Kapitel 12

In Mostar gingen vierzehn Tage wie im Fluge herum.

Erika erholte sich von der Operation erstaunlich schnell, vor allem, weil Professor Kraicic mehrmals eine Bluttransfusion gab und Erikas Widerstandskraft mit Injektionen von Hormonen und Vitaminen stärkte.

»Wie sind Ihre weiteren Pläne?« fragte er nach zehn Tagen Karl Haußmann.

»Wie Sie mir geraten haben: Ab nach Venedig, und vier Wochen Nichtstun und nur glücklich sein.«

»Und sonst.?« Professor Kraicic sah Haußmann fragend an, ein Blick von Mann zu Mann. »Auch alles in Ordnung?«

»Ja.«, antwortete Haußmann. Er kam sich mickrig vor diesem Arzt gegenüber, der ihn mit seinen gütigen und doch zwingenden Augen sofort durchschaut hatte. »Alles.«

»Ihre Sekretärin?«

»Ist bereits seit Tagen in Deutschland.«

»In Ihrem Betrieb?«

»Nein. In Wiesbaden. Sie hat gekündigt und tritt eine Stelle in einer Sektkellerei an, Baron von Bronneck.«

Professor Kraicic nickte. »Dann werden Sie das Wunder erleben, wie schnell ein Mensch heilen kann. Nicht nur die Operationswunde verheilt ... auch der seelische Schmerz.«

»Welch ein Glück, daß wir nicht allein dem HTS ausgeliefert waren«, sagte Karl Haußmann.

»Es hätte in diesem Fall wenig geholfen, nein, gar nichts. Aber es scheint doch, als wenn man dem Kollegen Zeijnilagic Unrecht getan hätte. Die staatliche Gesundheitsbehörde hat nach vielen Protesten, vor allem aus dem Ausland, die Herstellung der HTS-Kap-seln wieder freigegeben. Aber nun unter ständiger Kontrolle. Die chemische Fabrik Bosna-Lijek in Sarajewo, Blagoja Parovica, stellt sie jetzt her und gibt sie zu Forschungszwecken, aber auch an Patienten und Ärzte kostenlos ab.«

»Sie helfen also wirklich?« fragte Haußmann.

»Das müssen wir abwarten.« Professor Kraicic sah aus dem Fenster hinaus in den etwas staubigen, sonnendurchglühten Klinikgarten. »Ich habe auch einige hundert Kapseln kommen lassen. Ich habe neun inoperable Krebsfälle auf Station I. Eine wichtige Veränderung im Allgemeinbefinden haben wir festgestellt, und sie sind wertvoll für einen Krebskranken, dessen psychologische Betreuung mit am Anfang jeder Therapie steht: Das HTS regt den Appetit des Kranken an, fördert die Verdauung, hebt sein allgemeines körperliches Befinden und gibt ihm durch diese Kleinigkeiten neuen Lebensmut. Außerdem wirkt HTS schmerzlindernd und befreit den Kranken von starken Schmerzen ohne das Gift des Morphiums. Interessant ist, daß HTS auch hilft bei Ulcus, Gastritis chronica und rheumatischem Ischias. Natürlich müssen eingehende Kontrollen durchgeführt werden, deshalb ist es leichtsinnig, einem Kranken das Mittel ohne ärztliche Betreuung zu geben. Kommt erneut Fieber auf, zeigt sich Durchfall, läßt der Kranke innerhalb von vierundzwanzig Stunden weniger als einen halben Liter Urin, dann muß man unterbrechen. Außerdem soll man das HTS mit einer Hormon-Polyvitamintherapie unterstützen ... es ist nicht damit getan, daß man HTS nimmt wie ein Bonbon. Auch bei Wundermitteln braucht man den Arzt.«

»Und wenn der Arzt das Mittel ablehnt?«

»Dann ist er ein kurzsichtiger Arzt. Revolutionen in der Medizin beginnen nicht immer im Großlabor. Und Borniertheit hat noch keinem Patienten geholfen. Ich weiß.« Professor Kraicic hob die Hand, als Haußmann etwas entgegnen wollte. »Ich kenne die Trägheit der meisten Ärzte. Da hat man eine große Praxis mit täglich sechzig bis hundert Patienten, die man gar nicht individuell untersuchen kann. Und da legt man sich zehn Stammrezepte zu, die man verteilt. Ein bißchen Theater vorweg . Zunge zeigen, hier und dort drücken, Blutdruck messen, wenn's hoch kommt, Abhören mit dem Stethoskop ... und dann Rezept Nr. 7! - Ich weiß das alles, Herr Haußmann! Aber viel schuld ist Ihr System mit den Krankenscheinen. Das verleitet zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum. Bei uns ist das anders. Wir sind Staatsbeamte. Das Gesundheitswesen ist staatlich. Die Behandlung der Kranken ist frei. Wir bekommen ein Gehalt. Die Jagd nach dem Krankenschein ist vorbei. Und wir haben Zeit und vor allem Interesse für den Menschen; wir brauchen nicht um eine volle Kartei zu ringen. Bei uns ist der Kranke nicht Inhaber eines Krankenscheins, der ein Vierteljahr Sicherheit für den Arzt bedeutet, sondern ein Teil unseres Volkes, das man gesundhalten muß. Damit das ganze Volk, unser Staat gesund bleibt.«

»Erzählen Sie das mal in Deutschland.« Haußmann lächelte sauer. »Die Ärzte würden sich zusammenfinden, Sie für irr erklären und in einer Heilanstalt verschwinden lassen.«

Professor Kraicic nickte wieder. »Ich weiß. Das unterscheidet uns von der kapitalistischen Welt. Darum geben wir auch das HTS kostenlos ab. Als es verboten wurde, wurde eine Kapsel HTS mit zwei Gramm purem Gold auf dem Schwarzmarkt gehandelt. So etwas ekelt uns an. Diese Geschäftemacher mit der Todesangst sollte man aufknüpfen.«

Haußmann schwieg. Er sah Kraicic in die ernsten Augen. Jetzt ist er wieder Orientale, dachte er. Aufknüpfen. Das sagt er, der große Chirurg von Mostar. Welches Rätsel ist doch der Mensch!

Ein Rätsel und ein Wunder geschah aber wirklich in diesen Tagen: Lord Rockpourth stand aus dem Bett auf und bewegte sich auf seinen eigenen Beinen. Er ging.

Zwar noch am Arm von zwei Pflegern, aber er bewegte die Beine, trat auf und stieß bei jedem Schritt, den er tat und bei dem er die Dielen unter seinen Fußsohlen spürte, einen schnaufenden Laut aus.

»Sehen Sie sich das an, Sir!« sagte er, als Haußmann ihm auf dem Flur begegnete. »Die Mohammedaner kriegen hin, was Christen und Mongolen nicht fertigbrachten: Ich gehe wieder! Ihre ehrliche Meinung, Sir: Was halten Sie davon, wenn ich zum islamischen Glauben übertrete und mich Ali Achmed Ben Jussuf nenne?«

Haußmann lachte schallend. Lord Rockpourth verzog das Gesicht und humpelte am Arm seiner Pfleger weiter.

Er war ein Paradepatient geworden. Jeder Kommission, die aus Belgrad, Sarajewo oder Zagreb kam, und sie kamen laufend, um die HTS-Erkenntnisse auszutauschen, zeigte Professor Kraicic den unheilbar Krebskranken< Lord Rockpourth.

»Ich komme mir vor wie ein Pavian, der statt eines roten Hinterns einen blauen hat!« sagte Rockpourth einmal zu Haußmann. Es war am vierzehnten Tag. Sie saßen auf einer schattigen Bank im Garten und fütterten große, unbekannte, rotschillernde Vögel mit Brotkrumen. Erika ging langsam mit einer Schwester im Rosengarten spazieren. Sie war noch schwach, aber ihr Gesicht hatte alles Leid verloren, selbst die Fältchen an den Augen und im Mundwinkel waren wie weggestrichen. Wie jung sie wieder aussieht, dachte Hauß-mann, als er zu ihr hinüberblickte. Wer traut ihr zwei erwachsene Kinder zu? Verdammt, gegen sie bin ich ja ein alter Mann.

»Ich lade Sie ein nach Old England«, sagte Rockpourth. »Mein Schloß ist Ihr Schloß, Sir. Ohne Sie wäre ich noch immer eine Mumie oder vielleicht schon vertrocknet! Daß wir uns auf dem >Schiff der Hoffnung< kennenlernten, war wirklich eine Schicksalsfügung! Wo ist eigentlich Marion?«

»Fort«, sagte Haußmann kurz.

»Oha! Krach?«

»Es gehörte zur Therapie«, sagte Haußmann dunkel.

»Verstehe.« Lord Rockpourth zupfte Haußmann am Hemd. »War ein herrliches Körperchen, mein Lieber. Aber im Hirn war Ebbe. Alles hatte sich eine Etage tiefer etabliert! Wir sind für solche architektonischen Extravaganzen zu alt, Sir. Ich bewundere Sie ehrlich, daß Ihre Frau mit Ihnen noch zufrieden sein kann. Ihre Frau ist wie eine voll erblühte Rose. Sie sollten Angst haben, daß nicht auch andere an dem Duft schnuppern!«

»Bei Erika.« Haußmann lächelte und sah hinüber zu seiner Frau. Sie stand in der Sonne, und ihr Haar funkelte kupfern. »Sie ist die treueste Frau, die es gibt.«

»Man soll nie so sicher sein! Man sollte sich immer bemühen, nie als überflüssig zu gelten.«

Haußmann verstand und erhob sich von der Bank. »Wie lange bleiben Sie noch in Mostar, Mylord?«

»Der Professor sagte was von einem halben Jahr. Und dann gehe ich an die Küste. Wenn ich an das winterliche, nebelige London denke ... nicht auszumalen! Aber Sie besuchen mich im nächsten Jahr?«

»Ganz sicher, Mylord.«

»Schön! Und nun kümmern Sie sich um Ihre Frau.« Lord Rockpourth hielt Haußmann wieder am Hemd fest und zog ihn zu sich herab, als könne jemand anderes seine Worte hören. »Übrigens -Ihre Frau ist viel hübscher als diese Marion!«

»Das weiß ich, Mylord.«

»Dann waren Sie bisher ein Rindvieh. Gehen Sie, ich habe kein Mitleid mit Ihnen!«

Beschwingt ging Haußmann in den Rosengarten und faßte seine Frau unter.

»Der Professor meint, in vier Tagen könnten wir fahren«, sagte er und führte sie den geharkten Weg entlang. »Das Hotelzimmer in Venedig ist schon bestellt.«

»Ist das nicht alles wie ein Wunder, Karl? Ich fühle mich wie ein ganz anderer Mensch. Ich fühle mich so jung.«

Sie umarmte Karl und gab ihm einen Kuß. Wie ein junges Mädchen benahm sie sich. Haußmann atmete tief auf.

»Wenn das so weitergeht, bekomme ich Komplexe«, sagte er. »Was muß ich tun, um mit deiner neuen Jugend mitzuhalten?«

»Ganz lieb zu mir sein!«

Es wurde ein besonderer Tag.

Professor Kraicic hatte angeordnet, daß nach dem Abendessen niemand mehr das Zimmer Erika Haußmanns betreten dürfe. Die Stationsschwester beherzigte diesen Befehl, aber gegen 22 Uhr rief sie doch sorgenvoll den Klinikchef an.

»Herr Professor«, sagte sie, »Herr Haußmann überzieht die Besuchszeit sehr. Er ist noch immer im Zimmer. Wenn ich ihm aber Bescheid sage, muß ich es betreten.«

»Sagen Sie ihm keinen Bescheid«, meinte Kraicic.

»Aber wenn er die ganze Nacht bleibt?«

»Dann bleibt er eben.«

»Herr Professor.«

»Vergessen Sie's, Schwester. Gute Nacht!«

Und Karl Haußmann blieb auf dem Zimmer.

Bei der Visite am nächsten Morgen sah Kraicic lange auf Erika herunter, die - so war die Anordnung - bei der Visite noch zu Bett lag.

»Wie fühlen Sie sich, Erika?« fragte der Professor vertraulich.

»Sehr gut.« Erika wurde etwas rot und sah zur Seite. Kraicic lächelte.

»Ab heute haben Sie alle Rechte einer Gesunden«, sagte er laut. »Die Heilung ist vollendet.«

Die Proteste gegen das Verbot des HTS hatten vollen Erfolg. Die Abordnung der Kranken, die Tito persönlich vorließ, hinterließ einen großen Eindruck. Die Ärzteschaft, so schwer es ihr fiel, mußte zugeben, daß an dem Mittel des Dr. Zeijnilagic etwas Gutes dran sei. Man könne zwar von keinem >Krebs-Wundermittel< reden, denn so etwas würde es nie geben, aber das HTS wäre eine gute Hilfe bei der symptomatischen Behandlung des Krebses. Das war zwar eine

Abwertung und hieß soviel wie: Es nutzt nichts, aber es schadet auch nicht, aber die Fabrik Bosna-Lijek durfte produzieren; der Makel des Scharlatans war von Dr. Zeijnilagic genommen; die Krankenhäuser in vielen Staaten begannen mit Versuchsreihen; die Wissenschaft, die sonst alle Außenseiter ignoriert, nahm sich das HTS an und machte Experimente ... aber von da an wurde es stiller um Dr. Zeijnilagic; das >Schiff der Hoffnung< wurde wieder ein normales Fährschiff zwischen Bari und Dubrovnik, die Hotels in Sarajewo hatten wieder Zimmer zu jeder Zeit frei, und die Journalisten reisten ab, um in anderen Teilen der Welt nach Sensationen zu suchen.

Die große Schau war vorbei. Das Geschäft mit den Kranken ging rapide zurück. Der Reiz der Neuheit verblaßte. Das Ungewöhnliche verblühte. Übrig blieb ein Heilmittel, das ein Chemiekonzern herstellte wie andere Pyramidon oder Calcium; das man in die Hand bekam, ohne dafür ein Abenteuer zu erleben. Das >Wunder< wurde Alltag. Und der Name Dr. Zeijnilagic wurde vergessen.

Wenn man heute einen Arzt fragt, in Bonn oder Hamburg, München oder Offenburg, London oder Kopenhagen: Kennen Sie Dr. Zeijnilagic, dann wird er einen nachdenklich ansehen, in der Erinnerung suchen und dann den Kopf schütteln.

Strohfeuer einer Tagessensation oder Tragik eines Genies?

Wer kann das beurteilen?

Wir wissen nur eins: In aller Welt warten Millionen Krebskranke auf ihre Rettung.

Millionen hoffen.

Millionen sterben.

Jeder fünfte von uns stirbt an Krebs.

Warum ist die Menschheit nur so gleichgültig.?

Dr. Zeijnilagic trug diese Entwicklung mit der Ruhe des echten Moslems, dem alles Schicksal von Allah gesandt ist, eine göttliche Fügung, gegen die man sich nicht auflehnen kann. Er forschte weiter, er behandelte seine Zahnkranken, hielt Vorlesungen in der zahnärztlichen Fakultät, gab das HTS den wenigen Bittenden, die noch immer an seine Tür in der Obala-Straße 40, nahe der Princip-Brücke, klopften und sagten: »Bitte, bitte, helfen Sie mir. Mein Vater ... meine Mutter . meine Schwester . mein Kind. Erbarmen Sie sich, Doktor.«

Aber es waren nicht mehr viele. Die Nachricht über das Verbot war stärker haftengeblieben als die Meldung der Wiederfreigabe. Das Verbot brachten die Zeitungen in zwei-, drei-, oder gar vierspalti-gen Artikeln . die Freigabe war eine kleine Meldung irgendwo am Rande, wo man drüber wegliest.

»Was wollen Sie?« sagte Dr. Zeijnilagic, als sich Hellberg über diese Ungerechtigkeit aufregte. »Es steht dort veröffentlicht. Wenn mein HTS statt langsamer Heilungen plötzlich hundert Vergiftungstote gebracht hätte, dann stünde es wieder auf der Titelseite. Das Normale, mein Lieber, ist uninteressant.«

Er sagte es mit einem traurigen Lächeln, rauchte seine Zigarette und trank Tee.

Hellberg und Claudia verabschiedeten sich von ihm. Zwei Tage vorher hatte es ein Zusammentreffen zwischen Haußmann und Hellberg in Sarajewo gegeben. Da Frank nicht nach Mostar gekommen war, reiste Haußmann nach Sarajewo.

Sie trafen sich in der Bar des Hotels Europa. Nur sie allein. Erika war in Mostar geblieben und hörte sich die Komplimente von Lord Rockpourth an; Claudia blieb im Hotel Beograd und saß auf dem Balkon unter einem Sonnenschirm.

»Guten Tag, Frank«, sagte Haußmann und gab Hellberg die Hand.

»Guten Tag, Herr Haußmann.«

Sie sahen sich in die Augen und wußten, daß dies ihre letzte Begegnung war.

»Ich glaube, ich habe Ihnen einige Erklärungen abzugeben«, sagte Haußmann stockend und sah in sein Cocktailglas.

»Wegen Marion? Nein!«

»Ich will versuchen, Ihnen klarzumachen, warum das alles.«

»Wozu, Herr Haußmann?« Hellberg winkte ab. »Ich liebe Claudia, und wenn es vielleicht auch eine unglückliche, eine todgeweihte Liebe ist - von Marion wollen wir nicht mehr sprechen.« »Ich danke Ihnen, Frank.« Haußmann legte seine Hand auf Franks Arm. »Sie nehmen einen großen Druck von mir.«

»Das Geld, das Sie mir in Bari gaben.«

»Kein Wort mehr davon!« sagte Haußmann laut.

»Doch! Ich zahle es Ihnen ab.« Hellberg zog ein Telegramm aus der Tasche. »Bitte, betrachten Sie das als eine Art Schuldschein oder Sicherheit. Die Redaktion der in unserem Verlag erscheinenden Illustrierten hat die HTS-Story für eine große Serie aufgekauft. Die erste Folge habe ich schon geschrieben. Ich werde Ihnen das Geld in acht bis zehn Wochen zurückgezahlt haben.«

Haußmann nahm das Telegramm, überflog es und zerriß es. »Ich bin beleidigt, wenn Sie auch nur einen Pfennig schicken, Frank. Was wird mit Claudia?«

»Wir fahren nach Heidelberg. Dort soll sie operiert werden.«

»Schwerer Fall?« Haußmanns Stimme wurde leise. Hellberg atmete tief auf.

»Sicherlich kein leichter. Aber die Heilungschancen sind da, wenn keine Metastasen-Ausstreuung vorhanden ist. Das will Dr. Zeijni-lagic mit dem HTS verhindern. Ich glaube daran, daß es ihm gelingt.«

»Und Heidelberg, das ist klar?«

»Ich hoffe.«

»Sie haben noch keine Zusage, kein Bett, keinen Termin?«

»Nein.«

»Und die Kosten? Es wird ein paar tausend Mark verschlingen.«

»Ich habe das Honorar der Artikelserie.«

»Und wovon wollen Sie heiraten? Frank, Sie sind ein sturer Hund. Ich übernehme alles! Fahrtkosten, Operationskosten, ein Zimmer I. Klasse, eine sechswöchige Erholungsreise.«

»Nein!«

»Verdammt noch mal! Doch! Keine Widerrede! Ohne Sie, ohne alle die Verwicklungen in unserem Leben wären wir nie nach Mo-star gekommen, hätte ich nie wieder eine gesunde Frau bekommen. Das Schicksal geht oft komische und krumme Wege, aber man soll ihm immer dankbar sein.« Haußmann trank sein Glas aus und gab Hellberg beide Hände. »Frank, kümmern Sie sich nur noch um Ihre Claudia. Alles andere überlassen Sie mir! Wir werden uns, so nehme ich an, nicht mehr sehen, aber wir werden immer voneinander hören. Leben Sie wohl, Frank, und viel, viel Glück mit Ihrer Claudia, so wie ich es mit meiner Erika habe.«

»Herr Haußmann.« Hellberg wollte hinter Karl herlaufen, der aus der Bar hinausging. Dann besann er sich, blieb sitzen, trank noch einen doppelten Kognak und fuhr dann zurück zum Hotel Beograd.

Karl Haußmann hielt Wort. Nach drei Tagen traf aus Heidelberg, von der I. Chirurgischen Klinik, die Nachricht ein, daß ein Bett I. Klasse am 2. September frei sei. Operationsbeginn sei völlig unbestimmt, da man ja erst die Kranke genau untersuchen und diagnostizieren müsse.

»Am 2. September«, sagte Hellberg und sah auf seinen Kalender. »Hast du Angst, Claudia?«

Sie schüttelte den schmalen Kopf mit den langen, schwarzen Haaren. Ihre Rehaugen glänzten. »Du bist ja da, Liebster.«

»Dr. Zeijnilagic hat versprochen, daß du nach den HTS-Kapseln so stark sein wirst, die Operation ohne weiteres zu überstehen.«

»Ich habe gar keine Angst.« Claudia schüttelte den Kopf. »Ich muß ja gesund werden, um deine Frau zu werden. Dieses Müssen ist stärker als jede Medizin.«

Und dann kam der Tag heran, an dem Hellberg und Claudia aus Sarajewo abreisen mußten. Der 2. September war nicht mehr weit; sie mußten einen Umweg über Belgrad machen, um bei der italienischen Botschaft vorzusprechen, der sie ihre abenteuerliche Reise nach Sarajewo genau geschildert hatten. Fast vierzehn Tage lang hörten sie nichts aus Belgrad, dann kam ein Brief der Botschaft, nach dessen Lesen Claudia im Kreise herumzutanzen begann.

».Wir haben Ihre Angaben in Bari nachprüfen lassen und können Ihnen zu unserer Freude mitteilen, daß Ihr Paß bei dem inzwischen gefaßten Mörder gefunden wurde. Wir haben um die Zusendung des Passes nach Belgrad gebeten, und Sie können ihn in den nächsten Tagen in der Italienischen Botschaft, Konsularabtei-lung, Zimmer 19, abholen.«

»Ich habe meinen Paß wieder! Ich habe ihn! Ich habe ihn!« jubelte Claudia. »Nun gibt es gar keine Schwierigkeiten mehr, nach Deutschland zu kommen.«

Der Abschied von Dr. Zeijnilagic war herzlich.

»Gott segne Sie«, sagte Dr. Zeijnilagic und legte die Hände auf Claudias Kopf. »Und glauben Sie ganz fest daran, daß Sie gesund werden.«

Dabei sah er Frank Hellberg an, und Frank erkannte die Sorge in seinen Augen.

»Es ist schon viel besser geworden, Doktor«, sagte er. »Wenn Claudia hustet, hat sie nicht mehr diese stechenden Schmerzen. Sie ißt mit Appetit - und sehen Sie nur ihr Gesicht! Sie hat sogar leicht rote Backen. Sie fühlt sich viel wohler als zuvor; so wohl, wie seit zwei Jahren nicht mehr!«

»Das ist ein gutes Zeichen.« Dr. Zeijnilagic sah Claudia lange stumm an. Er fühlte ihr den Puls, maß den Blutdruck, kontrollierte die Durchblutung der Schleimhäute und bat sie, sich noch einmal auszuziehen. Zum letztenmal hörte er sie mit dem Membranstethoskop ab. Ein zartes, zerbrechliches Körperchen von porzellanhafter Schönheit. »Sie haben Monate wieder aufgeholt«, sagte er, als Claudia wieder angezogen war. »Ich bin ehrlich glücklich. Ich hätte es selbst nicht erwartet.«

»Ihr HTS, Doktor«, sagte Hellberg heiser vor Ergriffenheit.

»Oder die Liebe.« Dr. Zeijnilagic lächelte und reichte beiden die Hand. »Man hat die therapeutischen Möglichkeiten der Liebe noch nicht gründlich erforscht. Aber es wird noch kommen! Ich behaupte, daß die Liebe wichtiger ist als mancher Berg verschluckter Tabletten.«

Er brachte Claudia und Frank bis auf die Obala-Straße und winkte ihnen nach, bis sie in die Straße zum Hotel Beograd einbogen.

Ein großer, einfach gekleideter Mann, dem niemand ansah, was er für die Menschheit bedeuten könnte.

Dann trat er zurück in sein Haus Nr. 40, stieg die schmuddelige Treppe hinauf zum zweiten Stockwerk und betrat wieder seine bescheidene Wohnung. Großmutter Naifa kochte, Meliha, die älteste Tochter, deckte den Tisch. Emina, seine Frau, ordnete die Post.

Dreiundzwanzig Briefe aus allen Ländern.

Bitte, schicken Sie uns HTS.

Doktor, helfen Sie.

Der Tag ging weiter.

2300 v. Chr. Geburt, im Neolithikum, wohnten schon Menschen an der Miljacka und an der Zeljeznica. Butmir nannten sie ihr erstes Dorf.

Seitdem waren 4.265 Jahre vergangen. Und 5.000 würden noch kommen.

Was bedeutet da dieser Tag im Leben Dr. Zeijnilagics, ein Tag, an dem er sah und hörte, daß sein Mittel HTS wieder einen Erfolg hatte.

Auch Karl und Erika Haußmann verließen in diesen Tagen Mo-star. Sie flogen nach Triest und wollten von dort übersetzen nach Venedig. Ihren Wagen würde ein Chauffeur abholen.

Professor Kraicic verabschiedete Erika wie eine eigene Tochter; Karl Haußmann nahm er noch einmal zur Seite.

»Noch eins«, sagte er mit allem Ernst. »Ihre Frau wird nach dieser Operation - wir mußten ja eine Totalexstirpation machen - zunehmen. Sie wird fülliger werden. Das ist kein Anlaß, nach Schlanken zu sehen! Es ist das Opfer, das Ihre Frau bringt, um für Sie völlig gesund zu sein.«

»Ich weiß, Herr Professor.« Haußmann spürte wieder Scham in sich aufsteigen. »Unsere Ehe wird mustergültig sein.«

Kraicic gab Haußmann die Hand. Es war wie ein Eid zwischen den Männern.

Lord Rockpourth ließ es sich nicht nehmen, die Haußmanns in seinem inzwischen reparierten Rolls zum kleinen Flugplatz zu fahren. Der Chauffeur und Haußmann führten Rockpourth zum Wagen, dort setzte er sich, klopfte gegen die Tür und begann wieder zu kommandieren.

»Los! Immer diese langen Abschiede. Das ist zum Kotzen! Fahr, du Träne!« Er stieß den Chauffeur in den Rücken und schimpfte die ganze Fahrt über auf das Personal, insbesondere auf die Chauffeure, die alle Gauner seien und Benzin verkauften, das sie aus dem Tank der Herrschaftswagen zögen.

Und dann blieb auch Lord Rockpourth zurück und wurde Erinnerung. Auf dem Flugplatz stand er, noch immer eine Mumie, aber er konnte wenigstens wieder aufrecht gehen, stützte sich auf seinen Chauffeur und winkte mit seinen Mumienfingern dem kleinen, sechssitzigen Flugzeug nach, das schnurrend in die Luft stieg. Hinter den Fenstern winkten Karl und Erika Haußmann zurück.

»Ob wir ihn wiedersehen?« fragte sie, als sie in einiger Entfernung noch einmal an ihm vorbeiflogen.

»Wir sollen nächstes Jahr nach England kommen.«

»Willst du das?«

»Ich weiß nicht. Wer kann sagen, was nächstes Jahr ist.«

»Ob er dann noch lebt.«

»Es scheint, er gehört zu den Unsterblichen.«

Das kleine Flugzeug hob vom Boden ab, schwebte in den blauen Himmel, stieg den wenigen, weißen, geballten Wolken entgegen.

Erika lehnte den Kopf an Karls Schulter und sah hinaus in das endlose Blau, in das sie hineinschwebten.

»Venedig.«, sagte sie. »Morgen sind wir in Venedig. Der Lido . der Markusplatz.«

».der Campanile ... der Canal Grande ... Santa Maria della Salute ... der Markt in Chioggia ... die Glasbläser von Murano ... der Dogenpalast.«

»Ich komme mir vor, als sei ich zwanzig«, sagte Erika leise und tastete nach Karls Hand. »Wir machen unsere Hochzeitsreise.« »Und wir fangen unsere Ehe wieder ganz von vorn an.«

»Ja, Karl.«

Sie küßten sich und kümmerten sich nicht um die anderen Fluggäste.

Hochzeitsreisende dürfen das. Sie haben die Freiheit der Glücklichen.

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