Kapitel 7

Gegen Morgen gab es einen Ruck, der durch das ganze Schiff ging. Es war, als habe die >MS Budva< etwas gerammt, ein Riff, einen riesigen Fisch, eine Sandbank. Durch den stählernen Körper lief ein Zittern; dicke, weiße Qualmwolken quollen aus dem Schornstein. Dann schwiegen plötzlich die Maschinen, das Stampfen im Bauch der >Budva< verflatterte mit einem stöhnenden Klappern, die Schraube drehte sich nicht mehr, wie ein Spielzeugschiff schaukelte das >Schiff der Hoffnung< stumm auf den Wellen der Adria.

Von der Brücke telefonierte der Rudergänger hinunter zur Maschinenzentrale. »Zum Teufel, was ist los?« brüllte er durch die Röhre. Der II. Offizier, der ebenfalls Brückenwache hatte, saß in einer

Ecke des Ruderhauses und schlief. Eine Wolke von Slibowitz umwehte ihn.

Der II. Ingenieur - der Erste lag oben in der Kapitänskajüte über dem runden Tisch und schlief, bleischweren Alkohol im Gehirn -fluchte erst einmal ellenlang, ehe er Antwort gab. »Maschinenschaden, Ivoc!« brüllte er zur Brücke hinauf. »In einer der Turbinen muß 'ne Welle gebrochen sein; wir sehen schon nach.«

»Gebrochen? Mann! Dann liegen wir ja fest!«

»Und wie wir festliegen. Ich habe immer gesagt, die >Budva< ist ein Großmütterchen. Aber ihr laßt sie laufen wie 'n Teenager. Vollgas voraus! Kann dein Großväterchen noch Vollgas geben?«

»Wir haben halbe Fahrt gehabt«, brüllte der Rudergänger zurück. »Der Maschinentelegraf steht noch drauf.«

»Halbe Fahrt ist bei der >Budva< Vollgas!« Der II. Ingenieur hustete. Im Maschinenraum mußte Rauch sein. »Zum Teufel noch mal, jetzt ist auch noch irgendwo ein Kurzschluß. Ein Kabel ist durchgeschmort«, keuchte er. »Geh zum Käpt'n und sag ihm, er soll das Mistschiff versenken!«

In den Kabinen merkte niemand, was geschehen war. Der Ruck wurde vom Schlaf aufgefangen. Nur auf dem Deck 2 bei den Armen, machte sich Unruhe breit. Sie hörten durch die Dielen alles, was im Inneren des Schiffes vor sich ging. Nun schwiegen alle Maschinen. Eine Abordnung der Zweit-Deckler machte sich auf, um oben nachzuforschen, warum die >MS Budva< trieb und nicht mehr fuhr. Riffe, Sandbänke und Eisberge gab es hier nicht, auch keinen sagenhaften Riesenwal, der Schiffe rammt. Es war also keinerlei Anlaß zur Panik.

Der Rudergänger stellte alle Hebel auf Null, rüttelte den II. Offizier, gab es dann aber auf, als dieser weiterschlief. Er stieg hinunter zum Kapitänszimmer und kam in einen Dunst von Schnaps, kaltem Tabakrauch und süßlichem Parfüm. Die Männer saßen oder lagen betrunken auf Stühlen und dem Sofa; die Frauen waren anscheinend gegangen, als sich die Auflösungserscheinungen bemerkbar machten.

Fast eine halbe Stunde brauchte der Rudergänger, ehe der Kapitän mit Hilfe von Sprudelwasser und kalten, nassen Handtüchern soweit klar war, daß er die Lage überblickte und auch verstand. Dann allerdings begann er zu brüllen, kletterte in den Maschinenraum und nannte den II. Ingenieur zunächst einen stinkenden Misthaufen. Dann besichtigte er die durchgeschmorte Leitung, ausgerechnet ein Hauptkabel, und die Turbine mit der gebrochenen Welle.

»Scheiße!« sagte der Kapitän. »Mehr geht nicht. Wir müssen uns abschleppen lassen. Wie ist das bloß möglich?«

»Durch den Ausfall der Turbine ist plötzlich zuviel Strom in den Verteiler und das Kabel.«

»Wie kann die Welle brechen?!« brüllte der Kapitän.

»Chef!« Der II. Ingenieur schob die ölige Mütze in den Nacken. An der Turbine arbeiteten sechs Mann und bauten das Bruchstück aus. »Wenn ein Hundertjähriger Ski fährt und fällt beim Wedeln hin, dann spritzen die spröden Knochen wie bei einer Eierhandgranate. Und wenn.«

Der Kapitän verzichtete auf eine weitere Antwort und kletterte wieder aufs Deck. Dort stieß er aufdie Abordnung der Zweit-Deck-ler, die bis jetzt vergeblich nach einer Auskunft suchten.

»Die Turbine hat gerülpst!« schrie der Kapitän. »Sie wird noch zweimal furzen, und dann läuft sie wieder. Geht zu euren Weibern und schlaft weiter, verdammt noch mal!«

Auf der Brücke, im Ruderhaus, setzte er sich auf einen Hocker und starrte hinaus auf das nachtschwarze Meer. Der arbeitslose Rudermaat trank die Flasche Mineralwassser leer, die er zur Ernüchterung des Kapitäns geholt hatte. Auch der Funker, der nachts ab 24 Uhr Freiwache hatte, war aus der Koje geholt worden und saß vor dem Funkgerät.

»Wen soll ich rufen, Käpt'n?« fragte er verschlafen. »Bari oder Du-brovnik?«

»Deine fette Anna!« schrie der Kapitän. »Mensch, siehst du denn nicht, daß es unmöglich ist, jetzt SOS zu funken?«

»Wieso denn?« fragte der Funker zurück.

Der Kapitän winkte ab und ging auf die Außenbrücke. Der frische Nachtwind tat ihm gut und blies den letzten Dunst aus dem Gehirn. Wir müssen warten bis morgen mittag, dachte er. Wenn jetzt aus Bari Hilfe kommt und sieht, daß alle Offiziere betrunken sind, gibt es einen Skandal. Die italienische Presse wird über uns herfallen wie die blutgierigen Wölfe. Sie warten nur darauf, die Lumpen! Und erst Dubrovnik. Der staatliche Navigationsdirektor! Ins Zuchthaus kommen wir alle wegen Sabotage und Schädigung des Ansehens des Volkes. Ich werde in der Zelle hocken, ohne mein viertes Kind gesehen zu haben. O verflucht, verflucht! Ist das eine Situation! Wir müssen unbedingt mit dem Notruf warten, bis alle wieder auf den Beinen sind. Dann dachte er an Dubrovnik, wo das Schiff um 8 Uhr morgens einlaufen mußte. Man würde bis 9 Uhr warten ... dann ging die Meldung hinaus. Mit Funk und Radar würde man das Meer absuchen. Und man würde hinterher fragen: Warum haben Sie kein SOS gegeben? Und er würde antworten: Ich glaubte, mit eigener Kraft weiterzukommen.

Ob man ihm das abnehmen würde?

Zwei Deckstewards bemühten sich in der Kapitänskajüte um die schlafenden Gäste. Es graute bereits im Osten, und das Meer wurde streifig, als alle Offiziere auf der Brücke standen, mit schweren Köpfen, gläsernen, verquollenen Augen und einem schrecklichen Atem.

»Freunde«, sagte der Kapitän krampfhaft ruhig. Er war sonst ein Choleriker, aber was nutzte jetzt alles Toben? »Ihr wißt alle, in welcher Tinte wir jetzt sitzen. Daß die Welle gebrochen ist - Pech! Das durchgeschmorte Kabel - Mist! Aber daß wir besoffen in der Ecke lagen, das ist eine Schande, die jeden von uns zehn Jahre Zuchthaus kosten kann. Wir sind uns also einig, daß wir die ganze Nacht gearbeitet haben, um den Dreckskahn flottzukriegen und nicht gefunkt haben, um durch SOS keine Panik zu erzeugen. Ist das klar?«

»Völlig klar, Andric.«

»Dann alle Mann auf die Posten. Ich alarmiere jetzt Bari und Dubrovnik. Schätze, daß wir nun einen guten Tag länger brauchen, bis man uns abgeschleppt hat.«

Ruhig schaukelte die >MS Budva< auf der sanften Dünung. Eine leichte Brise wehte von Süden, die Sonne stieg silbern auf, es wurde ein schöner, warmer Sommertag, von denen die Urlauber aus dem Norden immer träumen.

Der erste, der aktiv wurde, war Dr. Mihailovic. Er besuchte seine Patienten und gab ihnen eine neue Injektion, damit sie den kommenden Tag des Stillstandes verschliefen. Um ihr Herz nicht zu belasten, setzte er eine Kreislaufspritze hinterher und erzählte in jeder Kabine, daß der Schaden an der Maschine nur leicht sei. Zur Überbrückung der Zeit würde auf Deck 1 die Kapelle der Freiwache flotte Musik machen.

In der Kabine des Engländers allerdings traf Dr. Mihailovic auf unvorhergesehenen Widerstand. Der Neffe verlangte, daß sofort von Dubrovnik ein Wasserflugzeug herbeigerufen werde, um seinen Onkel nach Sarajewo zu bringen. Geld spiele gar keine Rolle.

»Ein Flugzeug!« sagte Dr. Mihailovic, als handele es sich um die Bestellung einer Mondrakete. »Was glauben Sie, wo wir sind?!«

»Biete ihm 10.000 Pfund«, sagte der lebende Leichnam aus seinem Bett. »Damit kann er seinen Hintern vergolden lassen.«

Dr. Mihailovic verließ beleidigt die Kabine des Engländers. Er gab ihm weder eine Herzinjektion noch eine Betäubungsspritze. Auch die Kabine von Haußmann, dem unangenehmen Deutschen, mied er. Es gibt eben Patienten, die selbst einem Arzt mißfallen.

Nach dem Frühstück gingen Karl und Erika Haußmann auf dem Sonnendeck spazieren. Sie genossen den herrlichen Tag und hatten sich mit dem Zwangsaufenthalt aufSee abgefunden. Sie lagen in ihren Liegestühlen und bedauerten es nur, daß das Schwimmbecken an Deck nicht voll Wasser war, sondern nur eine schmuddelige, rissige Vertiefung. Marion Gronau war noch nicht aus ihrer Kabine gekommen. Erika bemerkte es wohl, aber sie schwieg. Nach dem tiefen Schlaf kam sie sich sehr erholt vor und wunderte sich, daß

Dr. Mihailovic, der zur Brücke ging, ruckartig stehenblieb, sie musterte, Karl Haußmann anstarrte, mehrmals den Kopf schüttelte und dann gedankenvoll weiterging.

Gestern noch todkrank auf einer Trage, heute strahlend und hübsch im Liegestuhl in der Sonne - das soll einer begreifen! Die Germanen müssen eine besondere Rasse sein.

Erst gegen Mittag kam Marion an Deck.

Sie sah bezaubernd aus, ihr Blondhaar fiel in weichen Wellen auf die Schulter, und sie trug kurze, enge Shorts und über der Brust eine atemberaubende Corsage. Die Schatten unter ihren strahlenden Augen gaben ihrem Gesicht etwas ungemein Faszinierendes.

»Welch ein Tag!« sagte sie, legte sich neben Erika in Karls Liegestuhl und warf die langen, schlanken Beine hoch. Haußmann stand an der Reling und grüßte nicht zurück. Er tat, als sehe er Marion gar nicht. »So ein Maschinenschaden ist auch etwas Gutes«, sprach Marion unbeirrt weiter. »So kommt man wenigstens zu etwas Seeluft. Ich bräune übrigens sehr schnell. Morgen werde ich dunkel sein wie eine Mulattin. Das ist bei blonden Typen sonst sehr selten.«

»So vieles ist selten«, sagte Haußmann unhöflich und laut. Er beugte sich vor und half der verblüfften Erika aus ihrem Liegestuhl. »Komm, Rika, wir gehen aufs Spieldeck und versuchen uns im Krik-ket.«

Ohne ein weiteres Wort hakte er Erika unter und ging mit ihr fort. Unhöflicher ging es nicht, es war eine offene Brüskierung. Betroffen, mit plötzlich kleinen Augen starrte ihnen Marion nach.

Was hat er denn? dachte sie. Warum behandelt er mich wie ein Stück Dreck? Was habe ich ihm getan? Und dann kam Wut und Trotz in ihr hoch und sie ballte die Fäuste. Na warte, dachte sie. Es geht auch anders, mein liebes Bärchen! So kannst du mir nicht kommen, so nicht! Ich bin keine Dirne, die man nach der Bezahlung hinauswirft! Ich habe immerhin nahe genug mit dir am Traualtar gestanden, und wenn ich aufzähle, was du mir in zwei Jahren im Büro alles gesagt hast - ich glaube nicht, daß deine Rika dann so fröhlich Kricket spielen würde.

Sie legte sich wütend zurück und schloß die Augen.

»Du hast sie nicht schön behandelt, Karl«, sagte Erika, während sie zum Spieldeck gingen. »Warum bist du so unhöflich zu ihr? Wir haben ihr immerhin den versprochenen Urlaub verdorben.«

»Ich kann sie nicht mehr sehen!« Haußmanns Stimme war rauh vor Ärger. Er ärgerte sich am meisten über sich selbst. »Ich habe nie so deutlich gesehen, wie sie sich zur Schau stellt. Aber ihr Benehmen ist unmöglich.« Er faßte Erika um die Schulter, ganz liebender Ehemann. »Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich sie entlassen«, sagte er. »Ich will im Betrieb und auch sonst meine Ruhe haben.«

Dann spielten sie Kricket, und keiner ahnte, was sich in diesen Minuten unter Deck abspielte und welche Ereignisse einige Seemeilen südlicher auf einer weißen Luxusjacht das Schicksal von Claudia und Frank bestimmten.

Die ganze Nacht hindurch waren sie gefahren. Frank Hellberg hatte die langen Stunden wach verbracht, obwohl er zum Umfallen müde war. Als er spürte, wie die Müdigkeit bleiern durch seinen Körper schlich, hatte er sich wachgehalten, indem er laut mit sich selbst sprach und in einem Buch las, das er in der Schublade des Nachttisches gefunden hatte und das - gehörte es zu den kleinen Teufeleien Saluzzos? - eine historische Abhandlung über Sklavenhandel war.

Später dann trommelte er wieder gegen die verschlossene, dicke Tür. Aber niemand kam. Auf dem Schiff war alles ruhig, nur das leise Stampfen der Maschinen zitterte durch den Rumpf.

Wir fahren nach Süden, dachte Hellberg. Bei der Geschwindigkeit, die die Jacht macht, würden wir die jugoslawische Küste längst erreicht haben, wenn wir ostwärts gefahren wären. Aber jetzt befinden wir uns auf dem weiten Mittelmeer, irgendwo auf dem Weg an die nordafrikanische oder kleinasiatische Küste. Und dort wird ein anderes Schiff warten und uns übernehmen.

Das Gefühl, das Hellberg bei diesem Gedanken beschlich, war unangenehm. Keine Angst, aber doch eine lähmende Hilflosigkeit, denn soviel wußte er, daß nach der Übergabe der >Fracht< an die asiatischen >Kaufleute< kaum mehr eine Chance bestand, ins freie Leben zurückzukommen.

Gegen Morgen hatte Hellberg einen Plan gefaßt, der ihm die einzige Möglichkeit schien, sich und die anderen festgehaltenen Passagiere Saluzzos zu retten. In den langen Stunden der vergangenen Nacht hatte er immer wieder alle Komplikationen durchdacht, die möglich waren; dann ging er mit einer Gründlichkeit an die Ausführung des Planes, die alle Pannen ausschloß; denn vom Gelingen hing ja im wahrsten Sinne des Wortes sein Leben ab.

Von der Übergardine vor dem Bullauge riß er die Gardinenschnur ab und setzte sich vor den großen Toilettenspiegel. Vorsichtig, aber doch so fest, daß man deutliche rote Male auf der Halshaut sah, rieb und zog er die Schnur um seine Kehle zusammen. Es dauerte bei dieser Vorsicht ungefähr eine Viertelstunde, bis sich um seinen Hals aufgeschabte Würgemale zeigten, die jeden, der sie sah, entsetzen mußten. Dann band er die Schnur um den abgeschlossenen Kipphebel des Bullauges, knüpfte eine Schlinge, rückte einen kleinen Hocker unter das Fenster und verschob den Teppich auf dem Boden so, als hätten seine Füße im Todeskampf den Teppich unter sich weggetreten.

Frank Hellberg sah auf seine Uhr. Kurz vor 8 Uhr morgens. Gleich mußte der Schlüssel im Schloß knirschen und der Steward die Tür aufschließen und fragen, was man zum Frühstück wünsche.

Hellberg setzte sich auf den kleinen Hocker, legte die Schlinge um den mit den Würgemalen aufgedunsenen Hals und wartete so auf die Geräusche vor der Tür.

8 Uhr. Auf dem Gang hörte er Klappern. Jetzt schloß man Claudias Luxuszelle auf, dachte er. Unten war der Tag schon begonnen worden ... die >Ware< hatte ihr Frühstück bereits erhalten. Auch Juanita Escorbal saß jetzt an ihrem weiß-goldenen Rokokotisch und aß Weißbrot, Butter, Honig und ein geschlagenes Ei mit Rotwein.

Und sie dachte an den fremden Mann von gestern, der ihr versprochen hatte zu helfen.

Frank Hellberg biß die Zähne zusammen.

Es muß gelingen, dachte er. Es muß...

Hellberg ließ sich sanft vom Hocker gleiten und hing in der Schlinge der Gardinenschnur. Obgleich er es geübt hatte, war es jetzt, wo es ernst wurde, ein merkwürdiges Gefühl, den würgenden Strick an der Kehle zu spüren. Er schloß die Augen, und als die Tür aufgestoßen wurde und der Steward hereinkam, kniete er vor dem Hocker, der Kopfhing weit nach vorn herüber, und die Schnur war strammgezogen vom Hals bis zum Hebel des Bullauges.

»Madonna mia!« rief der Steward, rannte aus dem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und alarmierte Saluzzo. Umberto Saluzzo saß bereits oben auf dem Sonnendeck unter dem schützenden, orangefarbenen Sonnensegel und wartete auf Claudia Torgiano. Es war schon sehr heiß trotz des frühen Morgens, die weiße, schlanke Jacht glitt schwerelos durch das tiefblaue Wasser, und um sie herum war die Unendlichkeit des Meeres, von Horizont zu Horizont nur das wogende Blau des von Goldfäden durchwirkten Himmels. Saluzzo war guter Laune. Er trug ein kurzärmeliges Hemd und Shorts, und er war stolz darauf, trotz seiner fünfzig Jahre noch einen so sportlichen, schönen Körper zu haben.

Der herbeistürzende Steward störte ihn gerade bei einer romantischen Tätigkeit! Er umlegte das Gedeck Claudias mit Blumen, die in einem besonderen Kühlschrank frisch gehalten worden waren.

»Er hat sich erhängt!« stammelte der Steward mit schreckensweiten Augen. »Chef. ich komme ins Zimmer, und da hängt er am Fenster.«

Saluzzo warf die Blumen mit einem Fluch beiseite und rannte mit dem Steward unter Deck.

Dort hatte sich nichts verändert. Frank Hellberg hing ohnmächtig -oder schon tot? - in der Schlinge, als Saluzzo und der Steward in die Kabine stürzten.

»Ein Messer!« schrie Saluzzo. »Du Idiot, warum hast du ihn nicht sofort abgeschnitten? Ein Messer, zum Teufel.«

Der Steward holte aus der Tasche ein kleines Taschenmesser, und es dauerte für Saluzzo unendlich lange, bis man die gedrehte Gardinenschnur durchtrennt hatte. Frank Hellberg fiel auf den Boden ... er spielte dies verblüffend echt, indem er alle Muskeln löste und erschlaffen ließ, so wie es bei einem Ohnmächtigen oder soeben Gestorbenen der Fall ist. Nun lag er auf dem Rücken, fühlte, wie Sa-luzzo ihm das Hemd aufriß und das Ohr auf das Herz legte.

»Er lebt!« schrie Saluzzo. »Schnell in den Sanitätsraum! Luigi soll ihm eine Kreislaufspritze geben. Pack' an, du Affe! Zittert, weil sich ein Feigling aufknüpfte. Verdammt, ich habe diesen Schreiberling unterschätzt.«

Saluzzo und der Steward packten Hellberg und trugen ihn aus der Kabine. In diesem Augenblick öffnete sich gegenüber die Tür und Claudia trat in den Gang, Sie sah den schlaffen Körper Franks zwischen den Männern und schrie hell auf.

»Was ist mit ihm?« rief sie und starrte entsetzt auf das bleiche Gesicht. »Was habt ihr getan?«

»Geh in die Kabine, mein Kind«, keuchte Saluzzo. Hellberg war schwer, und ein Besinnungsloser ist doppelt schwer. »Ein Unglücksfall.«

»Ist er tot?« schrie Claudia und klammerte sich an der Tür fest.

»Geh' ins Zimmer!« herrschte Saluzzo sie an.

»Ihr habt ihn umgebracht!« Claudia ballte die kleinen Fäuste und stürzte sich auf Saluzzo. Mit ihrer schwachen Kraft hämmerte sie gegen seinen Rücken, und ihr Schreien wurde zum wimmernden Schluchzen. »Umgebracht habt ihr ihn, ihr Teufel! O ihr Teufel! Bringt mich doch auch um! Warum laßt ihr mich leben? Ich will nicht mehr leben. Tötet mich! Tötet mich!« Saluzzo ließ die Beine Hellbergs, die er umfaßt hielt, fallen, packte die tobende Claudia, schob sie in ihr Zimmer zurück und verschloß die Tür. Dann nahm er wieder die Beine Franks und nickte dem noch immer bebenden Steward zu. »Los, ab ins Krankenzimmer. Und dann holst du Luigi sofort von der Brücke. Er ist als Sanitäter ausgebildet, er wird schon was wissen!«

Der Sanitätsraum war weiß gekachelt, hatte ein großes, aber ebenfalls vergittertes Fenster und strahlte die sterile Sauberkeit aus, die alle solche Räume haben. Warum Saluzzo auf seiner Jacht ein vollkommen eingerichtetes Krankenrevier hatte, war Hellberg rätselhaft. Vielleicht hatte der Vorbesitzer es eingerichtet, und Saluzzo hatte es so belassen. Sogar ein kleiner, schmaler, aber mit allen Finessen eingerichteter OP-Tisch stand mitten im Zimmer, und Hellberg sah ihn unter gesenkten Lidern interessiert an, während Saluzzo unruhig hin und her lief und auf Luigi Foramente wartete.

Der OP-Tisch hatte in den verchromten Schlaufen die typischen Schnüre zum Festbinden der Operierten. In den beiden Glasschränken an der Wand sah Frank blitzende chirurgische Bestecke und einige dunkelbraune Flaschen, in denen sich Äther und Chloroform befinden mußten.

Hellberg lächelte nach innen. Glück muß der Mensch haben, dachte er fast übermütig. An viele Möglichkeiten hatte er gedacht, die sein Spiel bieten würden, aber was er hier vorfand, ließ ihn fast glauben, gerettet zu sein.

Saluzzo fluchte, während er auf Luigi wartete. Die roten, aufgequollenen Würgemale um Hellbergs Hals, die blutigen, abgeschabten Hautstellen hatten ihm gezeigt, daß Hellberg schon länger in der würgenden Schlinge gehangen hatte. Daß er überhaupt noch lebte, war ein Wunder.

»Verdammt, wo bleibt er denn?« schrie Saluzzo in die Stille des weißen, sterilen Raumes. Er wollte zur Tür gehen, um den Gang hinaufzublicken, und mußte dabei wieder an dem ohnmächtigen Hellberg vorbei.

Es war der Augenblick, auf den Frank gewartet hatte. Saluzzo ging an ihm vorbei, da schnellte Frank hoch wie eine Raubkatze. Mit der ganzen Schwere seines Körpers warf er sich auf Saluzzo und schlug gleichzeitig beide Hände vor dessen Gesicht und Mund. So erstickte der Aufschrei zu einem dumpfen Gurgeln, sie fielen auf den gekachelten Boden, Saluzzo unter Frank, und bevor es zu einem Kampf kommen konnte, hieb Hellberg gegen die Schläfe Saluzzos, ein Schlag, der unbedingt betäubend wirkte.

Nun kam es auf Sekunden an.

Hellberg schleifte den Körper Saluzzos aus dem Blickfeld der Tür, rannte zu dem gläsernen Schrank mit den braunen Flaschen, riß aus einer Rolle Verbandsstoff einen großen Streifen Zellwatte ab, entkorkte die Flasche, roch den Äther und schüttete mit abgewandtem Gesicht einen gehörigen Schuß der betäubenden Flüssigkeit auf das Watteknäuel.

Über die eiserne Treppe, die zum Deck und zur Brücke führte, hörte er klappernde Tritte.

Luigi Foramente kam. Ob der Steward folgte, wußte Frank nicht, aber er traute sich zu, auch mit zwei Männern fertig zu werden. Man mußte nur die Schrecksekunde ausnutzen.

Hellberg stellte sich neben die Tür und hielt den Ätherwattebausch bereit. Es war nur Luigi allein, er hörte es, als die Schritte an der Tür zum Sanitätsraum kurz verstummten. Frank atmete auf. Und wieder dachte er: Glück muß der Mensch haben, dann stolpert der Teufel über seinen eigenen Pferdefuß.

Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen. Der schwarze Lok-kenkopf Luigis erschien, Hellberg hob blitzschnell die Hand und preßte die Ätherwatte gegen den offenen Mund Foramentes. Ein paarmal schlug Luigi um sich, aber es war eine matte Abwehr, der schnell wirkende Äther vermischte sich mit dem Erschrecken und einer explosiven Angst . dann sank Foramente mit einem Seufzer in die Knie und fiel betäubt nach vorn aufs Gesicht.

»Ruhe sanft!« sagte Hellberg und mußte trotz des Ernstes seiner Lage lachen. Er schleifte Luigi auf das Ruhebett, auf dem er vorhin als >Erhängter< selbst gelegen hatte, und drückte ihm zur Sicherheit den Ätherwattebausch noch einmal auf die Nase. Dann hob er unter Ächzen und ungeheuren Anstrengungen den Körper Saluzzos auf den OP-Tisch und schnallte ihn an Händen, Armen und Beinen fest, so daß er sich nicht rühren konnte, wenn er aus der Betäubung erwachte.

Bei diesen Arbeiten lauschte Frank immer wieder nach draußen zum Gang. Der Steward mußte noch kommen. Vielleicht war er jetzt bei Claudia und beruhigte sie.

Frank hatte Saluzzo gerade festgebunden, als er die Schritte auf den eisernen Treppenstufen klappern hörte. Nummer drei, der Steward, dachte Frank völlig ruhig, nahm die Ätherwatte vom Gesicht Luigis und stellte sich wieder neben die Tür.

»Chef, das Mädchen dreht durch!« hörte er den Steward schon im Gang rufen. Hellberg, mit seinem mangelhaften Italienisch, verstand von diesem Satz nur das Wort Signorina, aber es genügte, um es zu ahnen, was mit Claudia war.

»Chef.« Der Kopf des Stewards erschien in der Tür. Er sah Saluzzo auf dem OP-Tisch liegen, seine Augen wurden groß, er machte einen Schritt vor. »Was ist denn das, Chef?« stotterte er.

Das war das letzte, was er sagte. Süße umwehte ihn, etwas Feuchtes preßte sich gegen seine Nase und den japsenden Mund, die Welt wurde leicht, schwerelos, er kam sich vor, als schwebe er über dem Boden ... dann fiel auch er in die Arme Franks und wurde weggeschleift in eine Ecke des weißen Raumes, wo er lang ausgestreckt liegenblieb und tief schlief.

Hellberg blickte auf seine Uhr: 8.30 Uhr. Die weiße Jacht glitt mit ungeminderter Geschwindigkeit weiter durch das blaue, in der Sonne spiegelnde Meer. Ein Matrose stand oben am Ruder und hielt den Kurs, den Luigi ihm gezeigt hatte. Auf dem Sonnendeck wartete das Frühstück aufSaluzzo, Claudia und Frank. Der geeiste Orangensaft war schon serviert.

Hellberg umwickelte Arme und Beine der beiden Narkotisierten mit einer Anzahl Mullbinden. Um ganz sicher zu sein, daß sie sich nicht freimachen konnten, schlang er um alles noch ein paar elastische Binden und sicherte sie obendrein noch mit Arterienbinden.

Als er den letzten Handgriff tat, rührte sich auf dem OP-Tisch Umberto Saluzzo. Er stöhnte leise, wollte an seine Schläfe fassen und bemerkte da erst, daß er gefesselt auf dem Tisch lag.

»Diabolo!« schrie er. Hellberg wirbelte herum und trat an Saluzzo heran. Er blickte in haßerfüllte, flackernde und doch maßlos erstaunte Augen.

»Ich denke, Sie machen Ihren letzten Seufzer?« sagte Saluzzo mit trockenen Lippen. »Haben Sie sich gar nicht erhängt? Aber die Würgemale um den Hals. Hellberg, das war alles nur eine meisterhafte Komödie.«

»Sie haben aufgehört, die Hauptrolle zu spielen, Saluzzo.« Hellberg griff nach einem Leinen und faltete es so, daß man es als Knebeltuch verwenden konnte. Saluzzo erkannte sofort die Absicht Franks und bäumte sich in den Fesseln auf.

»Lassen Sie den Blödsinn, Hellberg!« schrie er. »Zum Teufel, wo bleibt Luigi?«

»Der liegt auf dem Untersuchungsbett und schnarcht. Ein bißchen Äther auf die Nase.«

»Was Sie sich einbilden, Hellberg, ist ein Phantom! Gut, ich liege hier, Luigi haben Sie ausgeschaltet.«

»Ihren Steward auch!«

»Ach! Fleißig! Fleißig! Aber wir sind hier zu 12 Mann an Bord! Und Sie sind allein.«

»Aber ich habe den großen Vorteil, daß die anderen Männer nicht wissen, was unterdessen in der Sanitätsstation vorgefallen ist. Aber was reden wir!« Frank beugte sich zu Saluzzo. Die Augen des Teufels weiteten sich noch mehr. »Hellberg.«, rief er. »Begehen Sie keine Dummheiten!«

Frank schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie klüger gehandelt als jetzt.« Er hob den Kopf Saluzzos etwas an, band das Tuch um dessen Mund und erstickte damit alle Worte und Flüche zu einem undeutlichen Murmeln. Das gleiche tat er mit Luigi Foramente und dem Steward. In den Taschen der beiden fand er je eine geladene Pistole, steckte die beiden Waffen ein und verließ das Krankenzimmer. Er schloß die Tür ab - eine schöne, feste, ebenfalls schalldichte Tür -, schob den Schlüssel in die Tasche und ging hinauf aufs Deck und zur Kommandobrücke. Aber auf halbem Wege blieb er wieder stehen, ging zurück zur Sanitätsstation, schloß wieder auf und durchsuchte auch die Shortstaschen Saluzzos. Hellberg hatte Glück. Sa-luzzo trug die Schlüssel zu den unteren Zellen bei sich. Als er sie aus der Tasche zog, stöhnte Saluzzo auf und wollte mit letzter Kraftanstrengung die Fesseln sprengen. Aber es waren feste, gute Lederriemen, und alle Kraft war unnütz.

»Sie werden sehen, Saluzzo«, sagte Hellberg und beugte sich über die haßsprühenden Augen, »wie fröhlich es bald an Bord wird. Ich werde jetzt Ihre Mädchen aus den Zellen befreien. Aber keine Angst, ich lasse sie nicht auf Sie los. Ich kann mir denken, wie es Ihnen dann ergehen würde, und ich habe noch so viel Humanität in mir, um das nicht zuzulassen.«

Er schloß wieder sorgsam ab und stieg dann hinunter zu den geheimnisvollen Zellen im Bug der Jacht.

Was werde ich antreffen? dachte er, als er den erleuchteten Gefängnisgang betrat. Wie werden die anderen Mädchen aussehen? Und vor allem: Wo werden wir landen, an welcher Küste, wenn ich den Matrosen oben am Ruder zwingen werde, einfach geradeaus zu fahren oder nach links oder nach rechts abzudrehen?

Während er die erste Zelle mit dem Universalschlüssel Saluzzos aufschloß, wußte Frank Hellberg, daß die Abenteuer mit diesem Tage erst begonnen hatten.

Die >MS Budva< trieb lautlos in der Adria zwischen Bari und Dubrovnik.

Auf dem Spieldeck vertrieb die Bordkapelle tatsächlich den Tag mit flotter Musik, aus der Küche wurden eiskalte Getränke serviert, die Passagiere beobachteten die Tümmler, die um das Schiff herumtanzten, und die Schwärme silberner Fische, die wie ein Strom aus gerilltem Metall durch das blaue Wasser zogen. Man fotografierte, tanzte, machte Gesellschaftsspiele, belagerte die kleine Bar, lag in den Liegestühlen und sonnte oder brauste sich am Rande des leeren Schwimmbeckens.

Unter Deck aber, bei den Schwerkranken, herrschte diese fröhliche Ferienstimmung nicht. Der Engländer war wieder in Agonie gefallen, aber nicht ohne vorher seinen Neffen beschimpft zu haben, weil er nicht fähig sei, ein Flugzeug zu chartern, um Sarajewo und die Wunderpillen des Dr. Zeijnilagic zu erreichen. Auch ein schwedisches Ehepaar, das als erstes an Bord gegangen war und seitdem nur in ihrer Kabine gelebt hatte, machte von sich reden: Die Frau, mit einem als unheilbar diagnostizierten Brustkrebs, hatte allen Mut verloren und flehte ihren Mann an, ihr so viel Morphium zu geben, daß sie ruhig und für immer einschlafe. Dr. Mihailovic, der Bordarzt, soff sich Mut mit seinem geliebten Slibowitz an und versuchte, die Panik unter den Kranken mit Worten und Medikamenten zu lindern.

»Nur 24 Stunden höchstens!« sagte er immer wieder und schrieb, da er nur serbokroatisch sprach, die 24 auf ein Stück Papier und zeigte sie jedem, der es sehen wollte. »Keine Aufregung! Sie werden Sarajewo alle noch rechtzeitig erreichen!«

Um die Mittagszeit, als Karl Haußmann und Erika aufdem Oberdeck Kricket spielten, brach unter Deck die Katastrophe aus. Ein Mann aus Flensburg, der bisher ruhig an der Bar gesessen hatte und von dem niemand Näheres wußte, verließ nach drei Kognaks den Speisesaal und ging in seine Kabine. Dort nahm er aus seinem Koffer ein großes Taschenmesser, klappte die Klinge heraus, trat wieder in den Gang und sah mit irren Augen um sich.

»Der Doktor!« sagte er laut vor sich hin. »Wo ist der Doktor? Alle Ärzte sind Betrüger! Alle Ärzte belügen uns! Alle! Sie verderben die Menschheit. Aber bevor sie es tun können, werde ich im Namen der Menschheit alle Ärzte töten.«

Mit äußerlich ruhigen Schritten ging er durch das Schiff, das Messer in der flachen Hand, so daß es niemand sah, und suchte in den Kabinen nach Dr. Mihailovic.

»Entschuldigen Sie«, sagte er jedesmal, wenn er eine Kabinentür aufriß oder man ihm nach seinem Klopfen öffnete. »Dr. Mihailo-vic hier?« Er starrte in die Kabinen, schüttelte dann den Kopfund ging weiter.

So kam er auch in die 1. Klasse zu der Kabine Karl Haußmanns, klopfte an und betrat sie, als niemand ihm Antwort gab. Erschöpft von seiner Suche nach Dr. Mihailovic setzte er sich in einen der Sessel, legte das Messer auf die Lehne und erholte sich etwas.

Oben, auf dem Spieldeck, legte Erika Haußmann den Schläger weg und strich sich die verschwitzten, kupfern leuchtenden Haare aus der Stirn.

»Eine Hitze ist das, Karli«, sagte sie. »Ich geh' schnell 'runter und ziehe mich um. Kommst du mit?«

Karl Haußmann schielte auf die kleine Erfrischungsbar. Aus einem Eiskessel zog der Steward Büchsen mit deutschem Bier. Karl Haußmann bekam einen unbändigen Durst. Erika lachte, als sie seinen Blick verfolgte und die schäumenden Gläser sah.

»Geh' nur, Karli«, sagte sie. »In fünf Minuten bin ich wieder da. Bestell' mir auch eins.«

»Nicht lieber eine Orangeade, Rika?«

»Nein, ein kühles Bier! O Karl, ich fühle mich heute so stark wie selten. Ich kann gar nicht begreifen, daß ich gestern noch krank sein sollte.« Sie lehnte sich an ihn und legte den Arm um ihn. »Vielleicht irren sie sich alle«, sagte sie leise. »Vielleicht sind es nur die Nerven.« Die ganze Hoffnung lag in dieser Frage. Die Hoffnung, die alle Krebskranken so sehr beseelt . und die immerwährende Flucht vor der schrecklichen Wahrheit.

»Der Himmel möge es so sein lassen.« Karl Haußmann gab Erika einen Kuß. »Es ist unbegreifbar, wenn man dich so sieht, Rika. Ich habe ja nie daran geglaubt. Du wirst sehen, der Arzt in Sarajewo lacht nur und schickt dich nach Hause!«

Wie ein junges Mädchen lief Erika über das Deck und die Treppe hinunter zu den Kabinenfluren. Haußmann sah ihr nach, und er spürte ein so warmes, herrliches Gefühl, wie er es lange nicht mehr empfunden hatte. Ich liebe sie, dachte er. Ja, ich liebe sie, ich habe sie immer geliebt. Die Sache mit Marion? Das war eine Dummheit. Ein Irrtum! Ein Ausrutscher, wenn man so sagen darf. Ich bin einmal auf dem Glatteis des Lebens ausgerutscht, aber rechtzeitig wieder aufgestanden. Und die Knochen habe ich mir auch nicht gebrochen, das ist wichtig!

Rika, ich liebe dich wie am ersten Tag, als wir zusammen tanzten und ich nicht wußte, wie man seine Tanzpartnerin unterhält. Weißt du noch: Vom Wetter habe ich gesprochen, und dann vom Fußball. Schalke 04 gegen 1. FC Köln. Und du hattest Anstand genug, diesem jungen, stammelnden Idioten, der ich damals war, geduldig zuzuhören. Erst Jahre später erfuhr ich, daß du gar nicht wußtest, wer Schalke 04 ist.

Haußmann ging lächelnd hinüber zur Bar und zeigte aufdie eisgekühlten, vor Kälte beschlagenen Büchsen.

»Due«, sagte er und hob zwei Finger zur besseren Verständigung. Und dann wartete er auf Erika.

In der Kabine sprang der Herr aus Flensburg auf, als Erika eintrat. Er riß das Messer an sich, rannte an der erstarrten Frau vorbei zur Tür, warf sie zu und stellte sich davor.

»Erschrecken Sie bitte nicht«, sagte er mit flackernden Augen. »Ich kam in Ihre Kabine, weil ich jemanden suchte, und dann übermannte mich die Müdigkeit. Diese Hitze. Und dann auf dem Wasser! Und dazu mein Auftrag, den ich erfüllen muß.«

Erika wollte schreien, aber sie sah ein, daß es jetzt sinnlos war. Sie starrte aufdas blanke Messer und nahm alle Kraft und allen Mut zusammen.

»Sie sind Deutscher?« fragte sie.

Der Herr aus Flensburg zog erfreut die Brauen hoch. »Oh, eine Landsmännin! Gestatten, Uve Frerik mein Name.« Er verbeugte sich mit eckigen Bewegungen und hielt sein Messer an der Hosennaht. »Großkaufmann aus Flensburg.« Dann ließ seine übertriebene Zak-kigkeit nach, er hob den Kopf und sah Erika mit fieberglänzenden Augen an. »Nach Sarajewo, gnädige Frau?«

Erika nickte. »Ja.«, antwortete sie stockend. »Sie auch, Herr Fre-rik?«

»Leidensgenossin?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Krebs, Gnädigste! Die Krankheit unseres Jahrhunderts. Wir Kabineninhaber haben ihn ja doch alle, nicht wahr? Nebenan liegt ein Engländer im Koma, zwei Kabinen weiter liegt eine Dame mit Darmkrebs, in Kabine 9 ein Mammakarzinom, Kabine 23 drei Damen mit Magen-Ca., Uteruskrebs und Leukämie ... und so geht es durch das Schiff bis zum C-Deck, wo ganze Sippen nach Sarajewo reisen, zu diesem Dr. Zeijnilagic und seiner Wunderdroge HTS! Auch ich!« Er verbeugte sich wieder wie bei der Vorstellung. »Lymphogranulomatose, Gnädigste. Von den Ärzten aufgegeben. Lebenserwartung noch sieben Monate. Sagen Sie ganz ehrlich: Wenn Sie meinen Körper sehen würden, alle Lymphbahnen sind aufgequollen wie Heferollen.«

Erika sah sich hilfesuchend um. Zum Nachttisch, dachte sie. Dort steht eine Flasche Mineralwasser. Man sollte sie ihm an den Kopf werfen und dann hinausrennen. Doch dann starrte sie wieder auf das Messer in der Hand Freriks und wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren.

»Und . was wollen Sie noch in meiner Kabine?« fragte sie mit bewundernswerter Kraft. Wenn doch Karl käme, dachte sie dabei. Er steht oben und wartet auf mich mit dem Bier. Er muß doch nachsehen, warum ich nicht komme. Bestimmt sieht er nach. Noch fünf Minuten Mut . vielleicht zehn Minuten.

»Wie ich schon sagte, Gnädigste, ich ruhte mich aus. Ich suche Dr. Mihailovic. Ich muß ihn töten.«

»Was müssen Sie?« stammelte Erika. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Jetzt erst sah sie an dem flackernden Blick und den unruhigen Händen, daß Uve Frerik ein Irrer war, daß sie sich mit einem gefährlichen Verrückten in einem Zimmer befand und keine Möglichkeit hatte zu flüchten. Das schnürte ihr die Kehle zu, und sie wich zur Wand zurück.

»Das Problem ist einfach, Gnädigste«, sagte Frerik in fast dozierendem Tonfall. »Ich habe eine langjährige Erfahrung im Umgang mit Ärzten. Meine Mutter starb an Krebs, mein Vater verendete an einem verschleppten, durchgebrochenen Blinddarm, der falsch operiert wurde, und - auch so etwas gibt es in unserem Jahrhundert! -, meine Schwester verunglückte und starb an einer Hirnquetschung, die man nicht erkannte. Meine Frau wurde vor drei Jahren mit Kobaltbestrahlungen zu Tode bestrahlt. Sie sehen, ich habe den besten Umgang mit Ärzten und erfuhr, was man ärztliche Kunst und Wissen nennt. Immer haben die Ärzte geglaubt, sie hätten mich beobachtet . ein verzeihlicher Irrtum: Ich habe sie studiert! Ihre Arroganz gegenüber fragenden Patienten, ihre vollendete Lügenhaftigkeit, ihr mangelndes Wissen, das sie mit tönenden, lateinischen Vokabeln umkleiden, ihre Interessenlosigkeit gegenüber dem einzelnen und ihr Spiel mit den Krankenscheinen. Gewiß, es gibt auch weiße Hirsche, zahme Löwen, nicht staubende Briketts und geruchlose Ausdünstungen. Aber das sind Ausnahmen und die guten Ärzte sind solche Ausnahmen. Man betrachtet sie in ihrem Kollegenkreis ja auch als Außenseiter!«

Uve Frerik, der Irre, holte tief Atem und schlug im Stehen die Beine übereinander. Erika starrte gegen die Tür. Warum kommt Karl nicht, dachte sie. Warum läßt er mich mit diesem Wahnsinnigen allein?

»Als ich dieses Problem unserer Medizin erkannt hatte, und es bedurfte dazu immerhin der Ausradierung meiner Familie durch die Ärzte, erhielt ich den Auftrag, die Ärzte zu vernichten, um der Menschheit die Möglichkeit zu geben, aus eigener Kraft länger zu leben.«

»Und wer . wer gab Ihnen den Auftrag, Herr Frerik?« fragte Erika tapfer.

»Das Gewissen in mir! Jeder große Entdecker hat ein Gewissen gegenüber der Allgemeinheit. Franklin erfand den Blitzableiter für die Allgemeinheit. Galilei konstruierte das erste Fernrohr: Was wären wir heute ohne Fernrohr? Gutenberg erfand den Druck mit beweglichen Lettern - nicht mehr wegzudenken aus unserer Kultur. Und dann der große Mann, der das DDT erfand! DDT, das Insekten vernichtet. Welche Tat! Welche Befreiung der Menschheit vom Ungeziefer! Und nun kommt Uve Frerik, der Mann, der die Ärzte vernichtet. Glauben Sie, Gnädigste, daß die Menschheit einen ungeheuren Auftrieb bekommt, wenn nicht mehr der Krankenschein, sondern der Wille zur Gesundheit die Welt regiert?«

Erika nickte mehrmals. Karl, bettelte sie innerlich. Karl, bitte, bitte komm. Ich vergehe vor Angst.

Frerik verbeugte sich galant. »Sie sind eine Dame von Welt, Gnädigste«, sagte er. »Sie haben Verständnis, Sie erkennen die großen Zusammenhänge! Es mag sein, daß wir Krebskranken mit dem Blick in Dimensionen gesegnet sind, die anderen Menschen verschlossen bleiben. Ich möchte jedenfalls damit beginnen, dieses betrunkene Individuum von Dr. Mihailovic zu töten. Wissen Sie, was er getan hat? Er hat mir eine Spritze gegeben, trotz Protest! Sie bewirkte, diese Spritze, daß meine linke Leistenseite um zwei Zentimeter angeschwollen ist. Ich sagte zu Dr. Mihailovic: Ich habe Lymphogranulomatose. Aber er schüttelte nur den Kopf und antwortete: >Nix! Silenzio!< und hieb mir die Injektion in den Oberschenkel. Sagen Sie selbst, Gnädigste, muß er nicht sterben?«

Erika schwieg. Uve Frerik schien aber auch keine Antwort zu erwarten, ein neuer Gedanke beseelte ihn. Man sah es am Glanz seiner Augen.

»Immer waren es große Ideen, die die Welt revolutionierten. Ich nehme an, Sie halten mich für verrückt, Gnädigste. Tun Sie es, es ist eine Auszeichnung! Lenin hatte die Paralyse. Nietzsche hatte sie. Von Hugo Wolf sagte man es auch. Geniale Köpfe! Und die Ideen rauschen nur so durch das Gehirn. Bitte, setzen Sie sich hin.«

Das war plötzlich anders gesprochen. Ein Befehl. Mit einer eiskalten Stimme. Erika zuckte zusammen.

»Herr Frerik.«, stammelte sie. »Mein Mann.«

»Ihr Gatte ist in der glücklichen Lage, seine Frau für eine große Tat zur Verfügung zu stellen. Setzen Sie sich.«

»Ich schreie um Hilfe!« rief Erika und wich zurück zum Bett.

»Ich bitte darum, meine Gnädigste.«

»Hiiiilffee!« schrie Erika grell. »Hilfe!«

»Sehr gut.« Uve Frerik lächelte galant. »Sie haben eine starke Stim-me, Gnädigste. Aber bitte . setzen Sie sich hin und rühren Sie sich nicht. Ich wäre sehr unglücklich, irgendwelchen Zwang anwenden zu müssen.«

Gehorsam setzte sich Erika auf die Bettkante. Der Irre legte das Ohr an die Türfüllung und lauschte. Ein Lächeln überflog sein bleiches Gesicht.

»Man hat Ihren Schrei gehört, Gnädigste. Aber man weiß nicht, woher er kam. Bitte, rufen Sie noch einmal um Hilfe.«

Erika schwieg wie gelähmt. Uve Frerik hob das blanke Messer. »Schreien Sie!« rief er mit wieder eisiger Stimme.

»Hiiiiilfe!« schrie Erika grell. Frerik nickte zufrieden.

»Sie haben die Richtung. Sehen Sie.« An der Tür klopfte es. Frerik winkte ab, als Erika aufsprang und auf schwankenden Beinen zur Tür wollte. »Bemühen Sie sich nicht, Gnädigste. Ihre Mitwirkung an der Revolution gegen die Ärzte ist damit beendet. Sie dienen von jetzt ab nur als Mittel zum Zweck.«

Wieder klopfte es an der Tür. Man hörte erregte Stimmen im Gang und dann einen lauten Ruf, bei dem Erika zusammenzuckte.

»Karl!« schrie sie. »Karl! Hilf mir! Hilfe!«

Frerik nickte zufrieden. »Ihr Gatte?«

»Ja.«

»Das Roulette läuft. Werfen wir die Kugel.« Er klopfte mit dem Knöchel gegen die Tür und sagte laut: »Meine Herren, bitte Ruhe. Ich habe Ihnen einen Tausch vorzuschlagen. Die gnädige Frau verläßt gesund das Zimmer, wenn Sie mir Dr. Mihailovic in die Kabine schicken.«

»Rika! Wer ist bei dir?« brüllte im Gang Karl Haußmann. Er rüttelte an der Klinke, aber Frerik hatte sie von innen verschlossen. »Rika! Ist etwas passiert? Was ist los? Wer ist bei dir?«

»Ein Irrer!« schrie Erika zurück. »Helft mir doch! Helft mir. Er will Dr. Mihailovic töten.«

»Das war unklug, Gnädigste«, sagte der Wahnsinnige ruhig. »Die Taktik erfordert es, daß man seine Absichten erst klarlegt, wenn der Gegner einem gegenübersteht. Ich bedauere, jetzt eine andere Marsch-richtung einschlagen zu müssen.« Er wandte sich wieder zur Tür. Im Gang war jetzt ein lautes Stimmengewirr. Der Kapitän, der I. Offizier, der I. Ingenieur, Dr. Mihailovic - mit einer Slibowitzfah-ne - und eine Menge Passagiere verstopften den Gang. Karl Haußmann zeigte auf die Tür und zitterte vor Erregung.

»Aufbrechen!« rief er dem I. Offizier zu. »Mann, holen Sie einen zweiten Schlüssel oder eine Axt oder einen Vorschlaghammer. Sie haben es doch gehört: Meine Frau ist von einem Verrückten eingeschlossen worden.«

»Brechen Sie die Tür nicht auf, mein Herr!« tönte die Stimme des Irren von innen. »Beim ersten Splittern des Holzes müßte ich Ihre verehrte Gattin erstechen.«

»Rika!« brüllte Haußmann und umklammerte die Klinke. »Mein Gott, warum hilft denn niemand?!«

»Ein Vorschlag: Lassen Sie Dr. Mihailovic eintreten! Es dauert keine zehn Sekunden, und Sie haben Ihre Gattin unversehrt wieder.«

Haußmann sah sich mit flackernden Augen um. Der I. Offizier hob die Arme und sprach ein paar Worte mit dem betrunkenen Doktor. Der gab einen Laut von sich, als heule er auf, und hob abwehrend die Hände.

Der Irre schien phantastische Ohren zu haben. Er klopfte an die Tür.

»Der Doktor ist auch da«, sagte er. »Er soll hereinkommen. Er kann der Wissenschaft ein Opfer bringen.«

»Hören Sie.« Karl Haußmann legte die Lippen an die Türritze. »Lassen Sie meine Frau heraus, und wir vergessen den ganzen Rummel.«

»Mein Herr!« rief der Wahnsinnige zurück. »Verlangen Sie von mir nicht einen galileischen Widerruf. Ihre Gattin ist die Stufe zur Reinigung der Menschheit. Ich warte eine halbe Stunde . dann werde ich Ihre Gattin für den Ungehorsam der Welt bestrafen, so leid es mir tut, eine so kluge und schöne Frau zu entstellen. Aber bitte, suchen Sie die Schuld dann ganz bei sich.«

»Rika!« schrie Haußmann und rüttelte wieder an der Klinke. »Rika!

Habe Mut! Wir werden einen Weg finden. Habe Mut!«

»Der Weg ist Dr. Mihailovic. Schicken Sie ihn in die Kabine.« Uve Frerik schien hinter der Tür zu lachen. »Wie rar sind die Mutigen.«

Haußmann trat von der Tür zurück. Er schwankte etwas, kalter Schweiß tropfte über sein verzerrtes Gesicht. Der Kapitän und die anderen Schiffsoffiziere verhandelten, Dr. Mihailovic lehnte zitternd an der Gangwand.

»Was wollen Sie tun?« fragte Haußmann heiser. Der I. Offizier zeigte auf drei Matrosen. Sie drängten sich durch die Menge der Neugierigen und hatten Äxte und Rauchpatronen bei sich, die für Notsignale auf den Schwimmflößen gedacht waren. Im Raum wirkten die Rauchpatronen wie Tränengas.

»Wir werden ihn ausräuchern«, sagte der I. Offizier. »Immer diese Deutschen.«

»Lassen Sie die dämliche Politik einmal weg!« schrie Haußmann außer sich. »Sie haben doch gehört: Beim ersten Schlag gegen die Tür tötet er meine Frau.«

»Wissen Sie einen anderen Weg?«

»Verhandeln.«

»In einer halben Stunde ist es sowieso geschehen. Irre sind konsequent. Oder glauben Sie, ihn überreden zu können?«

»Ich weiß es nicht. Man muß es doch versuchen. Mein Gott, Sie können es doch nicht einfach darauf ankommen lassen, ob er meine Frau tötet oder nicht, wenn wir die Tür einschlagen. Wir wollen doch keinen Mord provozieren.«

»Also gut, warten wir!« Der I. Offizier winkte den drei Matrosen. Die stellten die Äxte ab und legten die Rauchpatronen auf einen Sims. Der I. Offizier sah auf seine Armbanduhr.

»Versuchen Sie Ihr Glück.«

»Haben Sie keine andere Möglichkeit, in die Kabine zu kommen, ohne die Tür einzuschlagen?« fragte Haußmann leise.

»Nein!«

»Von außen! Durch das Bullauge.«

»Das ist zu klein. Aber.« Der I. Offizier sprach aufgeregt mit dem

Kapitän. Der nickte und rannte davon. Haußmann lehnte sich neben Dr. Mihailovic an die Wand.

»Doch eine Möglichkeit?« stotterte er.

»Wir werden mit dem Streichbrett, das wir immer benutzen für den Außenanstrich, an zwei Seilen einen Mann herunterlassen. Wenn der Wahnsinnige günstig steht, kann unser Mann ihn mit einem Schuß durch die Scheibe unschädlich machen.«

»Das ist gut«, sagte Haußmann schwach. »Das ist sehr gut. Und bis er an der Bordwand heruntergelassen ist, muß ich den Irren beschäftigen.«

»Versuchen Sie es.« Der I. Offizier hatte wenig Hoffnung, Haußmann sah es an seinem Blick. »Viel Glück!«

Haußmann trat wieder an die Tür und klopfte.

»Ich höre«, sagte Live Frerik.

»Dr. Mihailovic ist bereit zu kommen.«

»Ein Held! Er soll einen anständigen Tod haben. Stich in die Halsschlagader.«

»Das ist Ihre Sache!« Haußmanns Stimme schwankte vor Grauen. Meine Erika, dachte er. Meine arme Erika! Und das soll nun das >Schiff der Hoffiung< sein? »Aber wer garantiert, daß meiner Frau nichts geschieht?«

»Mein Wort als Ehrenmann! Die Freriks sind eine alte Handelsfamilie, zurückverfolgbar bis zur Hanse. Mein Wort ist wie ein Scheck von Fugger.«

»Ich schlage vor.«, sagte Haußmann mit mühsam fester Stimme, »daß Sie erst meine Frau herauslassen.«

»Halten Sie mich für einen Verrückten?« Haußmann verzog bei dieser Frage das Gesicht. Was sollte man daraufantworten? Uve Fre-rik lachte laut.

»Der Doktor wird sich aber wehren«, sagte Haußmann. »Sie können nicht erwarten, daß er sich hinstellt wie ein Schaf und sich abstechen läßt.«

»Wer erwartet das von ihm? Er soll sich auch ein Messer holen. Ich bin kein Wilhelm Tell, der aus dem Hinterhalt schießt. Ich halte viel von Tradition, geschichtliche Lösungen von Mann zu Mann zu erstreiten.«

»Einverstanden!« Haußmann sah auf einen Steward, der den Gang entlangkam und dem I. Offizier etwas sagte. »Der Doktor ist gerade gegangen und holt auch ein Messer.«

Der I. Offizier beugte sich vor.

»Es wird gleich abgeseilt«, flüsterte er Haußmann ins Ohr. »Es ist unser bester Schütze. In zehn Minuten kann er vor dem Fenster sein. Sprechen Sie weiter!«

Haußmann preßte beide Hände auf sein Herz. Es schlug wie wild und nahm ihm fast den Atem. Noch zehn Minuten! Sie würden zehn Jahre dauern.

»Hören Sie«, sagte er gegen die Tür.

»Ich höre«, antwortete der Irre.

»Wie denken Sie sich Ihr weiteres Leben, wenn Sie Dr. Mihailo-vic getötet haben? Zum Beispiel gleich, wenn Sie herauskommen?«

Uve Frerik schien nicht lange nachzudenken. Er lachte wieder. »Welche Frage, mein Herr!« rief er. »Man wird mich als den Befreier feiern! Erst nach dem Tyrannenmord erkennt das Volk die Gerechtigkeit des Mörders.«

Haußmann drückte die Stirn gegen die Tür. Jetzt erst wußte er ganz klar, wie groß die Gefahr war, in der Erika schwebte. Dieser Irre hinter der Tür war gnadenlos, denn er hatte eine eigene Weltanschauung.

Gibt es etwas Gnadenloseres als Menschen mit einer Weltanschauung?

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