Kapitel 3

Erika lag mit geschlossenen Augen da, als Karl das Zimmer betrat. Er ging zu ihr hin und küßte sie.

»Rika, Liebste«, sagte er. »Ich habe eine gute Neuigkeit.«

Er zog den Sessel an ihren Liegestuhl heran, setzte sich zu ihr und berichtete von Dr. Tezza aus Capistrello. Zum Schluß sagte er:

»Er behandelt nach einer individuellen Methode, Rika. Ohne chirurgische Eingriffe. Sollten wir es nicht wenigstens versuchen?«

»Daß du dir soviel Sorgen um mich machst, du Guter.«

»Das.« versteht sich doch von selbst, hatte er sagen wollen. Er ließ es und fügte statt dessen hinzu:

»Wir lassen die anderen beiden hier, fahren ganz allein gemütlich zu diesem berühmten Arzt. Auf der Rückfahrt kommen wir dann wieder hier vorbei. Wenn ich daran denke, Rika: In drei Wochen bist du wieder gesund.«

Sie lächelte. Er war wie ein Kind. Sie mochte ihm die Hoffnung nicht zerstören.

»Gut, Karl, fahren wir. Wann soll es denn losgehen?«

»Gleich morgen, Rika.«

Sie widersprach nicht, sondern griff nach seiner Hand und drück-te sie.

»Und jetzt, Rika, jetzt laufe ich schnell hinunter und bestelle uns eine Pulle Sekt.«

»Wie? Jetzt? Vor dem Mittagessen?«

»Ja, Rika, wir müssen darauf anstoßen. Auf ein gutes Gelingen, auf unsere Hoffnung, auf deine baldige Genesung.«

An der Tür kehrte er noch einmal um. Er zog sie ungestüm in seine Arme. So, als wollte er seinen Optimismus gewaltsam auf sie übertragen.

Sie fuhren doch nicht allein.

Frank Hellberg hatte inständig darum gebeten, mitreisen zu dürfen. Er hatte berufliches Interesse vorgeschützt, obwohl ihn in erster Linie menschliche Anteilnahme trieb, dabeizusein.

Und Marion Gronau hatte gesagt: »Wenn eine Frau krank ist, kann eine Frau ihr nützlicher sein als zwei Männer.«

Sie fuhren auch keineswegs gemütlich.

Karl Haußmann trat aufs Gas, als säße ihm der Teufel im Nacken. Mit den flinken, kleinen Italienern ließ er seinen großen Wagen um die Wette rasen. Aber es war kein Sport. Es war wie eine Flucht vor dem schlechten Gewissen. Oder wie eine Verfolgungsjagd, als gälte es, Versäumtes einzuholen.

So eine Fahrweise verlangt ungeteilte Aufmerksamkeit. Gerade sie fehlte Karl Haußmann. Ihn irritierte, daß Marion Gronau hinter ihm saß.

Was soll das? dachte er. Warum wollte sie unbedingt mit in dieses Bergnest, statt in Rimini am Strand zu bleiben? Welchen Zweck verfolgt sie? Spielt sie die Sanftmütige, die Hilfsbereite nur, um in Wirklichkeit ihre Stellung zu behaupten? Oder war sie tatsächlich aus Zuneigung, aus Anhänglichkeit mitgefahren? Ein Gedanke, der Karl Haußmann zwar schmeichelte, aber nicht sympathisch war.

Um zehn Uhr waren sie in Rimini gestartet. In Porto Recanan-ti, dreißig Kilometer hinter Ancona, aßen sie zu Mittag. Gegen sech-zehn Uhr, in der Höhe von Giulianova Lido, geschah es:

An einer wegen Bauarbeiten verengten Straßenstelle tauchte plötzlich ein Sportwagen hinter einem entgegenkommenden Laster auf, um zu überholen.

Haußmann, der mit hoher Geschwindigkeit über den Schottergrund rasselte, wollte scharf nach rechts lenken. In diesem Augenblick gab es einen Knall.

Der linke Vorderreifen zerriß.

Haußmann verlor die Gewalt über den Wagen, der sich querstellte und schlitterte.

Die Schottersteine, die emporgeschleudert wurden, prasselten gegen die Bodenwanne. Ein Getöse entstand, das die Aufschreie der Frauen fast verschlang.

Zwanzig Zentimeter vor der Stoßstange des Lasters kam der Wagen zum Stehen. Das Sportkabrio, das Haußmann erschreckt hatte, war rechtzeitig sehr elegant zurückgetaucht und hielt knapp schrittweit hinter dem Laster. Die italienischen Fahrer traten an Haußmanns Wagen heran, besahen sich den Schaden, drückten gestenreich und achselzuckend ihr Bedauern und ihre Schuldlosigkeit aus, stiegen ein und fuhren davon.

Karl Haußmann saß noch immer da und hielt das Lenkrad umklammert. So, als hätten seine Hände sich verkrampft. Er war leichenblaß geworden. In seinem Gesicht zuckte es. Seine Lippen zitterten.

Erika war ebenfalls das Blut aus den Wangen gewichen. Ihre erste Reaktion war der Gedanke, Karl eine Tablette gegen Gallenbeschwerden anzubieten, doch dann fiel ihr ein, daß es ihn in Gegenwart der Gronau beschämen könnte. Und sie ließ es.

Marion Gronau goß Kölnisch Wasser auf ein Taschentuch und rieb ihre Schläfen ein. Dann reichte sie Erika das Flakon.

Keiner sagte ein Wort. Und das bedrückte Haußmann mehr, als wenn sie ihn mit Vorwürfen überschüttet hätten.

Gelassen blieb Frank Hellberg. Er ließ sich die Autoschlüssel geben, holte den Wagenheber und den Ersatzreifen aus dem Koffer-raum und begann mit der Montage. Als Karl Haußmann den Schock überwunden hatte, gesellte er sich zu ihm und faßte mit an.

»Danke«, sagte er und schlug Hellberg auf die Schulter. »Fahren Sie eigentlich selber?«

»Und wie gern.«

»Kommen Sie mit meinem Schlitten zurecht?«

»Kein Problem.«

»Unter der Bedingung, daß Sie nicht über achtzig fahren, können Sie mich ein bißchen ablösen. Einverstanden?«

»Ich wüßte nicht, was ich lieber täte.«

Marion Gronau behauptete, die Fahrt auf den Vordersitzen nicht vertragen zu können. Da Karl Haußmann auf jeden Fall vermeiden wollte, neben ihr zu sitzen, bat er Erika, im Fond Platz zu nehmen. Karl, der neben dem chauffierenden Hellberg saß, meinte die Spannung, die zwischen den beiden Frauen knisterte, im Rücken zu spüren. Er war heilfroh, als sie nach rund vierzig Kilometern in Pescara eintrafen und ein Hotel fanden, das direkt neben einer Autoreparaturwerkstatt lag. Bevor sie morgen den Weg ins Binnenland mit seinen Bergstrecken antraten, mußten alle fünf Reifen in Ordnung sein.

Am nächsten Tag setzte sich Frank Hellberg gleich ans Steuer. Wie selbstverständlich. Und Marion Gronau rutschte neben ihn. Es ginge ihr besser, sagte sie. Dabei wirkte sie so still, so bedrückt, daß Karl Haußmann vermutete, Frank Hellberg habe ihr den Kopf zurechtgesetzt.

Ob der helle Junge etwas gemerkt hatte? Nur das nicht, dachte Karl. Denn seine zwiespältigen, von Eifersucht beeinflußten Gefühle ihm gegenüber waren herzlicher Sympathie gewichen.

Hellberg erwies sich als glänzender Fahrer. Er ließ den Wagen zügig dahinrollen, reagierte frühzeitig auf Kurven und Hindernisse, so daß er scharfes Bremsen vermied. Daß er sich sogar auf Bergfahrt verstand, erwies sich, als sie das Pescaratal hinter Popoli verließen und zur Forca Caruso hinaufkurvten, um die Abruzzen zu überqueren.

Gegen Mittag hatten sie es geschafft.

Sie waren am Ziel.

Eines taten sie gleichzeitig, als sie das Ortsschild erkannt hatten und in Capistrello einfuhren.

Sie seufzten.

Abgrundtief.

Alle vier.

»Wir müssen uns entschuldigen für das, was wir Ihnen da zumuten«, sagte Erika.

»Ach wo«, entgegnete Frank Hellberg übertrieben munter. »Ich finde es ausgesprochen romantisch. Man kann doch jeder neuen Umgebung Reize abgewinnen.«

»Wenn man den guten Willen hat«, vollendete Marion Gronau. Es klang ironisch.

Das kleine Bergstädtchen lag unter sengender Sonne. Die Häuser aus rohem Felsgestein klebten an den Berghängen. In den mit Lehm verschmierten Mauerritzen und auf den mit flachen Platten belegten Dächern wucherte Moos. Es roch hier nach Armut, nach Elend.

Nur zwei Gebäude ragten aus der Ansammlung halbverfallener Wohnhöhlen hervor:

Die Kirche mit ihrem schlanken Glockenturm und dem Dach aus glasierten dunkelroten Ziegeln.

Und ein in dieser Umgebung monströs wirkender, dreistöckiger weißer Bau.

Clinica Santa Barbara

So stand es in Goldlettern auf einem Block aus hochglanzpoliertem Carrara-Marmor über dem Portal. Die Residenz des über Nacht berühmt gewordenen Dr. Tezza.

Vor dem Gebäude war der Boden planiert, Parkplatz für fünfzig Personenwagen und sechs Reiseomnibusse. Die Klinik, vor deren Fenstern Blumenkästen mit rosa Kamelien und violetten Bougainvilleen hingen, war offensichtlich aufs große Stoßgeschäft ein-gerichtet.

Weniger das Städtchen.

Nach dem dritten Anlauf gab Karl Haußmann den Versuch auf, in Capistrello eine Unterkunft zu finden.

Sie fuhren die dreizehn Kilometer nach Avezzano zurück. Dort fanden sie drei Zimmer in einem einfachen Gasthaus. Allerdings erst, nachdem Haußmann den fünffachen Preis geboten hatte.

Das reichte, damit der Wirt die Vormieter kurzerhand vor die Tür setzte.

Erika war sehr erschöpft von der Fahrt. Karl Haußmann stützte sie auf dem Weg ins Gasthaus. Frank Hellberg kümmerte sich um das Gepäck.

»Hier sollen wir also hausen«, sagte Marion Gronau, als sie mit Hellberg allein war. »Das ist ja wie in der Steinzeit.«

»Schau mal dort hinüber«, entgegnete er und zeigte zu den Hängen der Simbrunini-Berge. »Alles voller Wein. Dort reift ein guter Tropfen.«

Sie ging nicht darauf ein.

»Wie lange sollen wir hier Urmenschen spielen?« fragte sie.

»Beschwer dich nicht«, erwiderte er schroff. »Du hast es nicht anders gewollt. Oder?«

Vorsicht, dachte sie verblüfft und sah ihn an.

Was hieß das? Was wußte er?

Die Haußmanns fuhren am nächsten Morgen allein nach Capistrello zur Clinica Santa Barbara. Schon im luxuriös ausgestatteten Empfangsbüro wurde Karl Haußmann geschickt nach seinen Verhältnissen ausgefragt. Der Test fiel offenbar günstig aus. Nach kurzer Wartezeit standen Erika und Karl dem sagenumwobenen Arzt gegenüber.

In der Tat ein sehenswerter Mann, dieser Dottore Giancarlo Tez-za. Groß, schlank und braungebrannt war er. Er trug einen schneeweißen Maßanzug. Aus seinem von einem pechschwarzen gestutzten Bart umrahmten Gesicht leuchteten seltsam faszinierende, goldschimmernde Augen.

Er wirkt wie ein Maharadscha, dachte Erika.

Oder wie ein Fakir.

Seinen Augen verdankte dieser Dr. Tezza den Ruf, es sei ihm möglich, ohne Röntgengrät in die Menschen hineinzuschauen und herauszufinden, wo sich die Krankheit verborgen hielt. Vielen Frauen wurde es schwindlig, wenn er seine Augen in die ihren senkte. Viele vergaßen in so einem Augenblick ihre Schmerzen.

Erika Haußmann ließ sich nicht so leicht beeindrucken. Firlefanz, dachte sie und hielt seinem Blick stand, bis er »Si, si« sagte, auf zwei rote Ledersessel deutete und die beiden Besucher zum Sitzen einlud.

»Wir können deutsch sprechen«, sagte er mit leichtem Akzent. »Ich habe zwei Jahre studiert in Deutschland. Ich habe auch gearbeitet mit Professor Bauer, dem berühmten deutschen Spezialisten.«

Erika nickte.

Karl Haußmann zeigte sich tief beeindruckt. Professor Bauer war ihm ein Begriff. Er ahnte nicht, daß Dr. Tezza für jede Nationalität einen besonderen Experten zu nennen wußte. Dr. Tezza ging so weit, den Patienten aus östlichen Ländern zu erzählen, er sei mit Demichow befreundet, dem sowjetischen Chirurgen, dem die Transplantation eines Hundekopfes gelungen war.

»Nun, die Diagnose ist klar?«

Eine rhetorische Frage. Er erwartete keine Antwort. »Nun ja, wer zu mir kommt, weiß, was ihm fehlt.«

Er strich seinen gepflegten Bart und blickte Erika melancholisch an.

»Bene. Gut. Der harten Wahrheit ins Auge schauen und trotzdem zu glauben, das ist eine wichtige Grundbedingung für jede Heilung.«

Erika sah nicht gerade überzeugt aus. Der Arzt fragte sie plötzlich: »Sie glauben doch, daß Sie bei mir in den richtigen Händen sind, Signora. Oder?«

Da Erika zögerte, beeilte sich Karl zu versichern:

»Selbstredend, Dottore. Wären wir sonst gekommen?« »Ihre Frau muß glauben«, sagte Tezza hartnäckig. »Nicht Sie.«

»Ich hoffe«, antwortete Erika leise. »Ich hoffe, obwohl die Röntgenaufnahmen...«

Dr. Tezza unterbrach sie mit großer Geste.

»Himmel, Maria, ich brauche keine Röntgenbilder. Die wenigsten Ärzte verstehen es, sie richtig zu lesen. Die Seele ist der Spiegel des Körpers. Ich erkenne die Seele in den Augen. Und ich weiß, was dem Menschen fehlt. Seele und Krankheit, das sind siamesische Zwillinge. Machen wir die Seele gesund, hilft sich der Körper selbst.«

Dr. Tezza nahm hinter einem gewaltigen Schreibtisch Platz, zog einen goldenen Füllhalter hervor und schlug ein in Leder gebundenes Buch auf.

»Beginnen wir also mit der Anamnese.«

Nachdem dieses Verhör über die Vorgeschichte der Erkrankung beendet war, wurde Karl Haußmann hinausgeschickt. Zwei außerordentlich hübsche Assistentinnen erschienen. Mit ihrer Unterstützung wurde Erika untersucht.

Gründlicher, als sie es nach den phrasenhaften Vorreden erwartet hatte.

Sie mußte sich völlig entkleiden. Der Arzt horchte, tastete ab und palpierte. Zwischendurch diktierte er. Kurze, schnelle Sätze auf italienisch. Eine der Assistentinnen trug sie in das ledergebundene Buch ein.

Natürlich ertastete Dr. Tezza sofort die Verhärtung im Unterbauch. Aber sein Gesicht blieb regungslos.

Nach zwei Stunden durfte Erika sich wieder anziehen. Sie wurde in ein Labor geführt, wo man ihr Blut abnahm und Abstriche aus dem Rachen und von ihrer Zunge machte.

Dr. Tezza hatte unterdessen Karl Haußmann zu sich hereinbitten lassen.

»Nun, Dottore!« rief Haußmann schon in der Tür. »Dürfen wir hoffen?«

»Sie müssen hoffen. Wir leben von der Hoffnung«, sagte Tezza tiefsinnig. »Die Hoffnung aufgeben, hieße, sein Leben wegwerfen.«

Nach einer effektvollen Pause fuhr er fort:

»Ich werde die Behandlung Ihrer Frau übernehmen. Zunächst möchte ich Ihnen raten, mit drei bis vier Wochen zu rechnen. In zwei Tagen habe ich ein Bett frei, einverstanden?«

»Natürlich, Dottore, selbstverständlich.« Karl Haußmann rieb nervös die Hände. Wo mochte Erika sein? Was tat man mit ihr? Ob man ihr Schmerzen bereitete?

»Nun zu einem anderen Punkt«, sprach Tezza mit leicht erhobener Stimme, Aufmerksamkeit fordernd.

»Die Kosten der Kur.«

Karl Haußmann winkte ab. »Lieber Dottore, das Geld ist nicht wichtig. Hauptsache, meine Frau wird gesund. Wenn Sie ihr eine Chance geben.«

»Jeder Mensch hat seine Chance. Und Ihre Frau ist doch das blühende Leben. Sie besitzt die notwendige Widerstandskraft. Es gilt nur, sie zu mobilisieren.«

Haußmann nickte. Er glaubte, weil er glauben wollte. Er nahm die Phrasen als Offenbarung, die vagen Versprechungen als Verheißung. Ihm war, als hätte er ein Geschenk empfangen, als er einen Scheck über 2.000 Mark ausschreiben durfte.

Als Anzahlung.

»Wenn Sie meine Frau gesund machen, dann stifte ich fünfzigtausend Mark, Dottore«, sagte er mit bewegter Stimme.

Erika wurde gerade hereingeführt, als Dr. Tezza den Scheck in seine Brieftasche steckte.

»In drei Tagen also«, sagte er. »Ich gebe Ihnen prophylaktisch ein Röllchen Tabletten mit, Signora, falls stärkere Schmerzen auftreten sollten. Es sind Tabletten aus meinem eigenen Labor.«

Er reichte sie Erika.

»Zwei Stück in etwas Wasser. In zehn Minuten sind Sie die Schmerzen los.«

Karl Haußmann dankte Dr. Tezza überschwenglich.

Erika staunte. Sie war sehr skeptisch. Aber sie äußerte sich nicht. Sie wollte Karl die aufkeimende Hoffnung nicht rauben.

Frank Hellberg hatte mit Marion Gronau einen Spaziergang machen wollen. Es wurde nichts daraus. Dreihundert Meter hinterm Ortsausgang von Avezzano blieb Marion stehen. Sie zog die hochhackigen Schuhe aus, lief auf Strümpfen zu einem großen Felsbrocken und setzte sich.

»Das mache ich nicht mit«, sagte sie zornig. »Ich gehe zurück zum Gasthof und lege mich hin. Dieses Kaff hat nichts weiter zu bieten als hartes Pflaster und Einöde.«

Ihr Verlobter versuchte nicht, sie umzustimmen. »Ich habe ein paar Krimis im Koffer. Hol dir einen«, verabschiedete er sie und schritt, während Marion in den Ort zurückhumpelte, auf einem Pfad rasch voran, der parallel zur Straße bergwärts führte.

Richtung Capistrello.

Er wollte dort ein bißchen Umschau halten. Vielleicht gelang es ihm, einen Blick in die Klinik des Krebsdoktors zu werfen, ohne sich vorher durch Prunkportal und Marmorhallen blenden zu lassen.

Der Pfad war eine Abkürzung. Er ging zwar steil hinan, sparte dafür aber die Serpentinen aus. Nach einer knappen Stunde sah Frank das rote Kirchendach von Capistrello unter sich. Und gleich daneben entdeckte er die Klinik.

Hellberg erkannte: Der Parkplatz war schon einigermaßen besetzt. Neunzehn Wagen zählte er. Er konnte sogar erkennen, daß einige Fenster der Gebäude weit geöffnet waren.

Es reizte ihn, sich die Sache aus der Nähe zu betrachten. Er verließ den Pfad, der weiter nach oben führte, und stieg, die Füße quer setzend, vorsichtig die mit Geröll übersäte Halde hinab.

Plötzlich stockte er.

Er war an eine steile Stelle geraten. Sechs bis acht Meter ging es senkrecht in die Tiefe. Eine Stützwand, aus Felsbrocken geschichtet.

Er ging vorsichtig an ihr entlang und merkte zu seiner Beruhigung, daß sie an Höhe verlor. Jetzt trennten ihn nur noch drei Meter von einem unter ihm liegenden Pfad. Er fragte sich gerade, ob er hin-abspringen sollte, da drang ein Geräusch durch die Stille.

War es ein Tier?

Oder ein Mensch?

Es klang wie ein leises Schluchzen.

Jetzt wieder.

Frank Hellberg trat dicht an den Abhang und blickte hinunter. Da sah er das Mädchen.

Es saß auf einer Bank in einer Mauernische, hielt den Kopf in die Hände gestützt und weinte. Unaufhaltsam.

Frank wollte sie nicht erschrecken, nicht einfach hinunterspringen. Deshalb rief er sie an:

»Hallo.«

Mit so einer Wirkung hatte er nicht gerechnet: Das Mädchen sprang auf, ergriff die Flucht, von panischer Angst getrieben. Es rannte davon, geradewegs auf den nächsten Steilhang zu. Im nächsten Augenblick mußte sie abstürzen.

Da sprang Frank Hellberg.

Knapp einen Meter vor ihr und knapp einen Meter vom Abgrund entfernt landete er.

Mit ausgebreiteten Armen.

Im letzten Augenblick fing er sie auf.

Zuerst stieß sie ihn von sich. Sie wehrte sich, strampelte mit den Beinen. Er ließ sie erst los, als sie wieder auf dem steinigen Boden stand.

»Scusi, Signorina«, sagte er, ohne zu wissen, wofür er sich entschuldigte. Er deutete auf die Bank. Sie möge sich doch wieder setzen. Er reichte ihr sein blütenweißes Taschentuch und sagte, weil er nicht viel mehr auf italienisch zu sagen wußte:

»Paria te tedesco?«

Aus ihren großen schwarzen Augen sah sie ihn an.

Wie ein gescholtenes Kind. Sie setzte sich gehorsam hin. Offenbar war Frank Hellberg nicht derjenige, den sie fürchtete. Sie trocknete ihr Gesicht ab, das zart und durchsichtig wie Porzellan wirkte und von einer Flut schwarzer Haare eingerahmt war.

Dann erst sagte sie:

»Ja, ich spreche deutsch. Ich bin von Beruf Dolmetscherin, Hosteß bei einer Omnibusgesellschaft.«

Frank setzte sich neben sie. »Und wo drückt der Schuh?« Den Ausdruck verstand sie nicht. Deshalb fügte er hinzu: »Ich meine, kann ich Ihnen helfen?«

»Ich kann nicht darüber reden«, sagte sie.

»Sie sollten es tun, bitte.«

»Nein.«

Frank Hellberg verlegte sich aufs Ausfragen.

»Gehören Sie in jenes Haus?« Er zeigte zur Klinik.

Sie nickte.

»Als Krankenschwester?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie mußte noch blutjung sein. Höchstens zwanzig.

»Ich erkundige mich, weil ein Bekannter von mir gerade heute versucht, seine Frau dort unterzubringen. Glauben Sie, daß er hoffen darf?«

Sie schnaubte verächtlich.

»Hoffen? Es wird ihr eine Weile sehr gutgehen, wenn sie viel Geld hat. Weiter weiß ich nichts.«

»Wie meinen Sie das?«

Sie antwortete mit einer Gegenfrage:

»Ist Ihre Bekannte wirklich unheilbar?«

»Was soll das heißen?«

»Dann schadet es wenigstens nichts, wenn sie bei Dr. Tezza ihre Zeit verschwendet.«

»Was?!« rief Frank Hellberg aus. »Steht es so?«

»So steht es. Und wenn sie kein Geld mehr hat, dann setzt man sie vor die Tür. Es sei denn, sie ist jung, schön und vielleicht sogar blond. Dann mag sie auch ohne Geld bleiben. Unter einer gewissen Bedingung, verstehen Sie?«

»Mein Gott, wie können Sie solche Behauptungen aufstellen. Sie wollen sagen, daß Dr. Tezza.« »Sie haben schon richtig verstanden«, rief sie. Plötzlich überkam sie Wut und Verzweiflung:

»Ach was, wenn Ihr Bekannter Geld hat, soll er es lieber gleich für einen goldenen Sarg ausgeben!« schrie sie und schüttelte die Fäuste.

»Oder besser: Er soll nach L'Aquila fahren und dem Polizeichef eine Million Lire bieten, damit er endlich kommt und diesen Dr. Tezza in seinem Rattennest ausräuchert!«

Sie brach in Schluchzen aus, das ihren ganzen Körper erbeben ließ und nicht enden wollte. Frank Hellberg legte den Arm um ihre Schultern, seine Linke streichelte ihr Haar. Immer wieder. Sein Hemd wurde durchtränkt von ihren Tränen, während er - bruchstückweise -ihre Geschichte erfuhr:

Daß sie Lungenkrebs hatte, daß ihr Geld aufgebraucht war, daß sie die Klinik morgen verlassen sollte, weil der Platz für eine zahlungskräftige ausländische Patientin benötigt würde. Falls sie sich nicht entschlösse, Dr. Tezzas Antrag anzunehmen. Und zwar noch heute.

Nein, sie machte nicht den Eindruck, als sei sie verrückt. So unglaublich ihre Erzählung auch klingen mochte. Sie war keine geltungsbedürftige Erfinderin von Sensationen. Sie war nichts als ein armes, sehr hilfsbedürftiges, kleines Mädchen in großer Not.

Frank Hellberg küßte sie ganz sachte auf die Stirn.

»Ich helfe dir, ich bringe das für dich in Ordnung. Wenn es stimmt, was du mir da erzählt hast, dann brauchen wir keine Million Lire, um den Polizeichef herzulocken.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mir kann keiner helfen«, sie stockte. Ihr schien etwas einzufallen. »Oder würden Sie mich vielleicht mit nach Bari nehmen?«

»Wieso nach Bari?«

»Lesen Sie keine Zeitung?«

»Im Urlaub nicht.«

»Von Bari gehen Schiffe nach Dubrovnik. Und von Dubrovnik kann man mit der Eisenbahn oder mit dem Omnibus nach Sarajewo fahren.«

»Ja, und? Was soll das?«

»In Sarajewo hat ein Arzt ein neues Mittel entdeckt, das schon Krebsfälle geheilt hat. Das Mittel wird in einer staatlichen Fabrik hergestellt und umsonst abgegeben. Es kann kein Betrug sein, tausende fahren von Bari aus hinüber. Mit dem Fährschiff >Sveti Ste-fan<. Sie nennen es das >Schiff der Hoffnung<.«

»Wenn das wahr ist!« Frank Hellberg sprang auf. Er küßte sie auf beide Wangen.

»Kind, wenn das wahr ist! Ich schwöre dir, ich bringe dich hinüber. Du mußt mir nur helfen, meine Bekannten über diesen Dr. Tezza aufzuklären. Komm«, sagte er und nahm ihre Hand. »Wir müssen schnell hinunter.«

Sie sträubte sich.

»Ich betrete die Klinik nicht mehr, obwohl mein Koffer noch im Zimmer steht.«

»Das erledige ich«, rief er und zog sie mit sich fort.

Arm in Arm schlenderten sie durch die gepflegte Parkanlage auf der Bergseite der Klinik.

»Du wirst dich hier ganz bestimmt wohl fühlen, Rika.«

»Nur wenn du bei mir bleibst, Karl.«

»Ich komme jeden Tag.«

»Das mußt du.«

»O Rika, ich bin so froh, daß wir hergefahren sind. Ich glaube, dieser Dottore ist ein Teufelskerl.«

»Das mag schon sein.«

Er horchte auf, blieb stehen, sah ihr in die Augen.

»Rika, was ist denn? Glaubst du nicht, daß Dr. Tezza dich gesund machen wird?«

Und so, als ob sie dann etwas ganz Unmögliches täte, fragte er noch einmal:

»Glaubst du etwa nicht an ihn?«

Sie wollte ihm ihr Gesicht nicht zeigen und wandte sich ab. Da entdeckte sie Frank und das Mädchen. Die beiden kamen Hand in Hand dahergerannt. Es gab Erika einen Stich durchs Herz. Um Himmels willen, dachte sie. Er muß sich doch um seine Marion kümmern. Um meinetwillen!

»Karl«, sagte sie, »sieh mal, wer da kommt.«

Und beglückt stellte sie fest, daß Karl Haußmann nichts als ihre Gesundheit im Sinne hatte. »Mensch, Herr Hellberg«, rief er. »Für Ihren guten Tip werde ich Ihnen ewig dankbar sein. Dieser Tezza, das ist ein Arzt. Eine ganz große Persönlichkeit, sage ich Ihnen. Dem kann man sogar Wunder zutrauen.«

Haußmanns Enthusiasmus verpuffte ohne die erwartete Resonanz.

Hellberg sah eher betroffen als begeistert aus.

Er atmete heftig. Sie waren rasch bergab gelaufen. Dazu kam die Aufregung. Er hatte haarsträubende Einzelheiten über Dr. Tezzas >Heilmethode< zu hören bekommen.

»Haben Sie sich etwa schon angemeldet?« fragte er jetzt. Erika vernahm den warnenden Unterton sofort.

»Übermorgen ist Einzug«, entgegnete Karl und wunderte sich, daß Hellbergs Brauen sich zusammenzogen.

»Entschuldigung«, sagte Frank Hellberg und schob das fremde Mädchen in den Vordergrund. »Gestatten Sie zunächst, daß ich vorstelle.«

Sie sagte selber ihren Namen.

»Claudia Torgiano. Aus Livorno.«

»Und nun zur Sache«, fuhr Hellberg fort. »Signorina Torgiano hat Ihnen eine Eröffnung zu machen, die Ihnen zunächst ungeheuerlich vorkommen wird.«

Er sah, wie Erika Haußmann sich auf die Unterlippe biß und ihr Mann zusammenzuckte. Und er ergänzte:

»Bitte, Sie müssen dieses Mädchen anhören. Es ist von lebensentscheidender Bedeutung.«

Niemand hatte sie kommen sehen.

Plötzlich waren sie da.

Zwei Männer in grauen Kitteln.

Der eine packte Claudia Torgiano von hinten. Mit dem rechten Arm umklammerte er ihren Leib und hob sie hoch. Seine Linke erstickte ihre Hilferufe. Der andere ergriff das Mädchen bei den Beinen.

Dann rannten sie mit ihr davon.

Einen Augenblick waren sie alle erstarrt. Dann warf sich Hellberg herum, und während Erika erst jetzt zu einem Aufschrei fähig war, Karl seine Frau stützte, aus Angst, sie könne einen Schock bekommen, rannte Hellberg den beiden grauen Männern nach.

Er erreichte sie kurz vor der Eingangstür. Sie war offen, und in der Halle warteten weitere zwei Männer in grauen Kitteln.

»Ihr Lumpen!« schrie Hellberg. Er stürzte auf den Mann zu, der Claudias Beine festhielt. Der Mann ließ die Beine fallen, drehte sich um und hieb einen gezielten Schlag gegen Hellbergs Kinn. Eine Sekunde lang schwankte er, aber sie genügte, um Claudia ins Haus zu schleifen. Die wartenden Männer in der Halle warfen die Tür zu. Der Graue, der Hellberg geschlagen hatte, rettete sich mit einem weiten Sprung ins Haus. Im gleichen Augenblick rasselte ein Scherengitter herunter. Die Klinik war abgesperrt wie ein Zuchthaus.

Vom Fenster seines Arbeitszimmers trat Dr. Tezza zurück ins Zimmer. Ein böses Lächeln lag auf seinen Lippen, seine bernsteinfarbenen Augen glühten. Auf dem Flur hörte er viele Schritte, die Tür sprang auf, Claudia wurde in das Zimmer geschoben. Sie sah herrlich aus in ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung. Das bleiche Gesicht war gerötet, die langen, schwarzen Haare zerwühlt, aus den Augen schrie der ganze Haß, den sie gegen Dr. Tezza empfand. Sie blieb an der Tür stehen, nachdem die Wärter hinausgegangen waren, und legte beide Hände über ihre Brust. Dort war das Kleid zerrissen.

»Komm näher.«, sagte Dr. Tezza freundlich und zeigte auf einen der Ledersessel.

»Nein!«

»Ich habe dich beobachtet, wie du mit diesem jungen Mann ge-sprochen hast. Was hast du ihm erzählt?«

»Die Wahrheit!«

»Was nennst du Wahrheit?«

»Alles, was Sie mit mir getan haben und tun wollten!« schrie Claudia und ballte die kleinen Fäuste. »Alles! Alles!«

»Und das hat er dir geglaubt?«

»Ja!«

»Er scheint ein Mensch von primitivem Geist zu sein.« Dr. Tez-za trat wieder an das Fenster. Unten, vor der Klinik, standen Hellberg und Haußmann und verhandelten mit einem der grauen Wärter. Erika saß auf einer Bank im Schatten einer Pinie. »Ist er ein Bekannter von Herrn Haußmann?«

»Sein Freund.« Triumph lag in Claudias Stimme.

»Hm.« Dr. Tezza wandte sich ins Zimmer. Sein Blick, mit dem er Claudia musterte, verhieß nichts Gutes. »Weißt du, daß es mir leichtfällt, dich für irr zu erklären? Dann kommst du in eine Irrenanstalt, und wer da einmal drin ist, kommt nicht oder nur sehr schwer wieder hinaus. Es wäre klug, ein liebes, stilles Mädchen zu sein und ein wenig zärtlich zu deinem Onkel Dottore zu werden.« Dr. Tezza wollte näher kommen. Claudia wich vor ihm zurück und flüchtete um den Schreibtisch. Dr. Tezza stürzte auf sie zu, riß sie zurück, wollte sie in seine Arme reißen, als es klopfte.

»Maledetto!« schrie Dr. Tezza. »Was ist?« Er ließ Claudia los, die zur Wand flüchtete, mit weiten, entsetzten Augen. Sie wußte, es gab für sie keine Hilfe mehr.

Einer der grauen Pfleger kam herein. Seine Miene war sehr ernst und fast erschrocken.

»Dottore«, sagte er, »der Mann draußen ist Journalist. Er droht, in allen Zeitungen der Welt einen Skandal zu machen.«

Dr. Tezza führ herum. »Wußtest du das?« schrie er Claudia an. Claudia nickte.

»Ja«, log sie. Und plötzlich war das Leben nicht mehr grau und hoffnungslos.

»Von welcher Presse?« »Von der deutschen.«

»Auch das noch!« Dr. Tezza trat an einen Spiegel, strich die Haare etwas zurecht und verließ schnell sein Zimmer. Den Wärter ließ er zur Bewachung Claudias zurück.

An der großen Eingangstür stand allein Frank Hellberg und hatte die Hände um die Gitterstäbe gelegt. Karl Haußmann kümmerte sich um seine Frau. Er begriff das alles noch nicht. Nur Erika schien die Wahrheit zu ahnen. Sie lächelte schwach und schwieg, als Karl fragte: »Verstehst du das, Rika?«

Dr. Tezza gab ein Zeichen, als er in der Marmorhalle seiner Klinik erschien. Surrend fuhr das Scherengitter hoch, die Türen öffneten sich, Frank Hellberg trat ein. Ohne auf eine Vorstellung zu warten, wußte Hellberg gleich, wer der elegante Mann in dem weißen Anzug war. So mußte Dr. Tezza aussehen, es war gar nicht anders möglich.

»Lassen Sie sofort Claudia frei!« sagte Hellberg scharf und blieb drei Schritte vor Tezza stehen. Die beiden Männer sahen sich in die Augen und wußten in dieser Sekunde, daß sie Todfeinde waren. Dr. Tezza lächelte ironisch.

»Signorina Torgiano ist krank, sehr krank. Außer einem Bronchial-Ca. leidet sie auch an zeitweiligen geistigen Störungen. Schizophrene Schübe, wenn Ihnen damit gedient ist. Wir müssen dann sofort handeln, damit sie keinerlei Unheil anrichtet. Entschuldigen Sie also bitte das verwunderliche Eingreifen meiner Assistenten.«

Elegant klang das, unangreifbar. Hellberg kräuselte die Lippen.

»Das haben Sie gut ausgedacht, Doktor. Damit kann man alles lahmlegen.«

»Nicht wahr?« Dr. Tezza lächelte breiter. »Da brechen selbst einem deutschen Journalisten die Bleistifte ab.«

»Irrtum.« Hellberg zog das Kinn an. »Ich habe genug gehört, um Ihren Laden hier hochgehen zu lassen!«

»Das ist eine Nötigung«, sagte Dr. Tezza milde.

»Bitte! Sie soll es auch sein! Gehen wir zusammen zur Polizei! Dann wollen wir sehen.«

»Obzwar Sie mir zuwider sind, möchte ich Ihnen eine Blamage ersparen.« Dr. Tezzas Stimme war sanft wie ein Streicheln. »Die Polizei! Glauben Sie wirklich, daß im weiten Umkreis ein Polizist gegen einen Dr. Tezza ermitteln wird? Sie verkennen die Verhältnisse zwischen Apennin und Abruzzen. Wir leben hier nicht im kühlen Germania.«

»Das alte Lied! Gute Lire.«, sagte Hellberg bitter.

»Sehr gute Lire.« Dr. Tezza hob beide Hände. »Was wollen Sie eigentlich? Einen Artikel über mich schreiben? Viel Feind, viel Ehr' ... das ist eines Ihrer deutschen Sprichwörter. Außerdem verklage ich Sie!«

»Es gibt da manche Dinge, die für die Öffentlichkeit interessant sind: Einem Lungenkranken legten Sie goldene Amuletts auf die Brust. Andere Krebskranke werden hypnotisiert, bekommen Breipackungen, werden elektrisiert und mit Magnetismus behandelt. Und dann das Wichtigste. >Dr. Tezzas LebenstrankWir spülen mit dem Lebenstrank den Krebs hinaus<, das sagen Sie selbst allen Kranken. Und die Armen trinken und zahlen, trinken und zahlen . bis sie sterben oder arm geworden sind. Zitronenwasser gegen Krebs!«

»Die Ausgeburt einer kleinen Irren!« Dr. Tezzas Gesicht hatte sich verdunkelt. »Ich habe Beweise echter Heilungen. Innerhalb von acht Tagen! Die sind stärker als die Phantasien einer Schizophrenen.«

»Man wird das alles nachprüfen.« Hellberg spürte, daß er Land gewonnen hatte. Zum erstenmal schien ein Journalist zu wissen, wie man in der Clinica Santa Barbara Krebs >heilte<. »Lassen wir also den Tanz beginnen: Tezza gegen Hellberg. Ich glaube, die Weltpresse hat da einen herrlichen Stoff!«

»Was wollen Sie eigentlich?« Dr. Tezza steckte die Hände in die Taschen seines weißen Anzuges. Er war sichtlich nervös. »Was soll der ganze Rummel?«

»Lassen Sie Claudia frei, geben Sie den Scheck an Herrn Hauß-mann zurück!« »Das muß Herr Haußmann selbst.«

»Ich handle im Auftrag von Herrn Haußmann.«

»Und dann?«

»Dann verlassen wir so schnell wie möglich diesen Ort.«

»Warten Sie.«

Dr. Tezza ging die Marmortreppe hinauf. In seinem Arbeitszimmer stand Claudia noch immer an der Wand, zusammengeduckt, als habe man sie geschlagen. Tezza beachtete sie gar nicht, setzte sich, spannte einen Bogen in die Schreibmaschine und schrieb. Dann hob er das Papier über den Tisch, legte einen Kugelschreiber daneben und winkte Claudia. »Unterschreibe!«

Claudia kam an den Tisch. Sie überflog die wenigen Zeilen, es war eine Art Ehrenerklärung:

Ich versichere hiermit, daß ich entgegen ärztlichem Anraten und im vollen Bewußtsein aller möglichen Komplikationen und Konsequenzen aus freien Stücken die >Clinica Santa Barbara< verlasse.

Ich habe gegen Herrn Dr. Giancarlo Tezza keinerlei Ansprüche mehr und versichere, daß alles getan worden ist, was zur Heilung meiner Krankheit aus ärztlicher Sicht möglich war. Ich bestätige, daß Herr Dr. Tezza nach bestem Wissen gehandelt hat. Ich kann seine Klinik nur empfehlen.

»Das unterschreibe ich nicht!« sagte Claudia und trat zurück. »Nicht den letzten Satz.«

»Willst du wirklich ins Irrenhaus?«

»Das ist eine Lüge, was da steht!«

»Das ganze Leben ist eine Lüge, mein Kleines. Du bist frei und kannst mit deinem Liebhaber hingehen, wohin du willst.«

»Er ist nicht mein Liebhaber.«

»Er wird es werden.« Dr. Tezza lächelte spöttisch. »Du könntest auch bei mir leben. Es fehlte dir nichts.«

Claudia biß die Lippen zusammen. Sie trat wieder vor, nahm den Kugelschreiber und unterschrieb die Ehrenerklärung Dr. Tezzas. Sie wußte, daß er damit unangreifbar geworden war. Aber was tut man nicht alles, um einer Hölle zu entfliehen?

»Danke, mein Kleines!« sagte Dr. Tezza. »Laß dir von der Ober-schwester deine Sachen geben.« Er faltete das Papier zusammen. »Du kannst gehen, wann du willst.«

Mit fliegenden Haaren rannte Claudia hinaus.

In der Halle standen sich wenig später Dr. Tezza und Hellberg wieder gegenüber. Diesmal waren auch Karl und Erika dabei. Mit kurzen Worten hatte Hellberg ihnen erklärt, was hier in dieser Klinik gespielt wurde. Haußmann war hochrot und maßlos erregt. Daß er einem Scharlatan aufgesessen war, konnte er nicht überwinden.

»Mein Geld!« schrie er sofort, als Dr. Tezza auf der Treppe sichtbar wurde. »Mein Geld, Sie Pfuscher!«

»Bitte!« Dr. Tezza schwenkte den Scheck Haußmanns. Er war weit davon entfernt, sich beleidigt zu fühlen. Niemand hörte sie. Die Kranken hatten Zimmer-Liegestunde, das Personal war sowieso für solche Vorwürfe taub. Man konnte ungeniert sprechen.

»Wo ist Claudia?« rief Hellberg.

»Sie packt die Koffer. Zufrieden?« Dr. Tezza sah jeden an. Seine Sicherheit war bedrückend. Hellberg ahnte etwas Unangenehmes. Und seine Ahnung wurde sofort bestätigt. Tezza reichte Hellberg die unterschriebene Erklärung.

»Bitte, lesen Sie.«

Hellberg gab das Papier zurück, nachdem er es zweimal gelesen hatte.

»Damit sind Sie gerettet!«

»Ich glaube, ja. Ihre Kronzeugin fällt aus. Andere Zeugen haben Sie nicht. Es wird auch niemand aussagen in diesem Haus.« Dr. Tez-za steckte die Erklärung in die Brieftasche. »Nun schreiben Sie Ihre Artikel, Herr Hellberg! Es wird Sie Millionen Schadenersatz kosten.«

Oben erschien Claudia. In beiden Händen Koffer. Mit glücklichem, strahlendem Gesicht. In Hellbergs Herz leuchtete eine heiße Sonne auf. Er rannte ihr entgegen, nahm ihr die Koffer ab.

»Kommt!« rief er. »Gehen wir! Ich kann nicht garantieren, ob ich mich noch fünf Minuten zu beherrschen vermag!«

Sie verließen die Clinica Santa Barbara, ohne sich umzublicken, und fuhren zurück nach Avezzano.

Dr. Tezza sah dem Auto nach, bis es hinter einer Kurve der Serpentinenstraße verschwand. Er war der Sieger, aber er kam sich nicht als solcher vor.

Er ahnte: Er hatte nur eine kleine Galgenfrist bekommen.

Neben dem Gutshof, auf einer Wiese, lag unter einem Sonnenschirm Marion Gronau auf einer Decke. Sie sprang erschreckt auf, als sie die quietschenden Bremsen des Wagens vor dem Haus hörte. Ihr Bikini war atemberaubend, aber keiner beachtete ihn. Karl half seiner Frau aus dem Wagen, Hellberg bemühte sich um Claudia.

»Nanu, wer ist denn das?« fragte Marion, die mit verzerrtem Gesicht an der Hauswand lehnte. »Bekommt man Medizin jetzt in solcher Verpackung mit?«

»Laß die dummen Bemerkungen, bitte.« Hellberg stellte Claudia vor, und Marion nickte von oben herab. Wie zwischen Tezza und Hellberg war zwischen Claudia und ihr gleich vom ersten Blick an eine stille, aber unüberwindliche Feindschaft.

»Ein Heilungserfolg Dr. Tezzas?« fragte Marion.

»Nein. Ich habe Fräulein Torgiano aus der Klinik dieses Scharlatans geholt. Ich erzähle es dir später.«

»Du entwickelst dich zum großen Samariter, mein Lieber. Nur scheint mir, daß in den Zimmern der Klinik auch weniger junge Patienten liegen, die man >retten< müßte!«

Hellberg antwortete nicht. Er trug die Koffer ins Haus, Claudia folgte. In Marions Zimmer stellte Hellberg die Koffer ab und zeigte auf das Bett.

»Ruhen Sie sich etwas aus, Claudia. Die Aufregung war zuviel für Sie, und mit meinen Freunden werde ich sprechen ... wegen Bari.« Er drehte sich um und ging. An der Tür aber fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Lautlos war ihm Claudia nachgeeilt und stand nun dicht vor ihm.

»Sie sind ein guter Mensch«, sagte sie leise. Dann hob sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen schnellen Kuß auf den Mund.

Ehe Hellberg etwas sagen konnte, hatte sie ihn aus dem Zimmer geschoben. Klirrend drehte sich der Schlüssel im Schloß.

»Claudia.«, sagte Hellberg leise und legte den Zeigefinger auf seine Lippen, wo er noch ihren Kuß spürte. »O Claudia.«

Marion lag wieder auf der Decke unter dem Sonnenschirm. Sie richtete sich auf, als Hellberg zu ihr kam. Haußmanns blieben auf ihrem Zimmer. Erika hatte einen Weinkrampf bekommen, als sie endlich wieder zur Ruhe gekommen war.

»Nun?« fragte Marion.

»Was nun?«

»Keine Erklärungen?«

»Nein.«

»Du machst es dir einfach, mein Lieber. Läßt mich allein nach Hause humpeln, empfiehlst mir Krimis und kommst nach Hause mit einem jungen Mädchen. Und das alles soll ich schlucken wie Zuckerwasser.«

»Das verlangt keiner.« Hellberg setzte sich neben Marion auf die Decke. »Claudia ist sehr krank. Lungenkrebs.«

»Ach! Mir scheint, du wirst Krebsspezialist. Was sollen wir mit ihr?«

»Wir fahren alle nach Bari.«

»Wozu sind die Füße da . zum Marschieren.«

»Von Bari fahren wir nach Dubrovnik und dann weiter nach Sarajewo.«

»Leider gibt es keinen Kronprinzen mehr, den man da erschießen kann.«

»Aber einen Arzt, der ein neues Krebsmittel entdeckt hat. Hunderte, ja Tausende fahren seit Wochen zu ihm. Es ist fast wie eine Wallfahrt. Wir sollten alle uns bietenden Chancen ausnützen . zumal sich Frau Haußmann nicht operieren lassen will.«

»Ach!« Marion legte die Arme unter den Kopf. Ihre Brüste wölbten sich hoch in die gleißende Sonne. »Das wußte ich ja noch gar nicht.«

»Und Claudia glaubt an dieses Mittel. Sie ist ein armes Ding, so hoffnungslos - bis auf die letzte Hoffnung in Sarajewo.«

»Soll ich weinen?« Marion nagte an der Unterlippe. »Wie soll das überhaupt werden. Wo soll sie denn schlafen?«

»Bei dir.«

Marion schnellte hoch wie ein Gummiball. »Du bist wohl verrückt!« rief sie.

»Wieso?«

»Womöglich noch in einem Bett!«

»Wir haben keine andere Möglichkeit.« Hellberg blinzelte zu Marion hinauf. »Oder soll ich sie bei mir schlafen lassen?«

Marion schwieg. Sie wandte sich ab und sah hinüber zum Fenster ihres Zimmers. Dort war Bewegung hinter der dünnen Gardine. »Sie ist ja schon drin!«

»Ja. Sie soll sich ausruhen. Marion.« Hellberg setzte sich auf. »Eine Nacht ist es nur. Morgen fahren wir alle nach Bari. Überwinde dich diese eine Nacht.«

»Es scheint dir viel am Glück dieser Claudia zu liegen.«

»Ja, sehr viel. Wenn du in ihrer Lage wärst, wärest du auch froh, wenn dir jemand helfen würde.«

Damit war das Thema erledigt.

Verbissen schwieg Marion. Aber sie wußte nun, wie gefährlich ihr Claudia werden konnte. Und sie beschloß, besonders nett zu sein, um Hellberg keinen Anlaß zu geben, sich mit ihr zu streiten.

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