche soll ich denn mitnehmen?« Marc klingt gestresst. Offensichtlich macht ihm der Einkauf auch nicht so viel Spass. Geschieht ihm Recht!

»Hm. Okay. Also gar keine Konsole, sondern nur diese Dinger zum Spielen. Kann man an den Fernseher anschliessen. Gut. Wie heissen die? Wie? Nee, ich wollte wissen, wie die heissen. H??«

Manno, jetzt kl?rt das gef?lligst schnell, damit ich hier rauskomme! Wie, wie? Warum habt ihr das denn nicht besprochen, bevor wir losgezogen sind? Man geht schliesslich auch nicht auf die Jagd und ?berlegt sich erst vor Ort, was man eigentlich erlegen will. Dann hat man doch unter Umst?nden gar nicht die richtigen Sachen dabei. Beispielsweise, man entscheidet sich spontan f?r die Entenjagd, hat aber nur einen Dackel und keinen Wachtelhund dabei. Dann kann man es eigentlich schon vergessen. Denn um so eine wild um sich schlagende, schnell schwimmende Ente zu packen, bin ich mit meinen kurzen Beinen im Wasser viel zu langsam. Da saufe ich eher ab, als mit einer Ente wieder an Land zu kommen. Andererseits bringt einen der Wachtelhund bei der Kaninchenjagd nun so gar nicht weiter. Also: Gute Vorbereitung ist alles! Ich kenne das zwar nur aus Erz?hlungen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass deralte von Eschersbach jemals so schlecht organisiert zur Jagd gegangen ist, wie es gerade bei Marc der Fall ist. Der hat offenbar immer noch nicht verstanden, was er besorgen soll.

»Wie? Nein, ich verstehe dich inhaltlich nicht. Mein Empfang

ist ausgezeichnet. Ach, mit zwei I? Ach, das Ding heisst so? Wii? Was meinst du denn mitder letzte Mensch? Nur, weil ich diesen ganzen Elektronik-Scheiss …. Grundsatzdiskussion? H?r mal, ich stehe hier in einem knallvollen Kaufhaus. Selbst Herkules ist hier schon unter die R?der gekommen … Nein, nein, ist ja gut. So habe ich das doch gar nicht gemeint. Ich weiss, dass dir schnell schlecht wird. Okay. Ja, ja. Reg dich nicht auf. Mach ich. Tsch?ss.«

Er steckt sein Telefon in die Jackentasche und sch?ttelt den Kopf. Dann beugt er sich zu mir herunter.

»Echt, Herkules. Weiber. Vor allem, wenn sie in anderen Umst?nden sind. Aber da musste R?cksicht nehmen, ob es dir nun passt oder nicht.«

Ehrlich, ich bin ENTSETZT. Wie kann Marc nur so gef?hllos sein? Carolin ist dem Tod offensichtlich n?her als dem Leben, und Marc tut so, als sei das die normalste Sache der Welt. In Umst?nden. Caro ist doch nicht umst?ndlich, weil sie mit einer schweren Krankheit ringt! Soll sie sich etwa in ihrem Zustand in dieses Chaos st?rzen? Um ein Geschenk f?rseine Tochter zu kaufen? Und?berhaupt – wo steckt eigentlich der Weihnachtsmann? Wieso m?ssen wir hier seinen Job erledigen? Wahrscheinlich hat Marc verpennt, ihm rechtzeitig zu sagen, dass wir dieses Jahr zusammen mit Luisa feiern. Als mich Marc unter dem Kinn kraulen will, zwicke ich ihn spontan in die Hand.

»Autsch! Sag mal, spinnst du jetzt v?llig, Herkules?« Marc reisst die Hand zur?ck, nur um mich den Bruchteil einer Sekunde sp?ter am Genick zu packen und zu sch?tteln. »Mach das nicht noch mal, du b?ser Hund!«

He, nicht so grob! Ein wenig Kritik wird doch noch erlaubt sein, oder? Und ich war wirklich vorsichtig, das hat garantiert nicht besonders weh getan. Marc steht wieder auf und zerrt

an meiner Leine. Ich setze mich einfach auf den Po. Wenn der glaubt, dass ich so mit mir umspringen lasse, t?uscht er sich. Es war schliesslich nicht meine Idee, mich an diesen furchtbaren Ort mitzunehmen.

»Nun komm schon, du sturer Dackel! Los, auf geht’s! Wir haben keine Zeit mehr. Gleich kommt Luisa, dann m?ssen wir fertig sein!«

Ist mir wurscht. Ich bewege mich keinen Millimeter von der Stelle. Soll er mich doch tragen, wenn es so eilig ist. Auf die Idee kommt Marc aber nicht, stattdessen zerrt er noch doller an der Leine. Langsam wird es unangenehm, ich stemme mich mit den Vorderl?ufen gegen den Zug. Leider hat Marc offenbar beschlossen, etwas Grunds?tzliches daraus zu machen, denn er gibt nicht nach, sondern zieht unvermindert weiter. Der Boden ist so glatt, dass ich auf meinem Po in seine Richtung rutsche. Mist! Das passt mir gar nicht. Das Recht des St?rkeren ist ja so was von ungerecht! Ich fange an zu jaulen. Wenn Marc hier schon auf Powerplay setzt, soll wenigstens jeder mitkriegen, was mir hier widerf?hrt. Tats?chlich dauert es nicht besonders lang, bis sich ziviler Widerstand regt.

»He, Sie! Was machen Sie denn mit dem Hund? Sie tun dem Tier doch weh!«, emp?rt sich eine ?ltere Dame, die neben uns stehen bleibt.

»Gn?dige Frau, ich kann Ihnen versichern, dass ich ihm nicht weh tue. Im Gegenteil, mein kleiner Freund hier hat mich gerade in die Hand gebissen.«

»Na und? Kein Wunder, bei dem Stress, dem Sie das Tier hier aussetzen. Sie haben ja von Hunden offenbar gar keine Ahnung. Schlimm, solche Menschen wie Sie, die sich ohne Sachverstand ein Tier anschaffen.« Die Frau ist so aufgeregt, dass sie beim Sprechen richtig schnauft.

»Also, erstens geh?rt mir der Hund nicht. Und zweitens bin ich Tierarzt, ich kenne mich also sehr wohl mit Vierbeinern aus. Und ich sage Ihnen – dieses Exemplar leidet nicht, es ist einfach stur. Typisch Dackel.«

Jetzt schnappt die Dame regelrecht nach Luft.

»Sie wollen Tierarzt sein? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht! Kein Fachmann w?rde einem Tier so etwas antun.«

Marc lacht, und zwar ziemlich gepresst.

»Tja, glauben Sie es, oder lassen Sie es bleiben, davon h?ngt mein Seelenheil nun wirklich nicht ab. Schlimmer als unf?hige Tier?rzte sind meiner Meinung nach ?brigens Leute wie Sie. Vermeintliche Tierfreunde, die mit ihrer ?bertriebenen F?rsorge allen auf den Senkel gehen. Die Tiere eingeschlossen.«

»Was f?r eine Unversch?mtheit! Sie haben dem Tier weh getan, eindeutig!«

»Ach was! Herkules ist ein echtes Raubein, der kann so einiges ab. Eben ein echter Dackel! Und jetzt k?mmern Sie sich gef?lligst um Ihren eigenen Kram, Sie alte Schachtel. Ich jedenfalls habe zu tun.« Oh, oh – ich bin zwar kein Experte, was die menschliche Etikette anbelangt, aber mir scheint, dass Marc sich hier nicht als Kavalier zeigt. Eher ziemlich unh?flich. Der Stress in diesem vollgestopften Haus scheint ihm gar nicht zu bekommen.

»Was f?llt Ihnen ein!«, erbost sich die alte Frau auch prompt. »Ich werde die Gesch?ftsleitung informieren.«

Gesch?ftsleitung? Ich verstehe nicht, wovon sie redet, aber langsam wird mir ihre Solidarit?t und Anteilnahme etwas unangenehm. Zumal die Erw?hnung des Wortes »Gesch?ftsleitung« vermutlich nichts Gutes verheisst.

»Bitte, tun Sie, was Sie nicht lassen k?nnen. Ich setze jetzt meinen Einkauf fort. Es hat schliesslich nicht jeder so viel Zeit wie Sie als Rentnerin.« Spricht’s, beugt sich zu mir, nimmt

mich auf den Arm und dreht sich zum Gehen. Dabei streift er die Frau an der Schulter, ihre Handtasche f?llt zu Boden. Normalerweise w?rde Marc sich jetzt b?cken und sie aufheben, aber diesmal geht er einfach weiter.

Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, dass die Frau noch etwas rufen will, aber dann sind wir schon weg. Und zwar wieder in die Richtung, in der sich die geheimnisvollen Tische befinden. Inmitten der Traube von Kindern steht ein Mann, Marc steuert direkt auf ihn zu.

»Entschuldigen Sie, ich brauche fachkundige Hilfe. Ich suche ein Spiel namens Wii. Sagt Ihnen das etwas?«, will Marc von dem Mann wissen. Der nickt.

»Klar. Ist ein echter Verkaufsschlager dieses Jahr. Mit wie vielen Spielern wollen Sie es denn spielen?«

»Zu dritt. Oder nein – perspektivisch eher zu viert. Also, sehr perspektivisch zwar, aber immerhin.« Marc l?chelt, das kann ich deutlich sehen. Und ich w?rde jetzt auch l?cheln, wenn ich k?nnte. Denn egal, was perspektivisch bedeutet – offensichtlich bin ich wieder wohlgelitten und werde schon als Spielpartner eingeplant. Na gut, wenn man mir die Hand zur Vers?hnung hinstreckt, will ich mal nicht so sein. Als Zeichen der grossen, unverbr?chlichen Freundschaft zwischen Dackel und Mann lecke ich Marc ?ber das Gesicht.

»Herkules, h?r auf mit dem Quatsch! Du nervst heute richtig!« Marc setzt mich sehr abrupt wieder auf den Boden.

Hey, Friede! Was soll das denn? Ich dachte, der wollte sich wieder mit mir vertragen! Wenn ich nicht w?sste, dass Marc im Grunde genommen ein netter Kerl ist, w?re ich nun mehr als vergr?tzt. Zu seinen Gunsten nehme ich an, dass es nat?rlich auch die Sorge um Carolin ist, die ihn so eklig werden l?sst. Vermutlich kann er seine wahren Gef?hle nicht zeigen und reagiert deswegen hilflos-aggressiv. Genau. So wird es

sein. Bei diesem Gedanken bin ich ein bisschen stolz auf mich, zeigt es doch, wie sehr ich mittlerweile zum Menschenkenner geworden bin. Allerdings habe ich mir auch schon zahllose Gespr?che zu diesem Thema zwischen Carolin und ihrer Freundin Nina anh?ren m?ssen.Warum k?nnen M?nner ihre Gef?hle nicht zeigen? ist ein absoluter Dauerbrenner bei ihren Frauengespr?chen. Zu Recht, wie sich jetzt zeigt.

»Da, das ist der Mann!« Eine schrille Stimme unterbricht meine zweifelsohne wichtigen Gedanken ?ber mein Verh?ltnis zu M?nnern im Allgemeinen und Marc im Besonderen. Die ?ltere Dame, die eben zu meiner Hilfe eilen wollte, ist uns gefolgt. Und zwar nicht allein, zur Verst?rkung hat sie einen finster und entschlossen dreinblickenden Mann mitgebracht. Jedenfalls deute ich seinen Gesichtsausdruck, soweit ich ihn von hier unten erkennen kann, so. Er ist eben nicht … freundlich. Das beunruhigt mich allerdings gar nicht, denn er ist ein kleines, d?rres M?nnlein. Mit dem w?rde selbst einHund meiner Gr?sse spielend fertigwerden.

»Bleckede mein Name. Ich bin hier der Abteilungsleiter. D?rfte ich Sie in mein B?ro bitten?« Ganz offensichtlich ist Marc damit gemeint. Der scheint die Situation fast lustig zu finden, jedenfalls verzieht er seinen Mund zu einer Art Grinsen. Kein Wunder, vor so einem M?nnlein hat er nat?rlich keine Angst.

»Warum? Wie Sie sehen, bin ich gerade damit besch?ftigt, den Umsatz Ihres Hauses zu mehren, und mein Zeitbudget ist heute sehr beschr?nkt.«

»Es tut mir leid, Herr … ?h …«

»Wagner. Marc Wagner.«

»?h, Herr Wagner, aber diese Kundin hat sich ?ber Sie beschwert, und ich w?rde ?ber den Vorfall gerne etwas abseits dieses Trubels sprechen.«

»Ja? Ich nicht. Ich bin mir im ?brigen auch keiner Schuld bewusst und habe nichts zu verbergen, also nur heraus damit.«

Marc schiebt sein Kinn etwas nach vorne, was ihn f?r menschliche Verh?ltnisse sehr angriffslustig aussehen l?sst. Hoffentlich kommt Luisa nicht gleich zur?ck und findet ihren Vater in einen Kampf mit diesem Bleckede verstrickt. Andererseits – Marc ist locker zwei K?pfe gr?sser, das sollte f?r ihn kein Problem sein. Dabei f?llt mir auf, dass ich Menschen noch nie miteinander habe k?mpfen sehen. Eigentlich seltsam. Mit Worten streiten sie sich h?ufiger mal, selbst wenn sie Paare bilden wie Carolin und Marc. Aber so ein richtig ehrlicher Kampf, Mann gegen Mann oder meinetwegen auch Frau gegen Frau? Fehlanzeige. Da ist an jedem normalen Tag auf der Hundewiese an der Alster mehr los als hier, obwohl hier gerade so viele Menschen rumlaufen und die Stimmung so angespannt ist. Selbst in Standardsituationen habe ich das bisher nicht beobachtet. Also, als beispielsweise Carolin und Marcs Exfrau Sabine aufeinandertrafen, da h?tte man doch zumindest mal ein wenig Haareziehen erwarten k?nnen, oder? Aber nichts von alledem. Fast ein bisschen schade. Die Art allerdings, wie Marc jetzt guckt, verheisst zumindest den Hauch einer Chance auf eine Keilerei. Ah – und jetzt plustert sich auch Bleckede merklich auf. Sehr gut!

»Herr Wagner, ich muss Ihnen wirklich sagen …«

»Doktor Wagner,?brigens. So viel Zeit muss sein.«

»Meinetwegen, HerrDoktor Wagner. Unsere Kundin, Frau Goldberg, hat Sie dabei beobachtet, wie Sie diesen kleinen Hund geschlagen haben. Als sie Sie darauf ansprach, sind Sie ihr gegen?ber beleidigend und handgreiflich geworden. Ausserdem haben Sie zugegeben, dass der Hund gar nicht Ihnen geh?rt.«

»Bitte? Ich soll die Frau beleidigt haben? Und handgreiflich

geworden sein? Das ist doch Humbug! Den Hund habe ich nat?rlich auch nicht geschlagen, ich bin mir sicher, dass Frau Goldmann ein Opfer ihrer schlechten Augen oder ihrer lebhaften Phantasie wurde.«

Jetzt mischt sich die Frau ein.

»So eine Frechheit! Ich bin doch nicht blind! Und eingebildet habe ich mir das auch nicht – UND ausserdem heisse ich Goldberg, nicht Goldmann!«

»Von mir aus, dann eben Goldberg. Deswegen habe ich Herkules trotzdem nicht geschlagen. Ich bin doch kein Tierqu?ler.«

»Frau Goldberg sagt, Sie h?tten sie beschimpft. Und ihr einen Schlag versetzt.«

»Quatsch. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass ich sehr in Eile sei und vermutlich nicht so viel Zeit h?tte wie Frau Goldmann als Rentnerin.«

»Goldberg! Ich heisse Goldberg!«

»Aha. Sie geben also zu, dass Sie Frau Goldberg beschimpft haben?«, versucht Bleckede, das Gespr?ch wieder an sich zu reissen.

»Gar nichts gebe ich zu. Rentner ist keine Beleidigung, sondern eine Tatsache. Oder will Frau Goldmann etwa behaupten, dass sie die siebzig noch nicht gesehen hat?«

Die Goldberg schnappt wieder h?rbar nach Luft.

»Sehen Sie? Es geht schon wieder los!«

»Herr Dr. Wagner, bitte kommen Sie mit in mein B?ro!«

»Ich denke gar nicht daran.«

»Nun seien Sie doch vern?nftig!«

»Das ist ein freies Land. Sie k?nnen mir gar nichts, Sie Zwerg!«

VIER

Du hast was? Ein Hausverbot bei Karstadt?«

»Na ja, Hausverbot ist vielleicht ein bisschen ?bertrieben. Sagen wir mal so: Ich konnte meinen Einkauf dort nicht wie geplant fortsetzen.«

Wie wahr. Denn Bleckede war zwar in der Tat ein Zwerg. Aber er konnte trotzdem was. N?mlich zwei weitere Herren hinzubitten und uns dann den Weg zur T?r zeigen.Sehr unangenehm,sehr unangenehm. Soweit ich das vom Boden aus beurteilen konnte, haben alle anderen Menschen auf dem Weg zur T?r ziemlich geguckt. Gott sei Dank unterhielt sich Luisa direkt vor dem Kaufhausdings mit dem dicken falschen Weihnachtsmann und ging uns bei der ganzen Aktion nicht verloren. Ich h?tte nicht Carolins Gesicht sehen m?gen, wenn wir nicht nur ohne Geschenk, sondern auch ohne Luisa wieder aufgekreuzt w?ren.

Auch so ist Carolin nicht sonderlich begeistert vom Verlauf unserer kleinen Einkaufstour. Interessanterweise scheinen es Menschenweibchen nicht sehr zu sch?tzen, wenn die M?nner aneinandergeraten. W?hrend die durchschnittliche Dackeldame von einem ehrlichen Kampf R?de gegen R?de durchaus angetan und einem Rendezvous mit dem daraus hervorgehenden Sieger bestimmt nicht abgeneigt ist, kommt bei Carolin schon die Schilderung von Marcs kleinem Wortgefecht mit Bleckede ?berhaupt nicht gut an. Dabei haben sich die beiden nicht mal gehauen. Oder w?re das besser gewesen? Andererseits

– man kann nicht wirklich sagen, dass Marc als Sieger vom Platz gegangen ist. Vielleicht ganz gut, dass es bei ein bisschen Rumgeschrei geblieben ist.

Die Stimmung im Hause Wagner-Neumann ist jedenfalls richtig schlecht. Man kann die Anspannung fast mit Pfoten greifen. Ob das auch irgendetwas mit dem Weihnachtsmann zu tun hat? Marc ist sonst nicht aufbrausend, ich habe jedenfalls noch nie erlebt, dass er sich quasi aus dem Nichts heraus so mit anderen Menschen gestritten hat wie mit Zwerg Bleckede. Was hat diese Frau Winkelmann noch gesagt? Das Fest der Liebe? Das passt alles irgendwie nicht zusammen. Oder es ist Carolins schwere Krankheit, die Marc verzweifeln l?sst.

Marc und Carolin schweigen sich derweil ein bisschen an, von Vers?hnung keine Spur. Ich beschliesse, meinen Zweitlieblingsplatzvor dem Sofa aufzugeben und mich zu verziehen. Luisa scheint es?hnlich zu gehen, die ist bereits in ihr Kinderzimmer abgetaucht. Am besten leiste ich ihr ein wenig Gesellschaft, geteiltes Leid ist halbes Leid. Mit der Vorderpfote kratze ich an der Zimmert?r, sofort macht Luisa auf.

»Na, S?sser? Doof, wenn die sich streiten, oder? Komm rein, ich kraul dich ein bisschen.«

Das muss sie mir nicht zweimal sagen! Kaum, dass sich Luisa auf ihr Bett gesetzt hat, h?pfe ich mit einem Satz auf ihren Schoss und drehe mich dann auf den R?cken. Zirkusreif, m?chte ich meinen, denn so ein Satz ist mit meinen kurzen Beinen gar nicht so leicht. Sie sind zwar ein klein wenig l?nger als bei reinrassigen Dackeln, aber immer noch ziemlich kurz – kein Vergleich etwa zu Cheries Beinen. Cherie ist eine Golden-Retriever-Dame mit unglaublich schlanken Fesseln und ausserdem die sch?nste H?ndin, die ich jemals gesehen habe. Aber das ist eine andere Geschichte. Mit dem Weihnachtsmann hat sie jedenfalls nichts zu tun.

Luisa krault mich unter dem Kinn und am Bauch, ich zucke vor Vergn?gen mit den Pfoten. Herrlich, am liebsten w?rde ich schnurren, aber ich habe bis heute nicht herausgefunden, wie Beck das immer hinkriegt. Also schlecke ich einmal kr?ftig um meine Schnauze, in der Hoffnung, Luisas Finger zu erwischen. Das klappt und Luisa kichert.

»Mach dir keine Sorgen um Papa und Carolin, die vertragen sich schon wieder.« Redet Luisa jetzt mit sich selbst oder mit mir? Ich f?hle mich thematisch nat?rlich sofort angesprochen, denn genau dar?ber mache ich mir gerade Gedanken. Herr Beck vertritt allerdings die These, dass Menschen im Grunde genommen immer Selbstgespr?che f?hren, wenn sie mit Tieren reden. Nur, dass sie sich dabei besser f?hlen, weil es schon etwas komisch ist, wenn so gar niemand zuh?rt. Will sich Luisa also nur selbst tr?sten? Ich versuche, in ihr Gesicht zu schauen. Weil Menschen ihre Haare nicht im Gesicht,sondern nur dar?ber tragen, kann man aus ihrer Mimik immer eine ganze Menge ?ber ihren Seelenzustand ableiten. Hochgezogene Mundwinkel bedeuten gute Laune, heruntergezogene schlechte. Kommen dann noch Tr?nen dazu, wird es ganz finster. Ich bin vielleicht noch kein solcher Experte wie Herr Beck, aber zu einer gewissen Kennerschaft bei der Beurteilung von menschlichen Gem?tszust?nden habe ich es mittlerweile auch schon gebracht.

Ich betrachte Luisas Gesicht – nein, traurig sieht sie nicht aus. Eher ganz zufrieden mit sich und der Welt. Also redet sie wirklich mit mir. Toll, offensichtlich geht die Kennerschaft inzwischen auch in die andere Richtung, und Luisa kann sich ganz gut in meine Gedankenwelt einfinden. Um ihr zu signalisieren, dass sie aufdem richtigen Weg ist, wedele ich mit dem Schwanz. Auf dem R?cken liegend ist das gar nicht so einfach, und ich fange dabei auch ganz sch?n zu rudern

an, um nicht von Luisas Schoss zu fallen. Bevor aber noch ein Ungl?ck passiert, ist die Botschaft angekommen. Luisa nimmt mich in ihre Arme und fl?stert mir ins Ohr.

»Herkules, so ist das an Weihnachten. Alles soll sch?n sein, und das ist manchmal ganz sch?n anstrengend.«

Das scheint mir auch so – die entscheidende Frage ist nur: warum? Und was ich nach wie vor nicht verstehe: Ich habe doch schon zweimal Weihnachten mit Marc und Carolin gefeiert, und da wurde im Vorfeld nicht einmal halb so viel Gewese betrieben wie jetzt. Und nur, weil Luisa dieses Mal dabei ist und vielleicht der Weihnachtmann kommt, diese ganze Aufregung? Was ist bloss mit meinen Menschen los? Sind die alle verr?ckt geworden? Wenn sich selbst der sonst so entspannte Marc in diesem Kaufhausdings schon fast eine Schl?gerei liefert? Offenbar wirke ich f?r Dackelverh?ltnisse und trotz der vielen Haare um meineSchnauze herum extrem skeptisch, denn Luisa legt noch mal nach.

»Weisst du, ich glaube, Papa hat Angst, dass ich Weihnachten hier nicht sch?n finde. Die letzten beiden Jahre habe ich immer mit der Mama gefeiert. Und weil sich Papa und Mama ja nicht so gut verstehen, bef?rchtet Papa vielleicht, dass ich dann Heimweh bekomme und wieder nach M?nchen will. Verstehst du?«

M?nchen? Ich knurre ein bisschen, was mir gerade bei dem Gedanken an Marcs Exfrau besonders leichtf?llt. Sabine, diese falsche Schlange, hatte im vorletzten Sommer doch tats?chlich versucht, Marc meiner Carolin wieder abspenstig zu machen. So sch?n kann Weihnachten mit dieser furchtbaren Frau beim besten Willen nicht sein!

»Keine Sorge, Herkules«, interpretiert Luisa mein Knurren richtig, »ich freue mich, dass ich dieses Jahr hier bin. Auch wenn das mit dem Weihnachtsmann nicht klappt.«

Weihnachtsmann? Ich strample mich frei, springe von Luisas Arm, hocke mich direkt vor ihre F?sse und mustere sie interessiert. Jetzt wird es spannend! Was weiss Luisa ?ber den Weihnachtsmann?

»Es ist n?mlich so, Herkules: Ich glaube gar nicht mehr an den Weihnachtsmann. Schon seit letztem Jahr nicht mehr. Da war ich doch zur Klassenfahrt im Schullandheim, und Paulis Klasse war auch da, und abends haben wir Flaschendrehen gespielt. Und weil ich verloren habe, musste ich ein Geheimnis verraten. Da habe ich erz?hlt, dass ich weiss, wo der Weihnachtsmann wohnt. Weil ich n?mlich in M?nchen gesehen habe, dass unser Nachbar den Weihnachtsmannanzug an seiner Garderobe h?ngen hatte und dann sp?ter mit Rauschebart und einem grossen Sack ?ber den Flur gehuscht ist. Als ich das erz?hlt habe, haben sich alle totgelacht. Am meisten Pauli. Dabei finde ich den so toll! Na, und dann haben mir alle erz?hlt, dass es den Weihnachtmann gar nicht gibt. Alle waren sich einig, dass sich die Erwachsenen das nur ausdenken, damit wir Kinder brav sind, und dass unser Nachbar keinesfalls der echte Weihnachtsmann war. Pauli konnte gar nicht mehr aufh?ren zu lachen. Richtig ?tzend war das. Tja, seitdem weiss ich das. Und letzte Woche habe ich geh?rt, wie Papa Carolin erz?hlt hat, dass er wahrscheinlich niemanden mehr aufgetrieben kriegt, der bei uns zu Weihnachten den Weihnachtsmann spielt. Es stimmt also.«

Kann das wahr sein? Das w?re ja sensationell, SENSATIONELL! Nicht, dass mir die Existenz des Weihnachtsmanns irgendetwas bedeuten w?rde, aber zum ersten Mal in meinem Leben als Haustier w?sste ich etwas ?ber Menschen, was Herr Beck noch nicht herausgefunden hat. Es gibt keinen Weihnachtsmann! Ich sp?re ein triumphalesGef?hl in mir hochsteigen, fast w?re ich versucht, sofort zu Carolins Werkstatt

zu laufen, um Herrn Beck das unter die Nase zu reiben. Von wegendie Menschen warten auf den Weihnachtsmann. So’n Quatsch! Tun sie eben nicht!

Wobei: Worauf warten sie dann? Und wieso sind sie alle so nerv?s? Es war ja nicht nur Marc, der kurz davor war, die Nerven zu verlieren. Alle anderen Zweibeiner machten auch einen sehr angespannten Eindruck. Gut, bei Marc f?hre ich das auf Carolins schlechten Gesundheitszustand zur?ck. Aber bei Herrn Bleckede? Oder Frau Goldberg? Und all den anderen, die momentan so kopflos durch die Gegend rennen? Nur an der Geschenkearie kann es ja nicht liegen, denn wenn die meisten Erwachsenen wissen, dass es keinen Weihnachtsmann gibt, haben sie doch ausreichend Zeit, sich auf Weihnachten vorzubereiten und die Geschenke selbst zu besorgen. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das schliesslich jedes Jahr und kommt somit nicht ?berraschend. Das d?rfte die Menschen nicht vor allzu grosse Probleme stellen.

»Weisst du, Herkules, auch ohne Weihnachtsmann freue ich mich dieses Jahr besonders. Denn diesmal feiern wir als richtig grosse Familie! Oma kommt, und Carolins Eltern kommen auch. Die sind ja auch so ein bisschen wie Oma und Opa f?r mich. In M?nchen habe ich immer nur mit Mama und Jesko zusammen gefeiert. Da gibt’s nat?rlich viel weniger Geschenke. Ach, das wird bestimmt sch?n, wenn sich Oma und die Fast-Oma endlich kennen lernen! Ich mag die beiden so sehr, also m?gen sie sich bestimmt auch gleich. Und meine beiden echten Opas sind ja schon tot, da ist es doch super, dass ich jetzt noch einen Ersatz-Opa bekomme, nicht?«

Ich muss an meinen eigenen Opa denken. Opili war der schneidigste Dackel, den die Welt je gesehen hatte. Schlau, furchtlos und g?tig. Ein exzellenter J?ger. Ein treuer Kamerad. Ich habe nie erlebt, dass sich der alte von Eschersbach

jemals zu einer Gef?hlsregung hat hinreissen lassen. Aber als Opili einmal von einer Wildsau angegriffen und verletzt wurde, da hat sich der Alte wirklich Sorgen um seinen treuen Jagdhund gemacht, so hat es Opili mir erz?hlt. Opili hatte eine grosse Wunde, die gen?ht werden musste, und der Alte hat zwei N?chte an seinem Korb gewacht. So wichtig war Opili f?r ihn. Und f?r mich: Er ist immer noch mein grosses Vorbild. Alles, was ich ?ber die Jagd weiss, weiss ich von ihm.

Wenn der Ersatz-Opa auch nur halb so bedeutend f?r Luisa wird, wie Opili es f?r mich war, dann hat sie wirklich Gl?ck und kann bestimmt viel von ihm lernen. Wobei ich mir gerade nicht so sicher bin, was Menschenkinder ?berhaupt von ihren Ahnen lernen. Wenn ich es richtig verstanden habe, lernt Luisa die meisten Sachen in der Schule. Dort geht sie gemeinsam mit vielen anderen Kindern hin und lernt – ja, was eigentlich? Ich w?rde vermuten, auf alle F?lle die Sache mit dem Lesen und Schreiben. Darum beneide ich sie. Denn damit k?nnen die Menschen sehr viele Sachen machen, die kein Hund jemals bewerkstelligen w?rde. Zum Beispiel kann man sich miteinander verst?ndigen, ohne sich zu sehen. Aber nicht wie am Telefon. Also, die Menschen sprechen nicht miteinander. Sondern sie schreiben ihre Gedanken auf ein Blatt Papier. Und dann kann ein anderer Mensch sie lesen. Und obwohl die beiden Menschen vielleicht kein Wort miteinander gewechselt haben, weiss der Leser, was der Schreiber gedacht hat. Mal angenommen, ich k?nnte schreiben. Dann w?rde ich auf einen Zettel schreiben »Bin im Garten.« Und wenn Herr Beck dann auch noch lesen k?nnte, w?rde er auf den Zettel gucken und w?sste, wo er mich findet. Faszinierend, oder? Und diese F?higkeit, die lernen Kinder in der Schule. Das bedeutet, nicht jedes Kind lernt f?r sich alleine von Mutter oder Vater, sondern alle zusammen von irgendeinem anderen

Menschen. Eines muss ich den Zweibeinern lassen – effektiv sind sie schon. Allerdings fangen sie f?r meinen Geschmack mit der so gewonnenen Zeit nichts Sinnvolles an. Wie etwa entspanntes Rumliegen. Stattdessen rennen sie gleich wieder los undmachen die n?chste Sache. Auch Marc und Carolin liegen sehr selten einfach nur rum, und das, obwohl sie doch so ein sch?nes Sofa haben. Eins steht fest: Gut tut das den Menschen nicht. Womit ich wieder beim Ausgangspunkt meiner ?berlegungen w?re: Was macht diesesWeihnachten bloss mit den Zweibeinern? Die sind wirklich noch hektischer als sonst. Und das, obwohl sie doch anscheinend gar nicht auf den Weihnachtsmann warten.

Die Gelegenheit, die Frage mit dem eigentlich unangefochtenen Meister in puncto Menschenkenntnis zu diskutieren, ergibt sich fr?her als erwartet. Carolin beschliesst, heute doch noch in die Werkstatt zu gehen, und nimmt mich mit. Schon vor dem Hauseingang begegne ich Herrn Beck.

»Kumpel, ich habe sensationelle Neuigkeiten«, raune ich ihm im Vor?bertraben zu.

»Alles klar, ich komme mit.« Beck heftet sich an unsere Fersen und folgt uns bis zur Eingangst?r der Werkstatt.

»Na? Ist Frauchen nicht da? Oder Sehnsucht nach vierbeiniger Gesellschaft?«, will Carolin von ihm wissen. Gewissermassen als Antwort dr?ckt sich Beck noch n?her an ihr Bein, sie schliesst die T?r auf und l?sst uns hineinschl?pfen, bevor sie selbst geht. Wir verziehen uns gleich in Richtung K?che.

»Hey, Herkules, noch so geschw?cht von deinem Einkaufsbummel mit Marc, dass du eine kleine St?rkung brauchst?« Carolin folgt uns und holt tats?chlich eine Dose aus dem Schrank. Oje, hoffentlich wird ihr nicht gleich wieder schlecht! Aber als Carolin die Dose ?ffnet, passiert rein gar

nichts – ausser der Tatsache, dass sie meinen Fressnapf mit einem H?ufchen Futter f?llt. Dann verl?sst sie die K?che, und ich mache mich ?ber den Napf her. Herr Beck schnauft.

»Nun sag bloss, die sensationelle Neuigkeit ist, dass du auf einmal gerne Dosenfutter frisst.«

Hastig schlinge ich den letzten Bissen hinunter, dann sch?ttle ich den Kopf.

»Nat?rlich nicht. Ich habe nur einen so anstrengenden Vormittag hinter mir, dass ich mich kurz st?rken musste. Aber jetzt kommt’s!« Der Bedeutung meiner Entdeckung angemessen recke ich mich zu voller Gr?sse und schaue Herrn Beck direkt an. »Es gibt gar keinen Weihnachtsmann.«

Herr Beck sagt erst einmal nichts. Allerdings schaut er so skeptisch, wie es ein alter, fetter Kater nur kann.

»Wirklich. Das ist mein voller Ernst. Es gibt keinen Weihnachtsmann. Worauf auch immer die Menschen warten, wenn sie Kerzen anz?nden und Schokolade essen – der Weihnachtsmann ist es jedenfalls nicht.«

»Hm.«

Bitte? Ist das etwa alles? Ein schlichtesHm? Ich bin entt?uscht. Bl?der Beck. Der will doch nur nicht zugeben, dass ich etwas ?ber die Menschen herausgefunden habe, was er noch nicht wusste. Ich setze noch einen drauf.

»Also bringt er auch keine Geschenke. Nicht einmal f?r die Kinder. Wenn man welche haben will, muss man sie selbst besorgen. Und dann kann man einen anderen Menschen engagieren,der so tut, als sei er der Weihnachtsmann. Ist er aber gar nicht. Weil es ihn ja, wie gesagt,?berhaupt nicht gibt.« Ha! Und jetzt kommst du, Kater!

»Herkules. Ich habe ihn selbst gesehen. Mit eigenen Augen. Er hatte einen langen, weissen Bart und sehr buschige Augenbrauen. Und er war sehr echt.«

»War er eben nicht. Wie ich schon sagte: Wenn man einen will, muss man ihn engagieren. Und ein anderer Mensch muss so tun, als ob er der Weihnachtsmann sei. Von mir aus auch mit langem Bart und buschigen Brauen.«

»Ich habe noch nie einen Menschen mit so langem Bart gesehen«, kontert Beck. Kein schlechter Einwand. Ich denke einen Moment dar?ber nach. Aber nur einen kurzen. Dann f?llt mir wieder ein, dass ja auch der Weihnachtsmann vor dem Kaufhaus einen solchen Bart hatte.

»Also, der Typ vor dem Kaufhaus hat auch einen Bart. Und du hast selbst gesagt, dass das ein falscher Weihnachtsmann war. Wahrscheinlich hat der sich den Bart nur angeklebt. Wenn es um ihr nicht vorhandenes Fell geht, sind Menschen doch immer sehr einfallsreich.« In diesem Punkt bin nun wieder ich der Experte. Schliesslich lebe ich seit geraumer Zeit mit einer Frau zusammen, die Stunden damit zubringen kann, ihren Haaren auf dem Kopf eine andere Form zu geben. Das kann man bestimmt auch mit Haaren an anderen Stellen des K?rpers machen.

Beck guckt finster. Kein Wunder. Er hasst es, mal nicht im Recht zu sein.

»Und wie willst du das jetzt herausgefunden haben, Sp?rnase Superdackel?«

P?h, das perlt doch an mir ab.

»Luisa hat es mir erz?hlt. Sie sagt, der Weihnachtsmann sei nur eine Erfindung der Erwachsenen, damit die Kinder sch?n brav sind und sich auf Weihnachten freuen.«

»Luisa hat es direrz?hlt. Nat?rlich. Deine kleine Freundin.«

»Ja. Genauso war es.« Auf das Beck’sche Menschen-redennicht-mit-Tieren-Geunke gebe ich l?ngst nichts mehr.

»So, so. Und was hat sie noch erz?hlt, die liebe Kleine?«

»Na, dass Marc dieses Jahr vergessen hat, einen Weihnachtsmann zu engagieren. Und dass das aber gar nicht schlimm ist, weil sie dieses Mal Weihnachten endlich alle zusammen feiern: Marc. Und Carolin. Und Marcs Mutter und die Eltern von Carolin, also die Ersatz-Oma und der Ersatz-Opa.«

»Aha.«

»Glaubst du mir jetzt?«

»Vor allem glaube ich jetzt, dass du dann dieses Jahr etwas kennen lernen wirst, was ohnehin viel schlimmer ist als das Auftauchen des echten oder des falschen Weihnachtsmannes.«

»H??«

»Eine richtige, echte Familienfeier.«

F?NF

Sag mal, mag deine Mutter Fisch?«

»Nicht besonders, nein. Warum?«

»Ich denke ?ber die Vorspeise nach. Und ich ?berlege, ob Balik-Lachs mit Blinis und Cr?me fra?che gut w?re. Schmeckt super, und man kann es ganz einfach vorbereiten. Noch ein L?ffelchen Kaviar, fertig!«

Carolin sch?ttelt sich.

»Brrr, Fischeier, wie eklig. Nee, selbst wenn meine Mutter das m?gen sollte – mir wird schon beim Gedanken daran schlecht.«

Marc seufzt. Hm, ich finde auch, dass schon das Wort»Fischei« nicht besonders lecker klingt. Eben fischig. Da h?tte ich ja gleich eine Katze werden k?nnen, wenn ich so etwas gerne fressen w?rde. Wie das wohl aussieht? Ich kann kaum glauben, dass etwas so Grosses wie ein Ei in etwas so Kleines wie einen Fisch passt. Oder gibt es auch gr?ssere Exemplare als die Goldfische, die bei Luisas Oma im Glas herumschwimmen?

»Mann, ist das momentan schwierig mit dir. Ich hoffe, das gibt sich wieder und du bist irgendwann ganz die Alte.«

Carolin lacht.

»Keine Sorge – noch ein halbes Jahr, dann ist alles ?berstanden, und ich kann wieder essen, was ich will.«

WUFF! Wenn ich das gerade richtig verstanden habe, sind das die tollsten Nachrichten seit langem. Ach was, die sch?nsten

Nachrichten ?berhaupt! Sensationelle Nachrichten! Caro ist zwar krank, aber nicht sterbenskrank, sondern in einem halben Jahr wieder gesund! Also hatte Beck tats?chlich Recht, und ich habe da etwas in den falschen Hals bekommen. Eigentlich hasse ich es, dass dieser fette Kater meistrichtigliegt, aber in diesem Fall bin ich begeistert. Ich w?rde jubeln und singen, wenn ich es denn k?nnte. So belle ich nur kurz und laut.

»Siehst du, Herkules freut sich auch schon darauf, wieder mit der alten Carolin zusammenzuwohnen«, interpretiert Marc meinen Gef?hlsausbruch halbwegs richtig.

»Das glaube ich. Als ich ihm neulich eine Dose aufgemacht habe, musste ich mich sogar ?bergeben. Sch?n war das nicht.«

»Okay, Dosenfutter scheidet als Vorspeise f?r unser Weihnachtsmen? demnach auch aus. Neuer Vorschlag: Gef?llte sizilianische Tomaten. Mit Kapern und schwarzen Oliven. Die Zutaten k?nnte ich noch ganz schnell morgen fr?h besorgen.« Marc schaut Carolin erwartungsvoll an.

Die sch?ttelt schon wieder den Kopf.

»Marc, es gibt einen ganz traditionellen G?nsebraten, dessen Hauptdarsteller Gustav Gans schon seit zwei Tagen auf unserem Balkon lagert. Da passt eine sommerliche, mediterrane Vorspeise doch gar nicht. Was ist denn mit einer Rinderkraftbr?he vorweg oder Feldsalat mit Speck? Das kannst du auch alles morgen besorgen.«

»Langweilig ist das. Du weisst doch, wie gerne ich koche. Und gerade, wenn es das erste gemeinsame Weihnachten mit deinen Eltern und meiner Mutter ist, darf es ruhig etwas Besonderes sein.«

»Tja, und wahrscheinlich bist du nachher so gestresst, dass alles in die Hose geht, und dann war es auch das letzte

gemeinsame Weihnachten. Marc, bitte mach nicht so eine Welle, sondern einfach eine Dose auf. Ich finde gerade alles anstrengend genug!« Carolin schaut sehr leidend, Marc legt den Arm um sie und zieht sie zu sich heran. Noch vor wenigen Minuten h?tte mir das Angst gemacht, aber jetzt bin ich guter Dinge. Carolin wird wieder gesund, das ist alles, was f?r mich gerade z?hlt. Meinetwegen soll sie sich ein bisschen schonen, der Rest kommt schon von selbst.

»Mein armes Spatzl. Ich verspreche dir, du musst dich um nichts k?mmern. Du kannst die ganze Zeit die F?sse hochlegen, dich schonen und dich auf ein tolles Weihnachten freuen. Daf?r werde ich sorgen, Ehrenwort!«

»Ich weiss nicht. Ich bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob das mit dem grossen Elterntreffen so eine gute Idee war.«

»Doch, war es bestimmt. Du wirst sehen, es wird ein tolles Fest.«

Die beiden k?ssen sich, und ich beschliesse, dass ich mir nun auch ein paar Streicheleinheiten verdient habe. Ich schiebe meine Nase zwischen Marc und Caro.

»Herkules, du sollst doch nicht betteln!«

Wieso betteln? Ich will kuscheln, und zwar pronto! Okay, wir befinden uns in der K?che, und tats?chlich hatte sich Marc gerade ein Brot geschmiert, aber eigentlich bettle ich nur bei Menschen, die diesbez?glich ein gutes Herz haben. Dazu z?hlt Marc eindeutig nicht, auch wenn er ansonsten ein nettes Herrchen ist, der alte Schlankheitsfanatiker!

»Nun sei doch nicht so streng mit ihm und gib ihm ein Eckchen ab. Du weisst schon, Fest der Liebe und so!«

Marc rollt mit den Augen, l?sst sich aber erweichen.

»Na gut. Weil Weihnachten ist« Dann h?lt er mir das St?ckchen vor die Nase. Lecker! Schinken! Schnell schnappe

ich zu, nicht, dass er sich das noch anders ?berlegt. Irgendetwas muss doch dran sein an der Liebe in diesen Tagen, wenn Marc alle Erziehungsprinzipien mich betreffend ?ber Bord wirft.

»Aber jetzt mal im Ernst: Ich gelobe, dass ich mich alleine um ein sch?nes Dreigangmen? k?mmern werde, dass Gustav eine sehr knusprige Gans sein wird – und dass ich vorher meine Mutter einnorde, damit sie nicht allen auf den Keks geht.«

Carolin nickt.

»Ja. Der letzte Punkt – nimm’s mir nicht ?bel – scheint mir der wichtigste zu sein.«

Marc lacht.

»Das nehme ich dir nicht ?bel, Spatzl. Ich kenne meine Mutter. Sie meint es immer gut, aber das Gegenteil von gut ist eben gut gemeint.«

Dieser Spruch k?nnte nun wieder von Herrn Beck stammen. Ein bisschen b?sartig. Etwas gut zu meinen ist doch sch?n! Die meisten Menschen bringen meiner Meinung nach viel zu wenig guten Willen mit. St?ndig m?keln sie an allem und jedem herum, anstatt ihr Leben, das sie schliesslich selbst in der Hand haben, zugeniessen. Mecker, mecker, mecker. Genau wie jetzt: Ich bin mir sicher, hier leichte Kritik an Marcs Mutter herauszuh?ren. Dabei ist Hedwig Wagner eine herzensgute Frau, und im Gegensatz zu ihrem Sohn hat sie ein sehr entspanntes Verh?ltnis zur F?tterung von Haustieren. Im letzten Sommer hat sieMarc eine ganze Zeitlang in der Praxis geholfen. Danach hatte ich einen kleinen Tick zugenommen. Oder, wie Herr Beck es ausdr?ckte: Ich sah aus wie eine Wurst auf vier Beinen. Stichwort: b?sartig. Also, wenn Oma Hedwig kommt, wird Weihnachten auch f?r mich als Hund eine kulinarische Offenbarung!?ber die

restlichen Auswirkungen ihres Besuchs masse ich mir kein Urteil an.

»Und als Zeichen meiner Umsicht und meines guten Willens habe ich meine Mutter bereits davon abgebracht, morgen schon zum Fr?hst?ck hier aufzuschlagen. Sie wollte helfen, ich habe ihr gesagt, dass das nicht n?tig ist.«

»Gut so!«

»Wann kommen deine Eltern eigentlich?«, will Marc von Carolin wissen.

»Die haben sich schon f?r das Krippenspiel angek?ndigt. Wenn Luisa die Maria spielt, wollen sie nat?rlich dabei sein.«

Marc l?chelt.

»Die stolzen Quasi-Grosseltern! Das freut mich. ?berhaupt finde ich deine Eltern ziemlich nett.«

»Na, Hauptsache, mein Vater f?ngt nicht wieder mit den bedeutendsten F?llen seiner Strafverteidigerkarriere an.«

»Och, warum nicht? Meine Mutter w?rde an seinen Lippen h?ngen. Die liest ja auch Kriminalromane, und bei deinem Vater klingt alles mindestens so dramatisch.«

Carolin nickt.

»Ja, das liegt daran, dass es sich bei seinen Erz?hlungen in der Regel auch um reine Fiktion handelt. Oder zumindest um starke ?bertreibung. Wie dem auch sei – ich glaube, sie kommen um drei. Ich habe ihnen gesagt, dass die Kirche ziemlich voll sein wird und man keinen Fehler macht, eine halbe Stunde vor Spielbeginn da zu sein. Wenn sie eingetrudelt sind, solltet ihr alle um halb vier schon r?bergehen.«

»Wieso ihr? Kommst du nicht mit?«

»Doch. Aber als gute Patchworkmutti bin ich nat?rlich schon eine Stunde vorher zur letzten Kost?manprobe dabei.

Ich muss mich um die Heiligen Drei K?nige k?mmern, Balthasar hat sich beide Arme gebrochen und braucht eine besondere Konstruktion, um die Myrrhe trotzdem m?glichst elegant ?berreichen zu k?nnen.«

Krippe? K?nige? Myrrhe? Was wird denn hier gespielt? Und apropos gespielt: Luisa spielt die Maria? H??

»Beide Arme? Gottogott. Na ja, und macht trotzdem noch mit, das nenne ich Einsatz! Ich hoffe nur, dass wir alle um f?nf wieder zu Hause sind, denn um halb sechs kommt der Weihnachtsmann.«

»Sch?n, dass das doch noch klappt.«

»Jepp! Ich habe noch den perfekten Kandidaten gefunden. Er ist motiviert bis in die Haarspitzen, ich habe heute Vormittag mit ihm telefoniert. Das Goldene Buch hat er auch dabei, Knecht Ruprecht hat allerdings keine Zeit, ich werde also bei der Geschenk?bergabe assistieren m?ssen.«

»Wer ist es denn?«

»Der echte Weihnachtsmann nat?rlich! Mehr wird nicht verraten.«

Carolin lehnt sich gegen Marc und seufzt.

»Ach, es ist zwar ein tierischer Stress und sehr aufregend, aber irgendwie freue ich mich doch auf morgen!«

In dieser Nacht kann ich kaum schlafen. Unruhig w?lze ich mich in meinem K?rbchen hin und her, stehe auf, laufe zum Flur, horche nach draussen, laufe wieder zur?ck und versuche doch noch mal, die Augen zu schliessen. Aber das will mir einfach nicht gelingen, zu vieles geht mir durch meinen kleinen Dackelkopf. Etwa die Frage, ob es den Weihnachtsmann nicht etwa doch gibt. Immerhin war sich Beck da so sicher. Und Marc hat nun auch wieder behauptet, dass der echte Weihnachtsmann kommt. War das nur ein Spass? Oder die Sache

mit Maria und dem K?nig. Was hat das alles zu bedeuten? Warum war Weihnachten in den letzten Jahren verglichen damit so komplett unspektakul?r? Und was ist das ?berhaupt f?r eine omin?se Krankheit, an der Carolin leidet? Immerhin weiss sie jetzt schon, wann sie wieder gesund sein wird. Seltsam, seltsam. W?hrend ich noch hin und her ?berlege, h?re ich tapsige Schritte auf dem Gang. Luisa! Sie ist offenbar auch noch wach.

Schnell h?pfe ich wieder aus meinem K?rbchen, sause raus aus der K?che und ab in den Flur. Tats?chlich, da steht Luisa. Als sie mich sieht, kommt sie und kniet sich neben mich.

»Na, Herkules? Kannst du auch nicht schlafen?«

Ich lecke ihr die H?nde ab.

»Weihnachten ist immer so aufregend, nicht? Das sp?rst du bestimmt auch. Aber du wirst sehen, es ist auch richtig sch?n, ich freue mich schon so. Ich hoffe nur, dass ich meinen Text morgen nicht vergesse. Ich darf n?mlich die Maria sein, weisst du? Eine grosse Ehre!«

Ich w?nschte mal wieder, ich k?nnte sprechen. Die FrageWer zum Kuckuck ist die Maria? l?sst sich einfach nicht in ein Schwanzwedeln verpacken. Wahrscheinlich werde ich es nie erfahren. Jaul!

»Hast du Hunger?«

Nein. Ausnahmsweise mal nicht.

»M?chtest du ein St?ck Wurst?«

Na ja. Vielleicht nicht Hunger. Ein bisschen Appetit allerdings schon. Und jetzt wedle ich doch mit dem Schwanz.

»Ah, sehr gut, Herkules. Wir beide verstehen uns auch ohne Worte!«

Sie hat Recht: Das Gespr?ch zwischen Mensch und Tier wird manchmal einfach ?berbewertet, es geht auch prima

ohne. Luisa begleitet mich zur?ck in die K?che und holt mir das versprochene St?ck Wurst aus dem K?hlschrank. Dann geht sie zur?ck in ihr Bett und ich in mein K?rbchen.

Als Marc fr?hmorgens in die K?che stolpert, um einen Kaffee zu kochen, habe ich anscheinend doch noch ganz gut geschlafen, jedenfalls f?hle ich mich einigermassen fit. Entschlossen, diesem offenbar wichtigen Tag die Stirn zu bieten. Und Vorsicht, Tag! Es ist die Stirn eines Jagdhundes!

Marc g?hnt und wuschelt sich selbst durch die Haare.

»Morgen, Herkules! Bereit f?r die grosse Sause?«

Ich wedele mit dem Schwanz.

»Ah, sehr gut. Weisst du, manchmal w?rde ich gerne mit dir tauschen. Einfach mal ein Haustier sein. Sich um nichts k?mmern m?ssen. Und von dem ganzen Stress so rein gar nichts mitbekommen. Sich also gar keinen Kopf machen. Na ja.«

Bitte? Der spinnt wohl! Wenn der w?sste, um was ich mir hier alles Gedanken mache.Einfach mal Haustier sein und sich um nichts k?mmern – wenn ich das schon h?re! Der macht sich offensichtlich ?berhaupt keine Vorstellung, wie oft ich ihn schon aus seinem eigenen Schlamassel gerettet habe. Wenn ich allein daran denke, wie er sich damals erst mit Nina verabredet hat, die daraufhin sp?ter sauer auf Caro war. Also, wenn ich da nicht entschieden und energisch eingegriffen h?tte, dann w?ren Marc und Caro heute mit Sicherheit kein Paar. Oder die Geschichte mit seiner Exfrau. Ich sehe uns noch im Caf? Violetta sitzen, und sie versucht, sich an ihn ranzumachen. Nur gut, dass ich dabei war und …

Es klingelt an der T?r. Nanu? Das ist ja ungew?hnlich. Wenn es morgens noch dunkel ist, kommen hier eigentlich nie andere Menschen vorbei. Auch Marc scheint sich zu wundern.

Jedenfalls guckt er kurz zu mir runter, zuckt dann mit den Schultern und verschwindet Richtung Wohnungst?r. Ich renne nat?rlich hinterher. Vielleicht ist es ja der Weihnachtsmann!

Marc?ffnet die T?r – und erstarrt.

»Mutter! Was machst du denn schon hier?«

Tats?chlich. Vor der T?r steht Hedwig Wagner.

SECHS

Die Stimmung in der K?che entspricht der momentanen Jahreszeit: sehr frostig. Wortlos stellt Marc eine Tasse auf den Tisch, an dem seine Mutter jetzt sitzt.

»Danke f?r den Kaffee, mein Junge. Wo ist eigentlich Carolin?«

»Carolin schl?ft noch. Sie f?hlt sich nicht so gut.«

»F?hlt sich nicht. Aha.« Hedwig Wagner macht eine kurze Pause und atmet schwer. »Nur gut, dass ich gekommen bin.« Das klingt irgendwie missbilligend, ganz so, wie auch der alte von Eschersbach geklungen h?tte, wenn er jemand des M?-ssiggangs ?berf?hrt h?tte, aber nat?rlich weiss Hedwig noch nichts von Caros Krankheit.

Marc seufzt und nimmt einen Schluck von dem Kaffee, den er sich selbst eingegossen hat, dann starrt er an die K?chendecke. Was es da wohl Interessantes zu sehen gibt? Bevor ich es selbst ergr?nden kann – was bei meinem kurzen Hals naturgem?ss nicht ganz einfach ist –, schaut Marc schon wieder zu Oma Wagner hin?ber. Der Anblick scheint ihn nicht wirklich zu erfreuen, er riecht gestresst.

»Wirklich, Mutter! Ich hatte dich extra gebeten, sp?ter zu kommen. Ich meine – ehrlich! Es ist erst acht Uhr morgens, was soll das?«

»Was das soll? Schau doch bloss mal, wie es hier ?berall aussieht, Junge! Ich denke, ihr erwartet in ein paar Stunden G?ste. Von wegen, ihr braucht keine Hilfe! Ich

wusste doch genau, dass ich besser mal nach dem Rechten schaue.«

Was meint sie denn damit? Ich finde, in unserer Wohnung sieht es aus wie immer. Wenn man mal von der Tatsache absieht, dass momentan ungew?hnlich viele Tannenzweige in fast jedem Raum herumliegen und im Wohnzimmer sogar ein kleiner Baum steht, den Carolin vor ein paar Tagen ganz stolz angeschleppt hat. Etwas ganz Besonderes muss der sein. Anpinkeln darf man ihn jedenfalls nicht, das habe ich schon herausgefunden.

»Es sind ja auch noch ein paar Stunden Zeit, um aufzur?umen. Du h?ttest hier wirklich nicht mitten in der Nacht aufkreuzen m?ssen.«

»Mitten in der Nacht? Es m?sste l?ngst das Fr?hst?ck auf dem Tisch stehen, und deine Freundin liegt noch im Bett.«

»Ich sagte doch: Es geht Carolin nicht gut.«

»Na ja. Wie dem auch sei. Ich bin gekommen, um zu helfen. Ausserdem habe ich noch eine ?berraschung.«

Marc st?hnt.

»Oh, bitte, Mutter, keine wilden Aktionen! Was hast du vor?«

»Ich sagte doch: ?berraschung. Mein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Mehr wird nicht verraten. Und jetzt r?ume ich hier erst einmal ein bisschen auf. Du willst in diesem Chaos doch wohl nicht deine Schwiegereltern empfangen.« Sie h?lt inne. »Wobei – es sind gar nicht wirklich deine Schwiegereltern. Wie nennt man Carolins Eltern denn nun bloss?«

»Klaus und Elke.«

»Das weiss ich doch, Junge!«

»Warum fragst du dann?«

»Du weisst genau, was ich meine!«

»Ja. Du meinst: Wann heiratet ihr endlich?«

»Stimmt doch gar nicht!« Hedwig klingt fast so eingeschnappt wie Herr Beck, wenn man seine Autorit?t als Menschenkenner anzweifelt, indem man beispielsweise behauptet, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Bevor die beiden sich aber noch richtig streiten k?nnen, kommt Luisa in die K?che und st?rzt sich sofort auf ihre Grossmutter.

»Oma! Hurra! Gut, dass du da bist – ich muss dir unbedingt mein Kost?m zeigen!«

»Engelchen! Endlich freut sich jemand, mich zu sehen!« Sie steht von der Bank auf. »Dann zeig mal dein Kost?m.«

»Marc, wirklich – der Tag ist bisher das genaue Gegenteil von dem, was du mir feierlich versprochen hast.«

Carolin liegt auf meinem Lieblingssofa und sieht sehr elend aus. Ich habe mich direkt neben das Sofa drapiert, und immerhin hat Caro noch die Kraft, mich mit einer Hand zu streicheln, w?hrend sie die andere Hand auf ihren Bauch gelegt hat. Ob sie wohl Bauchweh hat? Und liegt das nun an ihrer Krankheit oder an den vielen Schokoweihnachtsm?nnern?

»Ich kann doch auch nichts daf?r, dass meine Mutter sich an keine Absprache h?lt.«

»Na, du h?ttest sie ja nicht hereinbitten brauchen.«

»Also, jetzt ?bertreibst du aber. Ich kann sie doch nicht an Heiligabend vor der T?r stehen lassen, nur weil sie ein bisschen fr?her als erwartet kommt.«

»Sieben Stunden, bevor wir mit ihr gerechnet haben, ist wohl etwas anderes alsein bisschen fr?her. Das ist einfach?tzend!«

»Na ja, aber immerhin hilft sie jetzt, alles vorzubereiten. Es ist bei uns in der Tat immer etwas chaotisch, da kann ein wenig Unterst?tzung doch nicht schaden.«

»Seit wann ist es bei uns denn immer ein bisschen chaotisch?

Und wer hindert dich denn daran, selbst aufzur?umen, wenn dich hier was st?rt?«

»Hey, Spatzl, kein Streit jetzt. Ich verspreche dir, dass ich meine Mutter in Schach halte. Bleib du einfach hier liegen.«

In diesem Moment klingelt es an der T?r, und ein paar Minuten sp?ter steckt Oma Wagner den Kopf durch die Wohnzimmert?r.

»Ach, hier seid ihr. Marc, wir brauchen dich mal kurz, meine ?berraschung ist da.«

Marc steht auf und folgt ihr, ich bleibe einfach neben Caro liegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es diesmal der echte Weihnachtsmann ist, und lieber lasse ich mich weiter kraulen, als f?r den falschen aufzustehen. So gross wird die ?berraschung schon nicht sein.

Oder doch? Ungef?hr auf der H?he, auf der eben Hedwigs Kopf im T?rrahmen erschien, taucht auf einmal ein riesiger Baumwipfel auf. Nach und nach schiebt sich der gesamte Baum durch die T?r, getragen von zwei M?nnern, die ich noch nie zuvor gesehen habe, und von Marc, der schliesslich den Stamm in den Raum schiebt. Als der Baum in G?nze im Zimmer ist, stellen die M?nner ihn aufrecht hin, Marc h?lt ihn fest. Der Baum ist so gross, dass seine Spitze fast die Decke ber?hrt – und die ist immerhin kaum niedriger als die im Salon von Schloss Eschersbach. Carolin h?rt auf, mich zu kraulen, und setzt sichmit einem Ruck auf.

»Was zum Teufel ist das?«

Die beiden M?nner gucken sich unsicher an.

»?h, den hat die Dame gestern beim Chef gekauft. Wir sollten nur heute anliefern. Stimmt etwas nicht?«

»Doch, doch«, beeilt sich Marc zu sagen. »Sie k?nnen ruhig schon gehen.«

Die M?nner verziehen sich.

Carolin sch?ttelt den Kopf.

»Marc, was ist das?«

»Das ist mein Weihnachtsgeschenk f?r euch!«, ert?nt eine Stimme hinter dem Baum. »Sch?n, oder?« Die Stimme geh?rt Hedwig, das weiss ich schon, bevor ich ihre Schuhe neben dem Stamm entdecke. Schliesslich windet sie sich hinter dem riesigen Baum hervor und stellt sich neben ihn.

»Aber … aber …«, Carolin scheint nach Worten ringen zu m?ssen, »wir haben doch schon einen Weihnachtsbaum!«

»Das ist wohl eher ein Weihnachtsb?umchen, dieses mickrige Teil. Da kommt mein Geschenk doch gerade recht.«

»Mir hat er sehr gut gefallen. Sonst h?tte ich ihn nicht gekauft.«

»Carolin, meine Liebe – als Marcs Vater noch lebte, haben wir hier wirklich unvergessliche Weihnachtsfeste gefeiert. Und immer hatten wir einen imposanten Baum.«

Carolin bedenkt Hedwig mit ungef?hr dem gleichen Blick, den sie mir zugeworfen hat, nachdem sie mich neulich auf dem Sofa erwischt hat. Auch Marc scheint das zu sehen, denn jetzt lehnt er den Baum an die Wand und setzt sich neben Caro auf das Sofa.

»Na ja, er ist schon ziemlich riesig, Mutter.«

»Nicht gr?sser als die B?ume, die wir fr?her hatten. Freust du dich denn gar nicht? Das geh?rt doch einfach zu einem richtigen Heiligabend.«

Carolin holt tief Luft, aber bevor sie dazu etwas sagen kann, antwortet Marc.

»Doch, ich freu mich ja. Aber wir haben hier die letzten beiden Jahre auch ein sch?nes Weihnachtsfest gefeiert. Ohne Riesenbaum. Und Carolin hatte uns eben schon ein kleineres Exemplar ausgesucht.«

Hedwigs Blicke wandern zwischen den beiden ungleichen B?umen hin und her.

»Er ist nicht nur kleiner, er ist auch schief.«

»Gut, ich habe ihn vielleicht noch nicht optimal hingestellt. Aber wir wollten ihn erst heute schm?cken, da h?tte ich das bestimmt gemacht.«

»Den kannst du hinstellen, wie du willst, Junge, der ist in sich schief. Und an einer Seite kahl.«

Wieder schnappt Carolin nach Luft – und diesmal ist sie schneller als Marc.

»Also Hedwig, jetzt reicht’s! Mein Baum ist sch?n, und wenn er dir nicht passt, dann kann ich dir leider nicht helfen. Jedenfalls bleibt er hier stehen. Was du mit deinem Baum machst, ist mir egal.«

Wuff – wenn Caros Stimme diesen Ton hat, kann man damit locker Fleischwurst schneiden! Auch Marc zuckt zusammen, und Hedwig sieht aus, als h?tte sie in etwas sehr Saures gebissen.

»Spatzl, Mutter wollte uns doch nur eine Freude machen.«

»Genau. Und den Weihnachtsmann gibt es wirklich.« Spricht’s, wuchtet sich vom Sofa hoch und verl?sst das Wohnzimmer. Zur?ck bleiben drei bedr?ppelt dreinblickende Gestalten. Ich nat?rlich weniger wegen der Frage, wie gross der perfekte Weihnachtsbaum sein muss. Das ist mir wumpe, denn B?ume, an die ich nicht pinkeln darf, interessieren mich ?berhaupt nicht. Nein – es ist die Weihnachtsmann-Frage, die mich langsam ganz wuschig macht. Gibt es den Kollegen denn nun? Oder gibt es ihn nicht? Und falls es ihn gibt: Wie trete ich wieder unter die Augen von Herrn Beck? Er ist sowieso schon so ein Oberlehrer, nicht auszudenken, wie er sich auff?hren wird, sollte er doch recht behalten.

Den restlichen Vormittag verbringen Hedwig und Caro damit, sich aus dem Weg zu gehen, was durch Marcs Einfall erleichtert wird, dass seine Mutter die Einkaufsliste abarbeitet, w?hrend Carolin noch ein bisschen schl?ft. Er selbst schm?ckt Caros kleinen Baum und r?umt auf, Hedwigs grossen Baum hat er mittlerweile in den Vorraum seiner Praxis im Erdgeschoss gewuchtet. Luisa ?bt ihren Text als Maria. Der ist so geheim, dass nicht einmal ich zuh?ren darf. Also verziehe ich mich in mein K?rbchen und schlafe auch ein wenig.

Ein wenig war offensichtlich ein wenig l?nger, denn als ich durch das T?rl?uten wieder geweckt werde, duftet es aus der K?che bereits verf?hrerisch, was darauf hindeutet, dass Marc schon begonnen hat, das Festessen vorzubereiten. Und weil das Essen meist den H?hepunkt einer menschlichen Veranstaltung markiert, bedeutet das bestimmtauch, dass der echte oder falsche Weihnachtsmann in diesem Zusammenhang aufkreuzen wird. Na warte, Bursche, dich kauf ich mir!

Marc kommt aus der K?che und ?ffnet die T?r.

»Hallo Elke, hallo Klaus!«

»Hallo Marc!«

Sie sch?tteln sich die H?nde – auch eine von diesen seltsamen menschlichen Angewohnheiten. Wozu machen die das bloss? Beschn?ffeln ist eine logische Angelegenheit, man kl?rt mal schnell, mit wem man es zu tun hat, frei nach dem Motto »Ein Duft sagt mehr als tausend Menschenworte«. Aber wie viel Information kann schon in einem H?ndedruck stecken? Wobei – der alte von Eschersbach behauptete ja immer, so einiges aus dem H?ndedruck ablesen zu k?nnen. Offenbar musste der aus seiner Sicht m?glichst fest sein, denn einer seiner Neffen wurde von ihm regelm?ssig ermahnt, fest zuzudr?cken, er sei doch wohl keine Memme. Ist es also am Ende

ein Unterwerfungsritual? Und wer dem anderen die Finger m?glichst doll quetscht, hat gewonnen? Andererseits – w?rde Marc Caros Mutter absichtlich die Finger brechen? Na, wozu auch immer es dient, f?r Pfoten ist es nicht gemacht. Ich bleibebeim Schn?ffeln.

Marc hat den Besuch in der Zwischenzeit hereingebeten.

»Sch?n, dass ihr da seid. Hedwig zieht sich gerade um, Luisa und Caro sind schon in der Kirche. Setzt euch doch kurz, ich wasche mir schnell die H?nde und ziehe die Sch?rze aus, dann k?nnen wir auch los.« Tats?chlich, Marc hat eine Art Kleid an, bei dem der hintere Teil fehlt. Das muss die Sch?rze sein. Gut, dass Marc noch eine Hose anhat, sonst w?re dieser Aufzug mit Sicherheit zu kalt.

W?hrend Klaus und Elke Neumann auf dem Sofa Platz nehmen, nutze ich die Gelegenheit, sie etwas genauer zu betrachten. Sehr oft habe ich sie noch nicht gesehen, vielleicht zwei-oder dreimal. Klaus Neumann ist un?bersehbar Caros Vater: die gleiche schlanke, hochgewachsene Figur, die hellen Haare, das gleiche Lachen. Elke hingegen ist relativ klein und leicht rundlich, eher gem?tlich. Sie sieht so aus, als ob man mit ihr ganz hervorragend kuscheln k?nnte. Ich trabe zu ihr hin?ber und lege mich vor ihre F?sse. Tats?chlich f?hrt sie mir sofort mit ihren H?nden durch das Fell.

Hedwig kommt auch ins Wohnzimmer und begr?sst die beiden. Sie sieht ganz anders aus als heute Morgen. Irgendwie – glitzernd! Statt der Hose hat sie nun ein langes, dunkles Kleid an, und dieses sieht aus, als sei es mit kleinen Sternen ?bers?t. Sobald sie sich bewegt und Licht darauf f?llt, beginnen die Sterne zu funkeln. Ausserdem funkelt es noch an ihren Ohren, um ihren Hals und an ihren H?nden. Ein sehr interessanter Effekt! Ob sie das macht, damit man sie im Dunkeln besser sehen kann? Immerhin wird es momentan wirklich

sehr fr?h dunkel, und man kann in der Tat nicht vorsichtig genug sein. Die Menschen in ihren Autosund auf ihren Fahrr?dern schauen meist nicht richtig, wohin sie eigentlich fahren. Meine gute Freundin Cherie kann ein Lied davon singen. Sie wurde n?mlich einmal von einem Fahrradkurier ?berfahren, Marc musste sie operieren, und ich musste sie pflegen. Und dann musste ich noch den Unfallfahrer zusammen mit Herrn Beck zur Strecke bringen, um Cherie meine Liebe zu beweisen. Fast w?re es mir auch gelungen – aber das ist eine andere Geschichte. Also, in diesem Aufzug ist Hedwig jedenfalls bestens gewappnet. Die ?bersieht so leicht keiner.

Das findet offenbar auch Klaus. Er springt vom Sofa auf und sch?ttelt Hedwig die Hand.

»Hallo, Hedwig! Donnerwetter – du siehst blendend aus!«

Sag ich doch: blendend. Man kann kaum hinsehen. Elke tun die Augen offenbar auch schon weh, sie guckt gequ?lt. Klaus hingegen strahlt ?ber das ganze Gesicht, Hedwig wirkt fast ein bisschen verlegen.

»Danke, Klaus. Sch?n, euch zu sehen. Ich bin schon so gespannt auf das Krippenspiel! Und ?berhaupt freue ich mich schon seit Wochen auf diesen Tag. Heiligabend im Kreise der Lieben – fast so wie fr?her, als mein lieber Reinhard noch lebte.«

Jetzt l?chelt Elke.

»Ja, und offenbar haben sich die beiden ja alle M?he gegeben, hier alles sch?n zu machen. Ist das nicht ein ganz entz?ckender kleiner Weihnachtsbaum?«

Hedwig nickt g?tig.

»Ja. Ganz entz?ckend, wirklich ganz entz?ckend.«

SIEBEN

Und in jenen Tagen erliess Kaiser Augustus den Befehl, dass alle Welt sich sch?tzen lasse. Das geschah zum ersten Mal, da war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazareth in Galil?a hinauf nach Jud?a in die Stadt Davids, die Bethlehem heisst; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete.

Der kleine Mensch, der diese S?tze mit grossem Ernst vortr?gt, ist ?usserst seltsam angezogen. Er hat einen Sack an, der um den Bauch mit einer Kordel zugebunden ist. Ausserdem tr?gt er ein Handtuch um den Kopf, ebenfalls mit einer Kordel gebunden. Offenbar ist dieser Aufzug eine Verkleidung, denn normalerweise laufen Menschen nicht so herum. Es ist f?r mich nicht immer ganz leicht zu durchschauen, welche Bedeutung Menschen ihrer jeweiligen Kleidung beimessen. Was ich aber schon herausgefunden habe, ist, dass es Kleidung f?r gew?hnliche Tage gibt und solche f?r besondere. Und manchmal nennt man die Kleidung dannVerkleidung. Meistens ist sie dann besonders ungew?hnlich. Also das Glitzerkleid von Hedwig heute k?nnte auch gut eine Verkleidung sein, und die Nummer hier mit dem Handtuch ist es bestimmt. Warum Menschen das machen? Keine Ahnung. Heute hat es wohl damit zu tun, dass die beteiligten Menschen so tun, als seien sie jemand anderes. Und daf?r legen

sie sich dann quasi ein anderes Fell zu. Eigentlich ganz sch?n schlau.

Als das Wort»Maria« f?llt, robbe ich langsam nach vorne. Schliesslich weiss ich ja, dass es sich bei Maria in Wirklichkeit um Luisa handelt. Ich will deshalb ganz genau wissen, was hier vor sich geht, und das kann ich von da, wo Marc und Carolin sitzen, unm?glich sehen. Der ganze Raum ist n?mlich vollgequetscht mit Menschen. Fast genau wie in dem Kaufhausdings, ausser dass hier in der Kirche fast alle sitzen und niemand herumrennt. Es ist mein erster Besuch in diesem Raum, denn normalerweise sind Hunde hier anscheinend verboten – nur beiFamiliengottesdiensten, was auch immer das sein mag, d?rfen sie mitkommen. Eine Tatsache ?brigens, die Hedwig zu heftigem Kopfsch?tteln und Bemerkungen wieFr?her h?tte es das nicht gegeben hinriss, kaum hatte ihr Marc erkl?rt, warum er mich mitnehmen will. Eine Frechheit. Mehr Familie als Dackel mitsamt Herrchen und Frauchen geht wohl kaum.

Da! Luisa! Ich habe sie sofort erkannt – und das, obwohl auch sie v?llig anders aussieht als sonst, eben verkleidet. Denn nicht nur, dass sie genau wie der andere Junge eine Art Handtuch auf dem Kopf tr?gt, nein, sie scheint sich auch ein Kissen oder irgendetwas anderes Grosses unter ihre Bluse gesteckt zu haben, jedenfalls hat sie einen gigantischen Bauch. Luisa-Maria h?lt einen Jungen an der Hand, die beiden stehen ein wenig unschl?ssig herum und scheinen nach etwas Ausschau zu halten. Wahrscheinlich nach dem Kind, auf das Maria wartet – ganz so, wie es der Kopftuch-Junge eben vorgelesen hat.

Es kommt aber kein Kind, was nun auch wieder kein Wunder ist. Die sind ja gerne mal unp?nktlich, das kenne ich schon von Luisa, die wird deswegen oft von Marc ausgeschimpft. Stattdessen legt Luisa-Maria nun die H?nde in den R?cken und beginnt zu st?hnen.

»Ach, Joseph, ich kann nicht mehr. Nun sind wir schon so lange gelaufen, ich brauche dringend ein Lager, um mich auszuruhen. Bald kommt das Kind, und immer noch wissen wir nicht, wo wir bleiben k?nnen.«

Na ja, m?chte ich mich einmischen,das ist ja nicht so schlimm. Immerhin k?nnt ihr Menschen doch lesen und schreiben. Sucht euch ein nettes Pl?tzchen und dann schreibt dem Kind auf einen Zettel, wo es euch finden kann. So w?rde ich es machen, ehe ich noch stundenlang auf das G?r warten w?rde. Also, ich meine, wenn ich schreiben k?nnte.

»Maria, mein Weib, halte durch. Ich frage den Wirt dieser Herberge, ob er nicht doch ein Zimmer f?r uns hat.«

Aha. Herberge. Scheint so eine Art Hotel zu sein. Im Urlaub haben wir dort auch schon mal ein Zimmer gemietet und dann darin gewohnt. Der Junge – offensichtlich Joseph – l?sst Luisas Hand los und geht zu einem T?rrahmen, der quasi im Nichts neben ihm steht. Er macht eine Klopfgeste, ein anderer Junge steht daraufhin von einem Stuhl auf und geht zu ihm. Das muss der Wirt des Hotels sein.

»Heda, was wollt ihr?«

Freundlich klingt das nicht gerade. Erstaunlich. Nach den Erfahrungen, die ich sowohl in unserem Hotel als auch beim stundenlangen Warten auf Carolin in Restaurants und Caf?s gesammelt habe, sind die Menschen an solchen Orten sonst immer sehr nett und bem?ht, sich um alle W?nsche zu k?mmern. Na ja, vielleicht ist der Wirt heute mit dem falschen Bein aufgestanden. Joseph l?sst sich dadurch nicht beirren.

»Wir brauchen ein Zimmer. Meine Frau erwartet ein Kind und muss sich ausruhen.«

Der andere sch?ttelt unwirsch den Kopf.

»Nix da. Ich habe keinen Platz – schon gar nicht f?r ein schreiendes Baby, das mir alle anderen G?ste st?rt.«

Ich weiss zwar nicht, woher der Wirt weiss, dass es sich bei dem erwarteten Kind um ein Baby handelt – aber falls das wirklich der Fall ist, kann ich ihn verstehen. Ich pers?nlich bin kein grosser Babyfreund. So winzig diese Menschenkinder auch sind: Sie k?nnen wirklich unglaublich laut sein. Wenn die losbr?llen, fallen mir die Dackel?hrchen ab. Und sie br?llen oft, so viel steht fest. Eigentlich bei jeder Gelegenheit. Mit einem Baby zusammenzuleben stelle ich mir ganz furchtbar vor! Nein, ich bin echt froh, dass Luisa schon so gross ist.

»Bitte, Herr, lasst euch erweichen! Meine Frau kann ihr Kind doch nicht auf der Strasse bekommen! Sie ist hochschwanger, es kann jederzeit losgehen. Habt Mitleid, ich bitte euch!«

Ach so! Das Kind muss erst noch geboren werden, jetzt verstehe ich. Dennschwanger ist das Gleiche wietr?chtig, so viel habe ich auch schon mitbekommen. Jetzt erschliesst sich mir auch der Sinn des Kissens: Es ist Teil der Verkleidung. So sieht das wohl aus, wenn eine Frau tr?chtig ist. Klar, so ein Baby nimmt auch ganz sch?n viel Platz im Bauch weg. Menschenfrauen scheinen in dieser Situation besonders sch?tzenswert zu sein, jedenfalls legt der Wirt nun die Stirn in Falten, was bestimmt bedeutet, dass er sich die Sache noch einmal anders ?berlegt. Schliesslich zeigt er in die andere Ecke des Raumes, in der etwas Stroh auf dem Boden liegt.

»Da dr?ben ist der Stall, da kannst du mit deinem Weib schlafen. Aber seht bloss zu, dass das Kind niemanden st?rt. Ich kann keine Scherereien brauchen.«

Joseph nickt, dann holt er Luisa-Maria, und die beiden setzen sich ins Stroh. In der gesamten Kirche wird es auf einmal stockdunkel, Joseph und Maria sind nicht mehr zu erkennen. Wenig sp?ter geht ?ber der Ecke mit dem Stroh pl?tzlich ein

helles Licht auf. Im Schein dieser riesigen Lampe kann ich erkennen, dass Luisa nun eine Puppe auf dem Arm h?lt, die sie hin und her wiegt. Aha, das Baby ist also da. Wenigstens ist es friedlich.

Wie aus dem Nichts erscheint auf einmal der kleine Handtuch-Junge von eben wieder. Allerdings hat er nun kein Handtuch mehr auf dem Kopf, stattdessen tr?gt er zwei grosse, weisse Fl?gel auf dem R?cken. Was soll das nun wieder werden? Mit ernster Miene schaut der Junge in die Runde, dann f?ngt er langsam an zu sprechen.

»In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie f?rchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: F?rchtet euch nicht, denn ich verk?nde euch eine grosse Freude, die demganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt. Und pl?tzlich war bei dem Engel ein grosses himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Ehre sei Gott in der H?he und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.«

H?? Messias? Himmlische Heere? Gott in der H?he? Bevor ich aber noch dar?ber nachdenken kann, was in aller Welt der Kerl mit den Fl?geln damit sagen will, setzt ein ohrenbet?ubender L?rm ein. Wahrscheinlich handelt es sich dabei mal wieder um menschliche Musik, aber diesmal wummert sie so stark und tief, dass es mir fast den Magen umdreht. Menno, warum m?gt ihr Menschen es immer so laut? Und als sei das Wummern noch nicht schrecklich genug, tauchen neben dem gefl?gelten Freund auf einmal ganz viele Kinder mit Fl?geln auf, die lauthals singen. Ach was,kreischen. Grausam. Von»Friede auf Erden« kann hier ?berhaupt nicht die Rede

sein. Wer hat sich das bloss ausgedacht? Als dann auch noch Glockengel?ut einsetzt, beschliesse ich, die Biege zu machen und draussen zu warten. Ist ja nicht auszuhalten hier!

»Du warst eine grossartige Maria! ?berhaupt habe ich noch nie so ein sch?nes Krippenspiel gesehen, echt Weltklasse!«

Marc ist sichtlich stolz auf seine Tochter, er strahlt?ber das ganze Gesicht. Mittlerweile sind wir wieder in unserem Wohnzimmer angelandet – endlich Ruhe und Entspannung! Carolin schenkt den Erwachsenen ein GlasChampagner ein – offenbar ein besonders teures Getr?nk, denn es wird mit einigemOh undAh in Empfang genommen. In trauter Harmonie stehen nun alle um den kleinen Weihnachtsbaum und prosten sich zu.

»Ja, mein Schatz«, wendet sich nun auch Oma Wagner an Luisa, »das hast du wirklich ganz toll gemacht. Ich w?rde mich auch nicht wundern, wenn es dem Weihnachtsmann sehr gefallen h?tte. Du weisst ja – der kann alle Kinder sehen, ?berall auf der Welt! Er schaut durch die Wolken und macht sich Notizen.«

Wenn es ihn denn?berhaupt gibt, erg?nze ich in Gedanken und wundere mich, dass Luisa hier so gar nichts von ihren neuen Erkenntnissen zum Thema Weihnachtsmann preisgibt. Stattdessen l?chelt sie nur und bedankt sich artig f?r Omas Kompliment. Wahrscheinlich will Luisa nur nett sein. Sie ist eben ein sehr liebes Kind.

»Aber die Kost?me waren auch toll, Oma. Und die hat fast alle Carolin gemacht.«

»Ach, ehrlich?« Hedwig dreht sich erstaunt zu Carolin um. »Ich wusste gar nicht, dass du so eine k?nstlerische Begabung bist.«

Carolin grinst.

»Na h?r mal, ichbin K?nstlerin. Jede Geige, die ich baue, ist ein kleines Kunstwerk.«

Hedwig guckt skeptisch.

»So? Das ist doch wohl eher ein Handwerk. Nat?rlich, nicht wie Maurer oder Lackierer, aber …«

Bevor sie noch weiter ausf?hren kann, was selbst in meinen Dackelohren nicht so richtig wohlmeinend klingt, klopft es an der Wohnungst?r. Und zwar richtig laut: Wumm! Wumm! Wumm! Wie seltsam, wir haben doch eine Klingel. Und schon wieder: Wumm! Wumm! WUMM!

Marc steht vom Sofa auf.

»Nanu? Wer kann das denn sein?«

Carolins Mutter hat einen Verdacht:»Vielleicht der Weihnachtsmann?«

Genau! So wird es sein! Ich bin wie elektrisiert und merke, dass sich meine Haare von der Schwanzspitze bis in den Nacken aufzurichten beginnen. Nun wird sich herausstellen, ob der Weihnachtsmann nur Lug und Trug ist – oder ob Beck Recht hat und es ihn wirklich gibt. Und wer wird die Wahrheit ans Licht bringen? Richtig.Ich, Carl-Leopold von Eschersbach. Na gut, von mir aus auchich, Herkules.

Ich renne hinter Marc her, als er zur T?r geht, um sie zu ?ffnen.

»Hoppla, Herkules! Fast w?re ich ?ber dich gestolpert! Ich hoffe, du willst nicht gerade jetzt Gassi gehen, es w?re ein ?usserst unpassender Moment«, schimpft er mit mir.

Ich ignoriere ihn und klebe mich geradezu an sein Bein. Als die T?r einen Spaltbreit ge?ffnet ist, zw?nge ich mich nach draussen. JAAA! Bingo! Der Weihnachtsmann ist da! Unser Besucher ist wirklich unverwechselbar. In seinen Stiefeln, dem langen Mantel, dem buschigen Bart und der M?tze auf dem Kopf erkenne ich ihn sofort. In der einen Hand h?lt

er einen sehr grossen Sack, in der anderen Hand ein dickes Buch. Ich schaue mir den Gesellen genau an: Schlank ist er, viel schlanker als der Weihnachtsmann vor dem Kaufhaus, der ja bekanntlich der falsche ist. Und irgendwie … riecht er vertraut. Hm. Woher kenne ich diesen Geruch?

»Hallo Weihnachtsmann!«, begr?sst ihn Marc. »Komm doch herein. Hast du denn auch Knecht Ruprecht mitgebracht?«

»Hallo, lieber Marc«, antwortet der Weihnachtsmann mit tiefer Stimme. »Nein, Knecht Ruprecht ist leider krank. Aber weil ich geh?rt habe, dass hier ein besonders braves Kind wohnt, habe ich mich trotzdem auf den Weg gemacht.«

Marc?ffnet die T?r jetzt ganz weit.

»So ist es. Folge mir ins Wohnzimmer, dann zeige ich dir das liebe Kind.«

Caro, Hedwig, Klaus und Elke stehen im Flur, auch sie begr?ssen den Weihnachtsmann. Der l?sst sich dadurch aber nicht aufhalten, sondern marschiert schnurstracks in Richtung Wohnzimmer. Komisch, woher weiss der denn, wo das Zimmer liegt? Ist es tats?chlich so, dass der echte Weihnachtsmann alle Kinder durch die Wolken beobachtet? Dann kennt er nat?rlich auch unsere Wohnung.

Im Wohnzimmer angekommen stellt er den Sack neben den Weihnachtsbaum und schaut sich um.

»So, wo ist denn die Luisa?«

»Hier!«, kommt es etwas z?gerlich vom Sofa. Auch Luisa scheint sich momentan nicht mehr ganz so sicher zu sein, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt und dieser Auftritt hier ganz grosser Schmu ist.

»Sehr sch?n, Luisa. Dann komm doch mal her!«

W?hrend Luisa sich aufrappelt und in seine Richtung geht, schnuppere ich m?glichst unauff?llig an seinem Mantel. Wer

ist das? Ich habe ihn schon mal gerochen, ich kenne ihn – da bin ich mir fast sicher. Bloss wo? Und wenn ich ihn kenne, dann kann es jedenfalls nicht der Weihnachtsmann sein, der mit seinen Rentieren hinter den Wolken am Nordpol wohnt. Denn ohne zu wissen, wo das genau ist, bin ich mir ziemlich sicher, dass mich mein t?glicher Spaziergang dort noch nie hingef?hrt hat. Wer ist das also, wer?

Der Weihnachtsmann schl?gt sein Buch auf.

»Also, Luisa. Hier steht, dass du deinem Vater immer sehr viel Freude machst, weil du so gut in der Schule bist. Und der Carolin auch. Stimmt das denn?«

Luisa nickt sch?chtern.

»Und dann steht hier noch, dass du auch gerne im Haushalt hilfst, wenn man dich darum bittet. Das ist sch?n. Aber weisst du, was hier noch steht?«

Luisa sch?ttelt den Kopf.

»Hier steht, dass dein Zimmer oft ziemlich unordentlich ist.«

»Oh!«

»Ja, Luisa, das muss besser werden im neuen Jahr. Versprichst du mir das?«

Luisa nickt.

»Ja, lieber Weihnachtsmann.«

»Und dann habe ich eben erfahren, dass du eine ganz tolle Maria beim Krippenspiel in der Kirche warst. Das finde ich nat?rlich besonders gut, denn das Christuskind arbeitet ja mit mir zusammen.«

Marc und Carolin schmunzeln, Luisa guckt angestrengt und unsicher. Richtig gl?cklich sieht sie nicht dabei aus, und das gef?llt mir gar nicht! Bestimmt ?berlegt Luisa, ob Pauli doch Unrecht hatte und hier der echte Weihnachtsmann vor ihr steht. Und in diesem Punkt werde ich meiner kleinen

Freundin helfen. Ich beschliesse, dass es an der Zeit ist, dies ein f?r alleMal herauszufinden.

Der Mantel des Weihnachtsmannes ist ziemlich lang, bestimmt bekomme ich ein St?ck davon zu fassen, wenn ich mich genug recke. Ich pirsche mich also an ihn heran, strecke meine Nase so weit wie m?glich nach oben – und packe zu. Schnapp! Schon habe ich den Saum des Mantels im Maul und fange an, daran zu ziehen. Erst merkt der Weihnachtsmann nichts, aber dann mache ich einen richtigen Satz nach hinten und bringe ihn dabei ins Wanken.

»Hey, Herkules, spinnst du jetzt v?llig?«

Wuff! Woher kennt der meinen Namen? Und warum klingt die Stimme pl?tzlich so anders, l?ngst nicht mehr so tief? Hier ist doch ein Betrug im Gange, ich bin mir mittlerweile ganz sicher. Ich packe fester zu und zerre, so doll ich kann. Rrrratsch – ich halte einen Stofffetzen im Maul und schaue erstaunt nach oben. Tats?chlich, dem Weihnachtsmann fehlt ein grosser Teil seines Mantels, und darunter kommt ganz normale menschliche Kleidung zum Vorschein. Eine Hose und ein Pullover. Und noch etwas anderes kommt ans Tageslicht, denn jetzt nimmt der Weihnachtsmann seine M?tze ab – und den Bart gleich mit. Es ist Alex, Ninas Freund!

»Mensch, Herkules! Ich w?rde sagen, du hast den Top Act geschrottet!«

Alex klingt sehr vorwurfsvoll, und obwohl ich nicht weiss, was einTop Act ist, bin ich mir nicht mehr so sicher, dass es eine gute Idee war, den Weihnachtsmann gerade heute zu enttarnen. Ein Blick in die entt?uschten Gesichter von Caro und Marc best?tigt diese Einsch?tzung. Marc murmelt etwas, das wieso eine M?he gemacht f?r das Kind, und dann dieser bl?de K?ter … klingt. Carolin sch?ttelt ununterbrochen den Kopf, so als k?nne sie einfach nicht fassen, dassihr Herkules so einen

Bl?dsinn macht. Auch Hedwig, Elke und Klaus schauen betreten zwischen mir und Alex hin und her. Wuff, schlechte Idee. Mist! Ich habe das Fest zerst?rt. Mein erstes richtiges Familienfest – und ich hab’s versaut.

Mit gesenktem Kopf trotte ich aus dem Zimmer und rolle mich in meinem K?rbchen, das Marc heute Morgen in den Flur gestellt hat, zusammen. Am besten bleibe ich hier den ganzen Abend liegen, vielleicht vergessen dann alle, dass ich es war, der den Weihnachtsmann enttarnt hat. Wobei – unwahrscheinlich. Die meisten Menschen haben leider ein ausgezeichnetes Ged?chtnis. Das ist wahrscheinlich auch eine Trainingsfrage, und weil sich Menschen sehr gerne mit Dingen besch?ftigen, die l?ngst abgeschlossen sind und in der Vergangenheit liegen, haben sie nat?rlich unglaubliche ?bung darin. Nein, sie werden meinen kleinen Auftritt so schnell nicht vergessen. Eher wird mir das noch die n?chsten f?nf Weihnachten vorgehalten werden, wenn ich ?berhaupt noch einmal mitmachen darf. Es ist zum Heulen!

»Armer Herkules! Du wolltest uns nur vor dem fremden Mann besch?tzen, nicht?« Luisa ist mir gefolgt und kniet sich neben mein K?rbchen. »Du bist eben ein tapferer Jagdhund! Komm doch wieder rein, es ist bestimmt keiner mehr sauer auf dich. Ich habe Papa und Carolin jetzt erz?hlt, dass ich garnicht mehr an den Weihnachtsmann glaube. Ich habe eben doch nur so getan, um Papa eine Freude zu machen. Und Alex hab ich sowieso gleich erkannt. Also alles gut, S?sser! Und ausserdem habe ich auch ein Geschenk f?r dich, das m?chtest du doch bestimmt haben, oder?«

Ach, Luisa, du bist wirklich das liebste Menschenkind, das ich kenne! Eine wahre Freundin! Ich sch?ttle mich kurz, dann richte ich mich auf und h?pfe aus meinem K?rbchen. Zur?ck im Wohnzimmer scheint die Stimmung tats?chlich nicht

schlecht zu sein. Alex hat seine Verkleidung komplett abgelegt und sitzt mit Caro auf dem Sofa, auch er h?lt mittlerweile ein Glas Champagner in der Hand.Als er mich sieht, steht er auf.

»Auweia! Da kommt der Killer-Dackel! Da muss ich mich ja wohl in Sicherheit bringen.«

Er lacht fr?hlich, und auch die anderen beginnen zu lachen. Uff, dann ist ja alles wieder gut. Luisa kommt zu mir und h?lt mir etwas Grosses, Braunes unter die Nase: einen gigantischen Kauknochen!

»Hier, Herkules, mein Geschenk f?r dich! Fr?hliche Weihnachten!« Toll! Noch nie im Leben habe ich ein Weihnachtsgeschenk bekommen! Ich bedanke mich, indem ich M?nnchen mache und gleichzeitig mit dem Schwanz wedele. Keine leichte ?bung, aber sie gelingt mir mit grosser Eleganz.

Alex trinkt sein Glas aus, stellt es ab und klopft auf den Wohnzimmertisch.

»Ich sach mal: Der Weihnachtsmann muss jetzt los zu seinem Weib! Also feiert noch sch?n und fr?hliche Weihnachten!«

»Gr?ss Nina!«, bittet ihn Carolin.

Als er gegangen ist, geben sich auch alle anderen ihre Geschenke. Luisas sind noch in dem grossen Sack, den Alex hereingeschleppt hat, ich helfe ihr, sie dort herauszuzerren. Besonders freut sie sich ?brigens ?ber das Geschenk, das ich mit Marc gekauft habe. Na gut, gekaufth?tte, wenn wir nicht aus dem Kaufhaus geflogen w?ren. Aber das war ja nicht meine Schuld. So gesehen ist es trotzdem auch mein Geschenk!

»So, ihr Lieben, zu Tisch!«, scheucht uns Oma Hedwig schliesslich ins Esszimmer. »Die Gans ist fast fertig, und ich m?chte euch schon mal den ersten Gang servieren.«

»Das ist ja toll, wie du uns umsorgst«, lobt sie Klaus Neumann.

»Ja«, pflichtet ihm Marc bei, »Mutter hat heute Vormittag extra noch f?r die Vorspeise eingekauft, ich war zeitlich ein bisschen knapp.« Den Teil der Geschichte, dass er Hedwig auch mal kurz aus der Wohnung haben wollte, damit sich die Wogen gl?tten, verschweigt er nat?rlich. F?r menschliche Harmonie, so viel habe ich mittlerweile gelernt, ist eben nicht nur wichtig, was man sagt, sondern ebenso wichtig, was mannicht sagt. Wenn nicht noch wichtiger.

»Setzt euch doch schon, ich bringe die Teller gleich rein«, dirigiert Hedwig jeden an seinen Platz. Ich hoffe, dass sie auch f?r mich eine Kleinigkeit besorgt hat, und lege mich erwartungsfroh neben den Tisch.

Hedwig verschwindet in der K?che, um kurz darauf mit sehr vielen Tellern auf dem Arm wieder herauszukommen, die sie Marc, Caro, Klaus und Elke direkt vor die Nase stellt. Ich kann zwar nicht sehen, was sich darauf befindet, aber eines sagt mir meine Nase deutlich: Es ist keine Rindfleischsuppe. Es ist FISCH. Brrrr. Davon will ich doch nichts.

Neben mir rumpelt es, dann f?llt ein Stuhl um. Erschrocken springe ich zur Seite. Was ist denn hier los? Carolin ist wie der Blitz von ihrem Platz hochgesprungen und rennt aus dem Zimmer, die anderen schauen ihr erstaunt hinterher. Hedwig r?uspert sich.

»Marc, was ist mit deiner Frau los? Will sie mich unbedingt kr?nken?«

»?h, sie mag keinen Fisch. Ich hatte dich doch gebeten, eine Markkl?sschen-Suppe zu besorgen.«

»Aber das ist Balik-Lachs mit Kaviar. Das haben wir immer an Weihnachten gegessen, als dein Vater noch lebte.« Hedwig klingt schwer getroffen. »Ich dachte, ihr freut euch. Ich dachte,du freust dich.« Sie f?ngt an zu schluchzen. »Weisst du, das h?tte Carolin mir jetzt auch anders sagen k?nnen. Ich gebe

mir solche M?he – und sie ist so gemein zu mir. So gemein!« Jetzt weint Hedwig richtig.

Klaus und Elke schweigen betreten. Los, Marc! Tu was! Caro ist nicht gemein, sie ist krank! Du musst es den anderen jetzt erkl?ren. Und offen gestanden will ich auch endlich wissen, woran mein Frauchen leidet.

»Mutter, das war nicht b?se gemeint. Wirklich nicht. Aber Carolin vertr?gt keinen Fisch. Ihr wird davon sofort schlecht.«

Elke Neumann mischt sich ein.

»Du meine G?te, seit wann vertr?gt sie denn keinen Fisch mehr? Ist sie etwa krank? Eine Allergie?«

Marc sch?ttelt den Kopf.

»Nein, sie ist nicht krank.«

Wuff? Ist sie nicht? Gott sei Dank! Mir fallen ganze Wagenladungen Steine von meinem kleinen Dackelherzen. Aber … was hat sie dann?

»Carolin ist schwanger. Wir bekommen ein Baby. Wir wollten es euch eigentlich nach dem Essen sagen.«

Ach so. Sie ist schwanger. Sie ist schwanger? Wir bekommen ein Baby? Heilige Fleischwurst! WIR BEKOMMEN EIN BABY!!!

ACHT

Schmetterlinge sind wirklich eine anspruchsvolle Beute, weil sehr,sehr schwer zu fangen. Herr Beck tut nat?rlich wieder so, als sei es keine grosse Sache, die Freunde einfach aus der Luft zu fischen. Aber damit ?rgert er mich nicht. Der nicht! Schliesslich hat er schon deutlich mehr Fr?hlingsmonate erlebt als ich und hatte entsprechend mehr Zeit zum ?ben. Der flatternde Kollege, auf den ich es abgesehen habe, scheint das auch zu wissen. Jedenfalls macht er einen sehr grossen Bogen um Herrn Beck, der neben mir im Garten liegt, und umschwirrt stattdessenmeine Nase. Dreimal habe ich schon nach ihm geschnappt, dreimal dabei nur Luft geschluckt. Langsam f?ngt es an, in meinem Bauch zu blubbern.

»Was machst du da eigentlich?«, erkundigt sich Beck nur scheinbar mitf?hlend. Will mich offenbar provozieren. Aber der ?rgert mich nicht.Der nicht.

»Wonach sieht’s denn aus?«, gebe ich betont gelassen zur?ck.

»Tja, das weiss ich eben nicht, deswegen frage ich ja.«Der nicht!

»Ich fange einen Schmetterling.«

»Ach. Aha. Und – hattest du mit deiner Methode schon mal Erfolg?« Beck kann so verdammt herablassend klingen. Aber noch mal: Der ?rgert mich nicht! Ich bleibe cool, ich bleibe gelassen, ich bleibe ruhig. Der bringt mich nicht aus

der Fassung! Anstelle einer Antwort drehe ich mich auf den R?cken und lasse mir die milde Fr?hlingssonne auf den Bauch scheinen. Herrlich!

»Ich habe ?brigens Cherie gesehen. Ich glaube, sie ist wieder zur?ck.«

Was? Mit einem Ruck drehe ich mich um und springe auf. Okay – er hat es geschafft! Schon allein die Erw?hnung dieses Namens bringt mich tats?chlich aus der Fassung, von cool und gelassen kann nicht mehr die Rede sein.

»Oh, ich dachte schon, du schl?fst.« T?usche ich mich, oder klingt Herr Beck geh?ssig? Aber egal – wenn das stimmt, was er sagt, will ich unbedingt Details erfahren. Also ignoriere ich seinen Unterton und frage nach.

»Bist du sicher?«

»Ja. Ganz sicher. Sie kam die Strasse entlangspaziert, als ich gerade im Vorgarten sass.«

»Und es war wirklich Cherie?«

»Herrgott, ja. Ich bin ja nicht blind!«

»Na ja. Aber ein Adlerauge auch nicht gerade.«

»Zum Schmetterlingsfangen reicht’s noch.«

Autsch. Vielleicht spare ich mir weitere Spitzfindigkeiten und beschr?nke mich auf das wichtigste Thema ?berhaupt.

»Also, Cherie kam die Strasse lang. Und weiter?«

»Wasund weiter?«

»Na, was ist dann passiert?«

»Was soll denn da passiert sein? Nix. Sie gr?sste mich kurz, und dann war sie schon wieder weg.«

»Und ist dir irgendetwas Besonderes aufgefallen?«

»Nee. Eine zugegebenermassen recht h?bsche Retriever-Dame spaziert mitsamt Frauchen an unserem Haus vorbei. Ein allt?glicher Vorgang. Was soll mir da gross auffallen? Sei froh, dass ich alter, nicht mit Adleraugen gesegneter Kater

?berhaupt gemerkt habe, dass es sich bei der H?ndin um Cherie gehandelt hat.«

Das ist nun wieder typisch Herr Beck. Meine grosse Liebe, die unter mysteri?sen Umst?nden aus meinem Leben verschwunden ist, taucht pl?tzlich wieder auf – und er h?lt das f?r einen allt?glichen Vorgang. Katzen sind solche Einzelg?nger. Die Welt um sie herum k?nnte untergehen, es w?rde sie nicht kratzen. Sie w?rden es vermutlich garnicht bemerken. Manchmal glaube ich, wo ich ein Herz habe, hat Beck einen Stein. Kein Wunder, dass der noch nie verliebt war. Mich hatte es jedenfalls im Sommer, als Carolin und Marc gerade zusammengezogen waren, total erwischt. Ich traf Cherie in einem Caf? an der Alster, und es war um mich geschehen. Herzrasen, Ohrenrauschen, das volle Programm. Ich dachte schon, ich sei krank. Dabei war ich nur schwer verliebt. Was allerdings fast dasselbe wie schwer krank ist, wenn das Objekt der Begierde ungef?hr drei K?pfe gr?sser als man selbst und von ungleich edlerer Abstammung ist.

Meine erste eigene Erfahrung in Sachen Liebe war also zun?chst ein hoffnungsloser Fall, aber ich w?re kein von Eschersbach, h?tte ich angesichts dieser Widrigkeiten gleich das Handtuch geworfen. Mit Hilfe eines ausgefeilten Schlachtplans gelang es mir, mich selbst in ein g?nstigeres Licht und Cherie in die N?he meines Herzens zu r?cken. Na gut, diestrategische Unterst?tzung durch Herrn Beck will ich an dieser Stelle nicht verschweigen, vielleicht hat er doch kein Herz aus Stein. Jedenfalls hatte ich mehrere Verabredungen mit Cherie, einige sogar von romantischer Natur, aber ehe ich sie vollst?ndig f?r mich gewinnen konnte, war sie auf einmal verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Und jetzt taucht sie wieder auf. Ich merke, dass ich Herzrasen bekomme.

»Herkules?«

»Ja?«

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Wieso?«

»Du hechelst auf einmal so. Und wenn ich n?her hingucke: Sabbern tust du eigentlich auch.«

Muss mir so etwas vor meinem Kumpel peinlich sein? Ich sage: Nein!

»Mensch, Beck, was soll ich denn jetzt machen?«

»Du liebst sie immer noch?«

Ich nicke.

»Auweia. Also ein schwerer Fall.« Er ?berlegt einen Moment. »Von der Richtung her w?rde ich denken, sie waren an die Alster unterwegs. Mit Gl?ck sind sie noch auf der Hundewiese. Also, wenn du dich ein bisschen …«

Den Rest des Satzes h?re ich nicht mehr, denn ich bin schon losgesaust in Richtung Terrassent?r. Ein Sprung, schon lande ich in der Werkstatt genau vor Carolins F?ssen.

»Hoppla, Herkules, was ist denn auf einmal mit dir los?«

Mit so viel Dynamik kann Carolin offensichtlich nichts anfangen. Kein Wunder, seit Weihnachten ist schon ganz sch?n viel Zeit vergangen, und mittlerweile weiss ich auch, was neben dem gesch?rften Geruchssinn die hervorstechendste Eigenschaft von schwangeren Frauen ist: Sie werden rund und runder. Carolin sieht langsam schon so aus wie Luisa als Maria mit dem Sofakissen unter der Bluse. Mal eben schnell irgendwohin springen ist also nicht mehr drin. Darauf kann ich jetzt allerdings ?berhaupt keine R?cksicht nehmen. Es geht schliesslich um Leben und Tod. Jedenfalls f?hlt es sich f?r mich so an.

Anstatt darauf zu warten, dass bei Carolin von allein der Groschen f?llt, wetze ich zur Garderobe im Flur und schnappe mir meine Leine, die praktischerweise neben dem Schirmst?nder

liegt. Zur?ck bei Carolin gucke ich so treu, wie nur ein Dackel es kann.

»Ach n?. Ich habe hier wirklich zu tun. Ausserdem tritt mir das Baby momentan st?ndig auf die Blase, nach Spazierengehen ist mir da absolut nicht. Sei ein braver Hund und geh wieder in den Garten!«

Was interessiert mich denn in meiner Lage das bl?de Baby? Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass mir jemand, den es im Grunde genommen noch gar nicht gibt, jetzt schon Vorschriften machen kann? Eine FRECHHEIT ist das! GRRRR!

»Oh, schlechte Laune, der Herr?« Daniel kommt von seiner Werkbank her?ber und kniet sich neben mich. »Soll ich vielleicht mit dir spazieren gehen?« Endlich! Gelebte M?nnersolidarit?t! Ich wedele wild mit dem Schwanz. »Hoppla, das muss ja ganz dringend sei. Na komm, dann wollen wir mal gleich los.«

»?h, wolltest du nicht eben noch Herrn Klingsporn anrufen?«, mischt sich Caro ein. Das ist doch wohl der Gipfel! Nicht selbst mit mir Gassi gehen und jetzt noch andere von der guten Tat abhalten wollen. Aber Daniel zeigt sich unbeirrt.

»Keine Sorge, den vergess ich schon nicht. Das Anliegen von Herkules scheint mir dringender zu sein.« Wuff! Ein Freund, ein echter Freund.

Auf der Hundewiese angekommen: keine Cherie. Nirgends. Mit h?ngender Zunge renne ich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Aber so sehr ich auch sp?he und schn?ffle – nichts! Zwar jede Menge Golden Retriever, aber keiner dabei, der Cherie auch nur ann?hernd das Wasser reichen k?nnte. Noch eine grosse Runde, dann lege ich mich hechelnd neben Daniel, der meine Fahndung von einer Bank aus beobachtet hat.

»Irgendwie werde ich das Gef?hl nicht los, dass du hier jemand Bestimmtes suchst. Ich w?rde dir gerne helfen, aber leider kannst du mir ja nicht sagen, um wen es eigentlich geht.«

Ach was. Da stellt einer das Offensichtliche fest. Aber wen werde ich schon suchen auf einer Hundewiese? Eine Katze? Ausserdem ist Cherie in den Augen von Daniel wahrscheinlich einfach nur ein Hund. Selbst wenn ich also reden k?nnte, w?rde es vermutlich nicht viel helfen. Er mustert mich.

»Lass mich mal nachdenken.« Nur zu! » Wir sind hier, weil du einen Hund suchst? Also wohl eher eine H?ndin.« Wow! Gar nicht so schlecht. Hilft mir aber nicht weiter. »Kumpel, hast du etwa auch Stress mit den Frauen?« Okay, Daniel tr?gt vollkommen zu Recht das Pr?dikat denkendes Wesen. Und jetzt ist es tats?chlich schade, dass ich nicht mit Menschen sprechen kann, denn ich glaube, Daniel w?re ein sehr viel einf?hlsamerer Gespr?chspartner als Herr Beck. Wie gerne w?rde ich ihm mein Herz aussch?tten – stattdessen muss ich es bei einem m?glichst traurigen Blick belassen.

»Gott, du guckst ja herzerweichend, du Armer! Folgender Vorschlag: Wir machen mal ein kleines P?uschen hier, vielleicht kommt das Objekt deiner Begierde noch. Und ich kann mal in Ruhe eine rauchen, ohne von Carolin erwischt zu werden. Die ist ja so furchtbar geruchsempfindlich geworden, die w?rde das sofort merken. Und meckern, dass ich ?berhaupt wieder angefangen habe.« Er kramt in seiner Jackentasche, holt eine Schachtel hervor und fummelt eine Zigarette heraus. Brrr, muss das denn sein? Ich finde Zigarettenrauch auch nicht so doll. Zwar nicht so schlimm wie das Zigarrengequalme des alten von Eschersbach, wenn im Salon

seine Herrenrunde tagte. Aber auf jeden Fall etwas, auf das ich gut verzichten kann.

»Sieben Jahre hab ich nicht geraucht – das hab ich mir gleich abgew?hnt, als ich mit Caro die Werkstatt aufgemacht habe. Aber jetzt der ganze Stress mit Aurora … ach ja, Weiber, nichts als ?rger!«

Mit dieser Einsch?tzung im Hinblick auf die bl?de Aurora gebe ich ihm nat?rlich v?llig Recht, aber ich verstehe nicht, was das mit Zigaretten zu tun hat. Andererseits – wenn Daniel sich Aurora vom Hals halten will, ist das wahrscheinlich ein probates Mittel.

»Dagegen ist die Arbeit mit Caro wirklich die reinste Erholung. Insofern muss ich das mit den Weibern relativieren. Es gibt auch nette. Sehr nette sogar. Zu schade, dass sie jetzt diesen Tierarzt hat. Na, ich meine, ich freu mich nat?rlich f?r sie, Marc ist ja ein Netter, und mit uns h?tte das sowieso nicht geklappt. Aber es gab schon Zeiten, da dachte ich, irgendwann habeich mal Kinder mit Carolin. War halt so ein Traum von mir, weisst du?«

Nein, weiss ich nicht. Ich weiss n?mlich generell nichts von menschlichen Tr?umen. Das muss jetzt eines dieser menschlichen Selbstgespr?che sein, die Herr Beck meint. Selbstgespr?ch unter Zuhilfenahme eines Tieres. Ist f?r das Tier allerdings relativ langweilig. Mit seiner freien Hand langt Daniel zu mir herunter und krault mich hinter dem Ohr.

»Hm, Herkules? Hoffe nur, dass sich Caro mit dem Baby nicht in eine dieser Superglucken verwandelt, die nur noch in Zweiworts?tzen reden. Es w?re mir lieb, sie bliebe ganz die Alte. Ich brauche mal mehr Best?ndigkeit bei meinen Bezugspersonen. Und du doch bestimmt auch.«

Wuff? Versteh ich nicht. Besteht etwa die Gefahr, dass sich bei Carolin durch das Baby irgendetwas?ndert? Und was in

aller Welt ist eine Superglucke? Ich pers?nlich kann zwar nicht mal menschliche Einworts?tze, aber ich bin mir sicher, dass Zweiworts?tze f?r Carolin eine deutliche Verschlechterung w?ren. Wie kommt Daniel denn darauf, dass so etwas passieren k?nnte? Leider sagt er dazu nichts mehr, sondern inhaliert den Rauch seiner Zigarette und starrt vor sich hin. Hm. So machen M?nnergespr?che keinen Sinn. Ich meine, so als Selbstgespr?ch. Ich brauchte jetzt dringend genauere Informationen.

Ein Windstoss weht den Zigarettenrauch genau in die Richtung meiner Nase, ich muss niesen. Pfui, das riecht wirklich nicht gut! Ich drehe mich zur Seite und atme tief durch, um das unangenehme Kribbeln in meiner Nase wieder loszuwerden, als es geschieht: Nur der Bruchteil, der Hauch des Hauchs eines Dufts, und trotzdem weiss ich sofort, dass sich das Warten gelohnt hat. SIE ist wieder da! Meine Cherie! Ich springe hoch und schaue in die Richtung, aus der ihr Duft kam.

Tats?chlich, da steht sie! Bildsch?n ist sie, fast noch sch?ner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihr langes, blondes Haar weht in der leichten Brise, sie hat den Kopf gehoben und schaut ihr Frauchen an, das neben ihr steht und ihr irgendetwas erz?hlt. Ich will zu ihr hinrennen – doch dann z?gere ich. Was, wenn sie mich gar nicht mehr kennt? Oder schlimmer: mich erkennt, aber nichts mit mir zu tun haben will? Mein Herz f?ngt wieder an zu rasen, aber diesmal ist es nicht freudige Erwartung, sondern: Angst. Was mir als Jagdhund nat?rlich sehr peinlich ist. Aber ich kann es nicht leugnen. Sosehr ich mich nach diesem Moment gesehnt habe, so sehr f?rchte ich mich nun vor ihm.

»Aha. Das ist es also, das Objekt deiner Begierde.« Daniel steht wieder neben mir. Und seine ?usserung zeugt nicht

einmal von besonderem Hundesachverstand. Vielmehr ist wahrscheinlich kaum zu ?bersehen, dass ich mittlerweile angefangen habe zu zittern, als ob ich es mit einer ganzen RotteWildsauen aufnehmen m?sste. Kein Wunder, es f?hlt sich gerade auch genauso an.

»Na, eins muss ich sagen: Geschmack hast du. Eine sehr h?bsche H?ndin. Das Frauchen sieht ?brigens auch nicht ?bel aus. Lass uns doch mal n?her rangehen.«

Nein!, m?chte ich laut rufen, aber nat?rlich kann ich nicht verhindern, dass sich Daniel schnurstracks zu den beiden aufmacht.

»Einen sch?nen guten Tag!« Oh nein, er spricht sie auch noch an! Damit d?rfte die Chance, unerkannt von dieser Wiese wieder runterzukommen, gleich null sein. Und nat?rlich: Frauchen dreht sich zu uns und Cherie gleich mit. Mir wird heiss und kalt.

»Ich weiss, das klingt nach einer billigen Anmache. Aber ich glaube, unsere Hunde kennen sich.«

Frauchen und Cherie starren uns an. Ich f?rchte, dass mir der Sabber mittlerweile aus den Mundwinkeln l?uft. Heiss ist mir nicht mehr, nur noch kalt. Eiskalt. Heute ist ein furchtbarer Tag. Wahrscheinlich der furchtbarste meines bisherigen Lebens. Ach was. Ganz sicher der furchtbarste meines bisherigen Lebens. Frauchens Blick wandert zwischen Daniel und mir hin und her. Dann f?ngt sie an zu lachen.

»Aber klar! Das ist doch Herkules, der Hund von Doktor Wagner!«

Uff. Die hat mich schon mal erkannt. Dann macht auch Cherie einen Schritt auf mich zu. Mein Herz macht einen so grossen Sprung, dass ich fast mit hochgerissen werde. Als sie mich mit der Schnauze in die Seite stupst, f?hle ich mich genauso wie damals, als ich mich an den Weidezaun unseres

Nachbarn angelehnt hatte. Ein gigantischer Schlag, dann str?uben sich meine Nackenhaare. Ich bekomme dermassen starkes Ohrenrauschen, dass ich zuerst kaum verstehe, was mir Cherie jetzt ins Ohr raunt.

»Herkules! Du bist es tats?chlich! Wie sch?n, dich zu sehen!«

Sie freut sich, mich zu sehen! Sie FREUT sich, MICH zu sehen! Es ist ein grossartiger, es ist ein grandioser Tag! M?glicherweise der sch?nste Tag meines bisherigen Lebens. Ach was. Ganz sicher der sch?nste Tag meines bisherigen Lebens. Auch Daniel scheint mit diesem Zusammentreffen ganz zufrieden zu sein, er unterh?lt sich angeregt weiter mit Cheries Frauchen.

»Also, genau genommen ist Herkules der Hund von Carolin Neumann, der Freundin vom Tierarzt«, kl?rt Daniel sie auf. »Ich bin ?brigens Daniel Carini.« Er reicht Frauchen die Hand. Die schl?gt l?chelnd ein.

»Hallo! Ich bin Claudia Serwe.« Sie streicht sich mit einer Hand ihr langes, dunkles Haar hinters Ohr. Das sieht irgendwie … absichtlich aus. Habe ich fr?her ab und zu bei Nina beobachtet, wenn die sich mit M?nnern unterhalten hat. Ob das bei Menschen irgendeine tiefere Bedeutung hat?

»Freut mich, Frau Serwe! Tja, wie ich schon sagte: Es klingt seltsam, aber irgendwie hatte ich das Gef?hl, dass Herkules auf der Suche nach Ihrem Hund sein k?nnte. Kennen sich die beiden also tats?chlich?«

»Ja, und wie! Die beiden haben eine richtige Geschichte miteinander! Cherie hat Herkules mal aus der Alster gerettet. Er war hinter irgendetwas hergesprungen und kam nicht mehr allein ans Ufer. Golden Retriever sind ja sehr gute Schwimmer, sie hat ihn gepackt und rausgezogen.«

Cherie stupst mich noch mal in die Seite.

»Stimmt! Daran kann ich mich noch gut erinnern! Du dich auch?«

Das soll wohl ein Witz sein? Diese Schmach hat sich unausl?schlich in mein Ged?chtnis eingebrannt. Mit meiner Aktion wollte ich Cherie damals beeindrucken. Dass sie mich anschliessend retten musste, war mir peinlich ohne Ende. Was soll ich darauf also antworten? Etwas Intelligentes f?llt mir nicht ein. Eigentlich f?llt mir gar nichts ein. Wenn ich Cherie angucke, stellt sich in meinem Hirn die grosse Leere ein. Cherie sieht mich gespannt an. Ich hole Luft – und bleibe stumm. Es ist, als h?tte ich einen riesigen Knoten in der Zunge. Und anstelle des Gef?hls von Sabber habe ich jetzt den Eindruck, dass mein Maul ganz trocken ist.

»Herkules? Alles in Ordnung? Hat es dir die Sprache verschlagen?« Cherie betrachtet mich neugierig von der Seite. Ich f?rchte, mit ihrer Diagnose hat sie Recht. Ich bringe einfach kein Wort hervor. Sie stupst mich noch einmal an. Wieder der Stromschlag!

»Ich, also, ?h …« Mist. Es geht einfach nicht.

»Ist schon komisch, wenn man sich nach so langer Zeit zuf?llig begegnet, oder?« Wie nett. Cherie will mir offenbar den Gespr?chseinstieg erleichtern. Ich nicke ergeben. Sie braucht nicht zu wissen, dass wir gar nicht zuf?llig hier sind. »Ich habe nach unserem Umzug h?ufiger an dich gedacht. Der war ja sehr spontan, weisst du?« Meine Sprachl?hmung h?lt an, also sch?ttle ich nur den Kopf. Cherie hat die G?te, so zu tun, als sei das v?llig normal, und erz?hlt einfach weiter. »Claudia folgte n?mlich der Stimme ihres Herzens. In eine andere Stadt.«

Stimme des Herzens. Das ist das Stichwort! Ich muss husten– und pl?tzlich kann sich meine Zunge wieder frei bewegen. Uff – hoffentlich war das ein einmaliger Aussetzer, sonst

muss mich Cherie ja f?r v?llig unterbelichtet halten. Schnell bem?he ich mich, m?glichst sinnvoll in das Gespr?ch einzusteigen.

»Ach so. Ein Umzug. Also seid ihr nur zu Besuch hier?«

»Nein. Das menschliche Herz ist offenbar nicht besonders zuverl?ssig, insbesondere Claudias nicht, und deswegen sind wir jetzt wieder zur?ck. Letzte Woche sind wir mit Sack und Pack umgezogen.«

Mein Herz macht einen weiteren Sprung. Cherie wohnt wieder in meiner N?he!

»Ich sag’s dir: Umziehen ist ein m?rderischer Stress! Ich hoffe, Claudia verliebt sich so schnell nicht wieder. Oder wenn, dann nur in ihren direkten Nachbarn.«

»Hm, als Caro und ich damals zu Marc gezogen sind, war das gar nicht so anstrengend.«

»Na, euer Umzug fand ja auch nicht mitten in der Nacht und heimlich statt.«

»Mitten in der Nacht und heimlich? Nein, bei uns kam ein Riesenlaster, und f?nf M?nner haben Kartons geschleppt. Wie will man das denn heimlich machen?«

»Ganz einfach: indem man auf den Laster und die Kartons verzichtet, die wichtigsten Sachen in einen Koffer schmeisst und einfach nachts abhaut.«

»Das habt ihr gemacht? Warum denn?«

»Du wirst es nicht glauben, aber Claudia hatte Angst vor ihrer einstmals grossen Liebe. Der war n?mlich ein echter Tyrann und hat st?ndig rumgebr?llt. Ich glaube, Claudia dachte, dass der uns nicht einfach gehen l?sst.«

»Das ist ja furchtbar! Thomas, Carolins Exfreund, war auch ein echter Schreihals und noch dazu ein L?gner und Betr?ger – aber Angst hatte Caro vor ihm nicht. Leider. Sie glaubte unersch?tterlich an das Gute in ihm. Was dort nat?rlich

?berhaupt nicht vorhanden war. Also mussten Herr Beck und ich gaaaanz tief in die Trickkiste greifen, um den Typen loszuwerden.«

»Echt? Das habt ihr beiden geschafft?«

Ich recke mich stolz.

»Jepp!« Dass der ?rger ohne Thomas erst richtig losging, lasse ich an dieser Stelle mal weg. Es gab ja trotzdem ein Happy End.

»Und nun ist sie mit dem Doktor gl?cklich. Das ist ja wie im M?rchen!« Cherie wirkt sehr beeindruckt. Was ist es eigentlich, was Frauen an ?rzten so toll finden? Gut, Marc hat Cherie nach ihrem Unfall operiert, aber das ist schliesslich sein Job. Quasi, als ob Daniel einen Riss im Cello wiederzusammenflickt. Handwerk eben. Aber Daniel erntet nie solche Blicke von Frauen, wenn er von seinem Beruf erz?hlt. Weder von zwei-, noch von vierbeinigen.

»Ja, das Zusammenleben mit Marc klappt wirklich gut. Nur anfangs gab es Probleme mit einem magischen Kleiderschrank.«

Cherie guckt mich mit ihren grossen, dunklenwundersch?nen Augen erstaunt an.

»Echt? Ein magischer Schrank?«

Ich nicke.

»Immer, wenn Caro und Marc vor dem Schrank standen, haben sie angefangen, sich zu streiten. Zuerst ging es um Marcs Hosen und die Frage, ob man die wegschmeissen muss, wenn sie so eng sind, dass man sie nicht mehr zumachen kann, oder ob die nicht doch ein tolles Andenken an alte Zeiten sind. Und dann darum, ob Marcs Mutter die Unterw?sche von Carolin im Schrank sortieren darf.«

»Aha? Und wie kommst du drauf, dass das an dem Schrank gelegen hat? Versteh ich nicht.«

»Na, das ist doch sonnenklar! Das sind doch v?llig verr?ckte Themen! W?sche und enge Hosen! Dar?ber w?rden sich doch denkende, vern?nftige Wesen sonst niemals streiten. Es muss also am Schrank gelegen haben.«

Cherie gibt ein Ger?usch von sich, das wie ein Kichern klingt.

»Ach komm, Herkules. Du bist doch auch nicht erst seit gestern ein Haustier. Das hast du doch mittlerweile schon mitbekommen, dass Denken und Vernunft beim Menschen nicht viel miteinander zu tun haben.«

Auch wieder wahr. Den Fehler mach ich halt immer wieder. Ich glaube, dass Menschen dank der F?higkeit zum logischen Denken auch logische Schl?sse ziehen m?ssten.

»Aproposversteh einer die Menschen: Wer ist eigentlich der Typ, mit dem du gekommen bist?«, will Cherie wissen.

»Daniel, Carolins Kollege. Die beiden haben doch zusammen die Werkstatt.«

»Hm. Sagt mir nichts. Ich glaube, den habe ich noch nie gesehen.«

»Na ja, er war auch eine Zeitlang nicht da. Ist ebenfalls der Stimme seines Herzens gefolgt. War aber auch ein Reinfall. Er musste zwar nicht nachts mit einem Koffer t?rmen, aber ich glaube, ein paar Schrammen hat sein Herz doch abbekommen.«

Cherie legt den Kopf schief und guckt nachdenklich.

»Daf?r, dass das Herz so empfindlich ist, m?ssten die Menschen einfach mal besser darauf aufpassen.«

Wie wahr, wie wahr. Cherie hat vollkommen Recht. Sie ist eben nicht nur sch?n, sie ist auch schlau. Ich habe sie echt vermisst.

NEUN

Die menschliche Tragzeit dauert ewig. E-W-I-G! Wie rund soll Carolin denn noch werden? Gerade jetzt liegt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, ich ausnahmsweise auch darauf zu ihren F?ssen – und ich kann ihr Gesicht gar nicht mehr sehen, weil mir ihr Bauch die Sicht versperrt. Ob Menschenbabys dadurch auf die Welt kommen, dass die Mutter einfach platzt?

Auf dem dicken Bauch hat Carolin ein Buch abgelegt, aus dem sie mir bis eben vorgelesen hat. Wer sich jetzt denkt, dass es doch sehr nett ist, wenn Frauchen seinem treuen Jagdhund eine lustige Geschichte vorliest, der irrt. Keine lustige Geschichte. Nicht mal eine traurige. Einfach gar keine. Carolin liest aus dem Buch Namen vor, lauscht ihrem Klang nach und fragt dann:»Na, Herkules? Wie findest du den?« Was soll ich dazu schon sagen? LANGWEILIG! Ich will lieber spazieren gehen. Mit Gl?ck ist Cherie auch gerade unterwegs! Seit unserem Wiedersehen vor zwei Tagen muss ich st?ndig an sie denken.

»Oder Sophie? Klingt doch auch sch?n, oder? Also, wenn es ein M?dchen wird.« Sie legt die Hand neben das Buch auf den Bauch. »Na, Kleines? Wirst du ein M?dchen?«

Marc kommt ins Wohnzimmer, gibt Caro einen Kuss und setzt sich dann in einen der Sessel.

»Hallo, ihr beiden. Was macht ihr denn Sch?nes?«

»Herkules ber?t mich bei der Vornamensfindung.«

Von wegen! Herkules langweilt sich! Aber das interessiert hier wie?blich keinen. Es geht mal wieder um das Baby. Hoffentlich ist das bald da, damit sich die Themenliste endlich wieder normalisiert.

»Und? Was gef?llt ihm am besten?«

»Ich glaube, bei den M?dchen mag er Sophie, bei den Jungs Henri.«

Bitte? So’n Quatsch! Ich w?rde sagen, bei den M?dchen Chappi und bei den Jungs Frolic.

»Henri finde ich auch sch?n. Henri Wagner. Das hat doch was.«

»Ja, schon sehr h?bsch. Noch h?bscher ist allerdings Henri Neumann.«

Carolin klingt belustigt. Sehen kann ich das ja nicht. Marc hingegen, den ich sehr gut sehen kann, zieht die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel nach unten. Ist bestimmt ein schwieriges Man?ver und dr?ckt offensichtlich Missfallen aus.

»Neumann?!«

»Ja. So heisse ich.«

Genau. Sollte Marc das etwa vergessen haben?

»Ja, aber … aber …«

»Aber, aber – was?«

»Nun ja, ich dachte, das Kind bekommt meinen Nachnamen.«

»Wie kommst du denn darauf? Dar?ber haben wir doch noch gar nicht gesprochen. Was mich, nebenbei bemerkt, schon ein bisschen gewundert hat. Aber dann dachte ich, ich warte mal, ob du es ansprichst.«

Marc r?uspert sich.

»?h … ich dachte, das w?re irgendwie klar.«

»Wieso sollte das klar sein?«

»Na, wir sind doch eine Familie. Und Luisa heisst doch auch Wagner. Sollen denn die Geschwister nicht den gleichen Namen tragen?«

»Sollen sie? Ich weiss nicht. Ich geh?re doch auch zur Familie.«

Genau! Und ich auch! Herkules Neumann!

»Das ist doch etwas ganz anderes!«

»Finde ich nicht.«

»Doch, du kannst ja meinen Namen gar nicht annehmen.«

»K?nnte ich schon. Wir m?ssten nur heiraten.«

»Bitte, nicht wieder das Thema. Du kennst meine Meinung.«

Wuff! Aber ich nicht! Wor?ber reden denn die beiden? Und wieso sinkt die gef?hlte Zimmertemperatur gerade um mindestens zehn Grad?

»Ja. Die kenne ich. Und sie kr?nkt mich. Nicht, weil ich unbedingt heiraten will. Sondern weil ich das Gef?hl habe, dass du an unserer Liebe zweifelst. Und glaube mir, das ist kein sch?nes Gef?hl, vor allem, wenn man im achten Monat schwanger ist und aussieht wie eine Seekuh.«

Marc steht auf, kniet sich neben das Sofa und k?sst Caro auf den Bauch.

»Spatzl, das stimmt doch gar nicht. Das mit der Seekuh. Und der Rest auch nicht. Ich liebe dich, ich freue mich wahnsinnig auf unser gemeinsames Kind. Aber ich stand schon einmal vorm Altar und habe ewige Treue geschworen. Bis dass der Tod euch scheidet, haha! Das hat ja nun nachweislich nicht geklappt. Sabine ist putzmunter und gl?cklich vereint mit ihrem Flugkapit?n. Ich glaube nicht mehr an den ganzen Quatsch. Unddeswegen m?chte ich nie wieder heiraten. Einen anderen Grund gibt es nicht. Mit meiner Liebe zu dir hat das rein gar nichts zu tun.«

Jetzt f?ngt Caro an zu schluchzen. Auweia, wer h?tte an diesem friedlich-langweiligen Nachmittag damit gerechnet?

»Tut mir leid, Marc. Das sind die Hormone. Denk dir nichts. Aber deine Mutter nervt mich ziemlich mit dem Thema. Und meine eigentlich auch. St?ndig fragen mich die beiden, warum wir nicht heiraten. Ich komme mir langsam total bl?d vor, verstehst du? Dabei bin ich doch gar keine grosse Verfechterin der Ehe.«

Marc streichelt?ber ihren Bauch. Ob da ausser dem Baby auch dieseHormone drin sind? Was ist das wohl? Auf alle F?lle scheinen die zum Schwangersein dazuzugeh?ren und es irgendwie l?stig zu machen, wenn Caro nun schon wegen ihnen weinen muss.

»Armes Spatzl. Das tut mir leid. Ich rede mit meiner Mutter.«

»Nee, lass mal. Ich glaube, sie wird das nicht verstehen.«

Und kann man es ihr verdenken? Ich verstehe schliesslich auch kein Wort. Was schon daran liegt, dass ich keine wirkliche Vorstellung davon habe, was »Ehe« und »Heiraten« eigentlich bedeuten.Ewige Treue klingt doch schon mal gut. Wie zwischen J?ger und Hund. Bisdass der Tod euch scheidet– das k?nnten sich auch Opili und von Eschersbach versprochen haben. Also, selbst wenn sie sich das so nie gesagt haben, weil sich die beiden ja nicht mit Worten unterhalten konnten. Gemeint haben sie es bestimmt. Und daran gehalten haben sie sich auch. Bis zum letzten Atemzug von Opili.

So gesehen verstehe ich schon, dass Caro sauer ist, wenn Marc ihr das jetzt nicht versprechen will. Und alles nur, weil sich die bl?de Sabine nicht daran gehalten hat. Das ist doch wohl nicht Caros Schuld! Da h?tte Marc bei der Frauenauswahl einfach ein bisschen besser aufpassen m?ssen. Auch hier ist es doch wieder wie im wahren Leben. Augen auf beim

Hundekauf! Diese Mahnung nimmt sich jeder gewissenhafte Z?chter zu Herzen, wenn er sich eine neue H?ndin in den Zwinger holt. Sabine war eben ein Fehlgriff. Selber schuld, Marc!

Andererseits – was genau ist denn nun der Unterschied zwischen Liebe und Ehe? Wie h?ngen die zusammen? H?ngen sie ?berhaupt zusammen? Dass Marc Caro liebt, ist doch klar. Das bezweifelt sie auch nicht. Sagt sie ja selbst. Und mit ihr zusammenbleiben will er auch, ist bei Menschenpaaren, zumal mit Kindern, schliesslich das Konzept. Und schiefgehen kann es – siehe Sabine – trotz Ehe. Versteh ich nicht. Wozu heiraten Menschen denn dann? Ob das irgendwas mit dem Eintrag ins Zuchtbuch zu tun hat? Gibt es das f?r Menschen ?berhaupt? Und was hat das alles damit zu tun, dass Caro mittlerweile wie eine Seekuh aussieht?

»So, dann lass mich auch mal gucken.« Marc steht auf, nimmt das Buch von Caros Bauch und setzt sich wieder in den Sessel. »Henri und Sophie. Finde ich beides gut. ?ber den Nachnamen unterhalten wir uns noch mal, oder?«

Ringt sich Caro nun zu einen L?cheln durch? Ich h?pfe vom Sofa und gucke sie mir von unten an. Ja. Sehr gut! Kriegspfad wurde verlassen.

»Von mir aus. K?nnen wir machen. Aber was sind denn deine Favoriten?«

»Wie findest du denn Ole?«

Caro sch?ttelt den Kopf.

»Malte?«

Kopfsch?tteln.

»Nikolaus?«

»Hm. Niko. Schon besser. Was h?ltst du von Alexander?«

»Finde ich sch?n, ist aber sehr h?ufig, oder?«

Caro nickt.

»Ja, aber ich mag den Namen, weil er so klassisch ist.«

»Wo wir gerade bei klassisch sind – bei den M?dchen finde ich Johanna gut.«

»Und Nina?«

»Nee, bitte. Da m?sste ich die ganze Zeit an deine Nina denken.«

»Wiesomeine? Ich dachte, sie seiunsere Nina. Und?berhaupt: Bevor du dich mit mir getroffen hast, bist du immerhin mit ihr ausgegangen. So schlimm k?nnen die Gedanken an Nina also wohl nicht sein.«

Marc seufzt.

»Gut. Hast ja Recht. Trotzdem will ich nicht, dass unsere Tochter so heisst. Der Name ist irgendwie besetzt. Wie geht es Nina eigentlich? Ewig nichts mehr von ihr geh?rt. Immer noch mit dem Weihnachtsmann gl?cklich?«

»Ich glaube schon. Aber in letzter Zeit habe ich sie kaum gesehen – sie steckt gerade in einem anstrengenden Forschungsprojekt, eine Kooperation mit einem schwedischen Institut. Irgendetwas mit Suchtprophylaxe. Jedenfalls ist sie st?ndig in Stockholm, und wenn ich sie mal sehe, habe ich Angst,sie mit meinen Babythemen zu langweilen.«

Marc guckt erstaunt.

»Freut sie sich denn nicht f?r uns?«

»Doch. Schon. Aber du weisst ja, wie sie zum Thema Kinder steht.«

Allerdings weiss Marc das. Als er sich noch mit Nina getroffen hat, haben sie sich ?ber das Thema Kinder mal so gestritten, dass sie ihn auf einer Picknickdecke mit einer Sch?ssel voll sandigem Kartoffelsalat hat sitzen lassen und einfach in den n?chsten Bus gesprungen ist. So wird es jedenfalls erz?hlt. In der Beziehung ist Nina genauso kompliziert und unleidlich wie Herr Beck. Die beiden haben eindeutig eine Kinderphobie.

So nennt Caro das bei Nina, und es bedeutet, dass die Kinder?berhaupt nicht mag.

»Na, vielleicht ?ndert sich das noch mal. Ansonsten ist ihr Freund nat?rlich auch noch ziemlich jung, der ist wahrscheinlich auch nicht gerade scharf auf einen Stall voll lauter, l?rmender G?ren oder kleiner Windelpupser, die er jede Stunde wickeln oder f?ttern muss und die ihn um seinen Nachtschlaf bringen.« Er lacht.

Hm. Laute, l?rmende G?ren? Einmal pro Stunde wickeln – was ist das eigentlich? – oder f?ttern? Also, so richtig scharf bin ich darauf auch nicht, und mein Nachtschlaf ist mir heilig! Das klingt ja sehr betreuungsintensiv. Wie lange das wohl dauert, bis ein Menschenkind so weit ist, dass es nicht mehr soaufw?ndig in der Pflege ist? Anscheinend hat Caro gerade den gleichen Gedanken.

»Hoffentlich schaffen wir das alles. Ich freue mich, aber ich habe auch Bammel.«

»Keine Sorge, Spatzl. Du hast einen echten Profi an deiner Seite. So ein Baby versorge ich mit links. Und wenn er oder sie wie Luisa wird, dann k?nnen wir uns auf ein ganz friedliches, gutgelauntes Gesch?pf freuen. Egal, ob Baby Neumann oder Baby Wagner.«

»Friedliches, gutgelauntes Gesch?pf? Pfff! Vergiss es!« Okay, Herr Beck glaubt nicht an die Geschichte vom lieben Baby. Aber das ist ja auch kein Wunder, siehe Kinderphobie. Die teilt er eindeutig mit seinem Frauchen.

»Aber Marc sagt, dass Luisa genauso war. Das perfekte Baby«, verteidige ich meine Freundin.

»Ach Quatsch!« Beck sch?ttelt unwillig den Kopf. »Das glauben doch alle Eltern. Dass sie ganz s?sse, liebreizende Kinder haben. Selbst der nichtsnutzige Neffe von Frau

Wiese war bestimmt ?berzeugt davon, dass es sich bei seinen missratenen G?ren um die Krone der Sch?pfung handelte. Ich weiss bis heute nicht, woran es liegt – aber irgendetwas vernebelt Menschen beim eigenen Nachwuchs komplett den Verstand.«

»Meinst du?«

»Ja, und ob! Sieh dir doch mal an, wie die ihre Kinder erziehen.«

»Hm. Die Erziehung ist mir noch nicht so besonders aufgefallen.«

»Kein Wunder – die findet ja auch gar nicht statt! Menschenkinder machen einfach, was sie wollen, die Eltern klatschen noch Applaus!« Herr Beck schnauft hektisch, das Thema scheint ihn richtig mitzunehmen. »Wenn ich mir als K?tzchen auch nur einen Bruchteil der Sachen erlaubt h?tte, die ichbei Menschenkindern jeden Tag beobachte, dann w?re ich von meiner Mutter aber mal richtig verm?belt worden.«

Ich bleibe skeptisch.

»Wann beobachtest du denn schon mal Menschenkinder? Hier im Haus wohnen doch gar keine. Und im Park bist du meistens abends oder nachts. Da sind die meisten Kinder schon l?ngst zu Hause.«

»Na, fr?her. Fr?her habe ich die beobachtet. Bei Familie Wiese. Oder bei meinem alten Herrchen, dem Anwalt. Da kamen auch oft Kinder mit ins B?ro, um die sich die Eltern, die nicht mehr zusammenbleiben wollten, gestritten haben. Hab ich damals schon nicht verstanden. Ich w?re froh gewesen, endlich ohne Kinder meine Ruhe zu haben.«

Beck ist einfach ein alter N?rgler. Dem t?te ein wenig Unruhe wahrscheinlich ganz gut, so empfindlich, wie der mittlerweile ist. Kleine Menschen sind eben wilder als grosse, das finde ich eigentlich sch?n. Nicht so langweilig! Klar, als

Welpe wurde ich von meiner Mutter auch das ein oder andere Mal sehr energisch zurOrdnung gerufen. Dann packte sie mich im Nacken und sch?ttelte mich ordentlich. Aber bei Menscheneltern funktioniert das vielleicht anders. Eben mit Worten. Marc jedenfalls schimpft ab und zu mit Luisa, wenn sie etwas falsch macht. Und wenn sie etwas richtig macht, freut er sich und lobt sie. Das ist bestimmt auch Erziehung. Nur ohne Sch?tteln.

»Na, ihr beiden? Sonnt ihr euch?« Daniel kommt zu uns in den Garten. Seit unserem Spaziergang an der Alster steht er h?ufiger auf der Terrasse und raucht – eigentlich immer, wenn Caro gerade nicht in der Werkstatt ist. Aber diesmal hat er kein Zigarettenp?ckchen in der Hand, sondern meine Hundeleine.

»Wir beiden haben eine Verabredung, Herkules. Mit zwei attraktiven Frauen. Komm!«

Ich z?gere. Wozu braucht Daniel mich, wenn er mit zwei Frauen verabredet ist? Kann er sich nicht entscheiden und will meine Meinung zu den Damen h?ren? Und dann gucke ich mir die beiden an und hebe mein Beinchen an der Kandidatin, die mir nicht so gef?llt? Eigentlich ein lustiger Gedanke. Und nat?rlich hat Daniel v?llig Recht: Mein Geschmack ist exquisit, immerhin habe ich auch f?r Carolin den passenden Mann gefunden. Wenn wir uns damals auf ihre eigene Menschenund insbesondere M?nnerkenntnis verlassen h?tten – auweia! Das w?re b?se geendet! Also rappele ich mich auf und trabe zu Daniel. Wenn mein Freund mich braucht, stehe ich zu ihm, ist doch klar! Und vielleicht besteht ja der Hauch einer Chance, dass er mit den Damen in der N?he der Hundewiese verabredet ist.

Nein, er ist nicht in der N?he der Hundewiese verabredet. Er istauf der Hundewiese verabredet. Jedenfalls steuern wir die direkt an. Wie seltsam! Nach meiner bisherigen Kenntnis finden Treffen von M?nnern und Frauen bevorzugt in Restaurants oder Caf?s statt. Vielleicht auch mal im Mondschein auf einer Parkbank. Aberauf der Hundewiese? Umringt von ziemlich vielen grossen und kleinen Vierbeinern, mit einer Ger?uschkulisse, die nicht einmal ich als romantisch bezeichnen w?rde? Nein, so eine Verabredung habe ich jedenfalls mit Carolin auch nicht in der Hochphase der M?nnersuche erlebt.

Jetzt winkt Daniel irgendjemandem zu. Wahrscheinlich einer der beiden Frauen. Vielleicht hat er sich einen kleinen sportlichen Wettbewerb f?r die Damen ausgedacht?Agility, wie man das im Hundesport nennt? Gemeinsames St?ckchenweitwerfen oder mit Hunden um die Wette rennen? Interessiert schaue ich, wer ihm denn wohl zur?ckwinkt – und erlebe eine ?berraschung. Ich kenne die Frau! Es ist Claudia, Cheries Frauchen! Ein angenehmes Kribbeln breitet sich von meiner Schwanzspitze ?ber den gesamten R?cken aus: Wo Claudia ist, kann auch Cherie nicht weit sein. Tats?chlich taucht sie gleich danach neben ihr auf. Sie sieht mich und trabt auf uns zu.

»Hallo, Herkules! Ist das nicht klasse? Claudia und Daniel haben sich verabredet. Ich glaube, die m?gen sich.«

»Ja, aber ich dachte, er w?rde noch auf eine andere Frau warten.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Er sagte, wir seien mit zwei attraktiven Frauen verabredet. Momentan sehe ich nur eine.«

»Charmant bist du ja nicht gerade.«

»Charmant? Wie meinst du das?«

»Weisst du nicht, was Charme ist?«

»Nicht so richtig.« Eigentlich gar nicht, aber das will ich nicht zugeben.

»Jemand, der charmant ist, hat eine ganz tolle Ausstrahlung. Er schafft es, Eigenschaften seiner Mitmenschen besonders freundlich hervorzuheben, selbst wenn die auf den ersten Blick gar nicht so toll sind.«

»Aha. Er l?gt also.«

Cherie schnauft.

»Nein. Er ist charmant. Er sorgt f?r ein bisschen Freude im Leben anderer Menschen. Mit L?gen hat das nichts zu tun.«

»Versteh ich nicht. Und noch weniger verstehe ich, was Charme damit zu tun hat, dass Daniel auf zwei tolle Frauen wartet.«

»Na, ist doch wohl klar: Mit den zwei attraktiven Frauen meinte Daniel Claudia undmich.«

»Echt? Kann ich mir gar nicht vorstellen. Du bist doch nur ein Hund.«

»Wuff!« Cherie klingt emp?rt.

»?h, ich meine, inDaniels Augen bist du doch nur ein Hund.« Mist, ich habe das Gef?hl, mich hier gerade um Kopf und Halsband zu reden.

»Tja. Auf alle F?lle ist Daniel deutlich charmanter als du. Besser kann ich dir das auch nicht erkl?ren. Aber vielleicht fragst du einfach mal den fetten Kater. Der weiss doch sowieso immer alles besser.« Cherie klingt eingeschnappt.

»Tut mir leid, das war jetzt doof von mir. Aber du weisst doch, dass ich dich total sch?n finde. Du bist f?r mich die sch?nste H?ndin der Welt. Ich bin so gl?cklich, dass du wieder da bist, ehrlich!«

Cherie guckt mich an, als w?rde sie etwas ?berlegen. Dann

schnellt ihr Kopf vor, und sie schleckt mir einmal ?ber die Schnauze. Wahnsinn – ich habe das Gef?hl, dass mich gerade ein gewaltiger Blitz getroffen hat.

»Danke, Herkules, das ist lieb von dir! Ich habe dich auch vermisst. Vielleicht bin ich momentan einfach etwas empfindlich. Claudia sagt immer, das seien die Hormone. Ist eben ein besonderer Zustand.«

Hormone. HORMONE? Eine sehr, sehr ungute Ahnung beschleicht mich. Ich mustere Cherie.

»Wie meinst du denn das?«

Cherie r?ckt ganz nah an mich heran, ihre Stimme ist nur noch ein leises Fl?stern.

»Ich bin tr?chtig. Ich werde endlich, endlich Mutter! Ist das nicht sch?n?«

ZEHN

Wieso ist das Leben so ungerecht? Warum bin ich kein preisgekr?nter Golden-Retriever-R?de und h?re auf einen klangvollen Namen? Warum biegen sich zu Hause nicht die Regale unter der Last der Pokale, die ich dann schon als Bundessieger, internationaler Champion und Gott weiss noch was alles gewonnen h?tte? Wieso bin ich nur ein kleiner, kurzbeiniger Rauhaardackelmix, den kein Z?chter jemals als Vater der Kinder einer so tollen H?ndin wie Cherie in Erw?gung ziehen w?rde? Warum? WARUM?! Warum bin ich getauft auf Carl-Leopold von Eschersbach und sehe doch keinen Deut imposanter aus als Herkules Neumann? Kurz: Wieso bin ich nur ich und nicht Alec of Greensbury Hills?

»Papa, ich glaube, Herkules ist krank. Kannst du ihn dir mal angucken?«

Luisa ist schon aus der Schule zur?ck und hat mich runter in die Praxis von Marc getragen. Das Kind ist einfach ungeheuer zartf?hlend. Sie hat gleich gemerkt, dass mein Leben ein absolutes Jammertal ist. Gut, vielleicht hat auch geholfen, dass ich seit ungef?hr einer Stunde in eine Art Dauerheulton verfallen bin.

»Wie kommst du denn darauf, dass Herkules krank sein k?nnte?«, will Marc wissen, als er mich aus ihren Armen nimmt und vorsichtig auf seinen Untersuchungstisch stellt.

»Er jault schon, seit ich aus der Schule bin. Und fressen will er auch nichts. Nicht mal die gute Kalbsleberwurst.«

»Verstehe. Der Fall ist also ernst.«

»Sehr ernst!«

Luisa ist einfach meine beste Freundin in dieser?beraus tristen Welt. W?hrend der fette Kater sich wahrscheinlich nur an meinem Ungl?ck weiden w?rde, versucht sie sofort, mir zu helfen. Das ist wundervoll – auch wenn dieser Versuch in einer tier?rztlichen Untersuchung m?ndet.

Marc streicht mit einer Hand?ber meinen R?cken, guckt in meine Ohren und tastet meine Beine ab. Dazu legt er den Kopf schief und murmelthm, hm oderso, so. Schliesslich ?ffnet er meine Schnauze und schaut in mein Maul. Okay, wenn er von da aus bis zu meinem Herzen sehen kann, ist das eine schlaue Idee. Denn das ist mit Sicherheit gebrochen und bietet einen j?mmerlichen Anblick. Als Marc meine Schnauze wieder losl?sst, jaule ich ein bisschen.

»Oh, das klingt in der Tat nicht gut!«

»Konntest du denn irgendetwas finden, Papa?«

»Ich w?rde sagen, Herkules bedr?ckt etwas. Man k?nnte meinen, sein Herz tut weh.« Wuff, jetzt bin ich platt! Ist Marc am Ende doch der Meister aller Hundeversteher? »Hast du eine Idee, was das sein k?nnte?«

»Vielleicht macht er sich Sorgen, weil das Baby bald kommt.«

Nein, falsch, Freunde! Marc war doch schon auf der richtigen Spur. Es geht um mein Herz!

»Glaubst du? Aber warum sollte er sich denn deswegen Sorgen machen?«

»Vielleicht hat er Angst, dass sich dann niemand mehr um ihn k?mmert, weil alle nur noch mit dem Baby besch?ftigt sind.« Also – wie kommt das Kind bloss auf solche Sachen? Klar mache ich mir ?ber das Baby ab und zu Gedanken, aber deswegen liege ich doch nicht im K?rbchen und heule!

»Hm. Hat dir Herkules so etwas erz?hlt?«

Luisa kichert.»Nein, Papa. Herkules kann doch gar nicht sprechen. Jedenfalls nicht richtig. Aber es kam mir irgendwie so vor, als w?rde er so etwas denken.«

Jetzt schaut Marc Luisa ganz nachdenklich an.

»Glaubst du das, weil du dir selbst deswegen Sorgen machst?«

Erst sagt Luisa nichts, dann nickt sie langsam.

»Ein bisschen schon. Ich meine, ich freu mich ganz doll auf das Baby, und ich habe mir immer ein Br?derchen oder ein Schwesterchen gew?nscht – aber manchmal, da denke ich, dass du dann nicht mehr so viel mit mir machen kannst, wenn wir ein Baby haben.«

Marc legt seinen Arm um Luisa und zieht sie ganz nah an sich heran.

»Luisa, du bist doch mein kleines M?dchen. Und das wirst du auch immer bleiben. Mach dir bitte keine Sorgen – es wird sich nichts ?ndern, das verspreche ich! Grosses Indianerehrenwort!«

Er hebt eine Hand hoch und reckt drei Finger in die Luft. Lustig – was soll das denn wohl bedeuten?

Luisa scheint es zu wissen, denn jetzt strahlt sie von einem Ohr zum anderen.

»Hugh! Ehrenwort angenommen!«

Aha. Na, ein kleiner Dackel muss schliesslich nicht alles verstehen.

»Ausserdem hat Mama gesagt, dass ich jederzeit zu ihr kommen kann, wenn ihr euch nicht mehr richtig um mich k?mmert.«

Marc geht einen Schritt zur?ck und guckt Luisa sehr ernst an.

»Bitte, was hat deine Mutter gesagt?«

»Am Wochenende habe ich sie gefragt, wie ich eigentlich als Baby ausgesehen habe. Wir haben uns zusammen mein Babyalbum angeguckt. Na, und dabei hat Mama erz?hlt, wie viel Arbeit so ein Baby macht. Und dass es sein k?nnte, dass du f?r mich bald keine Zeit mehr hast.«

Dazu sagt Marc erst einmal nichts. Stattdessen presst er seine Handfl?chen so fest aufeinander, dass die Adern darauf deutlich hervortreten. Dann atmet er tief durch und setzt mich wieder auf den Boden.

»Glaube mir, Luisa, das wird nicht passieren. Damit kannst du auch deinen Freund Herkules beruhigen, wenn ihr euch mal wieder ?ber das Thema unterhaltet. Ich bin n?mlich ein ganz hervorragender K?mmerer.«

Wirklich sch?n zu wissen. Tr?stet mich aber gerade ?berhaupt nicht. Schliesslich will ich nicht, dass Marc sich um mich k?mmert. Sondern Cherie. Ach, Cherie …

»Mein Gott, Herkules! Jetzt versuch doch bitte mal, die ganze Geschichte etwas sachlicher zu betrachten.«

Okay, im Rahmen seiner M?glichkeiten gibt sich Beck tats?chlich alle M?he, mich zu tr?sten. Aber so wird das nichts. Denn das Letzte, was ich h?ren will, sind gute sachliche Argumente. Schliesslich tut mir das Herz weh, nicht der Kopf. Das hat Marc schon ganz richtig erkannt.

»?berleg mal – sie kennt doch diesen Alwin gar nicht wirklich.«

»Alec. Er heisst Alec.«

»Wie auch immer. Mit dir ist sie richtig befreundet. Diesen Alec hat sie wahrscheinlich nur einmal im Leben gesehen. Dann haben sie rasch die Babys gemacht – und gut war’s.«

Becks Worte bohren sich regelrecht in meine Brust, ich sp?re einen stechenden Schmerz und gehe jaulend zu Boden.

»Herkules?! Was ist los?«

»Ich habe Schmerzen.«

»Echt?«

»Ja. Echt!«

»Dann bist du krank.«

»Das sag ich ja die ganze Zeit. Aber du glaubst mir ja nicht.«

»Nein, ich meine: richtig krank.«

»Ich bin RICHTIG krank! Es tut RICHTIG weh!«

Herr Beck steht auf und geht um mich herum, um mich besser betrachten zu k?nnen.

»Hm. Aber was tut denn weh, wenn es weh tut?«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, was genau tut dir denn weh?«

»Ich habe das Gef?hl, dass mein Brustkorb auf einmal zu klein f?r mein Herz ist. Und das Herz selbst ist wie eingequetscht, richtig zusammengedr?ckt. Ich kann nicht mehr tief durchatmen, es ist schrecklich.«

»Auweia, das klingt furchtbar! Ich dachte bisher immer, Liebeskummer sei so eine menschliche Erfindung, die es im Grunde genommen gar nicht gibt. Scheint ja doch was dran zu sein.«

Ich drehe mich auf die Seite, weil mir das Atmen dann leichter f?llt.

»Hattest du denn noch nie Liebeskummer?«

Beck sch?ttelt den Kopf.

»Nein. Offensichtlich nicht. Jedenfalls nicht so. Sicher, die ein oder andere Katze hat mir schon gut gefallen. Und da hat sich hin und wieder auch etwas ergeben. Aber dass es mir deshalb in irgendeiner Form das Herz zusammengedr?ckt h?tte – nein, so war es bei mir nie.«

Ich seufze.

»Sei froh. Schon allein der Gedanke, dass sie mit diesem Alec of Greensbury Hills … also, nein!«

»Kleiner, du solltest dich mit diesen Phantasien nicht qu?len. Sondern dich lieber dar?ber freuen, dass du nicht so einen beknackten Namen hast. Und dass du wahrscheinlich Cheries bester Freund bist.«

»Aber ich will nicht ihr Freund sein! Ich will, dass sie mich liebt! Ich komme mir jetzt vor wie Daniel. Der ist auch Carolins bester Freund, aber w?re bestimmt lieber ihr Mann. Oder zumindest: w?re fr?her lieber ihr Mann gewesen.«

»Da siehst du doch schon den Unterschied, Herkules: Oft ist der Freund derjenige, den eine Frau ewig beh?lt. W?hrend die Liebe kommt und oft auch wieder geht. Jedenfalls wird Daniel auch noch Caros Freund sein, falls sie sich mal von Marc trennen sollte. Und wenn ich dich richtig verstanden habe, hat sich Daniel l?ngst von seinem Kummer erholt, hat sich mit Aurora getr?stet und flirtet mittlerweile sogar mit Cheries Frauchen. Du siehst: Es gibt ein Leben nach der grossen Liebe. Und es ist kein schlechtes.«

Ja. Ich weiss. Das ist alles gut gemeint und bestimmt auch wahr. Aber es tr?stet mich nicht. Jedenfalls nicht jetzt. Und so, wie sich mein Herz im Augenblick anf?hlt, auch in Zukunft nicht. Es zieht vom Herzen direkt runter in den Magen, ein nagendes, brennendes Gef?hl.

»Herkules, komm rein! Es gibt lecker Fresschen – ich habe sogar f?r dich gekocht!«

Carolin ist auf die Terrasse gekommen – oder sollte ich besser sagen: gerollt? Umgeben ist sie von einer sehr aromatischen Duftwolke, Pansen und Leber – lecker! Der Druck auf meinen Magen nimmt zu. Vielleicht ist ein Teil des Liebeskummers auch schlicht Hunger? Verwunderlich w?re es nicht, schliesslich habe ich seit der schlimmen Nachricht von

Cheries Rendezvous mit diesem aufgeblasenen Ausstellungscasanova kaum noch etwas gefressen. Was aber ausser Luisa bis eben niemandem aufgefallen ist. Im Gegenteil: Statt als gewissenhafter Tierarzt mal etwas genauer auf mein Seelenheil zu achten, besch?ftigt sich Marc seit seinem Gespr?ch mit Luisa nur noch mit der Frage, ob es f?r sie schlimm ist, wenn das Baby kommt. Selbst Caro hat er damit schon ganz wild gemacht. Typisch Mensch! Daran kann man doch jetzt sowieso nichts mehr ?ndern. Das Baby kommt, ob es uns nun gef?llt oder nicht. Oder will Marc das Baby irgendwo abgeben? Geht das mit menschlichem Nachwuchs ?berhaupt? Also, so wie bei mir: ab in den Karton und ins Heim? Eine interessante Frage. Ich werde sie mit Beck diskutieren.

Sp?ter allerdings. Denn jetzt muss ich schnell in die K?che. Nicht, dass Caro mein Fressen noch in den K?hlschrank verfrachtet. Ich folge dem tollen Geruch Richtung Napf und falle dabei fast ?ber Daniel, der zur gleichen Zeit von draussen hereinkommt und – wie bei Zweibeinern leider ?blich – keinen Moment dar?ber nachdenkt, was sich im Fussraum direkt vor ihm abspielt.

»Hoppla, Herkules, dich habe ich gar nicht gesehen! Du hast es ja ziemlich eilig!«

Carolin lacht.

»Genau. Ein Dackel mit einer Mission. Und zwar Mission Essensaufnahme. Ich habe extra f?r ihn gekocht.«

»Holla – hast du es gut, Kleiner. Sind das schon die m?tterlichen Triebe, Frau Kollegin? Und falls ja: Gibt’s f?r mich auch etwas Leckeres?«

Wie Caro auf diese Frage reagiert, bekomme ich schon nicht mehr mit, denn in diesem Moment tauche ich die Schnauze endlich in meinen Fressnapf. G?ttlich! Er ist mehr als randvoll gef?llt mit K?stlichkeiten. Leber ist neben Herz

eindeutig mein Favorit, leider kocht Caro sehr selten frisches Hundefutter. Meist gibt es etwas aus der Dose. So etwas h?tte sich nat?rlich niemals in die K?che von Schloss Eschersbach verirrt. Oder nur im ?ussersten Notfall. Emilia, unsere K?chin, war bei der Zubereitung des Hundefutters genauso gewissenhaft wie beim Essen f?r die Herrschaften – wenn nicht sogar gewissenhafter. Aber diese Mahlzeit hier ist auch k?stlich!

Als der NameCherie f?llt, taucht mein Kopf trotzdem ruckartig aus der Sch?ssel hoch. Was erz?hlt Daniel da? Ich trabe in Richtung Flur und bleibe im T?rrahmen der K?che sitzen.

»Na ja, und jetzt wohnt sie mit Cherie in einem kleinen WG-Zimmer bei einer Freundin, und das ist nat?rlich viel zu eng.«

Daniel will Carolin von irgendetwas?berzeugen, jedenfalls hat seine Stimme einen ganz eindringlichen Tonfall. Seltsam, so habe ich ihn noch nie geh?rt.

»Also, ich verstehe immer noch nicht ganz, was ich damit zu tun habe.« Carolin wiederum klingt noch nicht besonders ?berzeugt. Daniel muss offenbar noch eine Schippe drauflegen. Worauf auch immer.

»Na ja, ich dachte, wo wir unser Zimmer neben der K?che doch nie nutzen und du demn?chst sowieso eine Zeitlang nicht da bist, da k?nnten wir …«

»Da k?nnten wir was?«, unterbricht Caro ihn ungeduldig.

»Claudia das Zimmer vermieten.«

»Bitte was?«

»Ich dachte, wir k?nnten Claudia das Zimmer vermieten. Es ist gross genug, und Tageslicht hat es auch. Nur, bis sie etwas anderes gefunden hat. Ihr Hund w?rde uns doch nicht weiter st?ren, wir haben schliesslich Herkules, und die beiden m?gen sich.«

Ohne weiter nachzudenken, schiesse ich los und springe an Daniel hoch. Und zwar gleich drei-, viermal – ich habe mich selbst nicht mehr im Griff.«

»Guck mal, Caro – einer ist schon ganz begeistert von der Idee!« Daniel beugt sich zu mir, ich h?re auf herumzuhopsen und wedele einfach ein bisschen mit dem Schwanz.

»Also, du meinst, wir geben Claudia und ihrem Hund hier Asyl, bis sie eine neue Wohnung hat. Aber wieso sucht sie denn nicht einfach von ihrer WG aus?« Caro scheint noch skeptisch, was ich angesichts des Planes, den ich zwar nicht verstanden habe, aber trotzdem grossartig finde, nicht begreifen kann.

»Es ist so: Dieses Zimmer bei ihrer Freundin ist wirklich winzig. Und immerhin bekommt Cherie in den n?chsten Tagen Junge, das ist nicht wirklich g?nstig. Einen Garten gibt es da auch nicht.«

Caro seufzt.

»Auch das noch! Richtig toll passt mir das nicht. Wie soll denn das werden – so ein grosser Hund und lauter Welpen?«

»Ich dachte, daf?r w?rdest du als Schwangere besonderes Verst?ndnis haben. Du und Cherie – ihr seid doch fast in der gleichen Situation.«

»Na h?r mal! Was meinst du denn damit? Ich bin doch kein Hund!« T?usche ich mich, oder findet Caro den Vergleich mit Cherie nicht so passend? Dabei sind sie beide blond und sch?n. Ich finde, Daniel hat v?llig Recht!

»Ach, komm schon! Es w?re mir wichtig. Und du wirst davon so gut wie nichts mitbekommen. Bis du wieder an Deck bist, hat Claudia l?ngst etwas Neues gefunden. Bitte!« Daniel klingt sehr flehentlich. Es muss ihm wirklich wichtig sein. Toll, dass ihm Cheries Schicksal dermassen am Herzen liegt!

Carolin atmet tief durch – ich bin gespannt, wie sie sich

entscheidet! Allein die Vorstellung, dass Cherie hier eine Weile wohnen k?nnte, sorgt bei mir f?r verst?rkten Speichelfluss. Gut, sie hat mich gewissermassen betrogen. Und sie wird ihre G?ren mitbringen. Aber vielleicht kommt jetzt meine grosse Chance?Wenn sie erst mit mir zusammenlebt, erkennt sie bestimmt, was f?r ein toller Kerl ich bin. Dann wird dieser Alec schnell vergessen sein. Und so anstrengend wird das mit den s?ssen Kleinen schon nicht werden. Wahrscheinlich bin ich sogar ein spitzenm?ssiger Ersatzpapa, gewissermassen das grosse Vorbild. Und schon bald w?nscht sich Cherie noch mehr Kinder!

Carolin r?uspert sich. Los! Gib deinem Herzen einen Ruck!

»Ich glaube zwar nicht, dass sich deine Flirtchancen bei dieser Claudia dadurch wesentlich erh?hen – aber von mir aus kann sie erst mal hier einziehen.«

»Danke, Caro!« Daniel zieht sie an sich heran, soweit das bei dem dicken Bauch m?glich ist, und gibt ihr ein K?sschen auf die Wange.

»Halt, halt. Nicht so schnell. Zwei Bedingungen habe ich.«

»Schiess los!«

»Erstens: Wenn ich aus der Babypause wiederkomme, muss Claudia eine neue Bleibe haben. Zweitens: Du passt ab und zu auf Herkules auf. Wenn das Baby da ist, sind wir bestimmt froh, Entlastung zu haben.«

Daniel nickt ergeben.

»Mach ich, Caro. Gerne sogar – gell, Kumpel? Wir k?mmern uns dann um die holde Weiblichkeit vor Ort.«

Worauf du dich verlassen kannst!

ELF

Und der hier?«

»Hm, kann ich kaum lesen. Ist so viel Moos drauf.«

»Ich glaube, es heisst Leander. Ein toller Name, nicht wahr?«

Carolin macht einen Schritt auf die grosse Steinplatte zu, vor der wir stehen. Dann kratzt sie das Moos von dem Schriftzug, der die Platte ziert.

»Leander Konstantin Hausbacher«, liest sie laut vor und schweigt dann and?chtig.

Mark runzelt die Stirn

»Ich weiss nicht. Immerhin ist der Gute schon fast hundert Jahre tot. In letzter Zeit habe ich den Namen eher weniger geh?rt.«

»Na und? Leander Wagner klingt klasse, Leander Neumann sowieso.«

»Hm. Ich stelle mir bei Leander einen sehr zartgliedrigen Literaten vor. Einen, der Gedichte schreibt. Falls der Bursche aber eher Kapit?n der E-Jugend wird, wird es schwierig. Was sollen seine Kumpels Manni und R?di ihm dann zurufen?Ey, Leander, gib ab, oder noch besser:Mach ihn rein – Toooor! Leander, Leander! Nee, das funktioniert nicht.«

»Manni und R?di?« Carolin f?ngt an zu kichern. »Das ist aber kein Umgang f?r meinen Sohn. F?r den m?chte ich etwas ganz Besonderes!«

Apropos besonders: Erw?hnte ich schon, dass wir nicht

mehr, wie normale Familien, tags?ber im Park oder an der Alster spazieren gehen? Oder, wie im Fall von Carolin, spazieren rollen? Nein, wir treiben uns mittlerweile allen Ernstes abends auf Friedh?fen rum. Was f?r mich den entscheidenden Nachteil hat, dass hier absoluter Leinenzwang herrscht. L?cherlich. Meinen die wirklich, dass ich hier jemanden ausbuddeln w?rde? Zum Beispiel Leander Konstantin Hausbacher? Zudem ist ausser uns keine Menschenseele auf dem Friedhof, es w?rde also niemanden st?ren, wenn ich ein bisschen herumstromern w?rde. Aber nein, ich bin brav angeleint und hocke gelangweilt neben einem Grabstein.

»Lass uns mal nach M?dchennamen suchen. Ich finde, da sind wir noch etwas schwach auf der Brust.« Caro zieht Marc einen Grabstein weiter.

»Br?nhilde Eleonore Meier. Na ja.« Marc klingt nicht begeistert. »Vielleicht sind wir hier in der falschen Epoche gelandet. Lass uns mal da dr?ben hingehen. Die Gr?ber sehen irgendwie neuer aus.«

»Br?nhilde, lass sofort die Eleonore in Ruhe!«

Caro scheint sich an dieser St?tte von Andacht und Trauer blendend zu am?sieren. Sie beginnt zu lachen und h?rt gar nicht wieder auf. Sie lacht so sehr, dass sie sich schon vorbeugt, um ihren dicken Bauch festzuhalten. Dann gibt es auf einmal ein leises, aber deutliches Knacken – und pl?tzlich schiesst ein Schwall Wasseran Caros Beinen hinunter! Sie steht augenblicklich in einer richtigen Pf?tze, und der Rock ihres Sommerkleides ist ganz nass! Heilige Fleischwurst, was ist das?

»Carolin, Schatz, alles in Ordnung?« Marc ist sofort an ihre Seite gesprungen und st?tzt sie.

Carolin atmet schwer, von ihrem Lachen keine Spur mehr.

»Machst du Witze? Das war die Fruchtblase. Ich glaube, wir m?ssen ins Krankenhaus.«

Fruchtblase? Krankenhaus? Ist das jetzt schlimm oder normal, wenn ein Menschenbaby kommt? Unruhig ziehe ich an der Leine.

»Pst, Herkules. Ruhig bleiben. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein nerv?ser Dackel. Ich habe alles unter Kontrolle, macht euch keine Sorgen.« Spricht Marc jetzt zu uns – oder doch eher zu sich selbst?

»H?rst du, was ich sage? Wir m?ssen ins Krankenhaus!« Carolin klingt zwar nicht ?ngstlich, aber angespannt.

»Ja. Ich hole den Wagen hierher. Du legst dich solange auf die Parkbank da dr?ben.«

»Wieso? Laufen kann ich noch. Und mit dem Auto darfst du hier nicht hinfahren. Ich gehe mit dir zum Parkplatz.«

»Nein. Leg dich bitte hin. Falls die Nabelschnur jetzt vor das K?pfchen gerutscht ist, k?nnte sie abgeklemmt werden. Immerhin hast du eine ganze Menge Fruchtwasser verloren. Viel Polster wird da nicht mehr sein.«

Ich bin beeindruckt. Marc ist offenbar Fachmann. Ich habe zwar kein Wort von dem verstanden, was er gerade gesagt hat, aber es klang unglaublich?berzeugend. Nur Caro scheint sich noch nicht ganz sicher zu sein.

»Marc, du bist Veterin?r und kein Frauenarzt. Die paar Schritte kann ich schon noch gehen.«

»Kommt nicht in Frage. Du hast bei unserem Geburtsvorbereitungskurs anscheinend ?berhaupt nicht aufgepasst. Leg dich hin. Das ist ein Befehl!«

Caro sch?ttelt den Kopf, geht aber zur Parkbank. Marc folgt ihr und dr?ckt ihr meine Leine in die Hand.

»So, Herkules, gut auf Frauchen aufpassen, ich bin gleich wieder da.«

Marc spurtet los Richtung Ausgang. Carolin setzt sich und legt sich dann mit ihrem Oberk?rper auf die Sitzfl?che der

Bank. Praktischerweise baumeln ihre H?nde nun direkt auf ?hrchenh?he, was sie auch daf?r nutzt, mich hinter selbigen zu kraulen.

»Also, mein S?sser, mach dir bitte keine Sorgen um mich. Herrchen spinnt ein bisschen. Vom Blasensprung bis zur Geburt k?nnen noch mal locker zwei Tage vergehen, ich habe n?mlich sehr wohl im Kurs aufgepasst.« Dann ist ja alles gut. Marc, der alte Streber – wollte wahrscheinlich nur angeben.

Ich schlabbere Caros H?nde ab, als sie pl?tzlich aufst?hnt und sie zur?ckzieht. Nanu? Das kann doch nicht weh getan haben. Caro st?hnt wieder, ich laufe zu ihrem Kopfende und schaue ihr ins Gesicht. Es ist schmerzverzerrt!

»Aua, das tut jetzt doch ganz sch?n weh.« Sie versucht ein L?cheln. »Deswegen heissen die ja auchWehen, Herkules.«

H?? Wehen? Nie geh?rt. Was meint sie bloss damit, und wo bleibt eigentlich Marc? So weit entfernt steht das Auto nun auch nicht.

»Aaaaahhh!« Carolin gibt einen lang gezogenen Laut von sich und setzt sich wieder auf. »Mist, ich glaube, es geht doch schon los.«

Alles klar! Ich war zwar nie selbst bei einer Geburt dabei, denn wenn eine der Eschersbach’schen H?ndinnen geworfen hat, tat sie das im Welpenraum. Aber eines hat sich auch schon bis zu mir herumgesprochen: Wenn das Muttertier sagt, dass es losgeht, geht es los! Oh, oh, ich merke, dass sich die Haare entlang meines R?ckens aufstellen. So gerne ich nun cool und gelassen mein Frauchenberuhigen w?rde – gerade im Moment bin ich selbst richtig aufgeregt und muss ein bisschen winseln. Gott sei Dank biegt Marcs Auto in diesem Moment um die Ecke und h?lt kurz vor der Parkbank. Marc springt raus und l?uft zu Carolin.

»Wie geht es dir? Du sollst doch liegen, nicht sitzen.«

Caro schnauft heftig, bevor sie ihm antwortet.

»Ich … aaah …. ich kann nicht ruhig liegen. Die Wehen kommen jetzt schon so schnell, ich musste mich aufsetzen, es ist sonst unertr?glich.«

»Okay, ich helfe dir einzusteigen. Dann fahren wir ins Krankenhaus.« Er legt einen Arm um Carolin und versucht, ihr aufzuhelfen. Sie kommt kurz auf die Beine, dann st?hnt sie erneut laut auf und setzt sich wieder hin.

»Marc, ich schaffe es nicht. Bitte ruf den Notarzt oder einen Krankenwagen.« Marc streichelt Carolin ?ber den Kopf.

»Ganz ruhig, Spatzl. Das ist alles ganz normal. Entspanne dich ein paar Minuten, dann versuchen wir es noch einmal. So eine Geburt geht nicht so pl?tzlich, schon gar nicht beim ersten Kind.«

Als er ihr wieder?ber den Kopf fahren will, st?sst Caro seine Hand weg.

»Marc, mach schon! Du hast mich nicht richtig verstanden – das Kind kommt! Und zwar jetzt! Ich habe keine Zeit mehr, ich sp?re es genau! Glaub mir einfach!«

Wieder ein St?hnen und Schnaufen, jetzt legt sich Caro doch auf die Seite. Marc greift nach ihrer Hand.

»Gut, ich telefoniere, mein Handy ist noch im Auto. Bleib liegen! Herkules, du bleibst bei Frauchen.« Selbstverst?ndlich! Der kluge Jagdhund weiss, wo in der Gefahr sein Platz ist. Wenn die Wildsau kommt, weiche nicht von deinem J?ger! Auch wenn das hier sehr wenig mit dem Angriff einer Wildsaugemein hat …

Kurz darauf steht Marc wieder neben uns. Er hat zwei Decken unter den Arm geklemmt. Caro sagt eigentlich nichts mehr, aber die Abst?nde zwischen dem St?hnen und dem Schnaufen sind jetzt nur noch ganz kurz.

»Die sind gleich da, Spatzl. Ich weiss, es klingt seltsam,

wenn ein Tierarzt das sagt, aber ich w?rde dich gerne kurz untersuchen.«

»Was? Hier auf der Bank?«, presst Caro m?hsam hervor.

Marc nickt, dann legt er eine Decke neben Caro und versucht, sie daraufzuheben. Das ist nicht ganz einfach, denn Caro windet sich regelrecht hin und her. Ich trabe wieder zu ihrem Kopfende. Vielleicht beruhigt sie die Anwesenheit eines treuen Kameraden. Ich weiss nicht genau, was Marc sich in der Zwischenzeit angeschaut hat, aber der Befund scheint eindeutig zu sein. Mit einem sehr knappen »Oh!« richtet er sich auf und breitet die zweite Decke auf dem Boden vor der Bank aus.

»Willst du in den Vierf?sslerstand gehen?«

Caro sagt nichts, nickt aber knapp. Ich kann ihre Angst und Aufregung f?rmlich riechen. Marc hingegen ist auf einmal ganz ruhig. Offensichtlich hat er sich von »werdender Vater« in »praktizierender Arzt« verwandelt. Gott sei Dank! Wenigstens einer weiss, was er hier tut.

»Komm, ich helfe dir. Der Muttermund ist schon ganz weit ge?ffnet, ich konnte bereits das K?pfchen tasten. Wenn du jetzt pressen musst, atme nicht dagegen an. Ich versuche, den Damm zu sch?tzen, genau so, wie es die Hebamme im Kurs erkl?rt hat.«

Caro st?hnt auf. »Ich habe Angst.«

»Keine Sorge! Ich bin ja bei dir. Und ich habe fr?her h?ufiger in der Geburtshilfe gearbeitet. Und das Prinzip ist schon ziemlich ?hnlich, ob nun Mensch oder Pferd.«

Soll Caro das etwa beruhigen? Nicht, dass Marc gleich noch versucht, das Baby mit einem Strick rauszuziehen. Soll ja bei Pferden ab und zu so gemacht werden, das behauptete jedenfalls der alte Hofhund unseres Nachbarn auf Schloss Eschersbach.

Ein weiteres Auto biegt auf den Kiesweg und stellt sich neben den Wagen von Marc. Gott sein Dank! Das wird der Notarzt sein! Der ist dann hoffentlich ein echter Menschenarzt und weiss genau, was zu tun ist. Schritte knirschen ?ber die Steine – sehr gut, es sind sogar zwei ?rzte! Sie kommen neben mir zum Stehen. Ich werfe einen kurzen Blick auf die beiden: Oh nein! Es sind keine ?rzte! Das sieht sogar ein Dackel sofort.

»Guten Abend, ich bin Polizeiobermeister Wilke vom PK 33. Uns wurden verd?chtige Ger?usche auf dem Friedhof gemeldet. W?rden Sie mir bitte erkl?ren, was Sie da machen?«

Marc, der neben Caro kniet, die tats?chlich auf allen vieren auf der Decke hockt, guckt nur kurz ?ber seine Schulter.

»Was wir hier machen? Wir bringen ein Baby zur Welt.«

Polizeiobermeister Wilke scheint nicht recht zu glauben, was er da gerade geh?rt hat.

»Bitte, WAS machen Sie?«

»Wir bringen ein Kind zur Welt, meine Frau ist bereits mitten unter der Geburt, und wir haben daher keine Zeit mehr, ins Krankenhaus zu fahren. Sie k?nnen sich gerne n?tzlich machen.«

Marc klingt sehr energisch, seine Stimme duldet keinen Widerspruch. Die beiden Polizisten, von denen einer eine Polizistin ist, z?gern einen Moment, dann kommen sie n?her an die Decke heran und tuscheln miteinander. Mag sein, dass Marc und Caro nichts davon mitbekommen, aber meine Dackelohren sind ganz ausgezeichnet.

»Also, Hajo, nach einer schwarzen Messe sieht das wirklich nicht aus«, sagt die Frau.

»Was sollen wir denn jetzt machen? Wenn das wirklich eine Geburt ist, brauchen wir doch ganz schnell einen Krankenwagen,

oder? Ich habe mal eine Geschichte von einer Sturzgeburt geh?rt, und da …«

Caro st?hnt jetzt sehr laut, Hajo h?rt auf, die vermutliche Schauergeschichte weiter auszuf?hren, l?st sich stattdessen aus seiner Unentschlossenheit und kniet nun auch auf dem Boden.

»Hallo, k?nnen wir Ihnen helfen?«

Marc mischt sich ein.

»Das Kind ist gleich da! Wo bleibt der Scheiss-Krankenwagen? Ich brauche eine warme Decke und etwas zum Abnabeln! Haben Sie sterile Handschuhe dabei?«

»?h, was?« Hajo kratzt sich am Kopf. »Ja, haben wir, jedenfalls so etwas in der Art. Moment!« Er steht auf und l?uft zu seinem Wagen.

»Spatzl, gleich hast du es geschafft! Bei der n?chsten Wehe presst du mit, dann ist das Baby da, versprochen!«

Die Polizistin hat sich ein Taschentuch geschnappt und wischt Caro den Schweiss von der Stirn. Die schliesst die Augen und zieht ihre Beine noch n?her an den K?rper heran, dann h?lt sie die Luft an und gibt ein Ger?usch von sich, das wie ein ganz langesMMMHHHHMM klingt und ziemlich laut ist. Ehrlich gesagt, gruselt es mich ein bisschen. Hundegeburten laufen eindeutig leiser ab, sonst h?tte ich bestimmt schon einmal davon geh?rt.

»Ja, genau richtig, ich sehe das K?pfchen schon! Du schaffst es! Versuch jetzt mal zu hecheln, damit es nicht zu schnell geht.« Hecheln? Meint Marc jetzt mich oder Carolin? F?r den Fall, das ich gemeint war, fange ich an kr?ftig zu hecheln, merke aber schnell, dass Caro Gleiches tut. Wozu solldas beim Menschen gut sein?

Marc st?tzt Caro jetzt von der Seite ab, sie holt noch einmal tief Luft, jetzt wieder das langgezogeneMMMHHHHM.

Ein kurzer Moment der Stille, dann folgt ein zun?chst zartes, schliesslich aber sehr energisches Kr?hen. Ich schiesse herum – das muss das Baby sein!

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