13

Sie kamen aus der großen Halle in einen zweiten Saal ohne Dach und dann weiter auf eine Freifläche, die wohl einmal eine Straße gewesen war. Von außen musste das Gebäude einmal prachtvoll ausgesehen haben, mit reich verzierten, hoch aufragenden Säulen und kunstvollem honigfarbenen Mauerwerk. Evie blickte voll Bewunderung zurück; so etwas hatte sie noch nie gesehen. Wie konnte eine von bösen Menschen beherrschte Welt so etwas Schönes hervorbringen. Dahinter war nichts mehr; nur eine Straße, die ins Nichts führte, und überall woben sich Kriechpflanzen durch den Schutt.

»Gefällt es dir? Das war einmal die Rechtsprechung«, erklärte Linus und blickte mit funkelnden blauen Augen um sich. »Aber über die Rechtsprechung weißt du wahrscheinlich auch nicht allzu viel, oder?«

Evie errötete verlegen. »Nein«, sagte sie schließlich. »Was ist das?«

»Recht?« Er gluckste; als er lächelte, zogen sich Falten von seinen Augen bis zu den Mundwinkeln, tiefe Falten, die seinem Gesicht so viel Wärme und Tiefe gaben, dass Evie bemerkte, dass sie keine Angst mehr vor ihm hatte. »Recht macht Zivilisation erst möglich. Das Recht verhindert, dass eine Gesellschaft in einem Strudel aus Rache und Verbrechen versinkt.«

Evie runzelte die Stirn. »So wie die Neutaufe?«

»Die Neutaufe?« Linus erstarrte und die Wärme wich aus seinem Gesicht. »Glaubst du, die schützt euch?« Er seufzte, blieb stehen und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Das Recht und die Neutaufe haben nichts miteinander zu tun. Das Recht ist ein System aus Regeln und Prinzipien, nach denen niemand in einer Sache angeklagt und bestraft werden kann, ohne dass er die Gelegenheit bekommen hat, sich zu verteidigen. Die übergeordneten Prinzipien sollen dafür sorgen, dass die Gesellschaft alle gerecht und gleich behandelt. Das Recht ist … es ist …« Er dachte einen Augenblick nach. »Es sollte niemals in einem Atemzug genannt werden mit der Neutaufe, es sei denn in Verbindung mit dem Wort ›gegen‹. Drücke ich mich klar aus?«

»Ja«, sagte Evie bemüht, auch wenn überhaupt nichts klar war, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wovon er redete. Sie wusste nur, dass ihre Angst wieder da war, dass sie Linus verärgert und aufgebracht hatte. Und sie wollte ihn nicht verärgern. Sie wollte, dass er sie mochte. Sie wusste, dass Raffy ihm nicht traute – sie konnte es daran erkennen, dass er ihn nicht aus den Augen ließ –, aber sie wollte sich gutstellen mit Linus, wollte seine Lachfalten wieder sehen. Denn wenn Linus etwas über die Stadt wusste, dann wusste er vielleicht noch mehr. Vielleicht wusste er etwas über die Menschen, die vor so vielen Jahren zur Stadt gekommen waren. Vielleicht wusste er sogar etwas über ihre richtigen Eltern …

»Gut«, sagte er barsch. »Also los. In diese Richtung.« Er scheuchte sie um eine Ecke und weiter in ein anderes Gebäude, aber kaum waren sie drinnen, waren sie auch schon wieder draußen. Es bestand nur noch aus der Fassade. Auf der Wiese vor ihnen waren drei Zelte aufgeschlagen. In der Mitte saßen fünf Leute beisammen, unter denen Evie sofort Angel erkannte. Er winkte kurz, als sie näher kamen, aber Evie sah schnell weg und versuchte, nicht die Schultern einzuziehen vor Angst.

Doch Linus bemerkte es. »Angel ist ein guter Mann«, sagte er und legte ihr, während sie an einem Zelt vorbeigingen, die Hand auf die Schulter. »Er ist einer meiner Besten. Ihr braucht keine Angst vor ihm zu haben. Solange ihr nicht unsere Feinde seid, wird er euch nichts tun.«

Raffy zog Evie weg, sodass Linus’ Hand wieder herabfiel. »Und woher sollen wir wissen, ob wir eure Feinde sind oder nicht?«, fragte er und presste wütend die Kiefer aufeinander. »Wir wissen ja nicht einmal, wer ihr seid. Ihr behauptet zwar, ihr wärt keine Bösen, aber warum habt ihr uns sonst verschleppt und gequält?«

»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Linus lächelnd. »Setzt euch und esst etwas.«

Er setzte sich im Schneidersitz neben eine Frau mit kastanienbraunem Haar, die sofort verschiedene Gefäße öffnete und daraus etwas, was offenbar etwas zu essen war, auf drei Pappteller löffelte. Diese gab sie einen nach dem anderen Linus, und der gab einen an Raffy weiter, einen an Evie und einen behielt er selbst. »Esst«, sagte er und nickte auffordernd. »Esst erst einmal und dann reden wir.«

Evie schaute zaghaft auf das Essen. Ein Brötchen. Etwas Grünes. Etwas Weißes. Nichts war so, wie sie es aus der Stadt kannte. Das Essen dort war einfach und ohne alle Schnörkel. Gekocht, gegrillt oder in ganz wenig Öl gebraten, wenn unbedingt nötig. Brot und Hafer bildeten die Grundnahrungsmittel, mit Milch und Kartoffeln als Beilagen. Der Teller vor ihr dagegen war ganz bunt; es konnten Karotten sein, aber sie waren ganz fein geschnitten und vermischt mit etwas anderem, vielleicht Zwiebeln, und mit einer dicken roten Flüssigkeit darüber. Es konnte vergiftet sein, das wusste sie, aber es duftete köstlich, und sie hatte solchen Hunger, dass ihr Magen sich anfühlte, als hätte er sich bis zum Rückgrat zusammengezogen.

»Esst«, sagte Linus noch einmal, diesmal aber freundlicher. »Es wird euch schmecken. Martha ist eine unglaubliche Köchin.« Er lächelte die Frau zu seiner Linken an, woraufhin diese errötete. »Wir können die Teller tauschen, wenn ihr glaubt, dass wir euch vergiften wollen«, fuhr er fort und hielt Evie mit einem Augenzwinkern seinen Teller hin. Evie erstarrte kurz; schon wieder hatte er genau gewusst, was sie dachte.

»Das ist nicht nötig«, warf Raffy ein. Er beugte sich zu Evie und drückte ihr Handgelenk. »Wir essen zusammen.« Er warf ihr ein Lächeln zu, ein Lächeln, das ihr sagen sollte, dass sie nicht nur zusammen aßen, nein, sie steckten beide zusammen drin, sie würden das hier zusammen durchstehen, sie beide, genauso wie es in ihrem Baum gewesen war, mit Lachen, mit Reden, mit den Geheimnissen und Ängsten, die sie teilten. Evie griff nach dem Brötchen und stopfte es in den Mund. Und sie musste an sich halten, um nicht zu quieken vor Entzücken, denn sie hatte noch nie etwas so Köstliches gegessen.

»Probier mal die Avocado«, sagte Linus und deutete auf eine grüne Masse auf dem Teller. »Am besten das Brötchen einstippen.«

Sie folgte seinem Rat. Sie hatte noch nie Avocado gegessen, aber die Paste war himmlisch, die sämige Konsistenz dekadenter als alles, was sie bis jetzt gekostet hatte.

»Das ist gut«, sagte sie seufzend zwischen den Bissen. Linus lächelte und zwinkerte Martha zu. Die beiden sahen zu, wie Evie das Brötchen mit der Avocadocreme verschlang und Martha erlaubte, ihr noch mehr auf den Teller zu häufen. Sie lächelte Raffy zu und wollte das Vergnügen mit ihm teilen, aber der blickte zur Seite, und sie sah etwas, was ihr zuvor, als sein ganzes Gesicht mit Blut verschmiert gewesen war, nicht aufgefallen war. An seiner linken Schläfe war eine blutverkrustete Narbe, genau dort, wo sie selbst den stechenden Schmerz gespürt hatte. Der Schmerz schien verschwunden zu sein, aber sie fasste sich an die Schläfe, ertastete die leichte Vertiefung und etwas Raues, das sich anfühlte wie eine Naht. Sie stellte den Teller weg, denn ihr Herz klopfte und der Appetit war ihr mit einem Mal vergangen.

»Wie haben Sie das gemeint mit dem Chip?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Vorhin, als wir aufgewacht sind?«

Linus lächelte mit vollem Mund. »Ich dachte, wir sind beim Essen.«

Evie versuchte zu schlucken, doch ihr Mund war wie ausgedörrt. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie nicht mehr weiteressen können.

Sie wandte sich wieder an Linus. »Können wir nicht essen und reden gleichzeitig?«, fragte sie leise und sah ihn an.

Jetzt lachte Linus. »Ich verstehe, warum du die Stadt verlassen hast. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dort klargekommen bist, wenn du die ganze Zeit so fordernd warst.«

Evie schüttelte den Kopf. »Ich hasse die Stadt. Ich möchte nicht darüber sprechen.«

»Also wenn das so ist, dann rede ich«, erwiderte Linus mit einem Achselzucken. Er stellte den Teller vor sich auf den Boden. »Ist vielleicht gar keine schlechte Idee; wir müssen sowieso bald los.«

»Los wohin?«, fragte Raffy.

»Ach«, sagte Linus. »Tja, das ist die Frage, nicht wahr? Eine Frage, die ich nicht beantworten werde, wenn du mir verzeihst. Sagen wir einfach, wir gehen zurück nach Base Camp.«

»Nach Base Camp?« Evie wechselte einen Blick mit Raffy. »Was ist das?«

»Von dort«, sagte Linus, »kommen wir her. Dort lebt unser Volk.«

»Die andere Stadt?«, fragte Evie aufgeregt, und ihre Nackenhaare stellten sich auf.

Linus sah sie an, sah ihr ein paar Sekunden lang in die Augen und drehte dann den Kopf leicht zur Seite. »Keine richtige Stadt, nein«, sagte er schließlich.

»Was ist es dann?«, fragte Raffy, beugte sich vor und schaute Linus prüfend an.

»Es ist …«, er blickte ein paar Sekunden nachdenklich drein, dann verzog er das Gesicht. »Es ist in der Entwicklung befindlich«, erklärte er.

Auch Raffy stellte seinen Teller ab. »Du hast gesagt, wir würden reden.«

»Wir reden doch«, entgegnete Linus und sah Raffy fragend an.

»Nein, das tun wir nicht. Du sagst uns überhaupt nichts. Woher weißt du Bescheid über die Stadt? Was ist mit diesem Chip, von dem du Evie erzählt hast? Wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Warum habt ihr uns eine Falle gestellt und warum behaltet ihr uns jetzt noch hier? Warum tötet ihr uns nicht oder lasst uns gehen? Sag es uns.« Raffy sprach leise und seine Augen blickten eindringlich. Evie sah, dass jeder Muskel an seinem Hals und an den Armen zum Zerreißen gespannt war.

Auch Linus sah es. Evie glaubte, so etwas wie Respekt in seinen Augen zu erkennen. Vielleicht bildete sie es sich aber auch nur ein, weil sie es sehen wollte. Jedenfalls starrte sie Linus an mit der ganzen Entschlossenheit, die sie aufbieten konnte, weil er antworten musste, weil sie eine Antwort verdient hatten – weil jede Frage nur wieder neue Fragen aufwarf, und weil ihr Gehirn schmerzte von all den Ungewissheiten, die sich dort drängten.

Linus lehnte sich zurück. Seine Augen leuchteten belustigt, so als wäre das ein Spiel, so als würde er den nächsten Zug erwägen. Dann beugte er sich wieder vor.

»Der Chip, von dem ich gesprochen habe«, sagte er und blickte von Evie zu Raffy und wieder zu Evie, »war ein Implantat, das euch beiden in den Kopf eingepflanzt worden ist. Es ist ein Peilsender. Ich habe ihn entfernt, damit die Polizeigarde der Stadt euch nicht verfolgen kann. Und uns.«

»Ein Implantat?« Evie fasste sich wieder mit der Hand an die Schläfe. Sie sah Raffy an, der dasselbe tat und dasselbe dachte. Über das Blut und über die Schmerzen, als sie gefangen genommen wurden.

»Tut mir leid, aber ich musste es tun«, sagte Linus leise. »In dem Wasser, das ich euch gegeben habe, waren Schmerzmittel. Inzwischen sollte es euch wieder gut gehen.«

Evie rückte näher zu Raffy hin, und sie spürte, wie ihr heiß wurde. Ein Chip? In ihrem Kopf? In Raffys Kopf? Durch den man sie überall orten konnte? Aber dann hätte das System auch von ihren Treffen gewusst, von dem Baum. Es hätte alles gewusst.

Raffy nahm ihre Hand und drückte sie. Dann wandte er sich wieder an Linus. Evie konnte an der Art, wie seine Kiefermuskeln sich anspannten, erkennen, dass er dasselbe dachte wie sie. »Du lügst«, sagte er mit angespannter Stimme. »Es gibt keine Implantate in der Stadt. Und auch keine Chips. Es kann keine geben. Wie hätten wir sonst entkommen sollen? Sag mir, was ihr gemacht habt? Unsere Gehirne untersucht? Warum? Was habt ihr getan?«

Linus stieß geräuschvoll den Atem aus und lehnte sich zurück auf seine Ellenbogen. »Eure Gehirne untersucht? Na, das wäre vielleicht eine ganz interessante Erfahrung gewesen, aber ich untersuche lieber nicht die Gehirne von Leuten, die noch leben. Aus irgendeinem Grund scheinen die Gehirne das nicht zu mögen.«

Er lächelte sie kurz an, setzte sich dann wieder auf und sagte ernst: »Hört mir zu.« Sein Ton war sanft, aber eindringlich. »Alles, was man euch in der Stadt erzählt hat, müsst ihr vergessen.«

»Warum sollten wir?«, fragte Raffy böse. »Wo du uns doch auch nichts erzählst.«

»Das werde ich tun, wenn es so weit ist.« Linus stand auf. »Ich werde euch alles erzählen, wenn ihr dazu bereit seid, es zu hören.«

»Wir sind jetzt bereit«, sagte Raffy, schäumend vor Wut, stand ebenfalls auf und trat Linus in den Weg. »Du hast gesagt, wir würden reden. Also rede. Erzähl mir etwas. Irgendwas.«

»Ich habe euch das mit dem Chip erzählt«, antwortete Linus gemessen, »aber ihr glaubt mir nicht.«

»Weil ich weiß, dass du lügst.« Raffy rührte sich nicht vom Fleck. »Erzähl mir etwas anderes. Etwas, das stimmt.«

Linus schien darüber nachzudenken. Dann zuckte er die Schultern. »Du hast mich gefragt, warum wir euch beide nicht getötet haben.«

»Und? Warum nicht?«

»Weil das gar nicht nötig ist«, antwortete Linus und ging an Raffy vorbei, »denn wenn ihr so weitermacht, dann bringt ihr euch schon selber um.« Er hielt inne, kam zurück und blieb ganz dicht vor Raffy stehen. »Ihr seid jetzt nicht in der Stadt.« Dann fügte er mit leiser, aber kraftvoller Stimme hinzu: »Die Regeln sind zwar anders, aber es gibt sie immer noch. Und hier draußen gelten unsere Regeln. Zu unserem Schutz. Denkt einmal darüber nach. Ihr werdet herausfinden, was ihr wissen müsst, wenn ihr es wissen müsst und wenn ich es euch erzählen will. Bis dahin genießt unsere Gastfreundschaft, esst gut und ruht euch aus. In einer Stunde brechen wir auf. Ihr werdet wieder Kopfschmerzen bekommen. Martha dort hat Schmerzmittel für euch. Wenn ihr genügend Flüssigkeit zu euch nehmt, dann erholt ihr euch schneller. Wenn ihr tut, was man euch sagt, bekommt ihr alles, was ihr braucht. Das gilt auch für deine Freundin. Sie folgt deinem Beispiel, also denk auch daran, mein Freund. Denk über alles nach. Wir sehen uns später.«

Er ging durch die Gebäudefassade hinaus und ließ sie schweigend zurück.

Raffy nahm wieder seinen Teller, aß und ermunterte Evie, es ihm gleichzutun. Zögernd folgte sie seinem Beispiel.

»Ich bin froh, dass ihr esst«, sagte Martha mit einem rätselhaften Lächeln. Ihre Stimme war sanft und melodisch, anders als Linus’ schroffer Tonfall. »Es muss schwer sein, hier zu sein. Wir alle haben es am Anfang schwer gefunden. Aber Linus ist ein guter Mensch und er will nur unser Bestes.« Sie stand auf und zog sich in ein Zelt zurück. Auch die anderen verschwanden einer nach dem anderen, bis nur noch Evie und Raffy im Gras saßen.

»Unser Bestes«, flüsterte Raffy höhnisch. »Ich glaub ihnen kein Wort. Mit diesem Ort stimmt etwas nicht. Und mit Linus. Und wir werden nicht so lange hier herumsitzen, bis wir es herausfinden.«

Evies Augen weiteten sich. »Nicht?«, flüsterte sie zurück.

»Wir hauen heute Nacht ab«, sagte Raffy, und seine Augen glänzten. »Linus ist ein Lügner, sie alle sind Lügner. Sie wollen irgendetwas von uns, aber sie werden es nicht bekommen. Tu so, als wenn alles in Ordnung wäre. Dann, wenn ich das Zeichen gebe, rennen wir los. Okay? Aber iss jetzt erst einmal. Wer weiß, wann wir wieder etwas zu essen bekommen.«

Evie nickte. Sie aßen so viel sie konnten. Dann legte Raffy sich hin und Evie schmiegte den Kopf an seine Schulter. Bei dem regelmäßigen Geräusch seines Atems kam auch sie langsam zur Ruhe und schlief schließlich ein.

»Ich verstehe«, sagte der Bruder und blickte den Chef der Polizeigarde an, einen untersetzten, aufrechten Mann, der seinen Schlagstock voller Stolz trug. Keine Pistolen für seine Polizeigarde, keine Waffen des Bösen. Manchmal fand der Bruder seine eigenen Regeln frustrierend und restriktiv. Er sehnte sich nach Menschen, die die Welt so sahen, wie sie wirklich war, die erkannten, was getan werden musste, aber die trotzdem die Wahrheit sahen. Der alte Mann im Pförtnerhäuschen mit seinem Gewehr und seinem Hund wusste, wie die Welt wirklich war, aber er war auch Alkoholiker, ein Nichtsnutz, der alles tat, was man von ihm verlangte, für eine wöchentliche Lieferung des Begrüßungstrunks, einem süßen vergorenen Wein, der das spirituelle Erleben steigerte. Ein Gefährte war der Wächter ganz bestimmt nicht. »Und es gibt keine Spur von ihnen?«

»Keine Spur, Bruder«, antwortete der Polizeichef mit gesenktem Kopf. »Wir haben alles abgesucht. Bis zum Einbruch der Dunkelheit.«

»Nun gut«, sagte der Bruder. »Danke.«

Er wartete, bis der Mann gegangen war, und legte dann den Kopf in den Nacken. Es war ein entsetzlicher Tag gewesen, angefangen mit der Nachricht, dass der Junge entkommen war. Dann hatte sich herausgestellt, dass das Mädchen ihm geholfen hatte. Der Vater hatte die Nachricht mit aschfahlem Gesicht aufgenommen, die Mutter hatte getobt und geschrien, sie habe immer gewusst, dass das Mädchen niederträchtig war. Und dann hatte die Polizeigarde bei der Fahndung versagt und die beiden Halbwüchsigen nicht finden können.

War es Zufall oder war es Planung? Aber wie nur hatten sie so etwas planen können? Unmöglich. Sie konnten nicht wissen, was dem Jungen bevorstand. Jedenfalls nicht, wenn Lucas es ihnen nicht erzählt hatte. Und das war unmöglich. Es war …

Er seufzte laut und klingelte nach seinem Sekretär. »Schick Lucas zu mir«, bellte er in die Sprechanlage, knapper, als er eigentlich wollte. »Bitte«, schob er gerade noch rechtzeitig nach.

»Ja, Bruder. Natürlich.«

Seine Hand glitt vom Summerknopf und fuhr an die Stirn, wo sie sich mit der Rechten verschränkte, so wie immer in solchen schwierigen und herausfordernden Momenten.

»Zeiten wie diese formen uns«, flüsterte er. »Nur an Herausforderungen können wir wachsen und unsere Persönlichkeit voll entfalten. Unsere stärkste Persönlichkeit.« Er hatte diese Worte so oft gesagt und damit so vielen Menschen Trost und Hoffnung gespendet. Und doch empfand er jetzt nur eine gärende Verbitterung, eine Wut, die ihn von innen heraus zu verzehren schien, sodass er nach Atem ringen musste.

Woher hatten sie es gewusst? Wie hatten sie eine solche Flucht planen können? Wie nur? Wie?

Es klopfte an der Tür; das Klopfen seines Sekretärs. Behutsam. Unaufdringlich. Er schätzte dieses Klopfen immer sehr.

»Schick ihn herein«, rief er. Kurz darauf trat Lucas ein.

»Bruder«, sagte der mit unbewegter Miene.

»Was hast du in Erfahrung gebracht?«, fragte der Bruder, und es gelang ihm nicht, den Überdruss in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Ich denke, sie haben es lange geplant«, sagte Lucas ernst. »Der Zeitpunkt war wohl zufällig und scheint mir eher mit der Inhaftierung meines Bruders zusammenzuhängen als mit seiner bevorstehenden Herabstufung. Wir wissen jetzt, dass er sich öfter mit dem Mädchen getroffen hat. Im System kannte er sich besser aus, als wir dachten, und er muss einen Weg gefunden haben, ihre Bewegungen vor uns zu verbergen. Ich hätte wissen müssen, dass auch das Mädchen böse ist – sie war schließlich meine Verlobte, Bruder. Ich hätte es merken müssen. Aber das habe ich nicht. Ich habe ihr geglaubt. Ich …«

Er hielt kurz inne und sammelte sich. »Sie muss in der Nacht zum Haus gekommen sein. Ich bin schuld. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte Wache halten müssen.«

»Du konntest nicht wissen, wie weit sie gehen würden«, sagte der Bruder und schüttelte den Kopf. »Du konntest nicht wissen, dass das Böse in ihnen so tief ging.«

»Nein«, antwortete Lucas, »aber ich hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen.«

Der Bruder nickte. »Vielleicht. Was noch? Sie hat den Schlüssel an sich genommen? Und wie?«

»Ihr Vater beharrt darauf, dass er ihr die Kombination nicht gezeigt hat.«

»Aber wie dann?«

»Ihre Mutter sagt, sie sei verschlagen und müsse ihn dabei beobachtet haben.«

»Beobachtet? Wann? Der Schlüssel ist seit Monaten nicht benutzt worden.«

Lucas sagte nichts, er hob nur die Augenbrauen und seine Augen sagten alles.

»Ich verstehe«, sagte der Bruder.

»Besteht Aussicht, dass wir sie finden?«, fragte Lucas.

Der Bruder schüttelte den Kopf. »Nein. Die Polizeigarde hat die Suche eingestellt. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie inzwischen entweder von wilden Tieren zerrissen oder von den Bösen getötet worden. Ich versuche, meine Herde zu beschützen, Lucas, aber die, die uns aus eigenem Entschluss verlassen, kann ich nicht beschützen.«

»Nein, Bruder.« Keine Spur von Traurigkeit, dachte der Bruder bei sich, und ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Keine einzige Träne für seinen eigenen Bruder.

»Danke, Lucas. Das wäre alles.«

»Ja, Bruder.« Lucas ging zur Tür. Dann drehte er sich kurz um. »Die Akte über Raphael. Über die Panne. Soll ich sie jetzt abschließen?«

Der Bruder nickte. Es hatte keinen Sinn mehr. Lucas öffnete die Tür. Und dann fiel dem Bruder etwas auf. Lucas biss die Kiefer aufeinander. Seine Kiefer waren nicht entspannt wie sonst, nicht entschlossen und kraftvoll, nein, er biss sie aufeinander. Angespannt.

»Aber schick sie mir«, verkündete der Bruder nachdenklich. »Ich würde sie gern hier im Büro haben, du verstehst schon.«

Lucas zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, aber gerade lange genug zur Bestätigung für den Bruder, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Sehr gut, Bruder.«

»Danke, Lucas. Danke, wie immer«, sagte der Bruder, lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und bemerkte, dass alle Schwere von ihm abgefallen war. Etwas anderes war an deren Stelle getreten, etwas, das Sinn und Energie und all die anderen Dinge spendete, die ihm in den vergangenen Tagen verloren gegangen waren.

Eine Ahnung. Wovon, das wusste er noch nicht, aber er würde es bald wissen. Und in der Zwischenzeit würde er auf der Hut sein, Augen und Ohren offen halten. Genau darum war er der Bruder.

Darum hatte er das Sagen.


Загрузка...