Kapitel 6

Am Abend dieses Tages fand Karl Haußmann einen Zettel der Polizei an der Windschutzscheibe seines Wagens auf der Piazza Garibaldi. Eine Bitte, sofort zur Landespolizei zu kommen.

Im Dienstzimmer des Polizeichefs war reges Leben. Offiziere und Polizisten kamen und gingen, das Telefon rasselte ununterbrochen, eine Sekretärin nahm im Stenogramm die einlaufenden Meldungen auf.

»Ein Irrenhaus, Signore!« sagte der Polizeichef zu Karl Haußmann und zog ihn an das Fenster, wo sie allein waren. »Vier dicke Sachen auf einmal: ein Überfall auf der Straße nach Foggia. Ein schweres Omnibusunglück bei Gioia - leider sieben Tote, alles Schwestern, die auf einer Wallfahrt waren. Ein Großbrand bei Bitonto, drei Lagerhäuser in Flammen. Ja, und den Mörder haben wir auch.« Der Polizeichef griff in die Tasche und hielt Haußmann ein dünnes Büchlein unter die Nase. »Der Paß von Signorina Torgiano. Der Mörder hatte ihn bei sich, um mit seiner Geliebten nach Afrika zu verschwinden. Sie sollte Claudia Torgiano werden. Der Kerl hat gestanden, er wollte noch zehnmal diese blödsinnigen Wunderpillen rauben und verkaufen, dann plante er sich abzusetzen. Es ist übrigens der Hausdiener der Pension, in der Ihre Bekannten gewohnt haben.«

Haußmann nahm den Paß und steckte ihn ein. »Die Aufklärung kommt ein paar Stunden zu spät«, sagte er.

»Wieso?« Dem Polizeichef wurde es heiß unter dem Kragen. »Ist etwas geschehen?«

»Noch nicht. Aber wir haben uns getrennt. Frank Hellberg und Fräulein Torgiano haben sich selbständig gemacht und wollen illegal nach Jugoslawien - eben, weil Claudia ohne Paß nicht hinausgelassen wird.«

»Ach so.« Der Polizeichef atmete auf und lächelte. »Warten Sie ab, die beiden werden spätestens morgen früh wieder bei Ihnen sein. Illegal nach Dubrovnik, das ist völlig ausgeschlossen. Die Überwachung der Küste hier und drüben in Jugoslawien ist perfekt. So etwas liest man in Romanen, die Wirklichkeit ist härter und einfacher. Passen Sie auf, Ihre Bekannten sind bald wieder da!«

»Und wenn nicht?«

»Dann fischt sie die Küstenwache auf. So oder so, sie kommen zurück!«

Von dieser Ankündigung alles andere als beruhigt, verließ Hauß-mann die Polizeidirektion von Bari und setzte sich in seinen Wagen. Erika und Marion warteten auf ihn.

»Strafe wegen Dauerparkens?« fragte Marion fröhlich.

»Nein. Der Paß von Claudia. Sie haben den Mörder!«

»Der Paß!« Erika nahm ihn aus Karls Händen und blätterte ihn durch. »Nun wäre alles so einfach. Wir haben für uns alle Fahrkarten. Es gäbe gar keine Probleme mehr. Karl, wir müssen die beiden suchen.«

»Aber wo, um Himmels willen?«

»Im alten Hafen, bei den Fischern, im Jachthafen. Ich nehme an, daß Frank mit einem Privatboot übersetzen will. Sie sind bestimmt im Hafen.«

»Suchen wir!« Haußmann startete. »Vielleicht haben wir zum zweitenmal Glück.«

Aber im Hafen sahen sie Hellberg und Claudia nicht. Auch als sie die Fischer und Matrosen fragten, die herumstanden, erhielten sie als Antwort nur ein Achselzucken. Der Abend senkte sich über Bari. Tausende von Lichtern flammten auf, ein Zauberreich leuchtete über das schimmernde Meer. Und ganz weit draußen, gegen den dunklen Horizont gut zu sehen, schwamm eine herrliche, weiße Jacht, mit bunten Lampen übersät wie auf einem prunkvollen Schiffskorso.

»Auf solch einer Jacht zu sein«, sagte Marion träumerisch. »Wie muß man sich da fühlen.«

»Vielleicht ist Frank schon darauf?« Es sollte scherzhaft klingen, und sie alle lächelten auch. Wenn Haußmann gewußt hätte, wie wahr seine Worte waren.

Es war um die gleiche Stunde, in der Frank Hellberg, umgezogen zum Abendessen, aus seiner Kabine wollte und plötzlich die Klinke in der Hand hielt. Die Tür aber war von außen abgeschlossen. Er klopfte, dann trommelte er mit den Fäusten, schließlich trat er mit aller Wucht gegen die Holzfüllung. Sie war massiv und gab nicht einen Millimeter nach.

Und irgendwo glaubte er einen Schrei zu hören. Einen Schrei aus hellster Angst. Die Stimme Claudias.

Mit einem weiten Anlauf warf sich Hellberg gegen die schwere Tür. Immer und immer wieder.

Einmal muß sie splittern, dachte er wütend und faßte an seine brennende, anschwellende Schulter. Einmal muß diese Tür aus den Fugen gehen.

Und er lief wieder dagegen an und warf sich gegen das massive, in der Verankerung knirschende Holz.

Nach dem siebenten Anlaufhielt er keuchend inne und rieb sich erneut die schmerzende Schulter. Nicht einen Millimeter hatte sich die schwere Tür bewegt. Zwischen dem Holzfurnier muß eine Stahlplatte sein, dachte Hellberg. Anders ist es nicht möglich. So hartes Holz gibt es nicht. Das ist eine schußsichere Stahltür, die man nur umkleidet hat mit Mahagoni.

Noch einmal wollte er es versuchen, obgleich er wußte, daß es sinnlos war. Er duckte sich, stemmte die Füße vom Boden ab und wollte sich wieder gegen die Füllung werfen, als die Tür von außen aufgeschlossen wurde. Ein junger, schwarzlockiger Mann in einem eleganten, weißen Anzug stand in dem schmalen Flur und sah verwundert auf den schwitzenden, geduckten, zum Sprung bereiten Hellberg.

»Was soll der Lärm, Signore?« fragte der Mann höflich. »Mißfällt Ihnen etwas? Dann bedienen Sie sich bitte des Bordtelefons; es wird sofort ein Steward kommen.«

Frank atmete tiefauf. Dann machte er einen weiten Satz, warfmit seinem Körper den jungen Mann zur Seite und stürzte an die Tür der gegenüberliegenden Kabine Nr. 6. Er riß sie auf.

Claudia Torgiano saß vor dem großen Toilettenspiegel und kämmte gerade ihr langes, seidenschwarzes Haar. Mit einem leisen Schrei fuhr sie auf, als Frank wie ein Irrer in die Kabine stürzte.

»Liebling!« rief er. »Was hat man dir getan? Warum hast du ge-schrien?« Er sah sich mit flackernden Augen um, aber Claudia war allein, niemand war in der Kabine.

»Wie siehst du denn aus?« fragte Claudia und lief auf Frank zu.

Sie umarmten sich und fühlten, daß sie beide zitterten. »Was ist denn geschehen, Frank?«

»Warum hast du geschrien, Liebling?«

»Ich habe nicht geschrien.«

»Aber ich habe es ganz deutlich gehört. Eine Mädchenstimme. Sie rief in höchster Not um Hilfe.«

Claudia schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gehört, Frank.«

»Mein Gott, ich bin doch nicht verrückt!« Hellberg lief zur Kabinentür Claudias. Das Holz war viel dünner und leichter. Es klang voll und schwang im Ton, als er mit den Knöcheln dagegentrommelte. Eine reine Holztür, ohne Stahleinlage und dünn genug, daß Claudia den Schrei viel deutlicher gehört haben mußte als er durch die eisenisolierte Tür. »Hier hat jemand geschrien«, sagte Hellberg und schloß die Kabine. Der junge Mann in dem weißen Maßanzug war nicht mehr im Flur. In der Aufregung hatte Frank ihn auch gar nicht vermißt. »Claudia, ich leide doch nicht unter Halluzinationen!« Hellberg setzte sich auf die Bettkante. Es war eine herrliches französisches Bett, mit gelber Seide bespannt und mit einem Tüllhimmel, der nachts indirekt beleuchtet werden konnte. »Da sind noch mehr Personen auf dem Schiff als Saluzzo, seine Mannschaft und wir. Irgendwo hält er andere versteckt.« Frank wischte sich über die Stirn und die Augen. Seine Hand zitterte etwas. »Ich habe das Gefühl, auf einer schwimmenden Insel des Teufels zu sein.«

An der Tür klopfte es. Höflich und diskret. Claudia ließ den Kamm fallen, ihre Augen weiteten sich vor Angst.

»Bitte?« sagte Frank Hellberg laut.

Umberto Saluzzo trat ein. Er trug einen nachtblauen Smoking mit seidenen Ärmelaufschlägen und eine dunkelrote Schleife auf einem gefälteltem Hemd. Im Knopfloch leuchtete eine blaß violette Zwergorchidee.

»Luigi Foramente beschwerte sich eben, Signore«, sagte er mit leicht tadelndem Ton. »Sie haben ihn gegen die Wand geworfen, obwohl er Sie höflich nach Ihren Wünschen fragte. Sie sind sehr nervös, lieber Hellberg.«

Frank blieb auf dem Bett sitzen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er Saluzzo. »Vorhin hat jemand geschrien!«

»Mag sein. Eine Möwe! Unser Smutje wirft die Küchenabfälle immer über Bord. Das lockt Möwen, Delphine, Tümmler, Tintenfische - und Haie an.« Vor dem Wort Haie machte Saluzzo eine wirkungsvolle Kunstpause. »Wir ankern in einem Gebiet mit Felsenriffen, Unterwasserriffen, um genau zu sein. Sie bilden einen idealen Schlupfwinkel für Haie und Kraken. Solange man an Bord ist, kann man sich der sicherste Mensch nennen. Niemand kann kommen, aber es kann auch niemand gehen.«

»Das haben Sie wundervoll gesagt, Saluzzo.« Hellberg faltete die Hände im Schoß. »Mit anderen Worten, ein doppeltes Gefängnis.«

»Wenn Sie meine Gastfreundschaft so auffassen, Signore.«

»Wir drehen uns im Kreis. Was haben Sie eigentlich mit mir vor?«

Saluzzo blickte auf seine goldene Armbanduhr. Die Manschettenknöpfe blitzten, sie waren aus Diamanten.

»In drei Stunden legen wir wieder ab und fahren zur jugoslawischen Küste.«

»Ich denke, es soll ein Arzt an Bord kommen und Claudia untersuchen?«

»Ach ja, der gute Professor. Da ist eine kleine Verzögerung eingetreten. Er wurde abgerufen zwischen meinem ersten und meinem zweiten Telegramm. Aber das ist nicht wichtig. Er wird in ein paar Tagen an Bord kommen.«

»Sie wollen uns nicht nach Dubrovnik bringen?« Hellberg sprang auf. »Wo fahren Sie mit uns hin?« schrie er.

»Claudia wird untersucht werden«, sagte Saluzzo höflich und machte in Richtung des zurückgewichenen Mädchens eine kleine Verbeugung. »Und wenn es nötig ist, werden wir dieses HTS aus Sarajewo besorgen. So viel, wie sie braucht. Allerdings, Signore Hellberg, werden Sie dann nicht mehr an Bord sein. Ich nehme an, daß Sie dann bereits vor der Küste der Cyrenaika kreuzen und auf ein Schiff aus Libyen warten.«

»Sie sind wahnsinnig, Saluzzo«, sagte Hellberg heiser vor Erregung.

»Was soll ich in Afrika?«

»Lassen Sie sich überraschen, Signore.« Saluzzo lächelte charmant. »Es ist meine Art, meine Gäste mit unvorhergesehenen Situationen zu unterhalten.« Saluzzo ging zur Tür zurück, ein eleganter, mit sich äußerst zufriedener Teufel. »Etwas kann ich Ihnen garantieren, Hellberg«, sagte er, bevor er hinaus in den Gang trat. »Sie werden Gelegenheit haben, von diesen Tagen einen Sensationsbericht zu schreiben. Bedauerlich nur, daß ihn niemand lesen wird!«

Die Tür klappte zu.

Hellberg stand starr mitten in der Kabine. Claudia hatte sich in die hinterste Ecke gedrückt, wie ein getretenes Hündchen.

Die Kampfansage war erfolgt. Keinen Zweifel gab es mehr über die Gnadenlosigkeit Saluzzos.

Afrika. Die Cyrenaika. Libyen.

Wohin trieb dieses Abenteuer, in das sich Hellberg eingelassen hatte? Was brachte der nächste Morgen?

Claudia und Frank schraken zusammen. Über ihnen, in der Decke, ertönte ein Lautsprecher.

»Bitte zum Diner, Signorina und Signore. Es ist gedeckt auf dem Oberdeck.«

»Gehen wir, Liebling«, sagte Hellberg rauh und faßte Claudia unter. »Und Kopf hoch, mein Kleines. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als mutig zu sein.«

Gegen Mittag schon sprach es sich herum, was an der Molo Fo-raneo geschehen war. Große Aufregung herrschte unter den Fahrgästen, die für diesen Tag ihre Überfahrtbilletts in der Tasche hatten, vor allem aber bei den Autofahrern, die ihren Wagen hinüber nach Dubrovnik bringen wollten.

Das große Fährschiff >Sveti Stefan< hatte einen Motorschaden. Die Reparaturen dauerten mindestens drei Tage, da Ersatzteile aus Jugoslawien herangeholt werden mußten. Statt des großen Schiffes fuhr nun ein viel kleineres über die Adria nach Dubrovnik. Ein altes, klappriges, ungepflegtes schwimmendes Museum, das sich >MS Budva< nannte. Es machte den Eindruck, als habe es zehn Jahre irgendwo in einer Hafenecke gelegen und still vor sich hin gerostet. Ein paar Farbtöne, schnell über das Schiff verspritzt, sollten nun die Tüchtigkeit für eine Seefahrt vortäuschen. Schlimmer noch aber war die Tatsache, daß die >Budva< nur fünfzehn Autos mitnehmen konnte und nicht, wie bei der schönen >Sveti Stefan<, auf einem besonderen Autodeck; vielmehr müßten die Wagen mit einem Kran an Oberdeck gehievt und dort mit Stricken vertäut werden.

»Nun wird der Mist komplett!« sagte Karl Haußmann, als er vor dem großen Einfahrtstor zum inneren Hafen die Polizeiabsperrung sah und schon von weitem das vielfache Geschrei protestierender Reisender hörte. Mit Marion Gronau war er noch einmal zum Hafen gefahren, um zu erfahren, wann die Einschiffung begann. Erika hatte sich etwas hingelegt, die Aufregung der vergangenen Tage war doch zuviel für sie. Außerdem hatte das Schicksal der schönen, jungen Griechin in dem Wohnwagen sie mehr ergriffen, als sie es wahrhaben wollte. So werde auch ich einmal daliegen, hatte sie gedacht. Aber ob Karl so um mich trauern wird wie der arme Eu-ponopolos? Ein häßlicher Gedanke, Erika wehrte sich dagegen, aber sie konnte ihn nicht abschütteln. Karls Haltung gegenüber Marion Gronau war in den letzten Tagen eher unhöflich als reserviert, und Marion schien erkannt zu haben, daß es sinnlos war, ihr Spiel -denn weiter war es nichts - fortzusetzen. Aber ganz tiefim Herzen blieb doch ein Stachel, eine Wurzel der Eifersucht, die niemand ausrotten konnte, wenn sie erst einmal gepflanzt war.

»Es stimmte also, was man in der Pension erzählte: Das große Schiff ist kaputt, und es fährt ein kleiner Kahn.« Marion lehnte sich aus dem Fenster. Autos standen seitlich des Tores, man hatte ihnen die Durchfahrt zur Mole sichtlich verweigert, und nun bestürmten die Fahrer mit wilden Armbewegungen die Polizeiposten. Nur Wagen mit sichtbar Kranken wurden durchgelassen. Ein großer Bentley aus England zum Beispiel, auf dessen Hintersitzen ein Mann lag, eingehüllt in Wolldecken trotz der Sommerhitze. Ein atmendes Gerippe.

Die Polizisten sahen in den schweren Wagen, eine Frau mit einem bunten Kopftuch hielt einen Zettel hin, und der Polizist nickte, die Postenkette löste sich, der Wagen fuhr langsam in den inneren Hafen zur Molo Foraneo.

Vielstimmiges Geschrei begleitete den Engländer. Die Postenkette der Carabinieri schloß sich wieder.

»Sie lassen nur Schwerkranke auf das Schiff«, sagte Marion.

Karl Haußmann nickte. Er hatte es auch gesehen.

»Fünfzehn Autos soll der Dreckskahn mitnehmen können«, sagte er bitter. »Himmel noch mal, was sind 15 Wagen? Und dann auf dem Oberdeck!«

»Warten wir, bis die >Sveti Stefan< wieder fährt.«

»Dann verfallen die Karten! Heute abend müssen wir an Bord, und wenn wir auf dem Schiff wie die Ölsardinen aufeinander liegen.«

»Also ohne Auto?«

»Mit!«

»Wir könnten von Dubrovnik auch mit der Bahn fahren, Bärchen.«

Haußmann schielte zu Marion. Das Kosewort Bärchen berührte ihn komisch. Es rief Erinnerungen wach, die noch gar nicht so lange vergangen waren. Jeden Morgen im Büro ... die Viertelstunde Morgenknutscherei... das >Ankurbeln des Motors<, wie es Hauß-mann nannte . die Diktate, bei denen niemand stören durfte, die Geschäftsreisen, die immer in einer Bar endeten. Bärchen!

»Die Bahnfahrt hält Erika nicht aus«, sagte er grob.

»Und ein Bus fährt auch.«

»Bist du schon mal mit einem balkanischen Bus durch einen Karst gefahren?«

»Nein.«

»Dazu gehört ein Lederhintern. Erika käme nie in Sarajewo an.«

»Wenn es das Schicksal so will, Bärchen.«

Haußmann drehte sich voll zu Marion. Seine Augen waren hart.

»Fängst du schon wieder an?« fragte er. »Wir hatten uns geeinigt, so lange nicht mehr über private Dinge zu sprechen, bis wir wie-der in Deutschland sind und wissen, was das Schicksal uns zugedacht hat.«

»Das Schicksal!« Marion Gronau zog die Lippen kraus. »Seit Rimini wird nur noch in großen Worten gesprochen.« Sie legte Hauß-mann die Hand gegen die Backe und zwang ihn so, sie anzusehen. »Du hast doch gesehen, daß ich Frank aufgegeben habe.«

»Sagen wir es andersherum: Frank hat dich aufgegeben.«

»Es wäre mir ein leichtes gewesen, diese kleine, blasse Italienerin auszustechen. Aber ich wollte nicht. In all den Tagen habe ich es mir genau überlegt und habe mich entschieden: Soll Frank mit seiner durchsichtigen Claudia glücklich werden - ich liebe dich, Bärchen.«

»Laß den Blödsinn«, antwortete Haußmann steif.

»Es ist vielleicht eine unglückliche Liebe.« Marion sah hinüber zum Meer, und ihr Gesicht nahm einen leidenden Ausdruck an. »Ich sehe ja, daß du zu deiner Frau zurückgefunden hast.«

»Ich war nie weg.«

»Du wolltest dich vor zehn Tagen noch scheiden lassen, ihr das Haus überschreiben und ihr eine Rente zahlen.«

»Vage Ideen.« Haußmann schaltete den Rückwärtsgang ein und setzte zurück. Marion sagte die Wahrheit, aber es war ihm, als habe er nie solche Gedanken geäußert. Auch spürte er erneut, daß in ihm eine Wandlung vorgegangen war: Die Begierde nach Marions jungem, üppigem Körper war der Angst gewichen, sie könnte Erika alles erzählen, was in den letzten Monaten in der Fabrik geschehen war. Nur diese Angst vor der Rache einer enttäuschten und zur Seite geschobenen Geliebten hinderte ihn noch daran, Marion nicht grob ins Wort zu fahren. »Wir sollten von solchen Dingen überhaupt nicht mehr sprechen, Marion«, sagte er heiser. »Es geht jetzt nur noch darum, daß wir heute nacht mit diesem Mistkahn da nach Dubrovnik fahren.«

»Und wenn deine Frau wirklich unheilbar ist?«

»Du bist abscheulich nüchtern!«

»Krebs ist eine Krankheit, die man nur nüchtern und sachlich betrachten sollte. Es gibt keine Illusionen bei Krebs!« Marion griff Hauß-mann ins Lenkrad. Er bremste scharf und fluchte leise.

»Bist du verrückt? Sollen wir uns überschlagen?«

»Ganz klar, mein Lieber: Was tust du, wenn du die Gewißheit hast, daß deine Frau unheilbar ist?«

»Ich werde sie bis zu ihrem Tode pflegen mit allem, was ich tun kann.«

»Und dann?«

»Was dann?«

»Dann bist du Witwer, Bärchen.« Marion hielt seine Hand fest, die nervös an der Handbremse spielte. »Wirst du mich dann heiraten?«

Karl Haußmann zögerte. Zeit gewinnen, dachte er. Sie beruhigen, das ist wichtig. Was später kommt, wer weiß es jetzt schon? Alles, was ich jetzt sage, ist doch wie ein ungedeckter Scheck. Man kann ihn später immer noch zurückziehen.

»Ja.«, sagte er gedehnt. »Dann heiraten wir.«

»Dann ist es gut.« Marion lehnte sich in die Polster zurück. Ihr schönes, etwas puppenhaftes Gesicht leuchtete. »Wir müssen alles versuchen, auf das Schiff und nach Sarajewo zu kommen. Nun will auch ich Gewißheit haben, wie krank deine Frau ist Bärchen.« Sie beugte sich zur Seite und küßte Haußmann auf die Schläfe. »Ich habe nie gewußt, wie sehr ich an dir hänge. Glaub es mir: Der Gedanke, daß du mich wegschicken könntest, macht mich wahnsinnig.«

So schnell es die engen Straßen der Altstadt erlaubten, fuhren sie zurück zur Pension. Erika war inzwischen aufgestanden und stand am Fenster, als Karl und Marion vor dem Haus ausstiegen. Kritisch beobachtete sie die beiden, aber sie sah nichts, was sie hätte mißtrauisch werden lassen. Im Gegenteil, Karl war so unhöflich, Marion nicht einmal aus dem Wagen zu helfen, sondern lief einfach vor ihr ins Haus und ließ sie nachkommen wie einen Lakai.

»Rika! Da draußen im Hafen ist ein toller Zirkus im Gang!« rief Karl, als er mit einem Elan ins Zimmer stürmte, als müßten sie Hals über Kopf flüchten. »Die Polizei läßt nur Schwerkranke mit Wagen aufs Schiff. Alles ist abgesperrt. Wenn wir nach Sarajewo mit unserem eigenen Wagen wollen, können wir dich ab sofort nur noch liegend transportieren.«

»Was ist los?« fragte Erika zurück. Sie sah ihren Mann an, als habe er Donner und Blitz mit ins Zimmer gebracht.

»Du mußt schwerkrank sein. Ich lege dich hinten auf die Hintersitze, decke dich zu, und du mußt so tun, als hättest du große Schmerzen und seiest am Ende deiner Kräfte.«

»Nein!« sagte Erika laut. Ein Beben liefdurch ihren Körper. »Nein! Ich versuche das Schicksal nicht.«

»Anders kommen wir nicht über das Meer!« rief Haußmann verzweifelt. »Rika. Liebste, du versuchst das Schicksal, wenn wir unsere Karten verfallen lassen.«

»Ich kann keine Sterbende spielen.« Erika wandte sich ab, das Zittern ihres Rückens wurde stärker. Plötzlich weinte sie und preßte die Hände flach vor das Gesicht. »Habt ihr denn alle Nerven wie Drahtseile?« schluchzte sie. »Ihr verlangt, daß ich spielen soll, wovor ich aus Angst vergehe. Ich will nicht krank sein. Ich will nicht sterben! Auch nicht gespielt.«

Karl Haußmann ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und hob hilflos beide Arme. »Dann war alles umsonst, Rika«, sagte er tonlos. »Laß uns wieder nach Deutschland fahren.«

»Und Frank Hellberg mit der armen Claudia?«

»Sie werden schon durchkommen. Ich habe ihnen Geld genug gegeben. So nahe vor dem Ziel umdrehen, das ist nicht Haußmanns Art! Nur bis wir auf dem Schiff sind, brauchst du die Kranke zu spielen. Ist der Wagen erst einmal auf Deck, holt ihn keiner wieder runter.« Karl sah Erika fast flehend an.

Sie wandte sich wieder ab und trat ans Fenster. »Ich habe Angst«, sagte sie leise.

»Angst? Wovor?«

»Daß aus dem Spiel plötzlich Ernst wird.« Sie drehte sich um, lief zu ihrem Mann und warf sich ihm in die Arme. »Karl«, stammel-te sie. »Karl, wenn ich hilflos daliegen werde, wenn ich mich nicht mehr rühren kann, wenn mir nur noch Morphium hilft, wenn du siehst, es geht langsam zu Ende: Versprich mir, daß du mich nicht so grausam sterben läßt. Versprich mir, daß du mir soviel Morphium gibst, daß ich ohne Schmerzen einschlafe.«

»Mein Gott, welche Gedanken!« Haußmann hielt Erika umfangen und drückte ihren bebenden Kopf an sich. In seinem Hals würgte es, er hatte das Gefühl, einen Stein verschluckt zu haben. »Wer wird denn so was denken«, stotterte er. »Rika, so darfst du nicht denken! Damit machst du dich selbst verrückt. Es wird doch nie so weit kommen, nie! Darum fahren wir ja nach Sarajewo. Darum holen wir ja dieses HTS! Damm wollen wir uns ja auf das >Schiff der Hoffiiung< schmuggeln. Du sollst gesund werden, ganz gesund.«

Eine Stunde später benachrichtigte Karl Haußmann den Inhaber der Pension, daß seine Frau einen schweren Anfall bekommen habe und nun gehunfähig sei. Marion machte aus den Hintersitzen des Autos bereits ein weiches Bett und verhängte das Rückfenster und die Seitenfenster mit Tüchern. Dann trugen Haußmann und drei Männer - der Hausdiener, der Koch und ein zufällig anwesender Milchmann - Erika auf einer Trage aus dem Haus und betteten sie hinten in das Auto. Wie es Haußmann bei dem Engländer gesehen hatte, deckte er Erika bis zum Hals zu.

»Ich vergehe vor Hitze«, flüsterte sie, als er sich über sie beugte. »Wenn wir am Hafen sind, bin ich wirklich ohnmächtig.«

»Nur eine halbe Stunde, Rika«, sagte Haußmann leise und strich ihr über das Haar. »Halte durch, Liebling. Auf dem Schiff, im frischen Abendwind, kannst du dich dann erholen.«

Bedrückt standen der Padrone, seine Frau und die drei hilfreichen Männer an der Haustür, als der deutsche Wagen abfuhr. Sie winkten nicht nach. Das war eine traurige Fahrt.

»Sie kommt auch zu spät«, sagte der Padrone und wischte seine Hände an der Hose ab.

»Eine so schöne Frau«, sagte der Hausdiener.

»Und die Nachfolgerin ist auch gleich dabei«, meinte die Padro-na giftig.

»Immer diese eifersüchtigen Weiber!« Der Padrone warfeinen verzweifelten Blick in den sich rötlich färbenden Himmel. »An was anderes denkst du wohl nicht?«

»Ich kenne doch die Männer, he?« Die Frau stemmte die Hände in die Hüften. »Bist du anders? Alle sind sie gleich. Man sollte die Männer, sobald sie an die Fünfzig gehen, vergiften!«

Eine Viertelstunde später fuhr Haußmann im Schritt-Tempo durch die Reihen wartender Wagen, die man rechts und links der Hafenzufahrt abgestellt hatte. Vor dem Gittertor stauten sich die Menschen. Es war ein Lärm wie bei einer Revolution - und es war auch eine, denn alle vor der Polizeikette revoltierten gegen die Sperrung der Molenzufahrt.

Drei Polizisten, die entlang der abgestellten Wagen patrouillierten, schleusten Haußmanns Wagen durch das Gewühl, nachdem sie einen Blick in das Innere des Autos geworfen hatten. Vor der Sperre kurbelte Haußmann sein Fenster herunter und hielt die Fahrscheine hinaus. Ein Polizeileutnant trat heran und grüßte höflich. Er sah in den Wagen, erkannte das schweißnasse, bleiche Gesicht zwischen Kissen und Decken und zog den Kopf zurück.

»Aus Deutschland?« Er sah flüchtig auf die Fahrkarten. »Etwas zu verzollen?«

Haußmann lächelte gequält, es gelang ihm sehr gut. »Was sollten wir wohl mitnehmen, Herr Offizier?«

»Passieren!« Der Leutnant hob die Hand. Die Polizeikette öffnete sich. »Nummer 12!« schrie jemand. »Noch drei.«

Vom Tor her antwortete ein unverständliches, vielstimmiges Geschrei. Haußmann sah, wie die Carabinieri zusammenrückten und die Hände auf die Pistolentaschen legten. Da gab er etwas Gas und fuhr so schnell, daß es nicht auffiel, die leere Molenstraße hinauf zur Anlegestelle auf der Molo Foraneo.

»Geschafft!« riefer, als er außer Hörweite der Postenkette war. »Rika,

Liebes, geschafft!« Er hielt an, beugte sich über seine Sitzlehne und riß die Decken von Erika.

Sie rührte sich nicht. Bleich, mit auf der Brust gefalteten Händen, lag sie zwischen den Kissen. Sie war wirklich ohnmächtig geworden.

»Hier, nehmen Sie das«, sagte Marion und reichte Haußmann ihr Kölnisch-Wasser-Fläschchen. Karl rieb mit dem erfrischenden Parfüm Erikas Stirn ein, massierte ihre Brust und küßte sie auf den Mund, als sie endlich, mit einem tiefen Seufzer, die Augen wieder aufschlug.

»Wo ... wo sind wir?« fragte sie und richtete sich ächzend auf.

»Vor dem Schiff, Liebes!« Haußmann gab Marion das Parfümfläschchen zurück. Dabei berührten sich ihre Finger, aber kein Funke sprang über. »Wir sind durch! In zehn Minuten sind wir an Bord, und heute nacht schwimmen wir deiner Gesundheit entgegen. O Rika, ich könnte die ganze Welt umarmen!«

»Dann fang' bei Fräulein Gronau an!« antwortete Erika. Und ein Schatten fiel über Haußmanns ehrliche Freude. Er kam sich schäbig vor, denn er dachte an das Gespräch, das er vor zwei Stunden noch mit Marion geführt hatte.

Aber so ist es im Leben: Ein zwischen Jugend und Pflicht schwankender Mann im Alter Karl Haußmanns hat eine gewisse Narrenfreiheit. Man muß nur warten können, bis er aus seinem Wahn wieder erwacht.

Am Kai lag die >MS Budva< in der untergehenden Sonne. In diesem goldenen Licht sah sie gar nicht mehr so morsch aus; vielmehr war es, als sei sie jetzt, leuchtend in sattem Rotgold, das wahre >Schiff der Hoffnung<, ein Traumboot zum ewigen Leben, das durch ein violettes Meer schwimmt zu einer Küste, die kein Sterben mehr kennt.

Während Erika, noch immer die Schwerkranke spielend, mit einer Trage des Schiffes von zwei Matrosen an Bord gebracht wurde und Marion wie eine rührend besorgte Krankenschwester nebenherlief, überwachte Haußmann das Verladen seines Wagens auf das Oberdeck der >Budva< und nahm es klaglos in Kauf, daß zwei Haken des

Kranes einen großen Kratzer in den Lack der linken Tür zogen. Dann schwebte der Wagen an Bord, und Haußmann stieg in fast übermütiger Laune über die Gangway auf das Schiff.

»Der Bordarzt ist bereits bei Ihrer Frau«, sagte der I. Offizier der >Budva< zu Karl, als er die Fahrkarten kontrolliert und die Pässe an sich genommen hatte. Haußmann bekam sie erst nach der Landung beim Zoll in Dubrovnik wieder. Es war also ausgeschlossen, ohne Papiere an Land zu kommen.

Haußmann sah den I. Offizier, der ein hartes Deutsch sprach, verblüfft an.

»Sie haben einen Arzt? Hier, auf diesem Schiff?«

»Seit wir bei denn Überfahrten der letzten Zeit ein paar Todesfälle hatten, war das notwendig. Kabine 17 und 18, mein Herr. Er-ster-Klasse-Deck.«

»Oh! Das gibt es hier auch?«

Der I. Offizier ließ Haußmann wortlos stehen. Alle Verachtung lag darin. Die Deutschen mit ihrer großen Fresse, sollte das heißen. Anstatt daß sie froh sind, überhaupt mitzukönnen.

Haußmann suchte über drei Decks hindurch die Kabinen 17 und 18, bis er sie endlich im Anschluß an die Kommandobrücke fand. Der Arzt war schon wieder gegangen. Marion saß am Bett Erikas und lächelte Haußmann wie um Verzeihung bittend zu. Erika schlief, mit tiefen seufzenden Atemzügen.

»Er hat ihr gleich eine Spritze gegeben«, sagte Marion, als sich Haußmann erschrocken über seine Frau beugte. »Morphium, glaube ich. Was sollte ich machen? Der Arzt versteht kein Wort Deutsch. Und als deine Frau aufspringen wollte, hat er sie zurück aufs Bett gedrückt und schwupp, hatte sie die Spritze weg. Sie ist sofort eingeschlafen. Er muß ihr eine starke Dosis injiziert haben.«

»Das kann ja heiter werden.« Haußmann setzte sich neben die betäubte Erika auf die Bettkante und zog sich den Schlips vom Hals. »Wo ist der Kerl jetzt?«

»Nebenan. Bei dem Engländer. Ich glaube, der stirbt, bevor wir Dubrovnik erreicht haben. Ich konnte vorhin einen Augenblick in die Kabine sehen: Der Mann sieht wirklich wie ein Gerippe aus. Da hilft doch auch kein HTS mehr.«

»Der Glaube vermag viel.« Haußmann trat an das runde Bullauge. Durch das Glas schimmerte das alte Bari. Der jetzt dunkle Abendhimmel über der Stadt war fahl und streifig. Der Widerschein tausender Lampen. »Was wären wir alle, wenn wir die Hoffnung nicht mehr hätten«, sagte Karl leise.

»Das stimmt«, antwortete Marion Gronau. Und ihr Unterton bewies die Doppeldeutigkeit ihrer Worte.

Pünktlich um 23 Uhr gellte die Sirene der >MS Budva<. Der Kran rollte vom Kai, die Gangway wurde eingezogen, die Leinen wurden losgeworfen.

Ein Zittern rann durch den Schiffsleib, die alten Dieselmotoren begannen zu stampfen, das Schiff schlingerte etwas in der Dünung, die Schrauben wirbelten das Wasser auf; es war, als ächzte ein alter Mann unter einer schweren Last, die er noch wegtragen mußte. Dann löste sich die >MS Budva< von der Mole und glitt in die Nacht hinaus, auf das finstere Meer, entlang der den Hafen abgrenzenden, langen Außenmole, die flach aus der Adria ragte.

Haußmann stand oben an Deck neben seinem vertäuten Wagen und blickte zur langsam entschwindenden, hellerleuchteten, flimmernden Küste zurück. Marion hockte neben ihm auf einem Seilknäuel und rauchte nervös.

»Das ist aus Rimini geworden«, sagte sie, als Bari nur noch ein heller Strich war.

»Ich wünschte, es hätte Rimini nie gegeben!« Haußmann wandte sich abrupt ab und ging unter Deck.

Das Abendessen auf dem Oberdeck der weißen Jacht war vorzüglich wie immer. Ein livrierter Steward servierte. Claudia erhielt eine besondere Diät, und statt des schweren Weines schimmerte in ihrem Glas ein dunkelroter Traubensaft. Das Schiff machte langsame

Fahrt, während sie aßen, und Hellberg konnte nicht mehr feststellen, ob sie sich vom Land entfernten, ihm entgegenfuhren oder parallel mit ihm waren.

Umberto Saluzzo war bester Laune.

Er erzählte Witze. Schwanke aus seinem Leben, die ebenso grotesk wie grausam waren. Schwarzer Humor, nur selbst erlebt.

Ab und zu beugte er sich zu Claudia, tätschelte ihre blasse, kalte Hand und nannte sie »Mein Töchterchen«. Dann zuckte sie jedesmal zusammen wie unter einem Schlag und sah Hellberg hilfesuchend an. Das besonders schien Saluzzo sehr zu amüsieren. Hilfe von einem Mann, der völlig hilflos war. Wie sehr ein Mensch doch an phantastischen Hoffnungen hängt!

»Es wird eine dunkle Nacht«, sagte er, als zum Nachtisch ein Cocktail aus Muschelfleisch in rotem Champagner serviert wurde. »Neumond! Es ist genau das, was wir brauchen.« Er rauchte eine Zigarre an, blies einen Ring in die Luft und zuckte mit den Schultern, als Hellberg ablehnend die Zigarrenkiste zurückschob. »Muß ein Journalist eigentlich mehrere Sprachen sprechen?« fragte er unvermittelt.

»Das kommt auf sein Aufgabengebiet an. Ein Fotoreporter etwa, der in der Welt herumreist, muß verschiedene Sprachen beherrschen.«

»Und was sprechen Sie?«

»Englisch, Französisch und bißchen Italienisch, und seit einem halben Jahr nehme ich Unterricht in Spanisch.«

»Interessant.« Saluzzo sah dem Rauch seiner Zigarre nach. »Sie können sich schon auf spanisch verständigen?«

»Mühsam. Es fehlen noch viele Vokabeln und vor allem die Grammatik.«

»Es wird schon gehen«, sagte Saluzzo geheimnisvoll.

»Was wird gehen?« fragte Hellberg zurück.

»Sie sind ein ungeduldiger Mensch, Hellberg.« Saluzzo lächelte Claudia an. »Sieht sie nicht bezaubernd aus in dieser romantischen Beleuchtung? Wie von innen beschienenes Porzellan. Meine Tochter war eine einmalige Schönheit, Hellberg; sie hatte noch größere

Augen als Claudia. Aber sonst.« Saluzzo beugte sich vor. »Ich habe mich erkundigt - du bist Waise.«

Claudia nickte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Ich werde dich adoptieren.« Saluzzo lehnte sich wieder zurück. »Seit zwanzig Jahren leide ich darunter, kein Vater mehr sein zu können. Und nun finde ich durch Enrico Sampieri, diesen Windbeutel, das Mädchen Claudia! Ich werde ihn deshalb auch nicht bestrafen, daß er mich mit Ihnen, Hellberg, belästigt hat. Ich mußte Sie in Kauf nehmen, um Claudia an Bord zu bekommen. Aber nun sind Sie überflüssig, eine verbrauchte Verpackung. Nur Ihre spanischen Sprach-kenntnisse werde ich noch gebrauchen können.«

Saluzzo erhob sich, und auch Hellberg sprang auf. Claudia kroch in sich zusammen. In ihren Augen schrie die Angst. Laß mich nicht allein, Frank, hieß dieser Blick. Laß mich bitte, bitte nicht allein mit ihm.

»Kommen Sie mit, Signore!« sagte Saluzzo knapp.

»Wohin?« Hellberg blieb neben Claudia stehen. Sie müssen mich jetzt totschlagen, freiwillig tue ich keinen Schritt, dachte er.

»Unter Deck«, sagte Saluzzo.

»Ich lasse Claudia nicht allein!«

»Sparen Sie sich Ihre Heldenposen, Hellberg! Claudia wird kein Haar gekrümmt. Mein Wort ist an Bord wie ein Gesetz. Ein einziges Mal hat es ein Matrose versucht, sich darüber hinwegzusetzen. Er wollte opponieren. Eine Stunde später fiel er über Bord. Trotz aller Suchmanöver haben wir ihn nie mehr gefunden. Man weiß ja, daß an der jugoslawischen Küste Haie leben.« Saluzzo winkte ab, als Hellberg den Mund zu einer Antwort öffnete. »Keine Reden, Signore. Claudia wird sich für kurze Zeit, die wir unter Deck sind, allein amüsieren. Luigi Foramente kann ihr über das Tonband flotte Melodien vorspielen. Kommen Sie!«

»Bleib', Frank!« schrie Claudia auf und klammerte sich an Hellberg fest. »Geh' nicht!«

»Eine Tochter muß ihrem Vater gehorsam sein«, sagte Saluzzo ernst und kam langsam näher. »Das ist die erste Vorbedingung. Ein un-gehorsames Kind wird bestraft, ein gehorsames kann den Vater um den Finger wickeln.«

Hellberg stellte sich zwischen Claudia und Saluzzo. Nur eine Handbreit voneinander entfernt standen sie sich gegenüber.

»Wenn Sie Claudia anrühren, zerbreche ich Ihnen die Knochen«, sagte Hellberg ganz ruhig.

»Vorher werden Sie Haifraß, Hellberg.«

»Dazu gehört mehr als ein großes Maul! Ich bin Stadtmeister im Judo.«

Saluzzo lächelte breit. »Ein Rindvieh sind Sie! Während wir jetzt miteinander sprechen, sehen uns sechs Augen zu. Schauen Sie sich nicht um, Sie sehen sie doch nicht. Aber wenn Sie die Hand gegen mich erheben würden, wird es unter Garantie aus irgendeiner Ecke krachen, aus der Ecke mit dem besten Schußwinkel. Was nützt Ihnen da Ihr Judo, Sie Phantast?« Saluzzo trat zwei Schritte von Hellberg zurück. »Also kommen Sie nun?«

Hellberg nickte. Er sah sich nicht nach Claudia um, sondern folgte Saluzzo unter Deck.

Wieder war demonstriert worden, wer hier der Stärkere war.

Saluzzo führte Hellberg über eiserne Treppen am Kabinendeck vorbei hinunter zum Maschinenraum und von dort durch drei Schottentüren in einen Teil der Jacht, der unter dem Bug lag und fensterlos war.

Ein schmaler Gang, erleuchtet von Neonröhren. Links und rechts Türen aus Eisen, blau lackiert. In den Türen, in Sichthöhe, Klappen, die mit einem Riegel verschlossen waren. Beim Anblick dieses Ganges blieb Hellberg ruckartig stehen.

»Was haben Sie?« fragte Saluzzo, der ihm vorausging.

»Das sieht wie ein Gefängnis aus«, rief Frank.

»Sie kennen Gefängnisse von innen?«

»Ich habe einmal eine Reportage über Zuchthäuser geschrieben. Das sind die typischen Zellentüren.«

»Gratuliere.« Saluzzo lächelte. »Es ist ein Gefängnis.«

»Mein Gott.«, stammelte Hellberg. Er starrte Saluzzo mit wei-ten Augen an. Die Überzeugung, einen Wahnsinnigen vor sich zu haben, wurde nun fast zur Gewißheit.

»Ein schwimmendes Gefängnis. Aber luxuriös. Wenn Sie gleich einen Blick in diese Zellen werfen, werden Sie es bestätigen. Sie haben ja Vergleichsmöglichkeiten zu den deutschen Zellen. Früher nannte man die schwimmenden Gefängnisse Galeeren . das war schon mehr ein Todesurteil. Aber dieses Gefängnis hier dient dem Leben, Hellberg!«

»Wer ist in diesen Zellen?« fragte Hellberg tonlos.

»Das werden Sie in wenigen Minuten sehen.«

»Haben Sie mich deshalb nach meinen Sprachkenntnissen gefragt, Saluzzo?«

»Ja.«

Umberto Saluzzo ging weiter. Fast am Ende des Ganges - man hörte deutlich das Meer gegen die Bordwand schlagen - blieb er vor einer der eisernen Türen stehen und holte einen Schlüssel aus der Hosentasche.

In dem Augenblick, in dem er den Schlüssel ins Schloß steckte und ihn herumdrehte und der leise knirschende Laut die Stille zerriß, ertönte aus dem Inneren der Zelle ein heller, markerschütternder Schrei. Die Stimme einer Frau.

Der gleiche Schrei, den Hellberg in seiner Kabine gehört hatte und von dem er glaubte, Claudia hätte in ausgestoßen.

»Die Möwe.«, sagte er heiser. »Unser Smutje wirft die Küchenabfälle immer ins Meer.«

»Sie haben ein blendendes Gedächtnis, Hellberg.«

»Alles, was Sie sagen, Saluzzo, schreibt sich bei mir wie mit Feuer ein. Es sind Brandzeichen.«

»Wie schade, daß dieses Feuerchen nie jemand sehen wird.«

Saluzzo schloß noch einmal herum. Aus dem Inneren der Zelle gellte der zweite Schrei. Ein Schrei, der einen Schauer über den Rük-ken Hellbergs laufen ließ.

Was würde er sehen, wenn die Tür aufschwang? Welche Teufelei verbarg Saluzzo in diesen kleinen Zellen? Wen hielt er dort gefan-gen? Und warum?

»Bitte!« sagte Saluzzo und öffnete die Tür. Geblendet wich Hellberg an die Gangwand zurück. Die Lichtfülle, die ihm entgegenflutete, war zu stark. Viel stärker als die normale Flurbeleuchtung.

Er sah mit blinzelnden Augen, die sich langsam an das Licht gewöhnten, zunächst nur die Einrichtung eines Salons in Weiß-Gold. Rokokomöbel, Gobelinbezüge, Damastvorhänge, eine Seidentapete und an der holzgetäfelten Decke einen Kristalleuchter, der das starke Licht ausstrahlte. Ein dicker, englischer Blumenteppich bedeckte den Boden.

»Ich glaube nicht, daß deutsche Zuchthäuser solche Zellen haben«, sagte Saluzzo spöttisch. »Die Tür ist zwar konservativ, aber die Einrichtung wird Sie überzeugen, daß ich kein Unmensch bin.«

»Und wer lebt in diesem goldenen Käfig?« Hellberg kam langsam auf die Tür zu. »Wer schreit da so entsetzlich und aus höchster Not?«

»Das eben sollen Sie feststellen . warum man schreit!« Saluzzo winkte. »Kommen Sie schneller, Hellberg. Hier ist kein Ungeheuer, das plötzlich hervorbricht.«

Hellberg atmete tief auf. Dann machte er einen großen Schritt, ging an Saluzzo vorbei und betrat das luxuriöse Gefängnis.

Überrascht und betroffen blieb er stehen, wischte sich verwirrt über die Augen und sah sich dann fragend nach Umberto Saluzzo um.

Auf einem Bett, das mit einem Überwurf aus echten Leopardenfellen abgedeckt war, lag ein wunderschönes Mädchen. Die langen, schwarzen Haare hingen wie ein Schleier über dem schlanken Körper, den nichts bedeckte als ein kurzes, durchsichtiges Spit-zenhemdchen. Als das Mädchen die beiden eintretenden Männer sah, kroch es auf dem breiten Bett bis zur Wand, zog die Beine an und starrte Hellberg aus flackernden, halb wahnsinnigen Augen angstvoll an.

»Wer ist denn das?« fragte Hellberg atemlos. Der Luxusraum, die strahlende Beleuchtung und auf dem Leopardenbett ein Mädchen von solcher Schönheit, wie er sie nur aus Kunstdruckjournalen kann-te - das alles verwirrte ihn einen Augenblick. Umberto Saluzzo hinter ihm lachte leise.

»Ein herrliches Raubtier, was?« sagte er stolz. »Der Brillant in meiner Kollektion.«

»Kollektion.«, wiederholte Hellberg tonlos. Das Mädchen auf dem Fellbett starrte ihn durch den Vorhang ihrer schwarzen Haare an. Als Hellberg einen Schritt weiter in die Kabine trat, hob sie beide Hände zur Abwehr und begann wie ein getretener Hund zu wimmern.

»Fragen Sie sie, was sie hat.« Saluzzo stieß Hellberg leicht in den Rücken. »Sie hat alles, was sie braucht, Sie sehen es ja - und trotzdem benimmt sie sich wie eine Irre!«

»Wer ist die Dame?« fragte Hellberg leise.

»Juanita Escorbal . ich erzähle Ihnen nachher mehr. Erst zeigen Sie mal, wie gut Sie spanisch sprechen.«

Frank Hellberg setzte sich auf einen der Gobelinsessel und schüttelte den Kopf, als Juanita noch mehr in sich zusammenkroch. »Keine Angst«, sagte er auf spanisch. »Ich komme als Ihr Freund, Se-norita Escorbal.«

Das Mädchen schob die Haare aus den Gesicht. Ihre Schönheit ergriff Hellberg, mehr aber noch erschütterte ihn ihr gehetzter Blick. Ihre großen, fast schwarzen Augen schienen leergeweint. Geblieben waren Angst und Hoffnungslosigkeit.

»Sie lügen«, sagte Juanita Escorbal. Sie hatte eine warme, melodische Stimme und sprach ein äußerst gepflegtes Spanisch. »Auch Sie gehören zu diesem Schiff! Sie wollen mich nur in Sicherheit wiegen. Sie sind wie die anderen.«

»Ich bin selbst Gefangener.« Frank Hellberg beugte sich im Sitzen vor. »Wir, das sind ein junges italienisches Mädchen und ich, sind auf das Schiff gekommen, weil wir glaubten, man könne uns nach Dubrovnik bringen, ohne Paß. Noch wissen wir nicht, was man mit uns vorhat.«

Juanita musterte Hellberg. War es eine Falle? Log er? Wollte er sich mit dieser Erzählung in ihr Vertrauen einschleichen? »Ist sie hübsch«, fragte sie. »Ist Ihre Begleiterin sehr hübsch?«

»Ja.«

»Dann wird sie bald wie ich in einem Harem oder in einer Spelunke in Beirut enden.«

Hellberg krampfte sich das Herz zusammen. Er vermied es, Sa-luzzo anzusehen. So also ist das, dachte er. Hier haben wir einen Zipfel des Geheimnisses gelüftet, das Saluzzo umgibt: Das Geheimnis seiner großen Einnahmen! Statt mit Teppichen handelt er mit lebender, hübscher Ware. Unter den Augen der Polizei, mit dem Glorienschein des erfolgreichen Mannes, mitten unter uns, im 20. Jahrhundert.

»Was sagt sie?« fragte Saluzzo ungeduldig an der Tür. Daß er keinen Sinn in den Worten entdeckte, obgleich Italienisch und Spanisch ähnlich klingen, ärgerte ihn.

»Sie hat Heimweh«, sagte Hellberg auf gut Glück. Saluzzo lachte hämisch.

»Das gibt sich, Signore Hellberg. Jeder Mensch braucht eine bestimmte Zeit zur Akklimatisierung. Der eine mehr, der andere weniger. Aber darum braucht sie nicht so zu schreien.«

Hellberg beugte sich wieder zu Juanita vor. »Er versteht kein Wort unserer Unterhaltung, Senorita«, sagte er. »Vertrauen Sie mir, bitte. Ich habe gesagt, Sie hätten Heimweh. Erzählen Sie mir schnell, woher Sie kommen und wie ich Ihnen helfen kann.«

Juanita Escorbal ließ die Haare wieder über ihr Gesicht fallen. Saluzzo sollte nicht sehen, wie neuer Glanz in ihre Augen kam. Glanz der Hoffnung und neuen Mutes.

»Ich bin die Tochter von Juan Carlos Comte de Escorbal aus Tarragona. Mit Freunden war ich auf einer Segeljacht unterwegs nach Mallorca. Da kamen wir in einen Sturm, einen der seltenen Sommerstürme, die Sand aus der Sahara mitbringen. Das Meer wurde zur Hölle, der Hauptmast brach, mußte gekappt werden und ging über Bord. Beim Versuch meines Bruders, mit dem Hilfsmotor weiterzukommen, gerieten wir in eine riesige Welle, die uns Ruder und Aufbauten völlig zerstörte. Führerlos trieben wir drei Tage auf der sich beruhigenden See, bis uns die Jacht Saluzzos sichtete. Er kam längsseits, besichtigte unser wundgeschlagenes Schiff, ließ mich als erste an Bord seiner Jacht kommen und dampfte dann ab, ohne sich um meinen Bruder und meine Freunde zu kümmern. Ich hörte sie noch nach mir schreien . aber was sollten sie anderes tun? Sie waren ja völlig wehrlos. Was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht. Wenn die Madonna gnädig war, hat ein anderes Schiff sie aufgelesen.«

»Wie lange sind Sie jetzt hier, Senorita?« fragte Hellberg. Er konnte vor Erregung kaum sprechen.

»Vielleicht zwei Wochen ... ich weiß es nicht. Ich habe keinen Zeitbegriff mehr. In meine Kabine scheint nie die Sonne. Ich zähle die Tage so, wie ich schlafe ... und ich habe bisher fünfzehnmal geschlafen.«

Hellberg wischte sich über die Augen. Zwischen den Fingern sah er zu Saluzzo. Der elegante Teufel stand lässig an der Tür, lehnte sich gegen den Rahmen und rauchte eine Zigarette.

»Wie kann man Ihnen helfen?« fragte Frank. »Warum haben Sie so geschrien?«

»Ich werde schreien, bis mir die Kehle platzt. Ich lasse mich nicht kampflos verschleppen!« Juanita kroch von der Wand weg. Als sie vor dem Bett stand und das grelle Licht aus dem Kristalleuchter sie überflutete, sah Hellberg erst, wie atemberaubend schön sie war. »Wissen Sie, daß in den Kabinen auf diesem Gang noch mehr Mädchen gefangengehalten werden?«

»Nein!« Hellberg sprang auf.

»Was sagt sie?« fragte Saluzzo an der Tür.

»Gleich.« Hellberg war es nicht mehr möglich, seine Erregung zu beherrschen. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Juanita ging zu einem Sessel, auf dem ein seidener Morgenmantel lag, und zog ihn über ihr durchsichtiges Hemdchen. »Wie viele Mädchen sind an Bord?«

»Ich weiß es nicht genau. Nachts klopfen wir zur Verständigung gegen die Wände. Aber es sind mindestens fünf andere Mädchen.

Und nun wird Ihre Begleiterin dazukommen.«

»Nie und nimmer!« sagte Hellberg verbissen.

»Was wollen Sie tun? Wir sind doch wehrlos! Ich kann wenigstens schreien . dann kommt jemand und gibt mir eine Beruhigungsspritze. Aber Sie können gar nichts tun.« Juanita kämmte sich vor dem großen Kristallspiegel. Umberto Saluzzo lächelte zufrieden. Was dieser Hellberg auch gesagt haben mochte - er hatte sie wenigstens beruhigt. »Sie werden übrigens auch verkauft.«

»Blödsinn!«

»Denken Sie. Wenn man so etwas lesen würde, glaubt man, das seien dumme Phantasien. Dabei weiß die internationale Polizei, daß heute noch in Saudi-Arabien und Somaliland geheime Sklavenmärkte abgehalten werden. Die weißen Mädchen sind dort die teuersten Angebote, sie werden mit Gold aufgewogen. Männer wie Saluzzo verdienen damit ein Vermögen. Dabei ist er nur ein Zwischenhändler. Der Anfang einer Kette, die von Europa über Nordafrika und Kleinasien bis zum fernsten Orient reicht.«

»Und woher wissen Sie das, Juanita?«

»Von ihm selbst. Er hat mir meinen ferneren Lebensweg selbst in allen Einzelheiten ausgemalt.«

Saluzzo an der Tür wurde wieder unruhig. »Was redet sie eigentlich unentwegt?« fragte er.

Hellberg erhob sich von dem Gobelinsessel, nickte Juanita ermunternd zu und wandte sich ab.

»Spanisch hat viele Ausdrücke!« sagte er hart. »Alles in allem aber sagt sie, daß Sie ein ungeheures Schwein sind, Saluzzo.«

»Das freut mich.« Saluzzo verbeugte sich leicht vor Juanita. »Wenn sich kein guter Käufer findet, mein Süßes, werde ich mich selbst um dich bemühen.«

»Und im Schlaf werde ich dich erwürgen!« knirschte Juanita wild.

Hellberg fuhr herum. Erst jetzt erkannte er Juanitas Spiel. »Sie können italienisch?« fragte er.

Sie antwortete in Spanisch. »Ja. Natürlich. Ich nehme an, daß er mir sonst nicht erzählt hätte, was mich erwartet. Ich tat aber so, als wenn ich ihn nicht verstehe.«

»Haben Sie keine Sorgen, Juanita.« Hellberg nickte dem schönen Mädchen ermunternd zu. »Noch sind wir nicht in Beirut. Bis dahin kann noch viel passieren, und es wird viel passieren! Bleiben Sie ruhig, schonen Sie Ihre Kräfte und Nerven, wir werden sie bald gebrauchen können. Ich habe das im Gefühl.«

Dann standen sie wieder im Gang, Saluzzo schloß die Luxuszelle wieder ab und steckte den Schlüssel ein. »Nun?« fragte er. »Was denkt sie? Warum schreit sie so unnütz?«

»Können Sie sich nicht denken, daß ein Mädchen Angst hat?« Hellberg überlegte, ob er jetzt nicht Saluzzo mit einem Sprung anfallen und zu Boden schlagen sollte. Sie waren allein im Gang, und Frank fühlte sich stark genug, mit einem Mann wie Saluzzo fertig zu werden. Aber was geschah dann? Oben wartete Luigi Foramen-te, der >Kapitän< der Jacht. Wie viele Besatzungsmitglieder das Schiff hatte, wußte Hellberg noch nicht. Allein drei Stewards hatte er gezählt. Sie waren auch für die Pflege der Mädchen hier unten bestimmt und damit Komplizen Saluzzos. Was hatte es für einen Sinn, den Kopf dieser Teufelsbande niederzuschlagen und dann hilflos in den vielen Armen des Verbrecherpolypen zu landen?

Saluzzo schloß die Tür auf, sie kamen in den Maschinenraum. Die Gelegenheit war vorbei. Das Warten, das Belauern, die Hoffnung auf eine rettende Situation ging weiter.

Als sie wieder das Deck betraten, scholl ihnen Musik entgegen. Luigi Foramente tanzte mit Claudia. Hellberg sah, wie steif sie ihren Körper hielt, wie ekelhaft es ihr war, jetzt die Vergnügte zu spielen. Saluzzo blieb stehen.

»Sie haben nun gesehen, was mit meinem Schiff los ist«, sagte er.

»Ja. Sie handeln mit lebender Ware!«

»Und es ist Ihnen doch wohl klar, daß dieses Wissen Ihre Rückkehr in das normale Leben verhindert?«

»Von Ihrer Warte aus gesehen, ja.«

»Meine Warte ist immer die richtige, Hellberg!«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie auch mich verkaufen!«

Hellberg lachte gequält. »Saluzzo, das ist doch eine ausgemachte Blödheit!«

»Wir fahren morgen früh hinaus ins offene Meer. Auf halbem Wege werden Sie und die Mädchen umgeladen auf ein Boot, das uns irgendwo erwartet. Wo, das kann Ihnen egal sein. Sie verstehen doch nichts von Seekarten. Die Leute auf diesem Schiff aber sind keine Europäer mehr, sondern Orientalen. Ich traue Ihnen soviel Intelligenz und Wissen zu, daß Ihnen klar ist, wieviel ein Orientale vom Menschen an sich hält. Ob Sie Hellberg heißen oder Fürst Pipapo, das ist diesen Leuten völlig gleichgültig. Sie sind Ware, weiter nichts. Ware wie Apfelsinen oder Melonen, Feigen oder Kuhhäute. Leisten Sie Widerstand, wird dieser Widerstand gebrochen. Brutal, das kann ich Ihnen sagen. Ich habe in Dschibuti auf dem Markt Männer gesehen, die einen Kopf wie ein Blumenkohl hatten; so zusammengeschlagen hat man sie, bis sie keinen Willen mehr hatten und glücklich waren, in die Hände neuer Herren zu kommen.« Sa-luzzo hielt Hellberg am Rock fest, als er zu Claudia gehen wollte. »Nicht so stolz, Signore. Man hat in den Felsen des Yemen Gold entdeckt. Nicht im Flußsand, sondern unter Tage, im Steinabbau. Dort sucht man jetzt intelligente Vorarbeiter. Ich dachte, das sei ein Job für Sie.«

»Sie sind wahnsinnig, Saluzzo!« Hellberg riß sich los. »Und was haben Sie mit Claudia vor?«

»Sie bleibt an Bord. Von den besten Ärzten wird sie untersucht werden, und ich werde ihr auch dieses verdammte HTS besorgen, wenn es notwendig ist. Claudia wird meine zweite Tochter werden.«

»Wenn sie will!« Hellberg lächelte böse. »Sie können Menschen zum Haß quälen, aber nicht zur Liebe.«

»Ich sehe, Sie unterschätzen mich, Signore Hellberg.« Saluzzo schüttelte wie bedauernd den Kopf. »Gehen wir zu der fröhlichen Musik. In zwei Tagen ist dieses schöne Leben ja zu Ende.«

In der Nacht, als man Hellberg wieder in seiner Kabine eingeschlossen hatte, fand er keinen Schlaf. Unruhig rannte er hin und her, dachte an Juanita Escorbal, an die anderen Mädchen in den

Zellen und an Claudia Torgiano, deren Schicksal doppelt tragisch war: Die Angst, Krebs zu haben, und die Angst, in den Händen Sa-luzzos zu bleiben.

Ob Enrico Sampieri, der Redakteuerkollege von der Gazetta Bari, das alles gewußt hat? Und wenn ja, warum hatte er Hellberg dann an Bord gehen lassen? Fehlte ihm der Mut, über Saluzzo zu schreiben, und hoffte er, der deutsche Kollege könne sich durchboxen und einmal diesen Teufel in Menschengestalt zur Strecke bringen?

Es war für Frank Hellberg eine schreckliche Nacht. An der Vibration des Schiffsbodens und dem leisen Stampfen aus dem Maschinenraum merkte er, daß sie bereits wieder fuhren - der Stelle irgendwo im Mittelmeer entgegen, wo das Schiff der orientalischen Händler ihn und die Mädchen übernehmen sollte.

Und je weiter sie sich jetzt von der Küste entfernten, um so sicherer wurde es für Frank Hellberg, daß er im Augenblick keinerlei Chancen hatte, Saluzzo entgegenzutreten. Abwarten - das war alles, was ihm blieb. Auf den Zufall warten, diesen großen Verbündeten der Bedrängten.

Und wenn dieser Zufall nicht kam.?

Ruhig glitt die alte >MS Budva< durch das nächtliche Meer. Sie schlingerte, die Maschinen verursachten einen Höllenlärm, aber an Bord war alles zufrieden, die Passagiere schliefen, die Lichter waren gelöscht bis auf die Positionslampen und die Lichter auf der Kommandobrücke. Wer sie von weitem sah, hatte den Eindruck, einen schlafenden Luxusdampfer majestätisch vorbeiziehen zu sehen, langsam, nach außen hin lautlos, denn das Maschinenstampfen hörte man nur auf Deck 2 und im Laderaum. Dort allerdings dröhnte es wie mit hundert Kesselpauken. Hier auf Deck 2 lagerten auch die ärmeren Passagiere in guter, alter Auswanderermanier auf Decken und Luftmatratzen, neben Kinderwagen und Gepäcksäcken. Familien mit Kindern, Großvater und Großmutter, Tanten und Onkeln. Ein Haufen zusammengeballter, auf engem Raum liegender, sitzender und hockender Menschen, umgeben vom Geruch geschälter Orangen, frischen Schafskäses und menschlicher Ausdünstung.

Auf Deck 1, den >Luxuskabinen<, brannten hinter verhängten Bullaugen noch vereinzelte Nachttischlampen. Der sterbende Engländer, dieses mit Haut überzogene Gerippe, atmete noch immer. Er hatte nach der Spritze des Bordarztes sogar für einen Augenblick die Besinnung wiedererlangt und seine Verwandtschaft, die um sein Bett saß, groß angesehen. »Wann sind wir in Sarajewo?« hatte er gefragt. Und der Neffe, der die mitreisenden Verwandten verpflichtet hatte, immer optimistisch zu tun, hatte geantwortet: »Übermorgen, Onkel James.«

»Bestimmt?«

»Bestimmt!« murmelten die Verwandten. »Laßt euch nicht einfallen, mich irgendwo abzuladen, wenn ich wieder die Besinnung verliere, und mich verrecken zu lassen! In meinem Testament steht, daß dieser Dr. Zeijnilagic unterschreiben muß, mich gesehen zu haben. Sonst gibt es keinen Penny, keinen Penny, verdammt noch mal!«

Dann fiel er wieder in Ohnmacht, aber er atmete tiefer, als habe diese Drohung an die Verwandten sein Herz wesentlich gestärkt.

Karl Haußmann lag neben Erika und hörte auf ihre tiefen Atemzüge. In der Nacht, er war gerade eingeschlafen, weckte ihn leises Klopfen an der Tür. Er öffnete, und der Schiffsarzt steckte den Kopf in die Kabine und blickte zu Erika hinüber.

»Alles o.k.!« sagte Haußmann. Okay muß er verstehen, dachte er. Das kennt der Neger im Busch so gut wie ein Jugoslawe. Der Bordarzt, ein alter Mann, der nach Slibowitz roch, wenn er ausatmete, rollte mit den Augen.

»Nix okeh«, sagte er heiser. »Tres malade.« Er drückte Haußmann zur Seite, kam in die Kabine und stellte ein altes, abgegriffenes und fleckiges Lederköfferchen auf den Tisch. Dann beugte er sich über Erika, zog die Bettdecke von ihr, schob ihr das Nachthemd bis zum Kinn und betastete ihren nackten Leib.

»Was machen Sie denn da?« stotterte Haußmann verblüfft. »Sie können doch nicht einfach meine Frau nackt.« Dann fiel ihm ein, daß der Arzt ja kein Wort verstand, und er ging hin, faßte den Arzt am Rock und zog ihn von Erika weg, in dem Augenblick, wo er Erikas Brust abhorchen wollte. »Nix!« sagte er dabei. »Ne pas malade. Nur tres fatiguee...«

Der nach Slibowitz riechende Arzt fuhr herum wie eine fauchende Katze und schlug Haußmann auf die Finger. Eine Flut jugoslawischer Worte rauschte über Haußmann, und es schienen keine höflichen Worte zu sein.

Haußmann wußte sich nicht mehr zu helfen. Er zog die Decke über Erikas entblößten Körper, ging zur Tür, öffnete sie weit und zeigte hinaus.

Diese Sprache ist international. Der Arzt bekam kleine, böse Augen, sagte etwas, das mit Zischlauten begleitet war, raffte sein Le-derköfferchen vom Tisch und rannte an Haußmann vorbei hinaus auf den Gang.

»Na also«, sagte Haußmann zufrieden und schloß die Tür wieder. »Die Völkerverständigung klappt ja.«

Aber die Ruhe war nur kurz. Zehn Minuten später klopfte es wieder. Karl fuhr aus dem Bett und riß die Tür auf, bereit, dem betrunkenen Arzt auf gut Ruhrdeutsch die Meinung zu sagen. Aber vor der Tür stand nicht der Doktor, sondern der I. Offizier. Der gleiche unhöfliche Mensch, der Haußmann beim Verladen des Wagens einfach stehenließ, weil er ein Deutscher war.

»Was ist los?« fragte der I. Offizier in seinem harten Deutsch. Auch er roch nach Slibowitz. In der Offiziersmesse mußte gefeiert werden, vielleicht hatte jemand Geburtstag. Haußmann sah den Mann mit den goldenen Ärmelstreifen entgeistert an.

»Vielleicht darf ich fragen, was Ihr dämlicher Arzt nachts um 2 Uhr in meiner Kabine macht?! Kommt da herein, entkleidet meine schlafende Frau.«

»Das ist seine Pflicht!« Der I. Offizier sah hinüber zu der schlafenden Erika. Die Injektion hatte sie wie betäubt. »Sie hat Krebs?«

»Höflichkeit ist wohl nicht Ihre Stärke, was?« rief Haußmann. »Was erlauben Sie sich eigentlich?! Wenn Sie keinen Slibowitz vertragen.«

»Ich vertrage keinen Deutschen!« sagte der I. Offizier hart.

»Ach! So ist das!« Haußmann schluckte. Natürlich, dachte er. Wir waren ja im Krieg auch in Jugoslawien. Tito, die Partisanenkämpfe, die Geiselhinrichtungen, die Schießkommandos, die die Berge durchkämmten. Er sah den I. Offizier verzeihend an und hob die Schultern. »Ich kann nichts dafür. Und außerdem ist das ja lange her.«

»Nicht für mich! Ich habe meinen Vater verloren, meine Mutter, meine Schwester. Ich war in deutscher Gefangenschaft. In Recklinghausen.«

»Ach, sieh an. Recklinghausen. In der Grube?«

»Ja.« Der I. Offizier atmete tief auf. »Ich hasse alle Deutschen, aber Sie sind Passagier. Doch Sie haben sich den Bordgesetzen zu fügen. Trotz Ihres Geldes.«

»Steht in den Bordgesetzen, daß Ihr Arzt meine Frau nachts um 2 Uhr entkleidet und abtastet?«

»Dr. Mihailovic ist von der Regierung eingesetzt, den Transport Kranker nach Dubrovnik zu überwachen und zu kontrollieren. Seit jeden Tag Schwerkranke nach Sarajewo fahren, hat er es besonders schwer. Jeder Passagier, der an Bord stirbt, bedeutet viel Papier und Schreiberei. An Land sind die staatlichen Krankenhäuser dafür zuständig, an Bord nur Dr. Mihailovic. Er handelt in unser aller Interesse, wenn er die kranken Passagiere so betreut, daß sie wenigstens lebend in Dubrovnik an Land gehen.«

Karl Haußmann wußte darauf keine Antwort. Etwas hilflos stand er in der Tür und kam sich vor, als müsse er sich entschuldigen, daß andere ihn in den Hintern getreten hatten. Er dachte an den todkranken Engländer in der Nebenkabine, an die anderen Kranken, die man - wie Erika - auf einer Trage zum Schiff gebracht hatte, und er hütete sich auch, dem I. Offizier zu sagen, daß Erika gar nicht bettlägerig sei, sondern eine der Kranken, der man ein unheilbares Leiden gar nicht glaubt, wenn man ihnen unbefangen und unbekannt begegnet.

Um auf ein anderes Thema zu kommen, lächelte er und schnup-perte in die Luft. »Sie feiern?« fragte er.

»Kapitän hat viertes Kind bekommen!«

»Gratuliere.« Haußmann atmete auf. Das Thema verschob sich. Die dreckige Politik wurde unwichtig. »Junge oder Mädchen?«

»Junge.« Der I. Offizier nickte kurz. »Sie werden den Doktor nicht mehr hindern?«

»Nein. Natürlich nicht. Aber meiner Frau geht es besser.«

»Das muß Doktor entscheiden.«

»Wir sind ja morgens schon in Dubrovnik. Bis dahin wird sie sicherlich schlafen.«

»Trotzdem.« Der I. Offizier wandte sich ab und ging grußlos zur Treppe. Haußmann wartete, sah ihm nach, und als der Offizier verschwunden war, ging er hinüber zu Marions Kabine und klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte stärker, so laut, daß auch eine tief Schlafende es hören mußte. Keine Antwort. Da drückte er die Klinke herunter. Die Tür war unverschlossen.

Haußmann schlüpfte hinein, schloß die Tür, tastete in der tiefen Dunkelheit nach dem Lichtschalter und drehte die Deckenleuchte an.

Die Kabine war leer. Das Bett unberührt. Nur Marions Kleid, das sie am Abend getragen hatte, lag hingeworfen über der Bettdecke. Die Schranktür stand offen. Sie mußte es mit dem Umziehen und Weggehen eilig gehabt haben.

Durch Haußmanns Herz ging ein kleiner, heißer Stich. Er wollte ihn nicht wahrhaben, aber er ließ sich nicht überdecken. Eifersucht! Wohin war Marion gegangen? Hatte sie bereits in dieser kurzen Zeit eine Bordbekanntschaft gemacht?

Eklige, schlüpfrige Gedanken kamen in Haußmann hoch. Er sah eine halbdunkle Kabine, zwei verschlungene Körper, hörte das girrende Lachen Marions. »Verdammt!« sagte er laut. »O verdammt! Und ich habe gedacht, es sei nun endgültig vorbei.«

Er sah noch einmal auf das hingeworfene Kleid, lief dann zurück zu seiner Kabine, blickte kurz hinein und stellte fest, daß Erika in tiefem Schlaf lag. Leise schloß er die Tür und ging, mit nagender

Eifersucht im Herzen, die ihm sogar das Atmen schwermachte, hinauf an Deck.

Die Kapitänskabine war hell erleuchtet. Musik scholl durch die geschlossenen Fenster, Lachen und Singen. Sonst war alles still an Bord. Nur an einem der Rettungsboote stand ein Mann, beugte sich über die Reling und würgte. Seekrank. Als Liebhaber Marions kam er nicht in Betracht.

Karl Haußmann ging weiter. Das sogenannte Sonnendeck, das Spieldeck, das Ladedeck mit den vertäuten Autos. Alles still, dunkel, unwirklich unter dem Nachthimmel und auf dem rauschenden Meer.

Er stellte sich an seinen Wagen, nachdem er hineingesehen hatte, ob Marion nicht drin war. Alles war ja möglich. Man hört da die tollsten Sachen und ist ja schon selbst in verteufelten Situationen gewesen. Er ließ sich die kalte Nachtbrise um den Kopf wehen und rätselte herum, wie er Marion aufstöbern könnte.

Aus dem Kapitänszimmer erscholl Kreischen. Die Musik wurde lauter. Ein Twist. Dazwischen wieder Frauenlachen.

Karl Haußmann hob die Schultern. Das ist richtiges Feiern, dachte er. Die Frau im Wochenbett, der Mann besäuft sich mit jungen Weibern!

Ob in Gelsenkirchen oder auf einem jugoslawischen Schiff... es ist überall dasselbe!

Haußmann nahm sich ein Herz, kletterte die verbotene, mit einer Kette abgesperrte Außentreppe zur Kommandobrücke hinauf und drückte das Gesicht gegen das Fenster der Kapitänskajüte. Im Raum tanzte der I. Offizier mit einer der Köchinnen. Der Kapitän lag betrunken auf einem Sofa und klopfte mit der Flasche den Takt auf der Tischkante. Der Arzt hüpfte wie ein Floh als Solotänzer herum. Und in der Mitte des Raumes bewegte sich Marion Gronau in einem wilden Twist, hatte den Rock ihres an sich schon freizügigen Sommerkleides hochgezogen bis zu den Schenkeln und verrenkte den Körper unter dem Gebrüll der Männer zu fast artistischen Leistungen. Ihr blondes Haar hing schweißnaß über dem geröteten Gesicht. Ein wilder, unbeherrschter, für einen nüchternen

Zuschauer schrecklicher Anblick. Eine rasende Megäre mit den Körper einer Venus.

Karl Haußmann wandte sich ab und stieg die Teppen von der Brük-ke hinunter.

So etwas wollte ihn heiraten, dachte er erschrocken. Wirklich, ihretwegen hätte ich mich von Erika scheiden lassen. In Rimini sollte die Entscheidung fallen. Ihretwegen hätte ich meine schöne, sanfte, immer gütige Erika verlassen. O mein Gott, wohin wäre ich geraten! Wie hätte ich in zwei Jahren ausgesehen? Ein gehörnter Ehemann, gegen den ein Kronenhirsch wie ein Einjähriger aussieht.

Und Karl Haußmann war dem Schicksal dankbar, daß er diese Nacht erlebt hatte . ja, er war dem Arzt Dr. Mihailovic und dem I. Offizier dankbar, denn sie hatten ihn geweckt. Ohne sie hätte er eine große Erkenntnis verschlafen und wäre gefangengeblieben in dem süßen Wahn, in seinem Alter noch wirklich geliebt zu werden von der herrlichen Jugend.

Langsam ging er zurück in seine Kabine und legte sich neben Erika ins Bett. Er beugte sich über sie und küßte sie auf die schlafwarmen, leicht geöffneten Lippen.

»Verzeih mir, Rika«, sagte er leise. »Du hast recht gehabt: Ich bin ein alter Esel.«

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