3

Vor der Neutaufe brauchte man sich nicht zu fürchten. Denn darin unterschied sich die Stadt von allen anderen Gesellschaftsformen: Sie war ein friedlicher, ein guter Ort. Die Neutaufe war die großartige Idee des Großen Anführers gewesen, damals vor der Schreckenszeit, vor der Gründung der Stadt, als die Welt eine andere war und der Große Anführer ein Hirnspezialist, ein Arzt, ein Heiler gewesen war.

Nur hatte er nicht so heilen können, wie er es wollte. Er hatte eine Hirnregion namens Amygdala oder Mandelkern entdeckt, die bei Geisteskranken und Kriminellen krankhaft vergrößert war. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dieses Organ die Wurzel allen Übels war, der grundlegende Schwachpunkt bei allen menschlichen Wesen. Nicht bei jedem war die Amygdala gefährlich, aber sie musste genau beobachtet werden, da sie jederzeit wachsen und die Herrschaft übernehmen konnte, sodass aus einem guten Menschen ein böser Mensch wurde. Jemand mit einer vergrößerten Amygdala kümmerte sich nicht mehr um andere Menschen, sondern wollte sie töten und verletzen, wollte stehlen und kämpfen. Alle Kriege wurden von Menschen mit einem großen Mandelkern angefangen; so jemand brachte die Leute dazu, einander zu hassen, und fügte anderen Schmerz zu. Genau diese Menschen hatten auch die Schreckenszeit entfesselt und stachelten andere auf, damit auch sie kämpften, Bomben warfen und alles zerstörten. Denn auch gute Menschen konnten schwach sein. Unter bestimmten Umständen war jeder in Gefahr.

Evie fand es immer wieder seltsam, dass jemand etwas ablehnen konnte, durch das alles besser wurde. Aber das war eben das Problem mit dem Bösen – jeder schöpfte Verdacht und widersetzte sich allem, das die Welt vom Bösen befreien würde, weil sich das Böse bereits festgesetzt hatte und nicht ausgemerzt werden wollte.

Und das alles nur wegen der Amygdala, einem kleinen Teil des menschlichen Gehirns, den das Böse eingenommen und zu seiner Heimstatt gemacht hatte. Das hieß, dass die Menschen von Natur aus selbstsüchtig, aggressiv, stolz, schwierig waren und ständig miteinander konkurrierten, was sie immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Kriege, Scharmützel, Raubüberfälle, Vergewaltigungen und Morde. Schreckliche Dinge. Unvorstellbare Dinge. Und am schlimmsten war die Schreckenszeit selbst gewesen. Evie wusste Bescheid über die Schreckenszeit – alle wussten Bescheid. Deshalb waren sie da. Deshalb gab es die Stadt.

Die Schreckenszeit machte den Menschen klar, wie anfällig und gefährlich sie selbst waren. Die Schreckenszeit machte ihnen klar, dass der Große Anführer die ganze Zeit recht gehabt hatte.

Hier in der Stadt war das alles so sonnenklar. Und es war eigenartig, dass, bevor es die Stadt gab, nur der Große Anführer erkannt haben sollte, wie die Gebrechen der Welt zu heilen waren, und noch eigenartiger war es, dass die Menschheit nicht in Jubel ausbrach und ihn sofort bei der Umsetzung unterstützte, als er seine Erkenntnisse mitteilte. Aber das war eben das Problem mit den Menschen, sagte der Bruder immer. Sie hatten Schwächen, Fehler. Sie erkannten die Wahrheit nicht. Sie rannten erst einmal davon vor allem Neuen und Revolutionären, bis sie erkannten, dass es keine Alternative gab. So waren sie auch vor dem Großen Anführer davongerannt, hatten ihm nicht zuhören wollen und ihm glatt verwehrt, seine Theorie zu erproben und nachzuweisen, wie wirksam sie war.

Aber das war noch vor der Schreckenszeit gewesen, als die Menschheit dem puren Bösen ins Gesicht gestarrt hatte und die Folgen hatte tragen müssen. Das war, bevor die Alternativen ausgegangen waren und die Menschen erkannten, dass es eine Revolution brauchte.

Ein paar erleuchtete Seelen begannen damals, dem Großen Anführer zuzuhören, und eine kleine Schar erkannte, dass er recht hatte. Also baute er die Stadt, um sie zu schützen, und seither war niemand mehr traurig, böse, gefährlich oder grausam. Er schaffte es, dass das Böse einfach nicht mehr existierte. Jedenfalls nicht innerhalb der Stadtmauern.

Vor der Schreckenszeit war der Große Anführer Professor an der Universität gewesen, hatte Menschen unterrichtet und Forschung betrieben. Und als Chirurg war ihm bei einer Operation eine Idee gekommen, die – wie alle guten Ideen – zunächst einmal auf völlige Ablehnung gestoßen war. Man sagte ihm, es funktioniere nicht, es sei nicht möglich und dass er verrückt sei. Also gab er die Arbeit als Hirnchirurg auf und widmete sich ganz der Forschung, um die Wirksamkeit und Machbarkeit seines Verfahrens nachzuweisen. Außerdem gab er sein Wissen an seine Studenten weiter, die ihm bei der Ausarbeitung und der Verbreitung halfen.

Doch noch immer wollte keiner ihn ernst nehmen. Jedes Mal wenn er etwas veröffentlichen wollte, sagte man ihm, er sei verblendet und die Theorie sei gefährlich. Sie entzogen ihm sogar die ärztliche Zulassung. Das zeige doch nur, meinte der Bruder immer und schüttelte dabei ungläubig den Kopf, wie irregeleitet die Menschen damals waren. Denn sie selbst waren es, die gefährlich waren. Sie waren es, die die ganze Welt in den Untergang trieben.

In der Stadt jedoch konnte der Große Anführer endlich beweisen, dass er recht hatte. Damals, als die Stadt gegründet worden war, war jeder willkommen – jeder, der den öden Wüsten entrinnen wollte, die die Schreckenszeit hinterlassen hatte, der etwas zu essen, Wasser, ein Obdach und einen Neubeginn wollte. Er brauchte sich nur der Neutaufe zu unterziehen, bei der die Amygdala entfernt wurde. Jeder, der in der Stadt lebte, erhielt die Neutaufe. Bei Babys geschah das gleich nach der Geburt. Neuankömmlinge erhielten die Neutaufe nach ihrer Ankunft. Das war Teil der Vereinbarung; ohne Neutaufe konnte man nicht in der Stadt leben. Jeder hatte dieselbe kleine, beruhigende Narbe an der rechten Stirnseite, die allen zeigte, dass sie in Sicherheit waren. Denn war die Amygdala erst einmal weg, dann waren die Menschen rein und frei von allem Bösen. Und solange sie dem Bösen entschlossen den Zugang zu ihren Köpfen verwehrten, blieben sie gute Menschen.

Seither hielten die Stadtmauern das Böse draußen und das Gute drinnen. Aber das Gute musste gepflegt werden, und deshalb überwachte das System jeden in der Stadt sehr gründlich – insbesondere die Ds, denn manchmal genügte die Neutaufe nicht. Manchmal bildete sich die Amygdala neu. Wenn das passierte, dann war eine weitere Neutaufe nötig. Dann wurde man allerdings von seinen Freunden und von der Familie getrennt, da man nicht vertrauenswürdig war und für sie und für sich selbst zu einer Gefahr werden konnte.

Wenn die Amygdala nachwuchs, bekam man ein anderes Abzeichen als die anderen: ein K. Das Rangabzeichen war blutrot und es stand für Gefahr. Dieser Rang wurde allerdings nie erwähnt; Ks sah man nie auf der Straße, denn mit der Herabstufung wurden sie sofort zur Neukonditionierung ins Krankenhaus gebracht. Sie kamen auch nicht zurück. Sie waren zu gefährlich, um in einer normalen Gesellschaft zu leben, denn wenn das Böse ein Mal zurückkam, dann würde es immer wieder kommen. Deshalb mussten sie genauer überwacht werden, sie mussten vor sich selbst geschützt und von den guten Stadtbewohnern ferngehalten werden. Keiner wusste, wo die Ks hinkamen; niemand durfte das wissen. Ks waren gefährlich, und auch alle um sie herum wurden mit Argwohn behandelt, denn das Böse könnte sich ausgebreitet haben.

Deshalb mochte niemand Raffy.

Sein Vater war ein K gewesen und von der Familie weggeholt worden, als Evie vier Jahre alt war. Sie erinnerte sich daran, wie man ihn aus dem Haus gebracht hatte – es war an ihrem Schulweg gelegen. Raffy war bei ihr gewesen, als es geschah. Damals, als kleine Kinder, die zusammen zur Schule gingen, hatten sie noch Freunde sein dürfen. Auch sein älterer Bruder war dabei gewesen, und sie hatten die neuen Wörter aufgesagt, die sie im Unterricht gelernt hatten. Lucas hatte zuerst gesehen, dass ein Polizeigardist auf ihre Haustür zuging. Der Vater wollte weglaufen, wurde aber festgehalten und die Hände wurden ihm auf dem Rücken gefesselt. Raffy wollte ihm nachrennen, aber Lucas hatte ihn zurückgehalten. So hatte Evie einfach mitangesehen, wie der Vater der Jungen abgeführt worden war und die Mutter der beiden mit Büchern, Kleidungsstücken und anderen Dingen aus dem Haus rannte, alles im Vorgarten auf einen Haufen warf und ihn anzündete. »Als Reinigung«, hatte Evies Mutter später erklärt und dabei müde den Kopf geschüttelt. »Die arme Frau. Da siehst du mal – man kann nie sicher sein.«

Lucas fand sich mit der Tatsache ab, dass sein Vater zur Neukonditionierung eingewiesen worden war. Es wirkte bei ihm als Katalysator für seine Selbstverbesserung. Schon zuvor war er eher nüchtern und vernünftig gewesen, aber von diesem Tag an war er ein mustergültiger Bürger. Er arbeitete hart, machte sich bei den Lehrern beliebt, indem er die schwächeren Mitglieder herausstrich und zeigte, dass er aus ganz anderem Holz geschnitzt war als sein Vater. »Ganz die Mutter«, sagten die Leute bald. »Was für eine Schande, das mit seinem Bruder.«

Raffy konnte sich nicht abfinden mit dem Verlust des Vaters. Er wurde aufmüpfig und handelte sich damit immer wieder Strafen ein. Schließlich verfiel er in Schweigen, starrte die Lehrer, ja sogar den Bruder, nur wütend an, wenn sie mit ihm reden wollten. Evie versuchte, ihm zu helfen, versuchte, die Freundschaft zu erhalten, aber ihre Eltern sorgten dafür, dass sie am anderen Ende des Klassenzimmers saß, und ließen durchblicken, dass sie sich andere Freunde suchen musste. Gute Freunde. Bessere Freunde.

Freunde wie Lucas. Und schon bald wurde sie sowieso von den Jungen getrennt und da konnten sie nicht mehr länger befreundet sein.

Die ersten Sonnenstrahlen schoben sich durch das Fenster herein und sagten Evie, dass sie aufstehen und sich für die Arbeit fertig machen musste. Unwillig schlug sie die Decke zurück und schwang die Füße aus dem Bett, genauso wie immer. Doch heute fühlte sie sich müder als sonst, und sie nahm an, dass das nicht nur an ihrem mitternächtlichen Ausflug lag. Es war Schuld. Schuld und Angst.

Die Sache mit Raffy … Es hatte zunächst nicht so schrecklich angefangen. Aber so war das mit dem Bösen; immer wieder erklärte der Bruder ihnen, dass es sich als etwas anderes verkleidete, als etwas Unschuldiges und Makelloses. So lockte es einen an und versklavte einen. Evie hatte bei den Unterweisungen immer andächtig zugehört und dabei die ganze Zeit über gewusst, dass es bereits zu spät war, dass sie dem Bösen verfallen war.

Damals, in der Kinderzeit, war es wirklich ganz unschuldig gewesen; jeden Nachmittag hatte man sie nach der Schule zur Lichtung gebracht, wo sie herumrennen und sich austoben konnten. Damals hatten sie den Baum für sich entdeckt, waren in unbeobachteten Momenten hineingeschlüpft und hatten einander erzählt, was sie von ihren Eltern und den Lehrern über die Vergangenheit gehört hatten: über die Schreckenszeit, über Flugmaschinen und über eine riesige Welt voller Menschen. Sie erzählten einander alles, was sie sonst niemandem erzählen konnten, hörten einander zu und verstanden einander. Dann aber wurden sie acht Jahre alt, kamen in die nächste Schule und durften einander nicht mehr sehen – aber sie versprachen einander, sich bei dem Baum zu treffen. Das sollte ihr Ort sein.

Fünf volle Jahre hatte es gedauert, bis sie wieder zusammenkamen, bis sie in ihrer sorgsam überwachten Unabhängigkeit unter dem Vorwand von Lauftraining oder einem Treffen mit genehmigten Freunden wieder zur Lichtung kommen konnten. Raffy schaffte es als Erster, und als Evie schließlich auch kam, erzählte er ihr, dass er seit einem Jahr auf sie gewartet habe, Tag für Tag, und er habe schon befürchtet, sie hätte ihn vergessen, er sei ihr gleichgültig, und es sei albern gewesen, die ganze Zeit an sie zu denken.

Evie hatte ihn nicht vergessen, aber ihr war klar, dass sie sich auf etwas sehr Gefährliches einließen. So begannen sie, sich nachts zu treffen, heimlich, verstohlen, weil sie wussten, was passieren würde, wenn man sie erwischte – doch sie taten es trotzdem, denn das, was sie an diesen Ort und zueinander hinzog, war viel stärker als ihre Angst.

Woche für Woche hatte Evie Raffy gesagt, sie müssten aufhören. Woche für Woche hatte Evie Raffy angefleht, dass er sie vergessen musste. Und Woche für Woche sagte er ihr, er würde sie nie vergessen, sie sei der einzige Mensch, der ihn verstehe; und wenn das verkehrt sei, dann müsse die ganze Stadt verkehrt sein. So etwas zu sagen, war abweichlerisch, und Evie wusste, dass das, was sie taten, ein schlimmes Ende nehmen musste. Und doch hatte Raffy auch recht, denn wenn sie von ihm getrennt war, fühlte sie sich leer, und wenn sie bei ihm war, dann war ihr, als wäre sie irgendwie zu Hause, auch wenn das keinen Sinn ergab. Überhaupt keinen Sinn.

Deshalb wusste sie auch, dass der Bruder sich irrte, was ihren Traum anging, und dass er früher oder später die Wahrheit herausfinden musste. Niemand wusste, wie das System seine Bürger beobachtete, wie es sie überwachte. Man wusste nur, dass es geschah und dass es alles wusste. Und wenn es über Evie und das Böse in ihr noch nicht Bescheid wusste, dann war das nur eine Frage der Zeit. Sie hatte schon versagt, sie hatte sich als unwürdig gezeigt gegenüber der Stadt. Das Böse hatte schon von ihr Besitz ergriffen. Sie war ihm zu Willen, und sie erwies sich als unfähig, sich zu widersetzen.

Rasch zog sie sich an – die Hose und die Bluse, die alle Mädchen in der Stadt trugen. Die Kleider wurden im Tuchviertel hergestellt, wo ihre Mutter arbeitete; es gab nur drei oder vier verschiedene Modelle. So wurde die Produktivität maximiert, man beugte der persönlichen Eitelkeit vor und vermied unnötigen Wettbewerb.

Dennoch sahen die Menschen nicht gleich aus. Die Kleidung mochte gleich sein, aber das Abzeichen, das ans Revers genäht wurde, unterschied sie mehr, als irgendein Kleidungsstück es gekonnt hätte. Gelb für As, Blau für Bs, Rosa für Cs, Violett für Ds und … und das andere Abzeichen – das man allenfalls einmal kurz zu sehen bekam. In einem Blutrot, das allen Angst einflößte, die es sahen. Das Gebäude der Rangabteilung lag hinter dem Tuchviertel; zwei lange Warteschlangen zogen sich bis weit über den Bezirk hinaus, je einmal bei Tagesanbruch und noch einmal nach Arbeitsschluss am Abend: eine Schlange für Aufwertungen, die andere für Herabstufungen. Die alten Abzeichen wurden abgerissen und die neuen mit den eigentümlichen Nähstichen angeheftet, die nur die Rangwechsler beherrschten.

Evie ging selten in die Nähe der Rangabteilung. Sie hasste den Anblick der Herabgestuften, ihre hängenden Schultern und ihren furchtsamen Blick, obwohl sie möglicherweise selbst die Rangänderung im System vorgenommen hatte. Vielleicht auch gerade deswegen …

Sie sah auf ihr eigenes blaues Band hinunter und straffte den Rücken. Sie war eine B. Noch.

Sie machte sich fertig, rannte nach unten, frühstückte und räumte den Tisch ab. Dann verabschiedete sie sich von den Eltern und verließ das Haus.

Als sie sich ihrer Arbeitsstelle in Block Nummer 3 näherte, blickte sie sich unauffällig um, ob Raffy in der Nähe war. Er war nicht da und irgendwie war sie erleichtert. Doch auch ein bisschen enttäuscht, aber sie sagte sich, es war gut so, alles in allem. Ab heute würde sie ihre Gedanken nicht mehr an verbotene Orte schweifen lassen, ab heute sollten das Träumen und Zweifeln ein Ende haben.

Entschlossen ging sie die Stufen zum Eingang hinauf, verstaute ihre Sachen im Spind und ging hinauf in ihre Abteilung. Sie strahlte die Aufseherin an, nahm sich ihren Stapel Akten und setzte sich an ihren Schreibtisch.

»Morgen«, sagte sie zu Christine, die bereits bei der Arbeit war.

Christine blickte sie fragend an und sagte mit gedämpfter Stimme: »Du bist so gut gelaunt … Was ist passiert?«

»Nichts«, erwiderte Evie. »Nichts ist passiert.«

Christine dachte kurz nach und beugte sich dann näher zu Evie hin. »Gestern Abend hatte ich Alfie Cooper zu Besuch. Meine Eltern haben das eingefädelt.«

Evie drehte sich rasch herum. Sie erinnerte sich vage an Alfie; er war in der Schule ein paar Klassen über ihnen gewesen. Ein ziemlich rundlicher Junge, der oft weinte, soweit sie sich erinnern konnte. »Zu Besuch? Ist es gut gegangen?«

»Ja«, sagte Christine zögernd und verzog leicht das Gesicht. »Ich meine, ich denke schon … Er hat aber fast die ganze Zeit nur mit meinen Eltern geredet. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.«

»Glaubst du, ihr werdet miteinander verlobt?«, fragte Evie.

Christine zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.« Sie gestattete sich ein Lächeln. »Weißt du, dass er ein A ist? Genau wie Lucas?«

»Ein A!« Evie versuchte, begeistert auszusehen.

Christine war Rang B, genau wie Evie und wie fast alle Mädchen in diesem Büro. »Das ist ja toll.«

»Ja, nicht wahr?«, meinte Christine aufgeregt. »Wenn er ein A ist, dann heißt das, dass er ein wunderbarer Mensch sein muss. Genau wie Lucas. Liebenswürdig und rücksichtsvoll und voller Güte. Bestimmt wird er mich glücklich machen. Das sagt auch meine Mutter und da hat sie doch recht, oder?«

Sie sah so überzeugt aus, so glücklich. Evie nickte. Sie hatte recht. As waren gut. Lucas war gut. Sie konnte das nur deshalb nicht richtig würdigen, weil sie selbst nicht gut war. »Natürlich hat sie recht«, sagte sie. »Ich wünsche dir, dass alles gut geht.«

»Ich auch«, flüsterte Christine und machte sich wieder an die Arbeit. Auch Evie beugte den Kopf tief über die Akten, genau wie die Kolleginnen, die mit ihren auf den Tastaturen klappernden Fingern Ränge änderten und den Vorschriften Genüge taten.

Eine Stunde verging und noch eine. Und dann kam plötzlich alles zum Stillstand. Die Bildschirme wurden dunkel, die Computer gingen aus. Evie dachte zuerst, sie habe etwas falsch gemacht, und drückte verwirrt auf die Tasten, um den Computer wieder zum Leben zu erwecken. Dann bemerkte sie, dass es Christine ebenso ging, und alle sahen einander an – verwundert, unsicher, aufgeregt und ahnungsvoll. Christine hob die Hand und meldete der Aufseherin, was geschehen war. Die kam argwöhnisch heran, starrte ungläubig auf die Bildschirme und befahl, alle sollten ihren Computer neu starten – als sei dies ein Jux, den die Mädchen sich erlaubt hatten.

Dann erschien ein Unterabteilungsleiter in der Tür. Die Aufseherin ging zu ihm, hörte sich kurz an, was er zu sagen hatte, und kam mit ernstem Gesicht zurück.

»Also, alle mal herhören. Das ist eine Übung«, verkündete sie. »Eine Sicherheitsübung. Verlassen Sie bitte ruhig und geordnet das Gebäude und sammeln Sie sich im rückwärtigen Hof. Bleiben Sie zusammen und warten Sie auf neue Anweisungen.«

Schweigend machten sich alle auf den Weg. Keiner in der Stadt widersetzte sich einem Befehl. Trotzdem hatten sich durch Geflüster und Blicke schon verschiedene Gerüchte verbreitet, bevor die Gruppe den Hinterhof erreicht hatte. Irgendetwas war nicht in Ordnung mit dem System. Es hatte eine Panne gegeben. Und anscheinend hatte Raffy es entdeckt.

Natürlich nannte niemand ihn Raffy – für alle außer für Evie war er Raphael –, und wer seinen Namen aussprach, tat das mit einem wissenden Blick und einer kleinen Pause vor und nach dem Namen. »Raphael« – als wäre das allein schon die Erklärung für den Vorfall.

Lucas war der Einzige, bei dem Evie jemals die Kurzform Raffy gehört hatte. Für sie hingegen war es sein richtiger Name, der einzige, den sie je benutzt hatte. Und immer musste sie dabei an die Zigeuner aus den Gutenachtgeschichten ihrer Mutter denken, Jungen und Mädchen, die wild und ungebunden lebten, in Häusern auf Rädern durch die Welt zogen und nirgends lange blieben. Vielleicht lag es auch gar nicht an seinem Namen, vielleicht lag es an ihm selbst. Raffy trug die Haare immer lang – zumindest so lang, wie die Bestimmungen es erlaubten – und nicht um die Ohren kurz geschnitten wie alle anderen, und sein Blick war immer voller Fragen, genauso wie es bei Evie wäre, wenn sie es zulassen würde.

Ihre Mutter hatte recht gehabt: Er hatte, abgesehen von seinem Bruder, offenbar niemals Freunde gehabt. Nie sah Evie ihn in Gesellschaft. Immer war er allein, beobachtete, brütete vor sich hin, während die anderen Jungen ihm mit Argwohn begegneten. Evie wunderte sich nicht. Etwas an ihm brachte einen unwillkürlich dazu, dass man vor ihm auf der Hut war. Mit seinen straffen, geschmeidigen Muskeln wirkte er immer sprungbereit, und manchmal fragte Evie sich, wofür er sich wappnete. Wie mochte es sich wohl anfühlen, wenn man mit ihm zusammen rannte, draußen im Freien, wenn einem der Wind durchs Haar fuhr?

Aber das würde sie nie erleben. Und überhaupt nahm es mit den Mädchen und Jungen in den Geschichten ihrer Mutter nie ein gutes Ende. Meistens endeten sie bettelarm und allein.

Evie und ihre Abteilung versammelten sich im Hof und stellten sich ordentlich in einer Reihe neben den anderen Abteilungen auf. Beklommen blickte sie sich um. Die Luft knisterte förmlich vor Aufregung und Erwartung. Oder war es Angst? Noch nie hatten die Regierungsgebäude geräumt werden müssen, außer während der sorgfältig geplanten Brandschutzübung, die einmal im Jahr stattfand. Jeder gab sich ruhig und umsichtig, doch die Augen huschten neugierig umher, Blicke wurden gewechselt, Augenbrauen wurden hochgezogen und kaum vernehmliches Geflüster sprang von Reihe zu Reihe. Eine Panne. Eine Panne im System. War eine Panne ein Fehler? Was bedeutete das? Was würde geschehen?

Evie fühlte die Spannung in der Luft und tauschte Blicke, genau wie alle anderen, doch bei ihr waren die Spannung, die Erwartung und die Erregung viel größer. Immer wenn sie Schritte hinter sich hörte, sträubten sich ihre Haare im Nacken. Und wenn klar war, dass es nicht Raffy sein konnte, weil die Schritte sich entfernten oder stehen blieben, dann traf die Enttäuschung sie wie ein kleiner Stich, für den sie sich sofort tadelte. Hatte er wirklich die Panne entdeckt? Machte ihn das zum Helden? Oder würde er wieder für etwas verantwortlich gemacht, das nicht seine Schuld war? Kam man einfach nur auf ihn, nun … weil er eben Raffy war? Aus demselben Grund, warum ihre Eltern ihr jeglichen Umgang mit ihm verboten, ja selbst ein »Hallo« bei der wöchentlichen Versammlung nicht duldeten. Der Grund, warum er keine Freunde hatte, warum der Lehrer ihn in der Vorschule immer besonders hart bestraft hatte.

Weil er so war »wie sein Vater«.

Ihre Aufseherin erschien und das Flüstern verstummte. »Es gibt kein Problem. Keine Panne. Glauben Sie nicht, was die Leute sagen«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme und sah jedem Einzelnen in die Augen. »Es ist nur ein routinemäßiger Neustart des Systems. Warten Sie einfach draußen, bis man Ihnen sagt, dass Sie wieder hineindürfen. Alles ist so, wie es sein soll. Alles ist bestens.« Evie nickte, genau wie Christine und die anderen. Sie wusste, dass alle dasselbe dachten: Das war keine routinemäßige Angelegenheit, denn sonst wäre es ja schon einmal vorgekommen.

Dann kam jemand mit dem Unterabteilungsleiter heraus auf den Hof, und daran, wie die Aufseherin scharf die Luft einzog, war unschwer zu erkennen, wer der andere sein musste – Raffy.

Hunderte Augenpaare folgten Raffy auf dem Weg zu seiner Abteilung. Der Unterabteilungsleiter ging hinter ihm. Evie spürte ein Kribbeln im Magen. Ihr Blick schoss bald hierhin, bald dorthin, und am liebsten hätte sie laut gerufen: »Hier bin ich, hier drüben!«, aber das durfte sie nicht, und wenn jemand sah, dass er in ihre Richtung blickte, dann war das gefährlich.

Christine starrte Evie an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Raphael!«, sagte ihr Blick. »Hab ich’s dir nicht gesagt?«

Der Unterabteilungsleiter rief die Aufseher zu sich. Die drängten sich in eine Ecke und sprachen leise, sodass auch die Übrigen wieder Gelegenheit hatten, miteinander zu flüstern.

»Dieser Irre!«, zischte Christine sofort. »Wetten, dass er die Panne ausgelöst hat? Er sollte nicht hier arbeiten dürfen. Ich kann ehrlich gesagt kaum glauben, dass ausgerechnet er ein B sein soll. Aber nicht mehr lange. Systempanne? Der führt doch was im Schilde!«

»Er ist kein Irrer«, erwiderte Evie, noch bevor sie es verhindern konnte. »Du weißt gar nichts.«

Christine starrte sie entgeistert an. Sie war es nicht gewöhnt, dass man ihr widersprach. Nicht in einer Sache, über die alle sich einig waren. »Evie«, flüsterte sie. »Nimm ihn nicht in Schutz, bloß weil du seinen Bruder heiratest. Das brauchst du nicht. Lucas weiß doch auch, dass Raphael ein Irrer ist. Genau deshalb lässt er ihn nicht aus den Augen. Mein Bruder ist mit Raphael in die Schule gegangen und sagt auch, dass er unheimlich ist. Dauernd stellt er so seltsame Fragen. Und er hat seltsame Augen. Wenn du mich fragst, dann wird er genauso enden wie sein Vater. Und das geschieht ihm auch recht, wenn du mich fragst. Man sieht ihm das Böse richtig an. Er ist ein K, Evie. Ein K mit Ansage.« Sie schüttelte traurig den Kopf und seufzte tief.

Evies Magen krampfte sich zusammen vor Wut und vor Angst. Man redete nicht einfach so über den K-Rang. Niemals. Außerdem hatte Christine unrecht: Raffys Augen waren nicht seltsam, seine Augen waren faszinierend, ausdrucksvoll und nachdenklich. Augen voller Leidenschaft, voller Fragen, voller Sehnsucht.

»Okay, das System ist wieder hochgefahren«, rief jemand vom Hintereingang des Gebäudes her, einer der Abteilungsleiter. »Gehen Sie bitte zügig und in einer Reihe zurück ins Gebäude, wenn Ihre Abteilung aufgerufen wird. Abteilung Eins zuerst, bitte. Wie gesagt, das war eine Routinesache. Aber Sie werden außerhalb dieser Wände kein Wort darüber sagen. Das System wird Sie beobachten. Danke.«

Alle setzten sich in Bewegung und gingen wieder zurück ins Gebäude. Evie warf noch einen letzten Blick zu Raffy hinüber in der vergeblichen Hoffnung, dass er vielleicht aufschauen könnte, dass er vielleicht …

»Evie. Tut mir sehr leid wegen der Unterbrechung.« Sie wandte den Kopf. Lucas stand neben ihr. Er lächelte ihre Aufseherin an. »Wir sehen uns dann drinnen«, meinte sie zu Evie. Neben all seinen anderen Vorzügen war Lucas offenbar auch noch charmant.

Mrs Johnson brachte die übrigen Mädchen zurück ins Gebäude, und Evie versuchte, den Köpfen, die sich alle nach ihnen umdrehten, keine Beachtung zu schenken. Er war ja nicht nur ein angesehener Abteilungsleiter, sondern außerdem hochgewachsen und gut aussehend. Er lächelte ihr zu, und sie forschte in seinen Augen, nach einem Flackern vielleicht, nach etwas, das sie fühlen ließ oder verstehen, das ihr Hoffnung gab, sie heilte, sie errettete. Aber da war nichts als Blau, ein weiter, leerer Ozean von Blau, der ihr nichts sagte. Kein Verlangen. Keine Leidenschaft.

»Nur ein Neustart«, meinte Lucas mit einem leichten Achselzucken. »Lästig, sonst nichts. Bei dir alles in Ordnung?«

»Bestens«, antwortete sie und zwang sich, die Augen auf ihn gerichtet zu halten, nicht mit dem Blick hinüberzuflackern, dorthin wo Raffy stand, wie sie wusste, und sie anstarrte und wollte, dass sie seinen Blick erwiderte. »Und bei dir? Geht’s dir gut? Und deiner Familie?«

»Sehr gut.« Selbst wenn Lucas lächelte, bekam sein symmetrisches Gesicht kaum Falten. Er war vollkommen, genau wie alle immer sagten. Sein Blick würde niemals flackern, denn As flackerten nie. Flackern war Schwäche. Lucas wusste nichts von Gefühlen, Ängsten oder Träumen, die einen verzehrten und erschreckten. Er trug seine Haare zweckmäßig kurz und seine Kleidung war nie zerknittert. Nie hatte sie erlebt, dass sein Temperament mit ihm durchging, dass er die Beherrschung verlor. Das genau war es, was gut sein bedeutete – jetzt verstand sie es ganz plötzlich.

Und genau deshalb hassten die Menschen Raffy. Christine sah nicht Leidenschaft in seinen Augen, sondern nackte, gefährliche Maßlosigkeit.

»Und dein Bruder?« Der Satz war ihr herausgerutscht, bevor sie es verhindern konnte. Es gab keine Rettung für sie. Es gab keine Hoffnung. »Ich habe gesehen, dass er …«

»Raphael geht’s gut«, warf Lucas rasch ein. Das Lächeln war auf seinem Gesicht eingefroren. »Es wird ihm jedenfalls gut gehen. Das System wird ihn genau im Auge behalten.« Er schob den Ärmel zurück und sah auf die goldene Armbanduhr, die Raffy so verachtete. Die Armbanduhr war am Tag nach der Festnahme des Vaters an Lucas’ Handgelenk aufgetaucht; Raffy meinte, das sei die Belohnung dafür gewesen, dass Lucas seinen Vater verraten hatte. Evie bemerkte nun, dass auch sie beim Anblick der Uhr unwillkürlich zurückschreckte. Das System wollte Raffy also im Auge behalten. Was genau bedeutete das? Woher wusste Lucas Bescheid? »Noch wichtiger ist aber«, fuhr er fort, »ich muss an einem der nächsten Abende bei euch zu Hause vorbeikommen. Ich werde mir morgen bei deinem Vater die Einladung besorgen. Falls es dich glücklich macht?«

»Aber natürlich«, sagte Evie und wünschte, es würde sie wirklich glücklich machen und nicht in Verzweiflung stürzen.

»Wunderbar. Dann gib acht auf dich. Bis bald, Evie.« Er beugte sich vor, um sie zu küssen. Evie hatte ihn noch nie geküsst und sie erstarrte. Was sollte sie tun? War das erlaubt, hier bei der Arbeit? Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass Lucas nicht nur Abteilungsleiter war, sondern auch ihr Verlobter. Also war es erlaubt – wenn es von ihm ausging. Sie neigte sich ihm entgegen, wandte das Gesicht aber im letzten Moment ein kleines bisschen ab, sodass Lucas ihre Lippen nicht ganz traf und der Kuss etwas seitlich landete. Ein sparsamer Kuss. Ganz anders als Raffys Küsse. So schnell, wie er den Kopf zu ihr hinbewegt hatte, zog er ihn wieder zurück; noch ein kurzes Lächeln, und weg war er, unterwegs zum Unterabteilungsleiter.

Evie sah ihm einen Augenblick lang nach und fragte sich, was er wohl dachte. Dann fiel ihr ein, dass er überhaupt nicht dachte. Er konzentrierte sich auf die Arbeit, darauf, produktiv zu sein und ein guter Bürger. Genau wie der Bruder sagte: Ein wirklich guter Bürger dachte ziemlich wenig. Das Denken besorgten das System und der Große Anführer für ihn. Man brauchte nur zu tun, was von einem verlangt wurde, mit Anstand und mit Entschlossenheit für das Gute, ehrenhaft und treu ergeben.

Langsam drehte Evie sich um und ging zurück ins Bürogebäude. Sie wollte gerade durch die Tür, als sie hinter sich Schritte hörte – rasche, hastige Schritte. Sie blieb stehen, trat zur Seite und erstarrte. Es war Raffy und sein Aufseher rannte hinter ihm her. »Raphael, nicht rennen. Kommen Sie zurück. Kommen Sie …«

Als er an ihr vorbeirannte, stolperte Raffy und fiel auf sie; Evie keuchte, vor Schreck darüber dass sie ihn berührte, und vor Überraschung und Erregung über sein Gewicht auf ihr.

»Küss ihn nicht noch einmal«, zischte er leise, während er sich mit der Hand an der Wand abstützte und sich hochzog, sodass es aussah, als sei er unabsichtlich gestürzt. »Nie wieder.«

»Na los!«, brummte der Aufseher ungeduldig. »Tut mir leid«, meinte er zu Evie.

»Nein, ich … kein Problem«, entgegnete sie.

»Entschuldigung«, sagte Raffy laut zu ihr und zu dem Aufseher. »Ich bin ausgerutscht. Es tut mir wirklich leid.«

Der Aufseher seufzte müde und führte Raffy ins Gebäude. Während er sich abwandte, formte Raffy mit den Lippen »Bis heute Nacht«, dann war er fort. Evie blickte den beiden nach und ging dann rasch in ihre Abteilung zurück.

»Wenn das nicht Liebe ist – du siehst furchtbar aus«, spottete Christine leise herüber, als Evie sich kurz darauf wieder an ihren Platz setzte. »Kannst du es wirklich nicht aushalten, eine Minute ohne ihn zu sein?«

Evie lief feuerrot an, während der Computer hochfuhr. Sie wusste keine Antwort auf diese Frage. Christine sprach natürlich über Lucas, aber Evie sah nur Raffys Lippen und seinen wütenden, verletzten Blick. Und dazu Lucas’ Stimme, die ihr sagte, dass man Raffy im Auge behalten würde. Und da war ihr mit einem Mal klar, dass sie Schluss machen musste, dass es aus war zwischen ihr und Raffy. Weil er niemals auf einem Pferd in die Abteilung geritten kommen und sie an einen Ort entführen würde, von dem sie wusste, dass es ihn nicht gab. Sie würde Lucas heiraten, und zu hoffen, dass das nicht geschehen würde, machte die Sache für alle nur noch schlimmer.


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