24

»Linus, das ist nicht das, was wir ausgemacht haben.«

Lucas drehte sich um und sah, dass Martha auf sie zukam, die Arme vor der Brust verschränkt. Hinter ihr waren Raffy und Evie. Lucas löste den Blick von Evie und wandte sich wieder zu Linus hin.

»Aha«, sagte Linus. »Sie sind also noch da.«

»Sie wollten nicht ohne dich gehen«, sagte Lucas. »Sag mir, was der Bruder hier draußen macht. Es war vereinbart, dass wir ihn im Versammlungshaus lassen. Der Plan …«

»Pläne ändern sich«, erklärte Linus und grinste. »Der Bruder und ich haben uns gerade eine bisschen unterhalten – mussten einiges nachholen.« Er lächelte wieder – tausend Spielarten von Lächeln, die in einem einzigen Gesicht eingefangen waren, dachte Lucas.

»Wir sind hier nicht sicher«, erklärte Lucas. »Wir müssen weg.«

»Lucas, mein Freund«, sagte Linus mit blitzenden Augen. »Du hast recht wie immer. Aber es zahlt sich aus, wenn man flexibel ist, meinst du nicht auch? Und der Bruder und ich sind sowieso gleich fertig.«

Der Bruder sah ihn an, als wäre er ein Ungeziefer. »Wir waren schon vor langer Zeit fertig, Linus.«

»Tatsächlich?«, sagte Linus verblüfft. »Oh je. Dann habe ich mich ja vielleicht geirrt. Vielleicht war dieser Ausflug umsonst.« Er ging los, von allen beobachtet, dann blieb er stehen, drehte sich um und lächelte wieder.

»Ach, du willst mich nur reizen, stimmt’s? Wir wissen doch beide, dass wir etwas besprechen müssen. Und da wir gerade nichts Besseres zu tun haben, warum nicht miteinander reden?« Er trat ganz dicht an den Bruder heran und sagte leise und drohend: »Also, reden wir.«

Lucas fing einen Blick von Martha auf, in dem die Frage stand, ob er eingreifen solle, aber sie schüttelte den Kopf und wich zurück. Lucas tat es ihr gleich, wobei sein Blick unwillkürlich zu Evie wanderte. Ihre weiße Haut leuchtete geradezu im Mondlicht, und sie hatte ihre klugen Augen auf Linus geheftet, ohne das geringste Anzeichen von Furcht. Neben ihr stand Raffy, bei dem sich die Gefühle wie immer so offen im Gesicht spiegelten, dass man sie beinahe mit Händen greifen konnte. Sein Körper war gespannt und sprungbereit; die Haare kräuselten sich um sein Gesicht, genauso ungebärdig wie er selbst.

»So, Bruder. Gehst also immer noch mit deinen Lügen hausieren, was? Richtest immer noch das Leben der Menschen zugrunde?«

Der Bruder sah ihn mit steinerner Miene an. »Du weißt und ich weiß, Linus, dass in schwierigen Zeiten schwierige Entscheidungen nötig sind. Mut zu den eigenen Überzeugungen. Ein Plan. Du hast das nie verstanden. Du warst zu idealistisch. Aber Idealismus hat keinen Platz in der wirklichen Welt.«

»Die wirkliche Welt«, sagte Linus nachdenklich, wich zurück, machte ein paar Schritte nach links und ging dann wieder zurück. »Und das hier ist die wirkliche Welt?«

»Ja«, antwortete der Bruder. »Wir haben eine Gemeinschaft. Haben Mäuler zu stopfen, Kinder großzuziehen, Güter zu liefern und eine Stadt zu beschützen. Meine Leute sind da drin. Lass mich zu ihnen gehen.«

»Deine Leute?« Linus blickte ihn ungläubig an. »Glaubst du wirklich, wenn du alle belügst und ihnen erzählst, das System könne ihnen in die Seele schauen und ihnen den richtigen Rang zuweisen, dann wäre das der richtige Weg, um das alles zu erreichen?« Drohend ging er noch näher zum Bruder hin, aber dieser zuckte nicht zurück.

»Das System funktioniert«, sagte er. »Mein System. Nicht deins.«

»Funktioniert so, dass sich die meisten erbärmlich fühlen und sich selbst hassen? Dass die Leute glauben, die Narbe an ihrer Schläfe zeugt davon, dass ihnen der böse Teil des Gehirns entfernt wurde, wo man ihnen in Wirklichkeit nur einen Chip eingepflanzt hat, mit dem sich feststellen lässt, wo sie sind und was sie gerade tun? Sehr interessant.« Linus lächelte wieder, doch dieses Mal bildeten sich kaum Falten, und seine Augen waren kalt. »Du bist ein Betrüger und ein Lügner. Du hast meine Träume genommen und einen Albtraum daraus gemacht. Aber jetzt ist es vorbei, Bruder. Dein System ist ausgeschaltet und jetzt schalte ich dich aus.«

Er griff in seine Manteltasche, erstarrte, probierte die andere Tasche, seine Hosentaschen und tastete sich panisch ab.

»Was verloren?«, fragte der Bruder, und ein ganz leichtes Lächeln stahl sich nun auch in sein Gesicht. »Oh je. Du warst noch nie gut in praktischen Dingen, Linus. Und jetzt dreh dich um. Dann siehst du, dass meine Polizeigarde angerückt ist.«

Alle fuhren herum. Ein Mann kam mit zehn Polizeigardisten anmarschiert, alle mit Schlagstöcken bewaffnet. Lucas’ Magen krampfte sich zusammen vor Angst und vor Wut.

»Linus!«, rief er. »Linus, was hast du getan? Wir hätten längst gehen sollen. Wir hätten …«

»Meine Pistole«, sagte Linus, der Lucas offenbar nicht hörte. »Wo ist meine Pistole? Wo ist …«

Ein Polizeigardist sprang vor und packte ihn, ein anderer hielt Raffy und Martha fest.

»Lasst sie los!« Lucas’ Augen weiteten sich, als er sah, dass Evie vortrat, die Arme ausgestreckt, und dass in ihren Händen etwas schimmerte. Er konnte nicht atmen, nicht denken, nicht begreifen. Dann drehte sie sich um und er sah den Hass in ihren Augen und er zuckte zusammen. »Lasst sie los!«, bellte sie noch einmal, und die Polizeigardisten wichen augenblicklich zurück.

Ein Schrei ertönte. Hinter den Polizeigardisten strömten die Menschen aus dem Versammlungshaus. Offenbar hatte sich herumgesprochen, dass der Bruder draußen war, dass da etwas im Gange war. Zögernd, vorsichtig kamen sie näher und schlossen einen Kreis um Linus, den Bruder, die Polizeigardisten, Lucas, Martha, Raffy und Evie, doch in einigen Metern Abstand, und drängten sich dicht zusammen. Sie schrien laut auf vor Angst, als sie Lucas, Raffy und Evie erkannten, und kreischten jedes Mal, wenn Evie sich umwandte und zu ihnen hinblickte. Doch Lucas sah die Menge kaum, bemerkte kaum, dass es jetzt keinen Ausweg mehr gab und kein Entrinnen. Das Einzige, was er sah, war Evie, die eine Waffe in den Händen hielt, mit ruhiger Miene und kaltem Blick. Genau wie sein eigener Blick, dachte er und erschrak.

Zufrieden, dass ihre Freunde nun frei waren, richtete Evie die Pistole auf den Bruder. Auch seine Augen waren auf Evie geheftet. »Evie, leg die Waffe weg«, befahl er. »Das ist ein Werkzeug des Bösen, der Folter. Sie gehört nicht in deine Hände. Leg sie weg.«

»Ich will sie nicht weglegen«, entgegnete sie, und ihre Stimme zitterte nicht, verriet keinerlei Furcht. »Ich bin böse, das wisst Ihr doch. Ich habe einem Killable zur Flucht verholfen. Das macht mich auch zum K, richtig? Richtig?« Sie fuhr herum und richtete die Waffe kurz auf die Polizeigarde, dann auf die Menge. Wieder gellten Schreie und alle wichen zurück. Sie zielte wieder auf den Bruder, der sich zu einem Lächeln zwang.

»Evie«, begann er behutsam. »Evie, du bist noch jung. Du verstehst das nicht. Du bist kein K. Du brauchst Hilfe, Evie, das ist alles.«

»So wie die Hilfe, die ich für meine Träume gebraucht habe?«, fragte Evie.

Der Bruder erbleichte. »Evie, wir haben deine Träume aufgelöst. Wir haben erkannt …«

»Dass ich von der Stadt geträumt habe?«, fragte Evie in schneidendem Ton. »Und nicht von meinen richtigen Eltern? Meinen Eltern, die der Große Anführer mit Eurer Einwilligung verstümmeln durfte, bevor Ihr sie wieder aus der Stadt gejagt habt? Meinen Eltern, denen man mit Eurer Zustimmung das Gehirn zerstört hat, sodass sie zu Bösen wurden?«

Die Menge hielt erschrocken den Atem an. Aus dem Gesicht des Bruders war alle Farbe gewichen. »Ich weiß nicht, wo du so etwas gehört hast, Evie, aber das sind Lügen, lauter Lügen. Es …«

»Ich kann mich noch an sie erinnern«, sagte Evie und ging langsam auf ihn zu. »Ich weiß noch, wie wir hier ankamen. Sie waren voller Hoffnung. Aber Ihr …«

»Ich habe immer gewusst, dass sie nichts taugt!«, ertönte es aus der Menge, und eine Frau drängte sich nach vorn. Lucas erkannte Evies Mutter. »Wir haben dich aufgenommen, haben dir ein Zuhause gegeben und dich großgezogen wie eine eigene Tochter, und jetzt schau dich an: genau wie deine richtigen Eltern. Böse. Wertlos.«

»Nein!«, schrie Evie und richtete die Pistole auf sie. »Nein, sie sind nicht wertlos. Du bist es. Du hast mich gestohlen. Du hast mich angelogen.«

Ihre Mutter starrte ihr einen Moment lang ins Gesicht, dann rannte sie zurück in die Menge. Evie wandte sich wieder an den Bruder. »Meine richtigen Eltern waren nicht wertlos. Sie haben mich so geliebt, wie ich war. Sie haben mich geliebt. Aber du … du hast mich angelogen.«

»Wir haben dich beschützt«, erwiderte der Bruder energisch. »Deine Eltern konnten nicht in die Stadt aufgenommen werden. Die Neutaufe konnte ihnen nicht mehr helfen. Sie waren …«

»Die Neutaufe funktioniert nicht!«, schrie Evie. »Niemand hier hat sie bekommen. Gib es zu! Sag es allen!« Sie drehte sich um und blickte über die Menge vor ihr. »Die Neutaufe funktioniert nicht. Sie hat nie funktioniert. Aber sie versehrt und schädigt die Menschen. Und diese Versehrten, das sind die Bösen. Sie haben als Einzige die Neutaufe erhalten. Und deshalb sind sie so geworden. Es war nicht ihre Schuld. Sie sind nicht böse. Sie sind nur geschädigt. Genau wie meine Eltern. Geschädigt und dann aus der Stadt geworfen und dazu benutzt, uns allen Angst einzujagen. Aber ich habe keine Angst, Bruder. Du bist der, der Angst haben sollte. Denn ich werde dich töten, so wie du meine Eltern getötet hast.«

»Und dann werden alle wissen, wie böse du bist«, sagte der Bruder ausdruckslos. »Und sie werden wissen, dass alles gelogen war, was du gesagt hast.«

Sie trat noch näher an ihn heran, und ihre Hände begannen, ganz leicht zu zittern.

»Nein«, sagte sie. »Du bist der Böse. Du hast das Leben von so vielen Menschen zerstört, du hast so vielen das Leben genommen. Dir muss man das Handwerk legen. Und genau das werde ich tun.«

Der Bruder starrte sie an, und als sie noch näher kam, verlor das runde Gesicht seine Härte und den überheblichen Ausdruck. Er zitterte jetzt. »Nein«, schluchzte er. »Nein, Evie, töte mich nicht. Es tut mir leid.«

»Es tut dir leid?«, erwiderte sie eisig. »Das reicht nicht. Das reicht bei Weitem nicht.«

»Bitte«, flehte er. »Bitte tu es nicht. Reden wir darüber. Ich kann deinen Rang ändern. Und den von Raffy. Ich kann alles besser machen. Ich kann …«

»Es gibt keine Ränge mehr«, sagte Evie. »Wir haben sie abgeschafft. Die Stadt braucht dich nicht mehr. Sie will dich nicht mehr.«

»Neeeeiiiiin!«, schrie der Bruder, ein kehliger Laut, der tief aus seinem runden Bauch zu kommen schien. »Tut doch etwas!« Panisch sah er zu den Polizeigardisten hinüber. »Zieht eure Pistolen«, gellte er. »Tötet sie. Tötet sie alle!«

Ein Gemurmel ging durch die Menge. »In der Stadt gibt es keine Pistolen. Waffen sind böse. Waffen stehen für Gewalt und Unterdrückung …«

»Waffen sind nur böse in der Hand von Bösen«, keuchte der Bruder und schrie die Polizeigardisten erneut an: »Steht nicht da wie die Ölgötzen! Raus mit den Waffen!« Seine Stimme überschlug sich. »Ganz egal, ob jemand sie sieht. Ihr müsst diese Leute erschießen, sonst werden sie mich töten.«

Doch niemand rührte sich. Niemand, außer Linus, der nun nach vorn trat. »Alles, was du diesen Menschen erzählt hast, sind Lügen, nicht wahr, Bruder? Es gibt Regeln für dich und Regeln für sie. Keiner darf hier in Wohlstand leben, aber du lebst in Saus und Braus. Schusswaffen sind böse, aber heimlich stattest du deine Polizeigarde mit Pistolen aus. Die Stadt ist ein sicherer Ort, aber gleichzeitig werden die Bürger von dir und deinem korrupten System ständig bedroht. Die Bösen sind gewalttätige Kriminelle, doch in Wirklichkeit sind es Unschuldige, denen du Gewalt angetan hast, denen dieser Ort Gewalt angetan hat. Du hast den Tod verdient. Die Stadt hat etwas Besseres verdient. Aber nicht durch Evies Hand.« Er berührte sie sanft an der Schulter. »Evie, du hast noch dein ganzes Leben vor dir, und wenn du jemanden tötest, dann wird es dich immer verfolgen – auch wenn es nur ein niederträchtiger, unwürdiger Mensch ist wie der Bruder.«

»Ich muss ihn töten«, sagte Evie und ließ den Bruder nicht aus den Augen. »Das bin ich meinen Eltern schuldig.« Sie warf einen Blick auf die Menge. »Meinen richtigen Eltern.«

»Lass es mich tun«, sagte Linus. »Gib mir die Waffe. Lass es mich tun.«

Evie schüttelte den Kopf.

Lucas beobachtete sie, beobachtete Linus, beobachtete den Bruder, der die Hand ausgestreckt hielt.

Evie stand vor dem Bruder, ihre Hände zitterten und sie führte den Finger an den Abzug. Dann knallte plötzlich ein Schuss. Menschen schrien und die Polizeigarde stürmte heran. Evie stand da, regungslos und mit offenem Mund, die Waffe immer noch in der Hand.

»Aber …«, stammelte sie. »Aber ich habe doch gar nicht … Ich habe doch gar nicht …« Raffy lief zu ihr, zog sie an sich, und die Pistole glitt aus ihrer Hand. Linus hob sie auf.

»Ich habe doch gar nicht …«, sagte sie noch einmal.

»Ich weiß«, antwortete Linus, und beide blickten nach hinten, dahin, wo Lucas stand, mit einer Waffe, die er einem Polizeigardisten aus der Hand gerissen hatte. Jetzt richtete er sie auf die Gardisten, dann auf die Menschenmenge. Der Bruder lag stöhnend am Boden und Lucas blickte voller Abscheu auf ihn hinunter.

»Bloß ein Schuss ins Bein. Du wirst es überleben«, höhnte er.

»Du hättest es mich tun lassen sollen«, meinte Evie bitter. »Ich hätte ihn töten sollen.«

»Nein«, widersprach Lucas, der nun gemeinsam mit Linus die Polizeigarde und die Menge in Schach hielt. »Ich konnte nicht zulassen, dass du dein Leben wegwirfst«, erklärte er. »Sei nicht verbittert, Evie. Versteck deine Gefühle nicht und versteck dich nicht hinter einer Maske. Lass es sein, Evie. Der andere Weg ist zu schmerzhaft. Er raubt dir dein Leben.« Und mit einem Blick auf Linus sagte er: »Geht jetzt. Ich halte die Wachen auf, bis ihr draußen seid.«

Linus schüttelte den Kopf. »Es macht mir Spaß hier.« Die Fältchen spielten wieder um seine Augen. »Geh du. Nimm die anderen mit. Angel wartet draußen auf euch und bringt euch sicher nach Base Camp zurück. Ich komme nach. Macht, dass ihr wegkommt, und lauft, was ihr könnt.«

»Linus!« Martha rannte zu ihm hin. »Was redest du da? Du musst mit uns kommen. Wir brauchen dich.« Sie wollte ihn mit sich ziehen, aber er schob sie behutsam weg.

»Jemand muss hierbleiben«, sagte er ruhig. »Ich halte sie hier auf, bis ihr weg seid.«

»Aber was ist mit dir?«, fragte Martha mit Tränen in den Augen. »Wie willst du von hier entkommen?«

»Ich lasse mir etwas einfallen«, sagte er mit einem Lächeln. »Geht. Geht jetzt und fangt ein neues Leben an. Das System, das euer Leben zerstört hat, existiert nicht mehr. Der Schleier ist gelüftet. Was wir getan haben, war den Einsatz wert. Und macht euch keine Sorgen um mich.«

»Ich bleibe bei dir«, sagte Martha trotzig, und ihre Lippen bebten. Linus schüttelte den Kopf. »Lucas, nimm sie mit. Pass auf sie auf. Kümmere dich um alle. Ich verlasse mich auf dich.«

Lucas nickte. »Es war schön … dich beinahe kennenzulernen.«

Linus grinste. »Ganz meinerseits.« Er fuhr herum und zielte mit der Pistole wieder auf den Bruder. »Wenn ihr auch nur einen Schritt näher kommt, stirbt der Bruder«, rief er und zwinkerte seinen Freunden zu. »Und wenn einer von euch meinen Freunden folgt, stirbt der Bruder. Wenn sich einer rührt, stirbt der Bruder. Verstanden?«

»Also los. Gehen wir«, sagte Lucas mit einem Blick auf Martha, die widerstrebend nickte. Er wandte sich zu den anderen hin. »Raffy? Evie?«

Auch Raffy nickte und nahm Evie an der Hand. Dann liefen sie los, auf dem gleichen Weg wie bei ihrer ersten Flucht, im Schatten der Häuser und über verborgene Pfade, immer Richtung Osten. Niemand sagte ein Wort, niemand wollte über das sprechen, was geschehen war, was die Zukunft bringen mochte, was sie erreicht hatten und was nicht. Sie liefen einfach immer weiter, vorbei an der verfallenen Hütte und durch den Sumpfgürtel.

Dann gelangten sie an das Tor, doch als Lucas sich dagegenstemmte, gab es nicht nach. »Angel«, rief Martha. »Angel?«

»Er kann dich nicht hören«, sagte Raffy verbittert. »Drei Meter – schon vergessen?« Er rannte selbst gegen das Tor, riss an den Riegeln. Doch das Tor ging nicht auf. Dann waren in der Ferne Schüsse zu hören und sie sahen sich an.

»Wir müssen darüberklettern«, sagte Lucas.

»Darüber?« Raffy sah ihn ungläubig an. »Wie denn?«

»So.« Lucas kletterte am Tor hinauf und hielt sich oben an den Zacken fest. Dann schwang er die Beine hinauf und drehte sich so, dass er sich mit den Beinen quer zwischen den scharfen Metallzacken einhaken konnte. »Jetzt kletterst du an mir hoch auf die andere Seite und hakst dich dort genauso ein wie ich hier. Dann können die anderen an mir hochklettern und an dir wieder runter.«

Raffy zögerte.

»Oder wir können hier warten, bis die Polizeigarde kommt«, sagte Lucas leise.

»Also gut«, meinte Raffy. Er hangelte sich hinauf, verlor ein paarmal fast den Halt, doch schließlich schaffte er es bis nach oben. Evie begann zu zittern. Es sah tückisch aus, um die fünf Meter hoch, mit spitzen Zacken oben. Sie würden nie lebend hinüberkommen. Wenn Raffy abrutschte, wenn er den Halt verlor …

»Pass auf den Stacheldraht auf beim Hinunterklettern«, warnte Lucas und gab seinem Bruder einen kleinen Bolzenschneider. Der nahm ihn und zog die Brauen hoch.

»An alles gedacht, was?«

»Das hab ich gelernt«, sagte Lucas leichthin. »Dad hat es mir beigebracht. Und ich wünschte, ich könnte es dir auch beibringen.« Die beiden sahen sich einen Augenblick an, und Evie entdeckte etwas in Raffys Gesicht, doch es ging so schnell vorbei, dass sie nicht sicher sein konnte, was es war, aber da kletterte Raffy auch schon weiter. Evie sah ihm zu, und ihr war, als würde ihr das Herz stehen bleiben, als Raffy auf der anderen Seite verschwand.

»Alles in Ordnung mit dir?«, rief sie, und ein gedämpfter Ruf von drüben gab ihr immerhin die Gewissheit, dass er noch lebte.

»Jetzt du?«, fragte Lucas.

Evie schüttelte den Kopf. »Nein. Martha.«

Martha nickte widerstrebend und kletterte los. Sie war sportlicher, als Evie gedacht hatte, stieg geschickt an Riegeln und Bolzen hoch bis zu der Stelle, wo Lucas sich eingehakt hatte. Er hob sie über die Zacken bis dorthin, wo Raffy den Stacheldraht durchgeschnitten hatte, und hielt sie an den Füßen fest, bis sie ganz oben war. Evie konnte nicht hinsehen. Es war gar nicht daran zu denken, dass sie selbst hinüberklettern konnte. Sie würde scheitern. Sie würde abstürzen. Sie würde alles zunichtemachen.

Martha hatte es geschafft, und Lucas sah zu Evie herunter. »Bist du so weit?« In seinen Augen lag mit einem Mal so viel Güte, dass Evie neue Kraft spürte, so als könnte sie alles schaffen. Sie wischte sich die Hände an ihrer Kleidung ab und kletterte los, sie sah nicht nach unten, sie dachte nicht daran, was passieren würde, wenn sie abrutschte. Lucas streckte ihr die Hand hin und sie ergriff sie. Er zog sie hinauf, und sie stützte sich auf ihn, so nah, dass sie seinen Atem auf der Wange spürte.

»Gib das Raffy«, sagte er und nahm die Uhr vom Handgelenk, die goldene Uhr, auf die er so stolz gewesen war.

»Warum?« Sie blickt voller Zweifel darauf. »Warum sollte Raffy die Uhr haben wollen, die du vom Bruder bekommen hast?«

Lucas lächelte traurig. »Sie hat unserem Vater gehört. Dass sie vom Bruder ist, habe ich Raffy nur erzählt, weil …« Er seufzte. »Na ja, ich habe Raffy eine Menge Sachen erzählt. Dad wollte, dass Raffy sie bekommt, aber das war zu gefährlich. Deshalb habe für ihn darauf aufgepasst. Aber jetzt soll er sie endlich bekommen. Ich will, dass er Dad so in Erinnerung behält, wie er es verdient. Und ich will, dass er weiß, wie sehr ihn Dad geliebt hat. Wie sehr ich …« Seine Stimme brach und seine Augen schimmerten feucht.

»Du kannst sie ihm selbst geben«, meinte Evie, »wenn wir drüben sind.«

Lucas schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht mit«, flüsterte er.

Evie starrte ihn an und ihr war, als würde ihr kalt bis ins Mark. »Wie meinst du das?«

»Ich muss hierbleiben. Linus rausholen. Die Leute werden ratlos sein. Verwirrt. Sie brauchen eine Richtung. Sie brauchen Hoffnung.«

Evie schüttelte heftig den Kopf. »Du musst mitkommen. Du musst …« Tränen brannten ihr in den Augen. Wut, Verzweiflung und Empörung stiegen in ihr hoch. Sie wollte Lucas nicht noch einmal verlieren.

»Du musst mitkommen«, flehte sie noch einmal und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und über die Nase.

»Ich kann nicht«, sagte er sanft. »Das weißt du doch. Du musst mit Raffy gehen. Geht zurück nach Base Camp. Sucht euch eine neue Gemeinschaft. Baut euch ein gemeinsames Leben auf.«

»Und wenn die Polizeigarde dich tötet? Was dann?«, fragte Evie.

Lucas lachte. »Ich werde nicht zurück zum Versammlungshaus marschieren, falls du das meinst.« Er wurde wieder ernst. »Evie, es geht mir nur darum: dass du und Raffy und Linus hierhergekommen seid, um hier … dass es funktioniert hat. Und das will ich sicherstellen. Meinem Vater zuliebe. Und Linus zuliebe.«

Evie schloss die Augen. Sie wusste, dass er sich nicht mehr umstimmen lassen würde, wusste, dass sie ihn verloren hatte. Und sie wusste, dass er recht hatte, doch es fühlte sich furchtbar falsch an.

»Du … du wirst mir fehlen«, flüsterte sie, ohne darüber nachzudenken, was sie da sagte.

»Evie?« Das war Raffys Stimme.

»Sie kommt«, rief Lucas. Dann legte er seine rechte Hand an ihre Wange, zog sie an sich und küsste sie zärtlich auf den Mund. »Ich wollte mit dir verlobt sein, weil du wunderschön bist«, flüsterte er. »Weil du verständnisvoll, intelligent und unabhängig bist. Und weil ich mich auf den ersten Blick in dich verliebt habe. Aber ich wusste immer, dass du nie mein sein würdest. Pass auf dich auf, Evie. Und gib auf Raffy acht, für mich.«

»Danke«, sagte Evie. »Danke, dass du auf den Bruder geschossen hast. Danke für … für alles.«

»Du wirst mir auch fehlen«, erwiderte Lucas sanft und so voller Gefühl, dass seine Lippen bebten.

Und damit stemmte er sie hoch, bis sie die obersten Zacken fassen konnte, und hielt sie fest, bis sie sich ganz hinaufgezogen hatte. Als sie sich hinüberschwang, verlor sie für einen Augenblick den Halt, rutschte ab und dachte, dass nun alles vorbei war, und eine Sekunde lang war es ihr egal … Aber da schlangen sich zwei starke Arme um sie, hielten sie fest, und sie war bei Raffy, er presste sie an sich, und sie konnte ihn riechen, konnte ihn spüren – den Jungen, den sie ihr ganzes Leben lang geliebt hatte und der sie liebte, und sie sahen sich an, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, und sie kamen gemeinsam sicher unten an.

»Und Lucas?«, fragte Angel sofort. »Wo ist er?«

»Er geht wieder zurück«, sagte Evie. »Er bleibt noch eine Weile dort.«

Und falls Raffy protestieren und fragen wollte, warum, oder wissen wollte, was Lucas ihr sonst noch anvertraut hatte, dann tat er es jedenfalls nicht.

»Weiß er, was er da tut?«, fragte Angel stirnrunzelnd.

»Ich denke schon«, sagte Evie. Sie wandte sich zu Raffy hin, wollte ihm Lucas’ Uhr geben, doch dann überlegte sie es sich anders. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Und sie war noch nicht so weit. Stattdessen behielt sie, während sie losrannten, die Uhr in der Hand, umschloss sie ganz fest mit den Fingern, so als wäre es Lucas selbst, den sie festhielt. So als würde sie ihn beschützen. So als hätte er irgendwie etwas von sich zurückgelassen in diesem goldenen Zeitmesser, der ihm so viel bedeutet hatte – und der, wie Lucas selbst und wie die Stadt, die er scheinbar geliebt hatte, etwas ganz anderes war, als sie gedacht hatte.

Als sie alle gedacht hatten.


Загрузка...