Zwei Tage später, als Bento und Gabriel am Morgen das Geschäft öffneten, kam ein kleiner Junge mit Scheitelkäppchen auf sie zugerannt, blieb keuchend stehen und sagte: »Bento, der Rabbi will dich sprechen. Jetzt sofort. Er wartet in der Synagoge.«
Bento war nicht überrascht: Er hatte diese Vorladung erwartet. Er nahm sich Zeit, den Besen wegzustellen, trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse, nickte Gabriel zum Abschied zu und folgte dem kleinen Jungen schweigend zur Synagoge. Mit einem Ausdruck ernster Besorgnis im Gesicht trat Gabriel vor die Tür und sah den beiden nach, die in der Ferne verschwanden.
In seinem Arbeitszimmer im ersten Stockwerk der Synagoge trommelte Rabbi Saul Levi Mortera in Erwartung Baruch Spinozas ärgerlich mit seiner Schreibfeder auf den Schreibtisch. Er war im Stil eines wohlhabenden holländischen Bürgers gekleidet, Kamelhaarhose und Jacke sowie Lederschuhe mit silbernen Schnallen. Rabbi Mortera, ein hochgewachsener, sechzigjähriger Mann mit rasiermesserscharfer Nase, furchteinflößenden Augen, strengen Lippen und einem sorgfältig getrimmten, grauen Ziegenbart, war vieles – angesehener Gelehrter, überaus produktiver Schriftsteller, leidenschaftlicher intellektueller Kämpfer, siegreicher Streiter in erbitterten Schlachten mit konkurrierenden Rabbinern, beherzter Hüter der Heiligkeit der Thora – aber ein geduldiger Mann war er nicht. Fast eine halbe Stunde war es her, seit er seinen Boten, einen Jungen in der Bar-Mitzwa-Ausbildung, zu seinem missratenen, ehemaligen Schüler geschickt hatte.
Seit siebenunddreißig Jahren führte Saul Mortera majestätisch den Vorsitz der Amsterdamer jüdischen Gemeinde. 1619 war er in sein erstes Amt als Rabbiner von Beth Jacob, einer von drei kleinen sephardischen Synagogen in der Stadt, berufen worden. Als seine Gemeinde sich 1639 mit Neve Shalom und Beth Israel vereinigte, gab man Saul Mortera den Vorzug gegenüber anderen Kandidaten, und er übernahm das Amt des Oberrabbiners der neuen Talmud-Thora-Synagoge. Als mächtiges Bollwerk traditionellen jüdischen Rechts hatte er über Jahrzehnte seine Gemeinde vor der Skepsis und dem Säkularismus portugiesischer Immigranten geschützt, die in Wellen über Amsterdam hereinbrachen; unter ihnen waren viele, die gezwungen worden waren, zum Christentum zu konvertieren, und nur wenige hatten eine frühe traditionelle jüdische Ausbildung genossen. Er war müde: Erwachsene auf die alten Traditionen einzuschwören ist Schwerstarbeit. Die Lektion, die alle religiösen Lehrer irgendwann begreifen müssen, war ihm nur allzu vertraut: Es ist unabdingbar, Schüler einzufangen, solange sie noch sehr jung sind.
Als unermüdlicher Pädagoge entwickelte er einen umfangreichen Lehrplan, stellte viele Lehrer ein, unterrichtete persönlich täglich Hebräisch, die Thora und den Talmud für die älteren Schüler und trug endlose Zweikämpfe mit anderen Rabbinern aus, um seine Interpretationen der Gesetze der Thora durchzusetzen. Einen seiner erbittertsten Kämpfe hatte er fünfundzwanzig Jahre zuvor mit seinem Assistenten und Rivalen, Rabbi Isaac Aboab de Fonseca, ausgefochten. Es war um die Frage gegangen, ob reulose jüdische Sünder und selbst Juden, die die Inquisition unter Androhung der Todesstrafe gezwungen hatte, zum Christentum zu konvertieren, auf ein ewiges Leben im Jenseits hoffen durften. Rabbi Aboab, der wie viele Mitglieder der Gemeinde Conversos in seiner Familie hatte, die in Portugal geblieben waren, argumentierte, dass ein Jude immer ein Jude bliebe und dass alle Juden am Ende in die zukünftige himmlische Welt eintreten dürften. Jüdisches Blut sei unzerstörbar, behauptete er, und könne durch nichts ausradiert werden, nicht einmal durch Konversion zu einer anderen Religion. Paradoxerweise untermauerte er seine Behauptung mit einem Verweis auf Königin Isabella von Spanien, die große Feindin der Juden, welche die Unzerstörbarkeit des jüdischen Blutes anerkannte, als sie die Limpiezas de Sangre einführte, Blutgesetze, denen zufolge es »Neuchristen« – also jüdischen Conversos – verwehrt war, wichtige staatsbürgerliche und militärische Ämter zu bekleiden.
Rabbi Morteras Position als Hardliner entsprach seiner Physis – unnachgiebig, kompromisslos, oppositionell –, und er beharrte darauf, dass allen reulosen Juden, welche jüdisches Gesetz brachen, der Zugang zur zukünftigen himmlischen Welt für alle Ewigkeit verwehrt war und sie stattdessen ewige Verdammnis erleiden sollten. Gesetz war Gesetz, da gab es keine Ausnahmen, auch nicht für diejenigen Juden, die sich der portugiesischen und spanischen Inquisition nur deshalb unterwarfen, um der angedrohten Todesstrafe zu entgehen. Alle Juden, die nicht beschnitten waren, die die Speisevorschriften nicht einhielten, die den Sabbat oder andere der Myriaden von religiösen Vorschriften nicht befolgten, sollten ewige Verdammnis erleiden.
Morteras unversöhnliche Deklaration erzürnte die Amsterdamer Juden, die Conversos in ihrer Verwandtschaft hatten, welche noch immer in Portugal oder Spanien lebten, doch er ließ sich nicht erweichen. So erbittert und entzweiend war die anschließende Debatte, dass die ältesten Gemeindemitglieder das Rabbinat von Venedig anriefen und baten, zu intervenieren und eine endgültige Interpretation des jüdischen Gesetzes vorzulegen. Die venezianischen Rabbiner stimmten widerwillig zu und lauschten den oftmals hitzig vorgetragenen Argumenten der Delegierten beider Seiten in der festgefahrenen Debatte. Zwei Stunden lang brüteten sie über ihrer Antwort. Mägen knurrten. Das Abendessen wurde verschoben, und schließlich kamen sie zu der einstimmigen Entscheidung, dass sie keine Entscheidung trafen: Sie wollten sich nicht an dieser dornenreichen Debatte beteiligen und verfügten, dass das Problem innerhalb der Amsterdamer Kongregation selbst gelöst werden müsse.
Doch die Amsterdamer Gemeinde konnte keine Lösung finden, und um eine irreparable Spaltung zu verhindern, entsandten sie eilig eine zweite Notdelegation nach Venedig, welche mit noch mehr Nachdruck für eine Intervention von außen plädierte. Schließlich kam das venezianische Rabbinat zu einem Beschluss und unterstützte die Ansicht Saul Morteras (der, nebenbei bemerkt, in der Jeschiva in Venedig ausgebildet worden war). Die Delegation eilte mit dem rabbinischen Urteil nach Amsterdam zurück, und vier Wochen später standen viele Mitglieder der Kongregation mit düsteren Mienen am Hafen, während die Habseligkeiten von Rabbi Aboab auf ein Schiff nach Brasilien verladen wurden. Sie winkten dem niedergeschlagenen Rabbi und seiner Familie nach, der nun rabbinische Aufgaben in der fernen Hafenstadt Recife übernehmen sollte. Von diesem Zeitpunkt an würde kein Rabbiner in Amsterdam sich jemals wieder gegen Rabbi Mortera stellen.
An diesem Tag sah Saul Mortera sich mit einer weit persönlicheren, schmerzhaften Krise konfrontiert. Die Parnassim der Synagoge waren am Abend zuvor zusammengekommen, hatten eine Entscheidung zum Spinoza-Problem gefasst und ihren Rabbiner angewiesen, Baruch von seiner Exkommunikation in Kenntnis zu setzen, die zwei Tage später in der Talmud-Thora-Synagoge ausgesprochen werden sollte. Vierzig Jahre lang hatte Baruchs Vater, Michael Spinoza, zu einem der engsten Freunde und Unterstützer Saul Morteras gezählt. Michaels Name stand auf dem Treuhandvertrag für den Kauf von Beth Jacob, und über Jahrzehnte hatte er die Finanzen (aus denen das Gehalt des Rabbis bezahlt wurde) und weitere karitative Einrichtungen der Synagoge großzügig unterstützt. In dieser ganzen Zeit hatte Michael so gut wie nie bei den Mitgliederversammlungen der Krone des Gesetzes gefehlt, Rabbi Morteras Erwachsenenbildungsgruppe, die sich beim Rabbi zu Hause traf. Und unzählige Male hatte Michael, manchmal in Begleitung seines Sohnes, des Wunderkindes Baruch, zusammen mit nicht weniger als vierzig Leuten an seinem Tisch zu Abend gegessen. Darüber hinaus hatten Michael und auch Michaels älterer Bruder Abraham oft als Parnassim fungiert, als Mitglieder des Gemeindevorstandes, der obersten Instanz für die Lenkung der Synagoge.
Doch nun grübelte der Rabbiner: Jeden Augenblick … Wo blieb Baruch überhaupt? Er würde heute den Sohn seines lieben Freundes über die Kalamitäten unterrichten müssen, die ihn erwarteten. Saul Mortera hatte bei Baruchs Beschneidung die Gebete gesprochen, dessen makellosen Bar-Mitzwa-Vortrag beaufsichtigt und über die Jahre seine Entwicklung verfolgt. Welch erstaunliche Begabungen dieser Junge doch hatte, Begabungen wie kein anderer! Jeder Unterricht war ihm anscheinend zu einfach, er saugte alle Informationen wie ein Schwamm auf, und während die übrige Klasse sich mit dem normalen Lehrplan abmühte, gaben ihm die Lehrer immer fortgeschrittenere Texte zum Durcharbeiten. Manchmal sorgte Rabbi Mortera sich, dass der Neid der anderen Schüler in Feindseligkeit gegenüber Baruch umschlagen könnte. Aber dazu kam es nie: Seine Talente waren so offensichtlich, so außerhalb jeglichen Fassungsvermögens, dass er von den anderen Schülern ausgesprochen respektiert und geschätzt wurde, und oft fragten sie ihn und nicht die Lehrer um Rat, wenn verzwickte Probleme bei Übersetzungen oder Interpretationen zu lösen waren. Rabbi Mortera erinnerte sich, dass auch er Baruch bewundert hatte und Michael bei vielen Gelegenheiten bat, Baruch zum Abendessen mitzubringen, wenn er einem berühmten Gast etwas Besonderes bieten wollte. Aber nun seufzte Saul Mortera: Baruchs goldene Periode zwischen vier und vierzehn Jahren war längst vorüber. Der Junge hatte sich verändert, hatte eine falsche Richtung eingeschlagen; nun musste die gesamte Gemeinde der Gefahr ins Auge sehen, dass das Wunderkind sich in ein Monster verwandelte, das seinesgleichen verschlang.
Schritte knarrten auf der Treppe. Baruch war eingetroffen. Rabbi Mortera blieb sitzen, und als Baruch an seiner Tür auftauchte, drehte er sich nicht zu ihm um, um ihn zu begrüßen, sondern deutete nur auf einen niedrigen, unbequemen Stuhl neben seinem Schreibtisch und sagte schroff: »Setz dich dorthin. Ich habe dir katastrophale Neuigkeiten zu verkünden, Neuigkeiten, welche dein Leben für immer verändern werden.« Er sprach mit ihm auf Portugiesisch, leicht stockend zwar, aber annehmbar. Obwohl Rabbi Mortera von den Aschkenasen und nicht von den Sepharden abstammte und obwohl er in Italien geboren und aufgewachsen war, hatte er eine Marranin geheiratet und so passabel Portugiesisch sprechen gelernt, dass er am Sabbat Hunderte von Predigten vor einer Gemeinde mit überwiegend portugiesischer Herkunft halten konnte.
Bento sprach mit ruhiger Stimme: »Zweifellos ist folgendes geschehen: Die Parnassim haben beschlossen, mich zu exkommunizieren und Sie beauftragt, den Cherem alsbald in einer öffentlichen Zeremonie in der Synagoge zu verhängen.«
»Unverschämt wie immer, muss ich feststellen. Ich sollte mich inzwischen daran gewöhnt haben, doch bin ich nach wie vor verblüfft über die Wandlung eines weisen Kindes in einen törichten Erwachsenen. Mit deiner Vermutung hast du Recht, Baruch – genau das ist deren Anweisung an mich. Morgen wirst du tatsächlich unter Cherem gestellt und für alle Zeiten aus dieser Gemeinde ausgeschlossen. Aber ich widerspreche deinem nachlässigen Gebrauch des Verbs ›geschehen‹. Bilde dir nur nicht ein, der Cherem sei nur etwas, was dir ›geschehen‹ ist. Vielmehr bist du es, der den Cherem mit deinen eigenen Handlungen selbst auf sich geladen hat.«
Baruch öffnete den Mund, um zu antworten, aber der Rabbiner ließ sich nicht unterbrechen: »Dennoch ist vielleicht noch nicht alles verloren. Ich bin ein loyaler Mann, und meine lange Freundschaft zu deinem seligen Vater gebietet es, dass ich alles tue, was in meiner Macht steht, um dir Schutz und Führung anzubieten. Was ich nun von dir erwarte, ist, dass du einfach sitzen bleibst und zuhörst. Ich unterrichte dich schon, seit du fünf Jahre alt bist, und für einen weiteren Unterricht bist du noch nicht zu alt. Ich möchte dir eine ganz besondere Geschichtsstunde erteilen. Lass uns zum antiken Spanien, dem Land deiner Vorfahren, zurückgehen«, begann Saul Mortera so eindringlich wie in seinen Predigten. »Du weißt doch, dass die ersten Juden vor vielleicht tausend Jahren nach Spanien kamen? Und dass sie dort jahrhundertelang in Frieden mit den Mauren und den Christen lebten, obwohl sie überall sonst Anfeindungen ausgesetzt waren?«
Baruch nickte müde und verdrehte die Augen.
Rabbi Mortera registrierte es, ließ es aber durchgehen. »Im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert wurden wir aus einem Land nach dem anderen vertrieben, zuerst aus England, dem Ursprung der vermaledeiten Ritualmordlegende, der zufolge wir beschuldigt wurden, mit dem Blut nichtjüdischer Kinder Matzen zu backen, dann warf uns Frankreich hinaus, dann die Städte in Deutschland, Italien und Sizilien – praktisch ganz Europa – außer Spanien, wo weiterhin die Convivencia galt und Juden, Christen und Mauren sich friedlich miteinander vermischten. Aber die schrittweise Wiedereroberung Spaniens durch die Christen leitete den Niedergang dieser goldenen Periode ein. Und du weißt vom Ende der Convivencia im Jahr 1391?«
»Ja, ich weiß von den Vertreibungen und von den Pogromen in Kastilien und Aragon im Jahr 1391. Das weiß ich alles. Und Sie wissen, dass ich das weiß. Warum erzählen Sie mir das heute?«
»Ich weiß, dass du es zu wissen glaubst. Aber es gibt Wissen, und es gibt wahres Wissen, Wissen tief in deinem Inneren, und diese Stufe hast du noch nicht erreicht. Ich bitte dich im Augenblick nur darum zuzuhören. Sonst nichts. Alles wird sich mit der Zeit aufklären.
Was an 1391 tatsächlich anders war«, fuhr der Rabbiner fort, »war, dass Juden nach dem Pogrom zum allerersten Mal in der Geschichte begannen, zum Christentum zu konvertieren – und sie konvertierten in hellen Scharen, zu Tausenden, zu Zehntausenden. Die spanischen Juden gaben auf. Sie waren schwach. Sie beschlossen, dass unsere Thora – das direkte Wort Gottes – und unser dreitausend Jahre altes Erbe den Preis einer fortwährenden Bedrohung nicht wert waren.
Diese massenhafte jüdische Konversion war von welterschütternder Bedeutung: Nie zuvor in der Geschichte hatten wir Juden unseren Glauben aufgegeben. Vergleiche das mit der Reaktion der Juden von 1096. Kennst du dieses Datum? Weißt du, worauf ich mich beziehe, Baruch?«
»Zweifellos meinen Sie die Juden, die bei den Pogromen während der Kreuzzüge abgeschlachtet wurden – das Pogrom in Mainz von 1096.«
»In Mainz und anderswo im ganzen Rheinland. Jawohl, abgeschlachtet. Und weißt du, wer die Schlächter anführte? Die Mönche! Wann immer Juden abgeschlachtet werden, finden sich die Männer des Kreuzes an vorderster Front der Meute. Ja, diese edlen Juden aus Mainz, diese wunderbaren Märtyrer, sie entschieden sich für den Tod statt für die Konversion – viele hielten den Mördern den Kopf hin, und viele andere schlachteten lieber ihre eigenen Familien ab, als sie von den Schwertern der Heiden schänden zu lassen. Sie starben lieber, statt zu konvertieren.«
Bento sah ihn ungläubig an. »Und das begrüßen Sie? Sie halten es für rühmlich, die eigene Existenz zu beenden und bei dieser Gelegenheit gleich auch die eigenen Kinder zu ermorden, um …«
»Baruch, du musst noch viel lernen, wenn du keinen Grund für würdig erachtest, dein eigenes, unbedeutendes Leben niederzulegen, doch es ist in diesem Augenblick zu wenig Zeit, um dich über solche Dinge zu unterrichten. Du bist heute nicht hier, um deine Unverschämtheiten zur Schau zu stellen. Dafür ist später noch genügend Zeit. Ob es dir gefällt oder nicht, du befindest dich nun am großen Scheideweg deines Lebens, und ich versuche, dir zu helfen, deinen Weg zu wählen. Ich möchte, dass du aufmerksam und schweigend meinem Bericht darüber lauschest, in welcher Gefahr sich unsere gesamte jüdische Zivilisation derzeit befindet.«
Bento hielt den Kopf aufrecht, atmete ruhig und nahm wahr, wie sehr die scharfe Stimme des Rabbiners ihn früher geängstigt hatte und wie wenig Schrecken sie jetzt auf ihn ausübte.
Rabbi Mortera holte tief Luft und fuhr fort: »Im fünfzehnten Jahrhundert gab es noch immer Zehntausende neuer Konversionen in Spanien, darunter waren auch Mitglieder deiner Familie. Aber der Blutdurst der katholischen Kirche war noch immer nicht gestillt. Sie behauptete, dass Conversos nicht christlich genug seien, dass manche von ihnen noch immer jüdische Gefühle hegten, und sie beschloss, Inquisitoren auszuschicken, die alles Jüdische zu Tage fördern sollten. Sie fragten: ›Was haben Sie am Freitag, am Samstag gemacht?‹, ›Zünden Sie Kerzen an?‹ ›An welchem Tag wechseln Sie die Bettwäsche?‹, ›Wie bereiten Sie Ihre Suppen zu?‹ Und wenn die Inquisitoren irgendwelche Spuren jüdischer Merkmale, jüdischer Bräuche oder jüdischer Speisezubereitungen entdeckten, verbrannten die freundlichen Priester diese Menschen bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen. Aber selbst dann waren sie von der Reinheit der Conversos noch nicht überzeugt. Jede Spur des Juden musste ausgemerzt werden. Sie wollten nicht, dass der Blick eines Conversos auf einen praktizierenden Juden fiel, denn sie befürchteten, dass dadurch die alten Bräuche wieder aufleben könnten. Deshalb vertrieben sie 1492 alle Juden, jeden einzelnen von ihnen, aus Spanien. Viele, darunter auch deine eigenen Vorfahren, gingen nach Portugal, erfreuten sich dort aber nur einer kurzen Verschnaufpause. Fünf Jahre später verfügte der König von Portugal, dass jeder Jude sich zwischen Konversion oder Vertreibung entscheiden müsse. Und wiederum wählten Zehntausende die Konversion und waren für unseren Glauben verloren. Das war der geschichtliche Tiefpunkt des Judentums, ein solcher Tiefpunkt, dass viele, darunter auch ich, glaubten, die Ankunft des Messias stünde kurz bevor. Du erinnerst dich, dass ich dir die großartige, dreibändige Messianische Trilogie von Isaac Abrabanel geliehen hatte, in der genau dies postuliert wird?«
»Ich erinnere mich, dass Abrabanel kein rationales Argument vorbringt, weshalb die Juden an ihrem Tiefpunkt angekommen sein müssen, um dieses mythische Ereignis auszulösen. Nicht einmal eine Erklärung dafür, weshalb ein allmächtiger Gott nicht in der Lage sein soll, sein auserwähltes Volk zu schützen, und sie gar nicht erst zu diesem Punkt kommen lässt, noch weshalb …«
»Schweige still. Höre heute einfach nur zu, Baruch«, bellte der Rabbiner. »Befolge nur ein einziges Mal, vielleicht zum letzten Mal, genau das, was ich dir sage. Wenn ich dir eine Frage stelle, antworte nur mit ja oder nein. Ich habe dir nur noch ein paar Dinge zu sagen. Ich sprach gerade über den tiefsten Punkt in der jüdischen Geschichte. Wo konnten die Juden des ausgehenden fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts Schutz suchen? Wo in der ganzen Welt gab es einen sicheren Hort? Einige gingen nach Osten ins ottomanische Königreich oder nach Livorno in Italien, wo sie wegen ihrer wertvollen internationalen Handelsbeziehungen toleriert wurden. Und dann, als nach 1579 die nördlichen Provinzen der Niederlande ihre Unabhängigkeit vom katholischen Spanien proklamierten, fanden einige Juden den Weg hierher nach Amsterdam.
Wie nahmen uns die Holländer auf? Wie kein anderes Volk auf der ganzen Welt. Sie waren vollkommen tolerant gegenüber Religionen. Niemand fragte nach religiösen Überzeugungen. Sie waren Calvinisten, gestanden aber allen das Recht zu, ihren Glauben nach Gutdünken auszuüben – nur den Katholiken nicht. Ihnen gegenüber brachten sie nicht viel Toleranz auf. Aber das geht uns nichts an. Hier wurden wir nicht nur nicht drangsaliert, sondern sogar mit offenen Armen empfangen, denn die Niederlande wollten ein wichtiges Handelszentrum werden, und sie wussten, dass Marranen-Händler dabei helfen konnten, diesen Handel aufzubauen. Bald kamen immer mehr Immigranten aus Portugal ins Land und erfreuten sich einer Toleranz, die es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Und auch andere Juden kamen: Auch arme Aschkenaser Juden ergossen sich aus Deutschland und Osteuropa in Wellen über die Niederlande, um der herrschenden ausufernden Gewalt gegen Juden zu entfliehen. Natürlich fehlte diesen Aschkenaser Juden die Kultur der sephardischen Juden: Sie hatten weder eine Ausbildung noch irgendwelche Fähigkeiten, und die meisten wurden Hausierer, Trödler und Krämer. Aber dennoch hießen wir sie willkommen und gaben ihnen Almosen. Wusstest du, dass dein Vater der Aschkenaser-Spendenbüchse in unserer Synagoge regelmäßig großzügige Spenden zukommen ließ?«
Baruch, der weiterhin schwieg, nickte.
»Und dann«, fuhr Rabbi Mortera fort, »gestanden uns die Amsterdamer Behörden in Absprache mit dem großen Juristen Grotius nach ein paar Jahren offiziell das Recht zu, in Amsterdam zu leben. Anfangs waren wir bescheiden und folgten unserer alten Gepflogenheit, uns unauffällig zu verhalten. Deshalb verzichteten wir darauf, unsere vier Synagogen nach außen hin zu kennzeichnen, sondern hielten unsere Gottesdienste in Gebäuden ab, die wie Privathäuser aussahen. Erst als viele Jahre ohne Schikanen vergangen waren, begriffen wir wirklich, dass wir unseren Glauben offen praktizieren und sicher sein durften, dass der Staat unser Leben und unseren Besitz schützen würde. Wir Juden in Amsterdam haben das außerordentliche Glück, am einzigen Ort der ganzen Welt zu leben, wo Juden frei sein können. Stimmst du dem zu – am einzigen Ort der ganzen Welt?«
Baruch rutschte nervös auf seinem Holzstuhl hin und her und nickte zerstreut.
»Geduld, Geduld, Baruch. Hör nur noch einen Augenblick zu – ich wende mich nun genau den Themen zu, die für dich von äußerster Relevanz sind. Unsere bemerkenswerte Freiheit ist an bestimmte Auflagen geknüpft, welche der Amsterdamer Stadtrat explizit dargelegt hat. Zweifellos weißt du, welche Auflagen das sind?«
»Dass wir den christlichen Glauben nicht diffamieren und nicht versuchen, Christen zu bekehren oder zu heiraten«, antwortete Baruch.
»Es gibt noch mehr. Deine Merkfähigkeit ist erstaunlich, aber du erinnerst dich nicht an die anderen Auflagen. Warum? Vielleicht, weil sie dir nicht genehm sind. Dann will ich sie dir in Erinnerung rufen. Grotius verfügte auch, dass alle Juden über vierzehn Jahre ihren Glauben an Gott, an Moses, an die Propheten und an das Leben nach dem Tode erklären müssen und dass unsere religiösen und zivilen Instanzen garantieren müssen, dass keines unserer Gemeindemitglieder etwas sagt oder tut, was irgendeinen Aspekt der Lehre der christlichen Religion in Zweifel ziehen oder untergraben könnte. Andernfalls riskieren wir, unsere Freiheit zu verlieren.«
Rabbi Mortera hielt inne, wedelte mit dem Zeigefinger und fuhr dann langsam und eindringlich fort: »Diesen letzten Punkt möchte ich dir besonders ans Herz legen, Baruch – es ist ein entscheidender Punkt, den du begreifen musst. Atheismus oder die Missachtung religiöser Gesetze und Instanzen – seien es jüdische oder christliche – ist ausdrücklich verboten. Wenn wir den holländischen zivilen Behörden den Eindruck vermitteln, dass wir uns nicht selbst regieren können, werden wir unsere kostbare Freiheit verlieren und uns abermals der Herrschaft der christlichen Instanzen unterwerfen müssen.«
Rabbi Mortera hielt abermals inne. »Meine Geschichtsstunde ist damit beendet. Meine große Hoffnung ist nun, dass du verstehst, dass wir immer noch ein separiertes Volk sind, dass wir, obwohl wir heute eine begrenzte Freiheit genießen, niemals ganz und gar autonom sein können. Selbst heute ist es nicht einfach, uns als freie Menschen selbst zu erhalten, weil uns so viele Berufe verschlossen sind. Denk daran, Baruch, wenn du über ein Leben ohne diese Gemeinde nachdenkst. Es könnte sein, dass du den Hungertod wählst.«
Baruch wollte antworten, doch der Rabbiner brachte ihn mit erhobenem Zeigefinger zum Schweigen. »Es gibt noch einen Punkt, den ich ansprechen möchte. In diesen Tagen wird das eigentliche Fundament unserer religiösen Kultur angegriffen. Die Wellen von Immigranten, die noch immer aus Portugal über uns hereinbrechen, sind Juden ohne jegliche jüdische Ausbildung. Es war ihnen verboten, Hebräisch zu lernen; sie wurden gezwungen, die katholische Glaubenslehre zu lernen und den katholischen Glauben zu praktizieren. Sie stehen zwischen zwei Welten, mit einem unsicheren Glauben an die katholische Lehre einerseits und an jüdische Glaubensgrundsätze andererseits. Es ist meine Mission, sie zurückzugewinnen, sie wieder nach Hause zu holen, zurück zu ihren jüdischen Wurzeln zu führen. Unsere Gemeinde wächst und entwickelt sich: Wir bringen bereits Wissenschaftler, Poeten, Stückeschreiber, Kabbalisten, Mediziner und Drucker hervor. Wir stehen an der Schwelle zu einer bedeutenden Renaissance, und es gibt hier einen Platz für dich. Deine Bildung, dein wacher Geist und deine Begabung als Lehrer wären uns eine unendlich große Hilfe. Wenn du an meiner Seite unterrichtetest und meine Aufgaben übernähmest, wenn ich nicht mehr bin, würdest du die Träume deines Vaters erfüllen – und auch meine Träume.«
Verblüfft sah Baruch dem Rabbiner in die Augen: »Was meinen Sie mit ›meine Aufgaben übernehmen‹? Ihre Worte verwirren mich. Vergessen Sie nicht, dass ich ein Krämer bin, und ich stehe unter Cherem.«
»Der Cherem steht noch bevor. Er ist erst dann Wirklichkeit, wenn ich ihn in der Synagoge öffentlich ausgesprochen habe. Ja, die Parnassim sind die letzte Instanz, aber mein Einfluss auf sie ist groß. Zwei Marranen, Franco Benitez und Jacob Rodriguez, die sich uns gerade erst angeschlossen haben, legten gestern vor den Parnassim Zeugnis ab, ein Zeugnis, welches dich schwer belastet. Sie berichteten, du glaubtest, dass Gott nichts weiter als die Natur sei und dass es kein Leben nach dem Tod gebe. Ja, das war schwerwiegend, doch unter uns gesagt, misstraue ich ihrer Aussage, und ich weiß, dass sie deine Worte verzerrt haben. Sie sind Neffen von Duarte Rodriguez, der dir noch immer zürnt, weil du dich an das holländische Gericht wandtest, um deine Schuld an ihn nicht bezahlen zu müssen. Ich bin davon überzeugt, dass er sie zum Lügen anstiftete. Und glaube mir, ich bin nicht der Einzige, der das glaubt.«
»Sie haben nicht gelogen, Rabbi.«
»Baruch, besinne dich. Ich kenne dich seit deiner Geburt, und ich weiß, dass du wie jeder andere von Zeit zu Zeit auf törichte Gedanken kommen kannst. Ich flehe dich an: Studiere mit mir, lass mich deine Seele läutern. Und nun höre mir zu. Ich schlage dir ein Angebot vor, das ich niemandem sonst auf der Welt vorschlagen würde. Ich bin sicher, dass ich dir eine lebenslange Rente garantieren kann, welche dich auf Dauer vom Handelsgeschäft befreit und in ein Leben als Gelehrter führt. Hörst du? Ich biete dir das Geschenk eines Lebens für die Wissenschaft, ein Leben mit Lesen und Denken. Du darfst sogar verbotene Gedanken denken, während du in der rabbinischen Wissenschaft nach bestätigenden oder widersprüchlichen Hinweisen suchst. Denke über mein Angebot nach: ein Leben in vollkommener Freiheit. Es ist nur an eine einzige Bedingung geknüpft: Schweigen. Du musst zustimmen, dass du alle Gedanken für dich behältst, die unserem Volk Schaden zufügen.«
Baruch schien tief in Gedanken versunken. Nach langem Schweigen fragte der Rabbiner: »Was sagst du dazu, Baruch? Nun, wenn es an der Zeit ist, dass du sprichst, bleibst du stumm.«
»Öfter, als ich mich erinnern kann«, antwortete Baruch mit ruhiger Stimme, »sprach mein Vater von seiner Freundschaft zu Ihnen und seiner großen Wertschätzung für Sie. Er erzählte mir auch von Ihrer hohen Meinung, was meinen Verstand betrifft – ›grenzenlose Intelligenz‹, das waren die Worte, die er Ihnen zuschrieb. Waren das tatsächlich Ihre Worte? Hat er Sie korrekt zitiert?«
»Das waren meine Worte.«
»Ich glaube, dass die Welt und alles auf ihr nach natürlichen Gesetzen abläuft und dass ich meine Intelligenz dazu nutzen kann, das Wesen Gottes, die Wirklichkeit und den Weg zu einem glückseligen Leben zu entdecken, vorausgesetzt, ich setze sie auf vernünftige Weise ein. Das sagte ich Ihnen schon einmal, nicht wahr?«
Rabbi Mortera legte seinen Kopf in die Hände und nickte.
»Und dennoch schlagen Sie mir heute vor, dass ich mein Leben damit verbringen soll, meine Ansichten durch Hinzuziehen der rabbinischen Wissenschaft bestätigen oder widerlegen zu lassen. Das ist nicht meine Art, und das wird sie auch nicht sein. Die rabbinische Autorität beruht nicht auf der reinen Wahrhaftigkeit. Sie beruht nur auf den geäußerten Ansichten von Generationen abergläubischer Wissenschaftler, Wissenschaftler, die glaubten, dass die Welt eine Scheibe ist, die von der Sonne umkreist wird, und dass plötzlich ein Mann namens Adam aufgetaucht ist und zum Urvater der menschlichen Rasse wurde.«
»Du leugnest die Göttlichkeit der Schöpfung?«
»Leugnen Sie die Beweise, dass es bereits lange vor den Israeliten Zivilisationen gab? In China? In Ägypten?«
»Was für eine Gotteslästerung. Begreifst du nicht, dass du damit deinen Platz im Jenseits aufs Spiel setzest?«
»Es gibt keinen vernünftigen Beweis für die Existenz eines Lebens nach dem Tode.«
Rabbi Mortera war wie vom Donner gerührt. »Das entspricht genau dem, wie die Neffen Duarte Rodriguez’ dich zitierten. Und ich dachte, sie hätten auf Befehl ihres Onkels gelogen.«
»Ich glaube, Sie haben mich nicht gehört, oder Sie wollten mich nicht hören, Rabbi, als ich vorhin sagte: ›Sie haben nicht gelogen.‹«
»Und die anderen Behauptungen, die sie aufstellten? Dass du den göttlichen Ursprung der Thora leugnest, dass Moses die Thora nicht geschrieben hat, dass Gott nur auf eine philosophische Art existiert und dass zeremonielle Vorschriften nicht heilig sind?«
»Die Neffen haben nicht gelogen, Rabbi.«
Rabbi Mortera starrte Baruch an, und seine Seelenqual schlug in Wut um. »Jede einzelne dieser Behauptungen ist ein Grund für einen Cherem; zusammengenommen verdienen sie den größten Cherem, der jemals ausgesprochen wurde.«
»Sie waren mein Lehrer für Hebräisch, und Sie haben mich gut unterrichtet. Erlauben Sie mir, mich dadurch erkenntlich zu zeigen, dass ich den Cherem für Sie zusammenstelle. Sie zeigten mir einmal einige der brutalsten Cherems, die von der venezianischen Gemeinde verhängt wurden, und ich kann mich noch an jedes einzelne Wort erinnern.«
»Ich sagte vorhin, dass für deine Unverschämtheiten später noch Zeit genug sein wird. Jetzt stelle ich fest, dass es schon so weit ist.« Rabbi Mortera hielt inne, um sich zu sammeln. »Du willst mich töten. Du willst mein Werk vollkommen zerstören. Du weißt, dass mein Lebenswerk die zentrale Rolle eines Lebens nach dem Tode im jüdischen Gedanken und der jüdischen Kultur umfasst. Du kennst mein Buch She’erut Ha-Nefesh, das ich dir anlässlich deiner Bar Mitzwa überreicht habe. Du kennst meine große Debatte mit Rabbi Aboab über dieses Thema und dass ich den Sieg errungen habe?«
»Ja, natürlich.«
»Du tust das einfach so ab. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was dabei auf dem Spiel stand? Wenn ich diese Debatte verloren hätte, wenn verfügt worden wäre, dass alle Juden einen gleichen Status im Jenseits hätten und dass Tugend unbelohnt bliebe und Übertretungen keine Strafe nach sich zögen: Kannst du denn die Auswirkungen auf die Gemeinde nicht vorhersehen? Wenn ihnen ein Platz im Jenseits zugesichert würde, was wäre dann wohl ihr Anreiz, wieder zum Judentum zu konvertieren? Wenn es keine Strafen für Verfehlungen gäbe, kannst du dir vorstellen, was die holländischen Calvinisten dann von uns denken würden? Wie lange würde unsere Freiheit wohl noch dauern? Glaubst du, das war ein Spiel für mich? Denk an die Folgen.«
»Ja, diese bedeutende Debatte – Ihre Worte haben mir gerade bewiesen, dass es in dieser Debatte nicht um spirituelle Wahrheit ging. Zweifellos war das venezianische Rabbinat darüber bestürzt. Sie beide haben sich über unterschiedliche Arten des Lebens nach dem Tod gestritten, und zwar aus Gründen, die nichts mit der Realität eines Jenseits zu tun hatten. Sie versuchen, das gemeine Volk mittels Angst und Hoffnung – den traditionellen Keulen der religiösen Führer aller geschichtlicher Epochen – unter Kontrolle zu halten. Sie behaupten wie alle rabbinischen Autoritäten weltweit, den Schlüssel zum Leben nach dem Tod in Händen zu halten, und Sie benutzen diesen Schlüssel, um politische Kontrolle zu erlangen. Andererseits vertrat Rabbi Aboab seinen Standpunkt, um sich der Seelenqualen seiner Kongregation anzunehmen, welche ihren Converso-Familien Hilfe anbieten wollte. Das war keine spirituelle Meinungsverschiedenheit. Es war eine politische Debatte, die in der Verkleidung einer religiösen daherkam. Weder Sie noch er führten irgendeinen Beweis für die Existenz eines Lebens nach dem Tode an, weder einen auf Vernunft gegründeten Beweis noch einen Beweis aufgrund der Worte in der Thora. Ich kann Ihnen versichern, dass der Beweis in der Thora nicht zu finden ist, und das wissen Sie.«
»Du hast offensichtlich nicht wahrgenommen, was ich dir über meine Verantwortung gegenüber Gott und dem Fortbestehen unseres Volkes gesagt habe«, erwiderte Rabbi Mortera.
»Vieles von dem, was religiöse Führer machen, hat wenig mit Gott zu tun«, antwortete Bento. »Im vergangenen Jahr verhängten Sie einen Cherem gegen einen Mann, der es vorgezogen hatte, sein Fleisch bei einem Aschkenaser Metzger statt bei einem sephardischen Metzger zu kaufen. Glauben Sie, dass das für Gott relevant ist?«
»Es war ein kleiner Cherem und ausgesprochen lehrreich für die Bedeutung des Zusammenhalts in der Gemeinde.«
»Und vergangenen Monat erfuhr ich, dass Sie eine Frau aus einem kleinen Dorf, in dem es keinen jüdischen Bäcker gab, anwiesen, sie dürfe ihr Brot nur dann bei einem nichtjüdischen Bäcker kaufen, wenn sie ein Stück Holz in seinen Ofen würfe und so am Backen des Brotes beteiligt wäre.«
»Als die Frau mich aufsuchte, war sie völlig durcheinander, und sie verließ mich erleichtert und glücklich.«
»Diese Frau verließ Sie noch verwirrter, als sie vorher war, noch unfähiger, für sich selbst zu denken und ihre rationalen Fähigkeiten zu entwickeln. Genau darum geht es mir: Religiöse Autoritäten aller Schattierungen trachten danach, die Entwicklung unserer rationalen Fähigkeiten zu verhindern.«
»Wenn du glaubst, dass unser Volk ohne Kontrolle und ohne Autoritäten überleben kann, bist du ein Narr.«
»Ich glaube, dass religiöse Führer ihre spirituelle Orientierung verlieren, wenn sie sich in Angelegenheiten des politischen Staates mischen. Ihre Autorität oder ihre Beratung sollte sich darauf beschränken, Ratschläge zur persönlichen Frömmigkeit zu erteilen.«
»Die Angelegenheiten des politischen Staates? Hast du nicht begriffen, was in Spanien und Portugal geschehen ist?«
»Genau darauf will ich hinaus: Das waren religiöse Staaten. Religion und Staatlichkeit müssen getrennt sein. Der denkbar beste Herrscher wäre ein frei gewählter Führer, der von einer unabhängig gewählten Ratsversammlung in seiner Macht beschränkt wird und der in Übereinstimmung mit dem öffentlichen Frieden, der Sicherheit und dem Wohl der Bürger handelt.«
»Baruch, es ist dir gelungen, mich davon zu überzeugen, dass du ein einsames Leben führen wirst und dass deine Zukunft nicht nur von Gotteslästerung, sondern auch von Verrat gekennzeichnet sein wird. Geh mir aus den Augen.«
Während er Baruchs Schritten nachhorchte, die sich auf der Treppe entfernten, hob Rabbi Mortera den Blick zum Himmel und murmelte: »Michael, mein Freund, ich habe für deinen Sohn getan, was ich konnte. Ich habe zu viele andere Seelen, die ich schützen muss.«