18

Es ist kalt und es ist dunkel. Sie spürt fremde Arme um sich; ihre Kehle ist ganz heiser vom Schreien und sie ist jetzt still. Sie merkt noch, wie ihr Kopf nach vorn sinkt, wie ihr die Augen zufallen. Sie will schlafen. Doch sie zwingt sich, die Augen wieder zu öffnen. Sie darf jetzt nicht schlafen – sie weiß es.

Eine Tür geht auf und Licht fällt herein. Als die Tür sich hinter ihnen schließt, ist sie von einer erstickenden Wärme umhüllt. Sie wird abgesetzt, sie sitzt auf einem Stuhl. Leute sehen sie an, eine Menge Leute, sie weiß nicht, wie viele. Sie starren sie an, schieben sich vorwärts. Sie sieht die Menschen nicht an. Sie sieht auf ihre Füße; das hat sie sich angewöhnt. Nur Blickkontakt aufnehmen, wenn man weiß, was vor sich geht, wenn man sich sicher fühlt. Sie hat schon viel Gewalt mitangesehen; sie hat gesehen, wie Menschen vor ihren Augen getötet wurden, hat gesehen, wie Wilde das Fleisch von toten Menschen gegessen haben. Ihre Eltern haben ihr gesagt, sie hätte sich das nur eingebildet, aber sie ist sehr verständig für ihr Alter. Sie weiß Bescheid.

»Delphine, Ralph«, ruft ein Mann. »Kommt ihr bitte mit?« Ein Paar löst sich aus der Menge und geht auf ihn zu. Sie reden im Flüsterton miteinander. Dann kommen sie zu Evie.

»Evangeline?« Der Mann spricht als Erster. Er geht vor ihr in die Hocke. »Evangeline, ich bin so froh, dass du hier bist. Ich bin dein Vater. Und das hier ist deine Mutter. Wir haben auf dich gewartet.«

Evie ist erschrocken. Sie war auf einiges gefasst, aber nicht auf das. Sie bricht ihre Regel und sieht auf. Sieht ihnen in die Augen.

»Mein Vater«, sagt sie. »Mein Vater ist …« Sie weiß nicht, wie sie den Satz beenden soll, weiß nicht, wo ihr Vater ist.

»Ich bin dein Vater, Evangeline«, sagt der Mann sanft, aber bestimmt. »Der Mann, mit dem du gekommen bist, um den kümmert man sich. Er braucht unsere Hilfe, und du willst doch, dass wir ihm helfen, oder? Du willst, dass wir allen Menschen helfen, die mit dir gekommen sind.«

Sie nickt. Die Wärme dringt ihr bis in die Knochen, sie ist berauschend. Schon lange ist ihr nicht mehr so warm gewesen.

»Hast du Hunger, Evie? Sollen wir etwas essen gehen?«

Dieses Mal hat die Frau gesprochen; ihr Blick ist forschend und macht Evie verlegen. Evie nickt wieder. Die Frau sieht erfreut aus. Sie streckt die Hand aus, und Evie nimmt sie.

»Gut«, sagt der Mann, der sie hereingetragen hat. »Gut. Jetzt wartet bitte hier. Da sind noch mehr. Bitte habt Geduld …«

Evie erwachte und blickte sich um. Sie lag in einem ziemlich kleinen Zelt mit cremefarbenen Wänden und Zeltdach, auf einer Matratze mit Baumwolllaken. Neben ihr lag Raffy, immer noch in tiefem Schlaf, und gab mit seinen gleichmäßigen Atemzügen einen ruhigen Rhythmus vor. Sie waren allein. Seit sie hier angekommen waren, war nicht mehr die Rede gewesen von Gefangenschaft, keine Fesseln mehr, keine Drohungen. Und doch hatte Evie jetzt mehr Angst als je zuvor – nicht um sich selbst. Seit sie die Wahrheit über ihre Vergangenheit erfahren hatte, sorgte sie sich kaum mehr um ihre Zukunft. Sondern um die anderen … Raffy, Lucas …

»Morgen.« Raffy schlug die Augen auf, mit dem gewohnten schiefen Grinsen im Gesicht, sodass Evie unwillkürlich lachen musste. Mit diesem Grinsen war sie jahrelang in ihrem Baum begrüßt worden, dieses Grinsen hatte sie, so kam es ihr vor, fast ihr ganzes Leben lang beruhigt, getröstet und geneckt. Raffy war das einzig Beständige gewesen, der Einzige, auf den sie sich verlassen, mit dem sie offen sprechen und dem sie sich anvertrauen konnte. Doch jetzt, hier, jenseits der Stadtmauer, wo sie sein konnten, wer sie wollten … Da fühlte es sich irgendwie anders an.

»Schau«, sagte er und lächelte. »Wir sind ganz allein.«

Er packte sie, zog sie an sich und schlang die Arme um sie. Doch sie drehte den Kopf weg, sodass sein Gesicht ihren Nacken berührte anstatt …

Anstatt ihre Lippen?

Sie runzelte die Stirn. Früher, in der Stadt, da hatten sie sich die ganze Zeit geküsst. Küsse, die voller Hoffnung waren, voller Verzweiflung und Sehnsucht. Küsse, die sie miteinander verbanden, selbst wenn sie auseinandergerissen wurden. Küsse, die von ihrem Zusammenhalt sprachen, von ihrem festen Glauben aneinander und von ihrem Aufbegehren gegen das Leben, das ihnen vorgeschrieben war.

Aber seit sie hier waren, seit sie in Base Camp angekommen waren, hatten ihre Lippen sich noch nicht einmal flüchtig gestreift.

Evie wusste, dass das nicht Raffys Schuld war; dass nicht er im letzten Moment den Kopf wegdrehte, das Thema wechselte, sich stattdessen in eine Umarmung flüchtete oder einen Scherz machte. Doch sie wusste nicht, warum sie das tat.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sie hatte davon geträumt, einmal so mit Raffy dazuliegen, hatte von einer Welt geträumt, in der so etwas möglich war. Jetzt aber empfand sie seine Arme um sie herum mit einem Mal beengend; sein Atem kitzelte sie am Hals; er erstickte sie, zog sie hinunter, wo sie doch unbedingt …

Wo sie doch unbedingt was?

Und dann wusste sie, was sie tun musste.

»Raffy«, begann sie leise. »Ich muss dir etwas sagen.«

»Ich muss dir auch etwas sagen.«

»Ach ja?« Evie sah ihn besorgt an.

Er grinste. »Ich muss dir sagen, wie sehr ich dich liebe. Und ich muss dir sagen, wie schön du bist.« Er zog sie wieder an sich, küsste sie und sie erwiderte den Kuss. Sie beugte sich zu ihm hin, und er zog ihr das alte T-Shirt aus, in dem sie geschlafen hatte, zog sein eigenes Hemd aus, und ihre Haut an seiner Haut fühlte sich so wunderbar an, so gefährlich und so richtig. Und als sie sich hinlegte, suchte er ihren Blick und sah ihr so eindringlich und tief in die Augen, dass sie das Gefühl hatte, er könnte es vielleicht sehen, wusste es vielleicht schon, hatte sich vielleicht damit abgefunden und ihr vergeben. Und dann wusste sie, dass es so sein musste, denn er war in ihr und sie waren eins, und die Wellen, die durch ihren Körper strömten, verzehrten sie, ließen sie aufschreien und sich an Raffy klammern wie an ein Rettungsboot, als wäre er ihre Erlösung. Und dann weinte sie, Tränen der Freude, aber auch noch etwas mehr, und als Raffy die Tränen wegküsste, kamen immer neue, bis ihre Wangen, ihr Hals und das Kissen unter ihrem Kopf nass waren.

»Weine nicht, Evie. Wein’ doch nicht«, flüsterte Raffy. »Alles wird gut. Alles wird wieder gut.«

Und Evie nickte, weil sie ihm glauben wollte. Sie musste ihm glauben.

»Und was war es, was du mir sagen wolltest?« Er grinste, rollte sich zur Seite und küsste sie noch einmal. »Meine wunderschöne Evie. Was ist?«

Sie schloss die Augen und schlug sie wieder auf. »Ich muss dir etwas erzählen, was passiert ist. In der Nacht, als wir geflohen sind.« Ihre Stimme bebte.

Raffys Miene verdüsterte sich leicht. »Ach, ich weiß doch, was in der Nacht passiert ist«, sagte er und drehte sich weg. »Ich weiß, dass ich Lucas unrecht getan habe. Und du hast getan, was du tun musstest. Ich …« Er schluckte und drehte sich wieder zu ihr. »Schau, das spielt doch keine Rolle, oder? Wir sind frei. Wir sind hier. Und wir haben uns.«

Evie nickte. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht spielte es ja keine Rolle. Aber sie wusste, dass es doch eine Rolle spielte. Er liebte sie, aber er wusste nicht alles. Die Liebe war nicht echt. Noch nicht.

»Ich habe Lucas geküsst«, sagte sie.

Raffy lachte. »Ich weiß. Ich habe euch gesehen. Aber das war nicht in der Nacht, als wir geflohen sind. Es war bei der Arbeit. Ich habe euch gesehen, weißt du noch? Es hat mir nicht gepasst, aber du warst schließlich mit ihm verlobt. Du konntest nicht anders. Das weiß ich.«

Evie schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Ich habe ihn geküsst, als er zu mir nach Hause kam, in meinem Zimmer. Als er mir gesagt hat, wir beide müssten fliehen.«

Raffy bewegte sich nicht. Seine Miene blieb unverändert. Eine Sekunde lang, eine selige Sekunde lang dachte Evie, dass sie sich vielleicht zu viele Gedanken gemacht hatte, und dass Raffy verstand, dass er verstand, dass ein Kuss nichts zu bedeuten hatte … Aber dann sah sie seine Augen; sah, dass sie fast schwarz geworden waren und dass seine Miene nicht so unbewegt blieb, weil er verstand, sondern aus Wut – aus rasender, alles verzehrender Wut.

»Du hast ihn geküsst?« Er starrte sie an. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, seine Miene war so kalt wie Eis. »Du hast Lucas … geküsst?«

»Ich … ich weiß nicht, wie das passiert ist«, hörte Evie sich sagen. »Ich wollte das nicht. Es ist einfach …«

Raffy stand auf. »Ich habe dir vertraut. Mehr als irgendjemandem sonst. Es war mir egal, ob sonst noch jemand auf der Welt war, solange nur du da warst. Und jetzt … jetzt erfahre ich, dass du meinen Bruder geküsst hast?«

Auch Evie stand auf, wickelte ein Laken um sich und streckte die Hände nach Raffy aus. »Es tut mir leid. Ich wollte es dir sagen, dir erklären. Ich liebe dich, Raffy. Nur dich. Aber ich musste es dir sagen. Ich musste …«

»Du liebst mich? Du weißt gar nicht, was Liebe ist«, spie er aus und zog die schlecht passenden Sachen an, die Linus ihm geliehen hatte. »Ich weiß nicht mal mehr, wer du eigentlich bist.«

Evie versuchte es noch einmal – ihn zu berühren, ihn dazu zu bringen, dass er sie ansah, ihr verzieh, aber er schüttelte sie ab. »Ich … ich gehe spazieren«, verkündete er wütend und marschierte aus dem Zelt.

»Spazieren? Wohin denn?«

»Irgendwohin«, hörte sie ihn noch sagen, dann verschwand er. Sie ließ sich wieder auf das behelfsmäßige Bett fallen, das nun völlig zerwühlt war, und rollte sich neben ihrem tränennassen Kissen zusammen.

Evie brauchte eine halbe Stunde, bis sie selbst das Zelt verlassen konnte. Eine halbe Stunde, in der sie mal teilnahmslos gewesen, dann wieder auf und ab gegangen war, in ihrem Kopf Gespräche durchgespielt und sich immer wieder auf das Bett hatte fallen lassen. Irgendwann trocknete sie sich die Augen, zog sich an und ging zu dem gemeinschaftlichen Wasserhahn unter den Regenwassertanks, wo sie sich Wasser übers Gesicht laufen ließ. Denn es hatte keinen Sinn, sich noch mehr Gedanken darüber zu machen, was passiert war.

Von Raffy war nichts zu sehen. Niemand war zu sehen. Linus saß wahrscheinlich am Computer und ging Programmcodes durch; die anderen waren wohl im Essenszelt beim Frühstück. Doch Evie hatte keinen Hunger, sie konnte nicht ans Essen denken. Stattdessen ging sie zwischen den verschiedenen Zelten hindurch, dachte so wenig wie möglich darüber nach, was sie tat, sondern beschäftigte sich lieber mit ganz normalen Dingen, mit praktischen Dingen. Etwas mit Zelten. Zelte waren für sie die einzig passende Unterkunft, hatte Linus ihr und Raffy am Tag zuvor erklärt. Zelte boten Schutz, aber man konnte sie auch tragen und leicht und schnell abbauen. Die Stadt mit ihrer Mauer darum herum und der günstigen Lage am Fluss konnte für die Dauer bauen. Base Camp dagegen musste beweglich sein, flexibel und anpassungsfähig. Manchmal hieß Stärke gerade, zu wissen, wann man weglaufen musste, hatte er gesagt. Und die Worte waren ihr im Kopf geblieben, auch wenn sie nicht wusste, warum.

Sie ging an den Zelten vorbei und sagte sich, sie würde einfach nur alles erkunden, um sich zurechtzufinden. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie wusste genau, wo sie hinwollte. Sie hatte schon zu viele Menschen verloren. Und zu viel Liebe.

Und dann war sie da, vor dem Zelt, das sie am Tag zuvor das erste Mal gesehen hatte, dem Zelt, das ihre Gedanken seither besetzt hatte.

»Das hier sind die Glücklichen«, hatte Linus gesagt, »die wir retten konnten. Die anderen …«

Er hatte den Satz nicht beendet, sondern war einfach weitergegangen. Doch später hatte sie ihn dazu gebracht, ihn zu beenden. Später, beim Abendessen hatte sie ihn alles gefragt. Sie hatte den erschöpften Ausdruck in seinem Blick gesehen, aber sie wusste, dass er antworten würde, weil das in seiner Natur lag. Und so hatte er erzählt, dass die Bösen in einem anderen Lager festgehalten wurden, das die Stadt eingerichtet hatte. Die Wachleute, erzählte er voller Bitterkeit, würden die Gefangenen schlagen, verstümmeln und vergewaltigen, da diese als die Verkörperung des Bösen keinerlei Rechte hatten und die Wachen keinen anderen Zeitvertreib. Hin und wieder würden die Bösen nachts in die Stadt gelassen, um dort Chaos und Zerstörung anzurichten, damit die Bürger weiterhin Angst hatten vor ihnen und vor allem, was außerhalb der Stadtmauer lag. Und so glaubten sie, dass die Menschen ohne Neutaufe genauso werden mussten wie diese Bösen: gesetzlose Kannibalen, die nur zerstören wollten.

»Es tut mir leid«, hatte er leise gesagt und ihre Hand gedrückt. »Aber du hast gefragt.«

Sie hatte dankbar genickt, weil er ihr die Wahrheit erzählt und nichts vor ihr verheimlicht hatte, so wie alle anderen es ihr ganzes Leben lang getan hatten. Aber tief drin empfand sie eine Wut, die heftiger war als alles, was sie bisher erlebt hatte. Eine Wut, die sie verzehrt hatte und die sie immer noch verzehrte. Die Lügen. Die schrecklichen, schrecklichen Lügen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Angst gehabt, dass sie böse war, Angst gehabt, dass sie das Böse in sich trug und dass sie ihre Eltern enttäuschte, dass sie den Bruder enttäuschte. Ihr ganzes Leben lang war sie voller Schuldgefühle gewesen, bei jeder kleinen Verfehlung, bei jedem verbotenen Treffen mit Raffy, bei jedem nicht gerade schmeichelhaften Gedanken über Lucas. Und jetzt … jetzt kannte sie die Wahrheit. Sie war die Tochter von Bösen, aber die Bösen waren nicht böse, sie waren Opfer der grausamen Herrschaft der Stadt. Das Böse wohnte nicht außerhalb der Mauern, sondern innerhalb, überall dort, mit seinen Geheimnissen und seiner Brutalität.

Sie drückte ihre Nase an das Plastikfenster. Die Menschen dort drin lagen auf den gleichen Matratzen, wie auch sie und Raffy sich eine geteilt hatten. Aber sich nie wieder eine teilen würden. Eine verzweifelte Sehnsucht nagte an ihr, und sie fühlte eine jämmerliche Träne in den Augen brennen, aber sie zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Nicht jetzt. Nicht jetzt.

Viele Böse hatten die Augen geöffnet, sie waren wach. Aber sie würden nie wieder richtig wach sein. Ihr Bewusstsein war ihnen geraubt worden. Ihre Zukunft. Ihre Kinder.

Eine Frau setzte sich langsam auf der Matratze auf und bemerkte Evie – es war dieselbe Frau, die auch schon am Tag zuvor auf Evie aufmerksam geworden war. Ihr Gesicht hatte tief in Evie etwas aufgerührt, das sich ihr eingeprägt hatte. Während Evie die Frau betrachtete, wurde ihr immer wärmer. Die Frau lächelte, winkte und kam ans Fenster. Wie gebannt drückte Evie ihre Hand gegen das Plastik; die Frau tat es ihr gleich. Sie musste in den Vierzigern sein, etwas jünger als die Frau, die sich in der Stadt als Evies Mutter ausgegeben hatte. Sie war auch hübscher, auch wenn ihre Augen nur Schatten waren, auch wenn ihre Mundwinkel schlaff herabhingen und ihre Bewegungen ungelenk waren. In ihren Augen lag eine Traurigkeit, die Evie wiedererkannte, eine Traurigkeit, die der Spiegel ihr jeden Tag ihres Lebens zurückgeworfen hatte.

»Evie?« Sie erschrak beim Klang von Linus’ Stimme. Er stand hinter ihr, sie wusste nicht, wie lange schon. Sie hatte allerdings auch keine Ahnung, wie lange sie selbst schon hier war. »Zeit fürs Frühstück, falls du Hunger hast.«

»Eigentlich nicht«, flüsterte sie. Sie konnte die Hand der Frau durch das Plastik spüren.

»Komm trotzdem. Wenn es dir nichts ausmacht.« Er legte den Arm um sie und führte sie weg. Evie wusste, dass sie keine Kraft hatte, Widerstand zu leisten. Sie lächelte der Frau noch einmal zu, dann wandte sie sich ab und folgte Linus.

»Wir kümmern uns hier um sie«, sagte Linus, während sie zwischen den Zelten hindurchgingen. »Sie sind so glücklich, wie es ihnen möglich ist.«

»Ich weiß«, antwortete Evie mit erstickter Stimme.

»Und wir werden dem, was hier vorgeht, ein Ende machen.«

»Ich weiß«, sagte sie noch einmal. Aber ein Ende zu machen, war ihr nicht genug. Das wurde ihr mit einem Mal klar. Es war zu spät. Weil niemand verhindert hatte, dass es ihren Eltern passierte. Weil niemand verhindert hatte, dass es ihr Leben in Stücke riss.

»Morgen! Gut geschlafen?« Martha saß neben Raffy und lächelte breit – zu breit, dachte Evie. Hatte Raffy es ihr erzählt? Wusste sie, dass Evie ihn betrogen hatte? Beurteilte sie Evie so, wie Evie sich selbst beurteilte?

»Sehr gut, danke.« Sie lächelte und setzte sich den beiden gegenüber. Raffy schaute sie nicht an, sondern drehte den Oberkörper ganz leicht zur Seite, sodass er von ihr wegsah.

Linus verschwand kurz zum Tresen und kam mit etwas Porridge und Trockenfrüchten wieder.

Als er sich setzte, stand Raffy auf. »Bis später«, murmelte er, während Evie ihm nachsah.

»Damit bist du gut gerüstet für den Tag«, sagte Linus, stellte ihr den Porridge hin, und sein Gesicht legte sich wieder in Falten zu dem Lächeln, das Evie nicht erst ein paar Tage, sondern schon seit Jahren zu kennen glaubte.

Dankbar nahm sie an und stellte beim Essen überrascht fest, dass sie doch hungrig war.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Martha mit besorgter Miene. »Du bist anscheinend nicht ganz bei der Sache.«

»Es geht mir gut«, log sie und drehte sich zu Linus hin. Sie wollte Marthas Mitgefühl nicht. Sie brauchte Ablenkung. Sie wollte nicht an Raffy denken und schon gar nicht an das riesige Loch in ihrem Herzen, das sie selbst verschuldet hatte. »Wo baut ihr euer ganzes Gemüse und euer Getreide an?«, fragte sie. »Und wo sind eure Tiere?«

Linus warf Martha ein schiefes Lächeln zu. »Weiter hinten bauen wir alles Mögliche an. Und wir haben ein paar Ziegen. Aber hauptsächlich sind wir Sammler.«

»Sammler?« Evie zog die Augenbrauen hoch.

»Er meint, wir suchen nach Essen«, erklärte Martha.

»Ihr meint Beeren und so etwas?«

Linus grinste. »Beeren, Eichhörnchen, Stadtgetreide …«

»Stadtgetreide?«, fragte Evie zweifelnd. »Aber wie schafft ihr es hierher, den ganzen Weg von der Stadt? Diesmal habt ihr nichts dabeigehabt und wart doch ganz schön nah bei der Stadt, als ihr uns erwischt habt.«

Sie sah in Linus’ Blick etwas aufflackern und spürte, wie sie selbst aufbrauste. »Schon gut, wenn ihr mir nicht die Wahrheit sagen wollt«, sagte sie bissig. »Warum solltet ihr auch? Niemand hat mir jemals die Wahrheit gesagt.«

Martha starrte sie mit vor Überraschung geweiteten Augen an, aber Linus legte nur seine Hand auf die ihre und drückte sie sanft. »Evie, wir halten nichts vor dir geheim. Das war nur ein privater Scherz zwischen Martha und mir, das war nicht geheim. Es gibt so allerhand, was du noch nicht weißt über deine Stadt. Ich weiß, die Stadt verkauft sich als Selbstversorger, aber die kleinen Ackerflächen innerhalb der Mauer reichen nicht zur Versorgung der Bevölkerung.«

»Und wo kommt die Nahrung dann her?«, fragte Evie, aber schon als sie die Frage stellte, wusste sie die Antwort. »Das Lager«, murmelte sie. »Sie lassen die Bösen für sich arbeiten.«

»Wir nennen sie lieber die Versehrten«, sagte Linus leise, »aber ja. Kurz und bündig.«

»Und ihr stehlt die Nahrung?«

»Wir … helfen bei der Verteilung«, meinte Linus mit einem leichten Augenzwinkern.

Evie blickte auf den Porridge vor sich. Sie hatte plötzlich keinen Hunger mehr und schob die Schale weg.

»Magst du es nicht?«, fragte Linus besorgt.

»Ihr benutzt sie auch«, gab Evie zurück. »Sie ernähren euch genauso wie die Stadt. Da gehe ich doch lieber Beeren sammeln, wenn euch das alles gleich ist.«

Linus schob seinen Stuhl zurück. »So kann man das natürlich auch sehen«, sagte er.

»Kann man es denn anders sehen?«, fragte Evie eisig.

»Die Versehrten arbeiten für die Stadt«, meinte Linus und zuckte die Schultern. »Sie haben keine Wahl. Die anderen, die wir retten können, brauchen nicht zu arbeiten, wir sorgen für sie. Wir sind nicht Teil des Regimes. Aber wir legen uns mit ihm an. Wir stehlen die Nahrungsmittel, weil das den Bruder beunruhigt, denn wenn es eine Nahrungsmittelknappheit in der Stadt gibt, dann stellt das seine Führung infrage. Weil wir Nahrungsmittel brauchen, um unsere Armeen aufzubauen und das Böse zu bekämpfen, das die Stadt verdorben hat.«

Er sagte das in ruhigem und sanftem Ton, aber sie wusste, dass er alles andere als ruhig war. Sie beobachtete ihn genau, und sie wünschte, auch sie könnte sich so klar ausdrücken und äußerlich so gelassen bleiben, wenn in ihr ein Wirbelsturm tobte.

»Wir stehlen die Nahrungsmittel«, fuhr Linus fort, ohne den Blick von Evie zu wenden, »weil dann die Bewacher, die die Verstümmelten mit Stahlruten in Schach halten und sie grausam und voller Verachtung behandeln, für den Diebstahl bestraft werden. Und das ist eine Möglichkeit für uns, sie der Gerechtigkeit zu überantworten. Wirkliche Gerechtigkeit erreichen wir aber erst, wenn wir unseren Kampf gewinnen. Dazu müssen wir die Stadt einnehmen, den Bürgern die Wahrheit sagen und dem Bruder ein für alle Mal das Handwerk legen. Dazu müssen wir sehr stark sein. Ich bin nicht in Base Camp, um eine neue Stadt aufzubauen oder um Bauernhöfe anzulegen. Ich führe hier einen Krieg.«

Er griff in seine Gesäßtasche und zog etwas hervor – eine Pistole. Dieselbe Pistole, die Evie bei ihrer ersten Begegnung bei ihm gesehen hatte, als er sie und Raffy gefangen genommen und verschleppt hatte und sie nicht wussten, wer er war und was er von ihnen wollte. Er sah, wie sie die Waffe betrachtete, dann steckte er sie wieder weg. »Was ist mit dir, Evie? Bist du auch hier, um einen Krieg zu führen?«

Die Frage stand ein paar Sekunden lang im Raum und niemand bewegte sich. Dann zog Evie betont langsam die Schale wieder zu sich hin und nahm einen Löffel voll.

»Braves Mädchen!« Linus grinste. »Aber jetzt beeil dich, wir haben viel zu tun. Du und Martha, ihr seid für die Logistik und für die Zeitplanung zuständig. Wer muss wo, wann und wie sein? Wir fallen noch heute Nacht ein und überraschen alle. Die Stadt wird gar nicht kapieren, was los ist, aber dazu müssen wir perfekt vorbereitet und bereit sein. Okay?«

»Okay«, pflichtete Evie bei, und weil er sie immer noch ansah, lächelte sie zuversichtlich. »Okay. Wir werden bereit sein.«


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