Kapitel 11

Mit Lord Rockpourth war nicht zu reden. Nachdem ihm die Transfusionen und Infusionen so gutgetan hatten, die Herzspritzen anschlugen und die Kreislaufmittel ihn ungeheuer tatenlustig werden ließen, kam der alte Ärger über seinen Greisenkörper zurück, der ihm den Dienst versagte. Außerdem traf gegen Morgen Neffe Robert mit Marion Gronau ein, während der Chauffeur in Sarajewo im Hotel Europa blieb und mit der Werkstatt in Belgrad telefonierte, die ihrerseits Verbindung mit der Rolls-Vertretung in Wien aufnahm.

»Was ist das?« schrie Lord Rockpourth, kaum daß Robert ins Zimmer kam. Professor Kraicic, der neben dem Bett saß, hob seufzend die Augen und starrte an die Decke. Er hatte schon viele Kranke erlebt, Skurrile und echte Verrückte, Psychopathen und Simulan-ten, still und gefaßt Sterbende und Tobende, die sich gegen den Tod stemmten. Lord Rockpourth war eine völlig neue Art von Patient: Medizinisch war er längst tot, aber er tyrannisierte seine ganze Umgebung. Wieso er noch lebte, war Professor Kraicic ein Rätsel. Darin teilte er die Ansicht der anderen Ärzte, die Rockpourth im Laufe der Jahre verschlissen hatte. Nur die Krebsdiagnose, die hielt Krai-cic für falsch. Rockpourth war schon von der Erscheinungsform her gar kein Magenkrebstyp, im Gegenteil. Er hatte sich Bilder des Lords zeigen lassen, die Rockpourth mit sich herumschleppte, um zu demonstrieren, welch ein stattlicher Kerl er einmal gewesen war; auf diesen Bildern war der Lord als dicker, schwerer Mann zu sehen, eine Kraftnatur voll Saft und Energie. Wer heute die Mumie sah, glaubte nicht daran, daß dies Lord Rockpourth sein könnte. Der Gegensatz war zu groß.

»Was ist das, Bob!« schrie Rockpourth und klopfte auf die Bettdecke. »Du warst in Sarajewo!«

»Ja, Onkel James.«

»Die erste Pille her!«

»Verzeih, aber ich habe sie nicht. Erstens hatten wir noch keine Zeit, mit Dr. Zeijnilagic zu sprechen, weil wir sofort zurück nach Mostar gefahren sind, als wir erfuhren, daß du hier bist, und zweitens.«

»Viele Worte, verdammt noch mal! Faul ward ihr alle!«

».und zweitens gibt es kein HTS mehr!«

»Was?« Lord Rockpourth starrte seinen Neffen und dann Professor Kraicic an. »Das ist doch eine Lüge, eine ganz infame Erbschleicherlüge! Man will mich verrecken lassen. Professor, jetzt hören und sehen Sie es! Keine Pillen mehr! Haha!«

Professor Kraicic nickte. »Es stimmt, Mylord. Man hat das HTS staatlich verboten. Vor zwei Tagen.«

»Ist man in Belgrad verrückt?«

»Vorsichtig, Mylord. Es gibt da Unklarheiten.«

»O diese Worte! Nur Worte! Nur Gestammel! Hat das HTS bisher geholfen? Ja oder nein?« »Ja und nein! Aber Erfolge sind keine Beweise für die Unschädlichkeit des Mittels. Es fehlen Versuchsreihen, es fehlen Überwachungen von Nachwirkungen.«

»Diese Wissenschaftler!« schrie Lord Rockpourth und klopfte mit der knochigen Faust wieder auf die Bettdecke. »Wie gut, daß man weiß, aus welchen chemischen Bestandteilen ein Furz besteht, man müßte sonst heimlich, hinter dem Haus, in die hohle Hand.«

»Onkel James!« sagte Robert warnend.

»Wer hat das HTS verboten?«

»Die Gesundheitsinspektion von Bosnien«, antwortete Professor Kraicic.

»Ärzte?«

»Natürlich.«

»Aha! Der Futterneid! Einer entdeckt was, und die anderen sehen ein, daß sie Rindviecher sind, und wehren sich dagegen! Bei Koch war es so, bei Semmelweis, bei Pasteur, überall. Man müßte eine Liga der Arztgeschädigten gründen. Robert!«

»Onkel James?« fragte Neffe Robert voll dunkler Ahnungen.

»Besorg' einen Wagen! Wir fahren nach Sarajewo weiter.«

»Sie sind nicht transportfähig, Mylord«, riefProfessor Kraicic entsetzt. »Sie müssen weiterbehandelt werden!«

»Ich muß nach Sarajewo!« schrie Rockpourth zurück.

»Was wollen Sie denn da?«

»Das HTS, verdammt! Ich kaufe den ganzen Dr. Zeijnilagic. Ich kaufe ihn für eine Million und nehme ihn mit nach England. Ich richte ihm ein Labor ein, ich baue ihm eine Fabrik. Wenn Ihre Regierung zu dumm ist, Größe zu erkennen: wir Briten können es! Wir haben einen sechsten Sinn für Größe. Und dieser Dr. Zeijni-lagic ist ein Genie.«

»Wenn Sie wüßten, woraus dieses HTS besteht. Aus welchen einfachen, bekannten pharmazeutischen Nichtigkeiten.«

»Und wenn er gemahlenen Eulendreck verarbeitet - falls es hilft, baue ich ihm eine Fabrik.« Rockpourth winkte mit beiden Händen zu Robert. »Einen Wagen! Bob, du Faulpelz. Einen Wagen nach Sarajewo!«

Professor Kraicic beugte sich über das Mumiengesicht Rockpourths. »Ich will Ihnen einmal etwas sagen, Mylord«, sagte er betont und langsam. »Sie sind eine alte, hysterische männliche Jungfer! Ich habe Sie geröntgt, während Sie in Ihrer Tetanie lagen.«

»Ich weiß«, sagte Rockpourth erstaunlich leise. »Ich habe ja alles gesehen.«

»Ich habe mir Ihren Magen angeguckt! Vertrocknet ist er, aber Krebs haben Sie nicht!«

»So spricht ein Verrückter, Professor«, sagte Rockpourth schwach. »Bisher haben genau dreiundvierzig Ärzte, von New York bis Tokio, Krebs festgestellt. Einwandfrei.«

»Und ich sage Ihnen als vierundvierzigster Arzt, daß Sie keinen Krebs haben! Sie haben eine chronische Stoffwechselstörung, und zwar eine solch radikale, daß es bestimmt über ein Jahr dauert, bis man Ihren Körper umgestellt hat. Für Sie wäre das HTS nichts anderes, als wenn Sie Brausepulver schluckten.«

»Und meine Starrheit, he?« schrie Rockpourth.

»Sie wird nicht wiederkommen. Noch drei Enzym-Infusionen, und Sie sollen sehen, wie wohl Sie sich fühlen.«

Lord Rockpourth schloß die Augen. Einen Augenblick lang dachten alle, er sei vor Schreck gestorben. Aber dann atmete er wieder und schlug die Augen auf.

»Hast du das gewußt, Bob?« fragte er. Neffe Robert bekam einen roten Kopf.

»Aber nein, Onkel James. Wäre ich sonst.«

»Du lügst! Du wußtest es!«

»Onkel!« Robert straffte sich. »Wozu soll ich alle die Monate gelitten haben.«

»Er hat gelitten! Ha! Gelitten! Er!« Rockpourth brüllte wieder. »Man hat mich zur lebenden Mumie gemacht. Wenn es kein Krebs ist -Professor, Sie sind mein letzter Strohhalm! Wenn es wirklich keiner ist, zum Teufel auch, - ich werde die dreiundvierzig Ärzte verklagen. Wegen Dummheit! Wegen Gemeingefährlichkeit gegenüber der Menschheit.«

»Das werden Sie nicht«, sagte Professor Kraicic ruhig. »Ich nehme an, daß meine dreiundvierzig Kollegen nur mit Schrecken an Sie denken.«

Neffe Robert hielt den Atem an. Zwei Dinge gab es nur, die jetzt möglich waren - entweder Lord Rockpourth tobte wie ein Irrer, oder er fiel wieder in seine Starrheit, wie es so oft geschehen war, wenn ein Schock ihn traf.

Doch nichts dergleichen geschah. An eine dritte Möglichkeit hatte niemand gedacht: Rockpourth lächelte und legte die Mumienhände brav auf die Decke.

»Da haben Sie recht, Professor«, sagte er sanft. »Ich nannte sie alle Idioten! Wie alt sind Sie?«

»52 Jahre, Mylord.«

»Noch jung genug, um berühmt zu werden. Ich nehme Sie mit nach England. Ich baue Ihnen eine Privatklinik.«

Professor Kraicic lächelte milde. »Ich bin staatlich angestellt«, sagte er. »Mir gefällt es in Sarajewo. Ich kenne England; mir ist es dort zu kalt und nebelig. Aber nun werden Sie eine neue Infusion bekommen, und ich ordne an, daß Sie sofort still sind und sich meinen Worten fügen!«

Lord Rockpourth winkte seinem Neffen. »Hinaus, du Flegel!« sagte er, aber sein faltiger Mund lächelte. »Siehst du, wie man mit deinem armen Onkel umgeht?«

Auf dem Flur hielt Professor Kraicic den jungen Lord an. Seine frohe, optimistische Miene war verschwunden.

»Sie leben bei Ihrem Onkel, Sir?« fragte er.

Robert sah den Professor verblüfft an. »Nein. Ich studiere ... und ich mußte unterbrechen, als mein Onkel mich rief, um ihn zu pflegen.«

»Ich habe gehört, Sie haben Verwandte in Amerika?«

»Ja. Zwei Tanten. Warum fragen Sie?«

Professor Kraicic drückte das Kinn an. Seine gütigen Augen waren plötzlich hart. »Wenn Sie genügend Mittel haben, fliegen Sie in die USA, Sir. Von Belgrad können Sie nach Rom fliegen, von dort nach Frankfurt und weiter nach Montreal - New York.«

»Aber warum denn?« Roberts Augen bekamen einen flimmernden Glanz. Über seine linke Wange zuckte es nervös. »Was soll das, Professor?«

»Muß ich es Ihnen deutlicher sagen?« Kraicics Mund wurde hart. »Wir haben eine Magenaushebung gemacht, eine große Blutuntersuchung und eine Zellanalyse. Die Präparate sind noch im Labor, es liegt nur ein Zwischenbericht vor, aber er genügt. Wir haben im Körper Lord Rockpourths deutlich Thallium gefunden.«

Das Gesicht Roberts versteinerte sich. Nur seine Augen brannten. »Was wollen Sie damit andeuten, Professor?« fragte er rauh.

»Genau das, was Sie jetzt denken, Sir! Ihr Onkel hatte ein chronisches Magenleiden mit Stoffwechselstörungen. Weil er glaubte, er habe Krebs, rief er Sie, seinen einzigen Neffen und Erben. Sie sahen eine einmalige Chance und griffen zum Thallium. Sie mixten es unter jede Medizin. Ein Wunder, daß Ihr Onkel noch lebt!«

»Sie sind verrückt!« sagte Robert steif. »Sie sind komplett verrückt!«

Professor Kraicic hob die Schulter, wandte sich ab und ließ Robert wortlos stehen.

Zwei Stunden später war Robert auf dem Weg nach Belgrad, mit einem Mietwagen.

Greifen wir weit vor: Drei Monate später schrieb er aus Kansas City, es gehe ihm gut und er habe eine Anstellung als stellvertretender Leiter eines Reitstalles. Von da an hörte man nichts mehr von Robert Rockpourth. Und keiner vermißte ihn.

Erika Haußmann hatte die Operation gut überstanden. Sie war noch sehr schwach und unendlich müde, als Karl ins Zimmer geführt wurde, aber sie konnte schon wieder lächeln und die Hand nach ihm ausstrecken.

»Karli.«, sagte sie matt und schloß die Augen, als er sich über sie beugte und ganz vorsichtig aufdie Stirn küßte. »Daß ich dir solche Unannehmlichkeiten machen muß.«

In Haußmanns Kehle würgte es. Hatte er sich bei Professor Krai-cic maßlos geschämt, so überkam ihn jetzt eine Reue, die er nicht mehr in Worte fassen konnte.

»Du wirst gesund«, stammelte er. »Rika, der Professor hat es mir gesagt. Du wirst wieder ganz gesund. Du hast keinen Krebs. Nur ein Myom ist es gewesen, ganz ungefährlich. Wir . wir werden in ein paar Wochen eine neue, glückliche Zeit beginnen. Wir werden alles ganz anders machen als bisher. Ich verspreche es dir: Reisen werden wir, zusammen einkaufen, in unserem Garten liegen.«

»Und deine Fabrik?«

»Ich habe einen guten Prokuristen. Verdammt noch mal, soll ich mich kaputtarbeiten? Soll es immer so weitergehen: du zu Hause allein und ich hinterm Schreibtisch? Und dann kommt man kaputt nach Hause, schlingt sein Essen runter und ist mürrisch und ungerecht. Nein, Rika. Jetzt wollen wir leben; jetzt, wo ich endlich gelernt habe, wie schön es ist, mit dir zusammenzusein.«

Erika hob die Hand und legte sie auf den Kopf ihres Mannes. Sie war so leicht, diese Hand, aber für Haußmann war es, als laste ein Zentnerblock auf seinem Nacken.

»Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast, als wir heirateten?«

»Ja.« Haußmann schluckte. Dieser Kloß im Hals! »Unsere Hochzeitsreise machen wir nach Venedig. So, wie es alle verliebten Paare erträumen. - Aber wir hatten nie Zeit dazu.«

»Nun haben wir Zeit.«

»Ja, Rika. Nun haben wir sie. Wann sollen wir nach Venedig fahren?«

»Gleich von hier aus, Karl. Wenn ich entlassen werde.«

»Ich verspreche es dir, Rika.« Haußmann nickte und streichelte ihr eingefallenes, von den langen Schmerzen fahles Gesicht. »Ich bin so glücklich, daß alles so gekommen ist. Es ist mir, als seien sechsundzwanzig Jahre nicht vergangen und wir hätten eben erst geheiratet und schmiedeten Pläne für die Zukunft.«

»So müßte es immer sein, Karli«, sagte Erika. Sie schloß wieder die Augen. Eine wohlige Müdigkeit glitt über sie. Sie spürte die streichelnden Finger ihres Mannes, und unter diesem seligen Gefühl schlief sie ein.

AufZehenspitzen verließ Haußmann das Krankenzimmer und zog hinter sich ganz leise und langsam die Tür zu.

»Wie geht es ihr?« fragte eine helle Stimme. Haußmann fuhr wie nach einem Boxhieb in den Rücken herum. Marion Gronau saß in einem Flechtsessel in einer Ausbuchtung des Ganges und ließ ihr goldblondes Haar in der Sonne leuchten. Sie sah berückend aus. Braungebrannt, in einem engen Kleid, die Lippen grellrot geschminkt, die Augenbrauen dunkel nachgezogen. Ein Bild aus einem MännerMagazin.

»Wo kommst du denn her?« fragte Haußmann rauh.

»Aus Sarajewo, Bärchen.«

»Seit wann bist du hier?«

»Seit zwei Stunden. Der junge Lord Robert hat mich mitgenommen, aber dann geschahen anscheinend wunderliche Dinge, denn Robert verabschiedete sich vor einer halben Stunde von mir, sagte: >Leben Sie wohl, Marion. Es ist schade, daß die Zeit zu kurz war, um uns näher kennenzulernen...< und ging davon, als käme er nicht mehr zurück. Nun sitze ich hier wie das verlaufene Rotkäppchen und hoffe, daß mein Bärchen nicht wie der Wolf ist, der es frißt.«

»Laß diesen Blödsinn! Benimm dich doch nicht wie ein Kind! Was willst du hier?«

»Welche Frage!« Das Puppengesicht Marions veränderte sich. Es wurde >dienstlich<. »Ich hocke hier in dieser heißen, alten, nach Ziegen stinkenden Stadt, statt in Rimini am Strand und in deinen Armen zu liegen, wie du es mir versprochen hast. Und da fragst du noch.«

In Karl Haußmann war nichts mehr, was ihn an Marion Gronau band. Er sah zwar ihre golden leuchtenden Haare, er sah ihre in dem engen, tiefausgeschnittenen Kleid kaum verhüllten, straffen Brüste, er sah ihre langen, schlanken Beine, aber sie hatten auf ihn keine Wirkung mehr. Er wurde nicht unruhig, sein Herz begann nicht zu zucken, seine Gedanken kreisten nicht mehr wollüstig in Vorsünden. Kühl betrachtete er sie und schob die Unterlippe etwas vor.

»Du sollst haben, was du willst«, sagte er geschäftsmäßig. Er griff in die Tasche und holte einige Geldscheine heraus. »Das wird reichen für eine Überfahrt nach Italien, für zwei Wochen Rimini und die Rückkehr nach Gelsenkirchen. Und wenn du mehr Kapital brauchst: Es wird dir nicht schwerfallen, gewisse Dinge in Münze umzusetzen.«

»Du bist ein ganz gemeiner, mieser Bursche«, sagte Marion gefährlich leise.

»Ich wünsche dir eine gute Fahrt«, erwiderte Haußmann steif.

»Du schiebst mich also ab?«

»Ich ziehe einen Strich.«

»Aus also?«

»Ja.«

»Aber dann für immer!«

»Natürlich.«

»Wenn du in Gelsenkirchen mich wieder in dein Büro rufen läßt . ich schlage dir ins Gesicht.«

»Dazu wird es nie kommen.« Haußmann legte die Geldscheine vor Marion auf den kleinen, runden Blumentisch. »Wenn du nach dem Urlaub in den Betrieb kommst, wirst du deine Kündigung vorfinden.«

»Ich habe einen Dreijahresvertrag als Chefsekretärin!«

»Man wird dich auszahlen.«

»Wie nobel! Also endgültig Schluß?«

»Ja.«

Marion raffte das Geld zusammen und schob es in ihre Handtasche. »So schiebt man eine alternde Hure ab«, sagte sie laut.

»Zwinge mich bitte nicht dazu, dir darauf eine Antwort zu geben.« Haußmann sah sie noch einmal an. Ganz kurz leuchtete die Erinnerung auf, der lächerliche Bocktanz eines alternden Mannes. Da wurde sein Gesicht hart, und Marion wußte, daß zwischen ihnen jetzt eine unüberbrückbare Kluft war. Es hatte keinen Sinn mehr, zu reden und zu vermitteln. »Leb wohl«, sagte sie gepreßt.

»Gute Fahrt.«

»Bärchen.«

»Bitte?« Haußmann drehte sich noch einmal um. Seine Augen waren fremd.

»Ich habe dich wirklich geliebt.«

Stumm wandte sich Haußmann ab und ging den langen weißen Gang entlang zum Fahrstuhl. Er fuhr hinunter ins Parterre, zu Zimmer 2a, wo Lord Rockpourth auf ihn wartete, um ihm zu erzählen, daß er gar keinen Krebs habe und daß alle Ärzte Dummköpfe seien.

Meliha, das schlanke, kindhafte Mädchen, führte Frank Hellberg in das geräumige Wohnzimmer. Durch ein hohes, großes Fenster, vor das tagsüber eine Sonnenblende aus hellgrünem Plastik hängt, fiel der Blick auf die Straße und den Fluß Miljaca. Ein ovaler Eßtisch stand in der Mitte des Zimmers, bedeckt mit einer Samtdecke. Darüber hatte man zum Schutz gegen Flecken eine durchsichtige Plastikdecke gezogen. Sechs Stühle standen um den Tisch, eine Dek-kenlampe gab warmes, aber nicht das ganze Zimmer ausfüllendes Licht. Rechts neben der Tür stand ein Tischchen mit einem modernen Radiogerät. Hellberg mußte unwillkürlich lächeln. Ein deutsches Gerät. Grundig. Die Wände des Zimmers waren blaugetüncht. Eine Couch stand an der Längswand, eine zweite Couch unter dem Fenster. Über beiden lagen dunkelrote, orientalische Decken und viele Kissen mit Samtbezügen. Sie waren mit leuchtenden Farben reich bestickt. Eine goldene Schrift fiel Hellberg sofort auf. Souvenir of Lybia< stand auf einem der Kissen. Der Fußboden war mit Linoleum in Parkettmuster ausgelegt. Darauf lag ein maschinengewebter Orientteppich. An den Wänden hingen Bilder. Gerahmte Koransprüche in arabischer Sprache, Bilder aus Mekka, Surentexte, arabische religiöse Darstellungen. Über der Couch an der blauen Wand mit den stilisierten Blütenmustern hing ein gewebter Wand-behang: Ein orientalischer Palast im Mondschein, den zwei Reiter flüchtend verlassen. Der eine Reiter preßte eine geraubte Frau in seine Arme, der andere, der Verfolger, jagte ihnen nach mit einem altertümlichen Vorderlader in der Hand, bereit, den Frauenräuber niederzuschießen.

Über den Tisch verstreut standen kristallene Aschenbecher und Vasen mit künstlichen Blumen. Nelken aus Plastik. Ein Kamel marschierte über den Tisch, so sah es aus - aber es war nur ein Feuerzeug. Drückte man auf den einen Höcker, sprang der zweite auf und gab die Flamme frei. Ein Kamel, aus Silber geschmiedet.

Frank Hellberg hatte dies alles mit wenigen Blicken erfaßt. So wohnt ein Genie, dachte er, und war über diese Bürgerlichkeit sehr enttäuscht. Hier soll ein Mittel entdeckt worden sein, das man ein Wunder nennt?

An dem ovalen Tisch saß die ganze Familie. Dr. Fahrudin Zeijnilagic hatte sich sofort erhoben, als seine Tochter Meliha den Besucher ins Zimmer führte. Er war ein großer, stattlicher Mann mit markantem Gesichtsschnitt, der beherrscht wurde von einer starken, spitzen Nase. Über einer hohen Stirn wellte sich volles, schwarzbraunes Haar. Eine leichte Schläfenglatze war geschickt von einer großen Locke bedeckt. Als er Hellberg die Hand gab, war der Druck kräftig und selbstbewußt. Die dunklen Augen blickten Hellberg ruhig und doch forschend an.

»Ich freue mich«, sagte Dr. Zeijnilagic mit sympathischer Stimme auf englisch, »daß ich Sie heute allein sprechen kann. Sonst ist es unmöglich, da drängen sich in der Diele die Kranken, stehen auf der Treppe bis hinaus auf die Straße. Es gab Tage, da war das Haus umlagert wie eine Festung. Die Miliz mußte den Verkehr von der Obala umleiten. Aber seit zwei Tagen ist es ruhiger.«

»Das Verbot des HTS.« Hellberg verbeugte sich vor den anderen, die um den ovalen Tisch saßen. Dr. Zeijnilagic stellte sie vor.

»Meine Frau Emina. Sie ist Chemikerin und Lehrerin. Meliha, meine älteste Tochter, kennen Sie schon. Das ist Virdana, die jüngere. Und das ist meine Mutter Naifa. Sie ist nach Mekka gepilgert.« Hell-berg hörte, mit welcher Hochachtung er das sagte. Eine Mekkapilgerin in der Familie, eine Mutter, die am Grabe des Propheten gebetet hatte - das ist eine Gnade Allahs für die ganze Familie.

Hellberg verbeugte sich, dann wurde ihm ein Stuhl hingeschoben, er saß am ovalen Tisch, und es war ihm, als sei er damit in den Kreis der Familie aufgenommen. So selbstverständlich war das alles, als lebe er schon Jahre hier und sei eben von einem Spaziergang zurückgekommen. Meliha, die älteste der Töchter, ging hinaus und kam mit einer Kanne Tee zurück.

»Trinken Sie Rum dazu?« fragte Dr. Zeijnilagic. »Oder Kognak? Wir nehmen keinen Alkohol, wir sind strenge Moslems.«

»Danke«, sagte Hellberg ein wenig unsicher. Er war beeindruckt von der Einfachheit dieses Lebens, von der Freundlichkeit und der familiären Atmosphäre.

»Sie sagten, Sie wollten alles wissen«, fing Dr. Zeijnilagic die Unterhaltung an. Er bot Hellberg goldgelbe orientalische Zigaretten an. Er selbst rauchte nicht. »Das ist eine weite Frage.«

»Darf ich ganz hart sein, Doktor?« Hellberg tat es fast leid, dies zu fragen.

Dr. Zeijnilagic nickte. »Bitte.«

»Glauben Sie selbst an Ihr HTS?«

»Ich habe sechzehn Jahre damit zugebracht, mich an den Glauben zu gewöhnen, daß mir eine große Entdeckung gelungen ist«, antwortete Zeijnilagic. »Es begann mit einem Patienten, der einen Tumor in der Mundhöhle hatte. Ich bin Zahnarzt und Mundhöhlenspezialist. Damals, vor 16 Jahren, konnte ich meinen Patienten nicht heilen, nur belügen, es sei ungefährlich. Aber diese Lüge war in mir wie ein Motor: Du mußt helfen! Ich hatte ein kleines Labor, primitiv eingerichtet. Was kann sich ein junger Zahnarzt schon leisten! Aber ich stieß bei einer Reihe Blutuntersuchungen auf interessante Dinge, die jetzt zu erklären zu umfangreich sind. Kurzum: Ich spezialisierte mich auf Blutsedimente und entdeckte einen Weg zur Frühdiagnose bestimmter Ca-Formen. Aus dem Blutbild heraus. Ein paar Jahre später bekam ich den ehrenvollen Ruf, Lehrer an einer Dentistenschule zu werden. Ich wurde Professor, Chef eines Kliniklabors in Sarajewo ... und ich hatte endlich Möglichkeiten, meine Blutsedimente in großem Stil zu erforschen. Ich fuhr nach Belgrad und nach Köln, zu Professor Gohr. In Belgrad wurde ich ausgelacht, in Köln überprüfte Professor Gohr meine Forschungen und ermunterte mich weiterzumachen. Es ist wie überall auf der Welt, Herr Hellberg: In Sarajewo nannte man mich einen Phantasten, in Belgrad hörte ich unverbindliche Reden; die anderen Ärzte, vor allem die Kliniker, schnitten mich. Aber ich gab nicht auf. Ich stellte eines Tages mein Ur-HTS her und verabreichte es Krebskranken. In den Augen der Wissenschaft ein Verbrechen, weil vorher nicht hundert Kaninchen, tausend Meerschweinchen, zweitausend Ratten und zehn Affen behandelt worden waren!«

Dr. Zeijnilagic nippte an dem heißen Tee. Seine alte Mutter, Nai-fa, nickte ihm zu, obwohl sie kein Wort verstanden hatte. Seine Frau Emina, die ebenso gut englisch sprach wie er, hatte ernste Augen.

»Rückschläge schienen meinen Gegnern recht zu geben: Es gab Sekundärschäden durch das HTS. Aber das lag nicht am Präparat selbst, sondern an der chemischen Zusammensetzung, an der Dosierung der einzelnen Stoffe zueinander. Ich arbeitete weiter, und dann kam der Tag, vor vier Jahren, als die Ärztin Dr. Zlata Babic zu mir kam. Ich werde Ihnen ihre Krankengeschichte zeigen, es ist kein Trick dabei. Durch eine Kommission, zu der verschiedene Ärzte gehörten, war Dr. Zlata Babic als hoffnungsloser Fall aufgegeben worden. Sie war zum Sterben verurteilt. Diagnose: Bereits inoperabler Ca mammae golidum mit Metastasen unter dem linken Arm. Über die Lymphe also eine weite Streuung im ganzen Körper. An Dr. Babic versuchte ich mein neues HTS . sie ist heute völlig geheilt, praktiziert wieder, wohnt hier in Sarajewo und ist bereit, sich mit Ihnen zu unterhalten. Es ist röntgenologisch und pathologisch festgestellt, daß Dr. Zlata Babic keine Ca-Zellen mehr im Körper hat. Das war mein erster Fall von Heilung. Es war ein Kuß Allahs auf meine Stirn.«

»Und heute.«, sagte Hellberg seltsam ergriffen von diesem Be-richt.

»Gehen Sie auf die Straße«, sagte Dr. Zeijnilagic ruhig. »Fragen Sie die Menschen. Jeder dritte wird Sie zu einem HTS-Geheilten führen. Dreitausend Kranken konnte ich helfen. Über tausend sind geheilt, den anderen habe ich ein sanftes, schmerzfreies, nicht von Morphium umdunkeltes Lebensende verschafft.«

»Tausend vollkommene Heilungen.«, sagte Hellberg leise. Es war ihm, als stocke ihm der Atem. »Und trotzdem verbietet man jetzt das HTS?«

Dr. Zeijnilagic griff zu den Zigaretten und steckte sich eine an. Jetzt, wo er rauchte, sah Hellberg, wie nervös und aufgewühlt er innerlich war. Seine gepflegten Finger zitterten leicht.

»Es ist einfach, einem Mann sein Lebenswerk zu zerstören«, sagte Dr. Zeijnilagic ohne Bitterkeit in der Stimme. »Ein Gremium von fünfzehn Ärzten, das das Gesundheitsministerium in Belgrad eingesetzt hat, kam zu negativen Ergebnissen. Ein harmloses Mittel, sagten die einen. Gefährlich in den Nebenwirkungen, die anderen. Die fünfzehn wurden sich nicht einig . aber Belgrad verbot vorgestern das HTS mit der Begründung, die unkontrollierte Herstellung und Abgabe solle damit verhindert werden. Aber kein Wort gegen HTS selbst! Der Neid meiner Kollegen ist eben stärker.«

»Und die Kranken?«

»Sie saßen noch gestern auf meiner Treppe und weinten und bettelten, und ich konnte ihnen kein HTS geben! Ich habe mit ihnen geweint.«

Das klang nicht dramatisch. Es klang einfach wahr. Hellberg sah auf seine Hände.

»Ich werde Ihnen helfen, Dr. Zeijnilagic«, sagte er fest. »Ich glaube an Sie und Ihr HTS!«

Dr. Zeijnilagic sprang auf. Mit großen Schritten ging er um den ovalen Tisch herum. Seine Familie verfolgte ihn mit den Blicken.

»Man soll mich doch nicht a priori verdammen!« sagte er laut. »Man soll prüfen, prüfen, prüfen! Ich kann sagen, was ich will: Entweder glaubt man mir, oder man verdammt mich. Aber keiner geht wissenschaftlich an die Sache heran. Nichts wünsche ich mehr als die klinische Erprobung auf breiter, wissenschaftlicher Basis. In Italien fangen ein paar Kliniken damit an - aber sonst? Man schweigt einfach! Warum? Geht es nicht um Millionen hoffnungsloser Krebskranker? Warum prüft man nicht in aller Welt mein HTS? Dem Resultat einer solchen weltweiten Untersuchung werde ich mich beugen.«

Frank Hellberg nickte. Er war versucht, aufzuspringen und den Arzt zu umarmen.

»Ich werde diesen Aufruf in die Welt hinaustrommeln!« rief er. »Ich werde so lange rufen, bis man es hört . hören muß! Und wenn die Kranken Sturm laufen gegen die Borniertheit der Schulmedizin!«

Dr. Zeijnilagic lächelte nachsichtig, gerührt vom Enthusiasmus Hellbergs.

»Ich habe eine hohe Achtung vor den Deutschen«, sagte er. »Ich hoffe sehr, daß auch in Deutschland einmal klinische Versuche mit HTS gemacht werden. Ich kenne die Deutschen als ernsthafte, ehrliche und unvoreingenommene Forscher.« (Anmerkung des Verfassers: Wörtliches Zitat aus einem Interview mit Dr. Z. in Sarajewo)

»Es wird eines Tages soweit kommen«, sagte Hellberg und erhob sich gleichfalls. »Man kann daran nicht vorübergehen, wenn man ein ärztliches Gewissen hat! Man kann Wunder nicht ignorieren.«

Dr. Zeijnilagic schüttelte den Kopf. »Es ist gar kein Wunder, mein junger Freund. Es ist kein Geheimnis, woraus HTS besteht. Lauter bekannte Drogen: Chinin, Natriumtiosulfat, Kampfer, Prokain und Koffein-Natrium Benzoat. In minimalen, aber genau zueinander ausgewogenen Quantitäten. Hier liegt allein das ganze Geheimnis! Es ist wie das Salz in der Suppe - richtig dosiert, gibt es der Suppe Würze, falsch dosiert, versalzt es alles oder geht geschmacklos unter. Ich brauchte sechzehn Jahre, um die richtige Dosierung zu finden . es wäre ein Unglück für die hoffenden Krebskranken, wenn nochmals sechzehn Jahre vergehen müßten, ehe man diese Dosierung als richtig bestätigt. Ich sage es erneut: Ich wäre glücklich, wenn

Deutschland sich in die große Überprüfung einschalten würde. Ich bin bereit, deutschen Arzneimittelfabriken mein HTS zu überlassen. Aber man soll mich nicht verdammen, einen Scharlatan nennen. Es ist mir nur gelungen, eigene und fremde Erfahrungen auszusieben und zu kombinieren. Und ich habe nie behauptet, Krebs heilen zu können, sondern ich habe immer gesagt: Ich kann helfen, die Leiden zu lindern. Ich kann den Krankheitsverlauf beeinflussen, ich kann mit HTS in Verbindung mit einer PolyvitaminTherapie erreichen, daß die Schmerzen schnell nachlassen, die Darmfunktion verbessert wird, der Appetit wiederkommt, die Krankheit an sich zurückgeht, der Kranke neuen Lebensmut schöpft und eigene Abwehrstoffe aktiviert . und gibt es dann eine Heilung, so sollte man Gott danken und nicht von Betrug reden!«

Hellberg nickte zustimmend. Dieser Mann ist ein Geschenk Gottes, dachte er. Er wird Claudia heilen und Frau Haußmann, Lord Rockpourth und viele andere Hoffnungslose. Und es war gut, daß Hellberg in dieser Minute nicht wußte, was sich in Wahrheit ereignet hatte.

»Man hat das HTS verboten«, sagte er, »aber das Volk wird auf die Barrikaden gehen. Glauben Sie es mir, Doktor. Und ich gehe mit.«

Dr. Zeijnilagic hob ein wenig müde die Hände. »Morgen wird eine Abordnung von Krebskranken und deren Angehörigen von Marschall Tito empfangen. Sie werden ihn um Wiederzulassung des HTS bitten und eine weitere Überprüfung des Präparates. Und vor meinem Haus wird man Unterschriften sammeln für einen großen Protest.«

»Das wird helfen!« rief Hellberg. »Das wird die Augen in aller Welt öffnen!«

»Nein.« Dr. Zeijnilagic setzte sich wieder und legte seine Hand auf den Arm seiner alten Mutter Naifa, der Pilgerin nach Mekka zum Grabe des Propheten. »Im Gegenteil . man wird es mir übelnehmen und mich einen Marktschreier nennen. Warten wir den Morgen ab.«

Wie benommen ging Frank Hellberg später zu Fuß in sein Hotel zurück.

Morgen, dachte er. O nein ... in ein paar Wochen. Wenn er Claudia heilen kann, wird es meine Lebensaufgabe sein, der Welt zu verkünden, daß der Krebs, die Geißel unserer Menschheit, seinen Schrek-ken verloren hat, wenn die Menschheit es nur will.

An Claudia Torgiano sollte es bewiesen werden, wie vor vier Jahren an der jugoslawischen Ärztin Dr. Zlata Babic. Wie ein Sieger betrat Hellberg die Halle des Hotels Beograd. Der Nachtportier wartete schon auf ihn. Ein Anruf aus Mostar war notiert worden. Karl Haußmann hatte alle Hotels Sarajewos angerufen, bis er Hellbergs Quartier fand.

»Please.«, sagte der Nachtportier.

»Kommen Sie zurück nach Mostar«, las Hellberg mit immer ratloseren Augen. »Erika ist operiert worden. Es war kein Krebs. Auch der Lord soll keinen haben. Lassen Sie Claudia hier untersuchen. Das HTS ist vielleicht ganz falsch für uns.«

Langsam, wie gelähmt, ließ sich Hellberg in einen der Sessel der Hotelhalle gleiten. Der Zettel flatterte auf den schönen, roten Teppich.

»Das durfte nicht kommen«, sagte er leise. »Das hebt eine ganze Welt der Hoffnung aus den Angeln.«

Und er beschloß, in Sarajewo zu bleiben. Gerade weil es um Claudia ging und er blindes Vertrauen zu Dr. Zeijnilagic hatte.

Mit einem schweinsledernen Koffer und einer Umhängetasche stand Marion Gronau in der großen Hotelhalle des neuen Bahnhofes in Sarajewo und wartete auf den Schnellzug nach Zagreb. Er wurde in Sarajewo eingesetzt und fuhr über Ljubljana nach Villach und von dort durch Österreich nach München.

Marions Ferienabenteuer war beendet, und mit ihm auch ein Lebensabschnitt. In Gelsenkirchen erwartete sie die Kündigung, und sie hatte nicht die Absicht, dagegen Protest zu erheben oder vor dem

Arbeitsgericht zu klagen. Zuviel schmutzige Wäsche würde dann gewaschen werden; niemandem nützte es, bei allen bliebe höchstens ein dunkler Fleck auf der Weste zurück.

Wie sie jetzt auf dem Bahnsteig stand und mit Hunderten Jugoslawen, meistens Moslems, aufden Zug wartete, kam sie sich elend und ungerecht behandelt vor. Wie eine Ausgestoßene war sie. Hauß-mann hatte sie von Mostar weggehen lassen, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Dreimal hatte sie noch versucht, ihn zu sprechen, aber er verkroch sich in das Krankenzimmer Erikas, das ihm jetzt wie eine Festung war. Auch aufeinen Zettel, den sie einer Schwester mitgab, reagierte er nicht: Abfahrt nach Sarajewo 12.42 Uhr.

Karl Haußmann kam nicht zum Bahnhof. Bis zum Abfahrtspfiff hatte Marion gewartet und immer wieder auf die Eingänge gestarrt, und auch als der Zug nach Sarajewo schon fuhr, stand sie am offenen Fenster und suchte nach Haußmann.

In Sarajewo erkundigte sie sich sofort nach Frank Hellberg. Da nur wenige Hotels in Frage kamen, fand sie ihn schnell im Hotel Beograd. Aber auch Frank Hellberg war nicht auf seinem Zimmer. »Er ist bei Dr. Zeijnilagic«, sagte der Portier und musterte die auffällige Blondine. Portiers in Hotels haben ein gutes Auge, sind Psychologen und haben einen sechsten Sinn. Hier ist eine Komplikation zu befürchten, dachte der Portier und dachte an die zarte, blasse Claudia Torgiano. »Soviel ich weiß, will sich Herr Hellberg mit Signo-rina Claudia in eine Privatklinik begeben.« Das war gelogen, denn in Sarajewo gab es gar keine Privatklinik, die unter Leitung Dr. Zeijni-lagics stand. So etwas gibt es in ganz Jugoslawien nicht, denn die Gesundheit ist staatlich. Aber wer weiß das?

»Wann kommt Herr Hellberg wieder?« fragte Marion. Sie war müde von der Fahrt durch den heißen Sommertag.

»Ganz unbestimmt«, sagte der Hotelportier.

»Wenn er zurückkommt, geben Sie ihm bitte einen Brief.«

Marion setzte sich in die Halle an einen der kleinen Tische und schrieb ein paar Zeilen. Dann ging sie zum Hotel Europa, wo Lord Rockpourth Zimmer bestellt hatte, und wartete. Sie blieb aufihrem

Zimmer, ließ sich das Essen hinaufbringen und kam sich ausgesprochen elend vor.

Als es Abend wurde und Frank Hellberg immer noch nicht gekommen war und auch nicht angerufen hatte, begann sie zu weinen. Gegen 22 Uhr telefonierte sie mit dem Hotel Beograd. Hellberg kam nicht ans Telefon. Er ließ sagen, daß er ihr eine gute Reise wünsche. Eine Brüskierung, die Marion wie einen Schlag ins Gesicht empfand.

Nun wußte sie, daß sie allein war. Völlig allein. Dieser Zustand würde zwar nicht lange andauern, denn dazu wirkte sie zu sehr auf Männer, aber es war beschämend, nun dazustehen wie ein Hund, den man von der Tür getreten hat.

Kurz vor der Abfahrt des Zuges nach Villach sah Marion die große Gestalt Hellbergs durch die Menschenmenge drängen. Seine blonden Haare schimmerten in der Sonne. »Hier!« schrie Marion aus dem Fenster. »Hier! Frank, Frank!« Sie winkte mit beiden Armen. Ein Schimmer Hoffnung glomm in ihr auf. Er kommt doch! Er läßt mich nicht wegfahren wie eine Aussätzige.

»Marion.« Hellberg stand unter dem Abteilfenster und reichte ihr die Hand hinauf. Sie ergriff sie mit beiden Händen und hielt sie fest.

»Das ist schön, daß du gekommen bist«, sagte sie mit Tränen in der Stimme. »Du läßt mich nicht einfach verschwinden.«

»Würde es dich gewundert haben, wenn ich es getan hätte?« fragte er ernst.

»Nein.« Marion senkte den Kopf. »Ich habe vieles falsch gemacht, Frank.«

»Alles!«

»Ja. Ich habe einen Traum vom goldenen Glück geträumt.«

»Auf Kosten anderer. Das war gemein.«

»Ich weiß es, Frank.«

»Was wirst du nun tun?«

»Ich fahre so schnell wie möglich zurück nach Gelsenkirchen, packe meine Sachen und verschwinde. Eine Stellung ist leicht zu finden . ja, und das Leben geht dann weiter.« Sie hielt noch immer seine Hand umklammert und sah ihn jetzt aus ihren großen, blauen Augen traurig an. Augen, die ihn noch vor drei Wochen fasziniert und jünglingshaft verliebt gemacht hatten.

»Und du, Frank?«

»Ich fahre mit Claudia nächste Woche auch zurück nach Deutschland.«

»Du liebst sie?«

»Ja«, sagte Hellberg schlicht.

»Und dieser Dr. - Dr. Znei.«

»Zeijnilagic.«

»Ja. Er kann Claudia helfen?«

»Ich glaube nicht. Er hat sie heute untersucht, wir sind zum Krankenhaus gefahren und haben sie durchleuchtet und Röntgenaufnahmen gemacht.«

»Und sie hat Krebs?«

»Ja.« Hellbergs Gesicht wurde wie aus Stein. »Es ist einwandfrei Lungenkrebs. Sie sollte operiert werden . auch Dr. Zeijnilagic rät dazu. Er hat uns 20 Kapseln HTS gegeben. Nicht zur Heilung, sondern zur Vorbeugung gegen Metastasen. Heute hat Claudia die erste Kapsel genommen.«

»Dann wünsche ich dir . euch . viel Glück«, sagte Marion Gronau leise.

Die Bahnbeamten schrien den Zug entlang, die Türen klappten, vorne pfiff die Lokomotive.

»Und wenn Claudia sterben sollte.«, sagte Marion.

»Daran denke ich gar nicht.« Hellberg drückte ihre Hände. »Mach's gut, Marion! Und viel Glück im Leben.«

»Danke, Frank!«

Der Zug ruckte an. Marion Gronau winkte noch ein paarmal, dann trat sie zurück vom Fenster und schloß es mit einem Ruck. Es war ein Schlußstrich unter die Vergangenheit. Nun begann die Zukunft wieder. Aber es war nicht mehr so trostlos wie vor ein paar Minuten. Der Abschied von Frank Hellberg hatte ihr neuen Mut gege-ben. Ihre Niedergeschlagenheit war verflogen. Ich bin noch jung, dachte sie. Himmel, 23 Jahre - da beginnt doch erst das Leben!

Hellberg sah dem Zug nach, bis er zwischen den Bergen verschwand. Dann ging er zurück zur Straße und zu der dort wartenden Taxe. Claudia stieß die Tür auf, als sie ihn kommen sah.

»War's schlimm, Liebster?« fragte sie und lächelte, als brauche er Trost.

»Gar nicht.« Hellberg ließ sich neben Claudia auf die zerschlissenen und verblichenen Polster fallen. »Ein bißchen peinlich ist so ein Abschied fürs ganze Leben, aber Gott sei Dank ging es schnell.«

»Nun sind wir allein.« Claudia legte den Kopf an seine Schulter, und er legte den Arm um sie. »Nun gehören wir nur noch uns.«

»Uns ganz allein, Claudia.«

»Und ich werde gesund, nicht wahr?«

»Ja. Du wirst wieder ganz gesund.«

»Das haben die Ärzte im Krankenhaus gesagt?«

»Ja, mein Liebes.«

»Und auch Dr. Zeijnilagic?«

»Hätte er dir sonst die Kapseln HTS gegeben?«

»Und wenn ich wieder ganz gesund bin.«

»Ja, wir heiraten!« Hellberg beugte sich über ihr blasses Gesicht-chen und küßte sie auf die großen, braunen Augen. »Wer könnte dich so lieben wie ich!«

Die Taxe fuhr an. Ohne zu fragen, fuhr der Chauffeur aus Sarajewo hinaus zum Bergmassiv des Trebevic, zu den schattigen Wäldern und stillen Schluchten und den Berghütten Dobra Voda, Brus, Celina und Ravne ... den Wäldern der Verliebten, wie man in Sarajewo sagt.

Um die gleiche Zeit wanderte Marion Gronau durch den Zug zum Speisewagen. Alle Plätze waren besetzt, bis auf einen Doppelsitz, auf dem ein älterer Herr mit gelockten, melierten Haaren und einer goldenen Brille saß. Als er die suchend sich umsehende Marion bemerkte, sprang er auf und zeigte auf den freien Platz an seiner Seite: »Madame . wenn Sie mit der Gesellschaft eines alten Mannes vorliebnehmen wollen?«

Marion lächelte dankbar. Der gepflegte ältere Herr sprach französisch, aber er schien kein Franzose zu sein.

»Danke«, sagte Marion auf deutsch. Der Herr rückte noch mehr zur Seite.

»Eine Landsmännin!« rief er. »Das ist doppeltes Glück. Sie gestatten: Bronneck. Helmar von Bronneck aus Wiesbaden. Nun sind die kahlen, heißen Felsen da draußen nicht mehr so trostlos.«

Am Abend, hinter Villach, tranken sie schon zusammen Wein und waren sehr fröhlich. Das Leben geht weiter ... und es war für Marion Gronau immer angenehm.

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