22 Der Wyld

Egwene schreckte hoch. Gawyn drückte ihr die Hand auf den Mund. Sie erstarrte, während die Erinnerungen wie das Licht des Sonnenaufgangs zurückkehrten. Noch immer verbargen sie sich unter dem zerstörten Wagen; die Luft stank nach verbranntem Holz. Das Land war fast so schwarz wie Kohle. Die Nacht war hereingebrochen.

Sie blickte Gawyn an und nickte. War sie wirklich eingeschlafen? Unter diesen Umständen hätte sie das nicht für möglich gehalten.

»Ich versuche, mich wegzuschleichen«, flüsterte er. »Für ein Ablenkungsmanöver.«

»Ich begleite dich.«

»Allein kann ich mich leiser bewegen.«

»Offensichtlich hast du niemals versucht, dich an jemanden aus den Zwei Flüssen heranzuschleichen, Gawyn Trakand«, erwiderte sie. »Ich wette um hundert Mark Tar Valons, dass ich die Leisere von uns beiden bin.«

»Ja«, flüsterte er zurück, »aber falls du ein Dutzend Schritte an eine ihrer Machtlenkerinnen herankommst, wirst du entdeckt, ganz egal, wie leise du bist. Sie patrouillieren im Lager, vor allem am Lagerrand.«

Sie runzelte die Stirn. Woher wusste er das? »Du hast dich umgesehen!«

»Ein wenig«, flüsterte er. »Niemand sah mich. Sie durchstöbern die Zelte, nehmen jeden gefangen, den sie erwischen. Wir werden uns hier nicht mehr länger verstecken können.«

Er hätte nicht gehen dürfen, ohne sie zu fragen. »Wir …«

Gawyn versteifte sich, und Egwene verstummte und lauschte. Schlurfende Schritte. Die beiden zogen sich wieder zurück und sahen zu, wie etwa ein Dutzend Gefangene zu einem freien Platz in der Nähe der Stelle gebracht wurden, an der zuvor das Befehlszelt gestanden hatte. Sharaner stellten Fackeln auf Stöcken rings um die zerlumpten Gefangenen auf. Ein paar waren Soldaten, die man so lange geprügelt hatte, bis sie kaum noch laufen konnten. Aber es waren auch Köche und Arbeiter. Sie hatte man ausgepeitscht, ihre Hosen hingen in Fetzen. Allen hatte man die Hemden abgenommen.

Jemand hatte ihnen ein Symbol auf den Rücken tätowiert, das Egwene nicht erkannte. Zumindest hielt sie es für eine Tätowierung. Womöglich hatte man ihnen die Symbole auch eingebrannt.

Während die Gefangenen versammelt wurden, brüllte jemand in der Nähe. Wenige Minuten später kam ein dunkelhäutiger sharanischer Wächter und zerrte einen Botenjungen mit sich, den er anscheinend in seinem Versteck aufgespürt hatte. Er riss dem Jungen das Hemd vom Körper und stieß ihn schluchzend zu Boden. Seltsamerweise trugen die Sharaner Kleidung, auf deren Rücken diamantförmige Löcher ausgeschnitten waren. Egwene konnte sehen, dass der Wächter ebenfalls ein Zeichen aufwies, eine Tätowierung, die auf seiner dunklen Haut kaum auszumachen war. Seine Kleidung erschien sehr formell, mit einer langen, steifen Robe, die fast bis zu den Knien reichte. Sie war ärmellos, aber darunter trug er ein langärmeliges Hemd mit einem diamantförmigen Ausschnitt.

Ein weiterer Sharaner trat aus der Dunkelheit, und dieser Mann war beinahe nackt. Er trug zerrissene Hosen, aber kein Hemd. Statt einer Tätowierung auf dem Rücken hatte er Tätowierungen auf den Schultern. Sie schlängelten sich seinen Hals hinauf, bevor sie Wangen und Kiefer erreichten. Sie erinnerten an hundert verkrümmte Hände, lange Finger mit Krallen, die seinen Kopf von unten hielten.

Der Mann begab sich zu dem knienden Botenjungen. Die anderen Wächter bewegten sich unruhig; wer auch immer der Kerl war, sie fühlten sich in seiner Nähe nicht wohl. Mit einem hämischen Grinsen streckte er die Hand aus.

Plötzlich brannte auf dem Rücken des Jungen ein Symbol wie bei den anderen Gefangenen. Rauch stieg in die Höhe, der Junge schrie vor Schmerzen auf. Gawyn atmete scharf aus. Der Mann mit den ins Gesicht greifenden Tätowierungen … dieser Mann konnte die Macht lenken.

Mehrere Wächter murrten. Egwene konnte sie beinahe verstehen, aber ihr Akzent war so ausgeprägt. Der Machtlenker knurrte wie ein wilder Hund. Die Wächter traten zurück, und der Machtlenker schlenderte davon und verschwand in den Schatten.

Licht!, dachte Egwene.

Ein Rascheln in der Dunkelheit enthüllte zwei der Frauen in aufwendigen Seidengewändern. Eine hatte hellere Haut, und als Egwene näher hinsah, entdeckte sie, dass das auch für einige der Soldaten galt. Nicht alle Sharaner waren so dunkel wie die, die sie bis jetzt gesehen hatte.

Die Gesichter der Frauen waren sehr schön. Zart. Egwene zuckte zurück. Nach dem zu urteilen, was sie zuvor beobachtet hatte, würden die beiden vermutlich Machtlenker sein. Kamen sie ihr zu nahe, würden sie sie vielleicht wahrnehmen.

Die beiden Frauen musterten die Gefangenen. Im Licht ihrer Laternen konnte Egwene auch die Tätowierungen in ihren Gesichtern erkennen, allerdings waren sie bei Weitem nicht so verstörend wie bei den Männern. Hier handelte es sich um Blätter, die vom Nacken aus nach vorn zum Hals führten, unter den Ohren vorbei weiter zu den Wangen, wo sie sich wie entfaltende Blüten ausbreiteten. Die beiden Frauen tuschelten miteinander, und wieder hatte Egwene den Eindruck, dass sie sie fast verstehen konnte. Wenn sie einen Strang weben konnte, um sie zu belauschen …

Närrin, wies sie sich zurecht. Jedes Machtlenken würde sie das Leben kosten.

Um die Gefangenen versammelten sich noch mehr Leute. Egwene hielt den Atem an. Es wurden immer mehr, erst einhundert, dann vielleicht zweihundert. Sie sprachen nicht viel; diese Sharaner schienen stille, ernste Menschen zu sein. Die meisten trugen Gewänder mit der freien Stelle auf dem Rücken, die ihre Tätowierungen enthüllte. Waren das Statussymbole?

Egwene war davon ausgegangen, dass die Tätowierungen den Rang verkündeten; je ausgefeilter sie waren, umso höher die Stellung. Aber Offiziere – mit ihren befiederten Helmen und Seidenmänteln und goldenen Rüstungen, die aussahen, als hätte man Münzen durch das Loch in ihrer Mitte zusammengenäht, konnten sie eigentlich nichts anderes sein – zeigten nur kleine Öffnungen, die winzige Tätowierungen am Schulteransatz enthüllten.

Sie haben Stücke aus der Rüstung genommen, um die Tätowierungen zu zeigen, dachte sie. Sicherlich kämpften sie doch nicht so entblößt in der Schlacht. So etwas trug man bestimmt nur zu normalen Zeiten.

Die letzten Leute, die sich der Menge anschlossen und nach vorn durchgelassen wurden, waren auch zugleich die seltsamsten. Zwei Männer und eine Frau, die alle wunderschöne Seidenröcke trugen und auf kleinen Eseln ritten; die Tiere waren mit goldenen und silbernen Ketten behängt. Aus dem komplizierten Kopfschmuck breiteten sich fächergleich Federn in kräftigen Farben aus. Sie waren von der Taille an aufwärts nackt, die Frau eingeschlossen, wenn man einmal von den Ketten und dem Schmuck absah, die den größten Teil ihrer Brust bedeckten. Ihre Rücken waren frei und der Nacken ausrasiert. Ihre Arme schienen so schrecklich dünn zu sein, beinahe schon skeletthaft. So zerbrechlich. Was hatte man nur mit ihnen gemacht?

Das alles ergab für Egwene keinen Sinn. Zweifellos waren die Sharaner ein genauso verblüffendes Volk wie die Aiel, möglicherweise sogar noch mehr. Aber warum kommen sie jetzt? Warum haben sie sich nach Jahrhunderten der Isolation ausgerechnet jetzt zu einem Eroberungskrieg entschieden?

Es gab keine Zufälle, jedenfalls nicht in dieser Größenordnung. Sie waren gekommen, um Egwenes Volk anzugreifen, und sie hatten mit den Trollocs zusammengearbeitet. Das rief sie sich ins Gedächtnis zurück. Was auch immer sie hier erfahren würde, es würde von entscheidender Bedeutung sein. Im Augenblick konnte sie ihrer Armee nicht helfen – sie konnte nur beten, dass zumindest einige der Soldaten hatten entkommen können –, also würde sie in Erfahrung bringen, was nur möglich war.

Gawyn stieß sie sanft an. Sie wandte ihm den Kopf zu und spürte seine Sorge um sie.

Jetzt?, hauchte er lautlos und deutete hinter sie. Da alle Aufmerksamkeit auf das gerichtet war, was auch immer dort vorging, konnten sie sich wegschleichen. Leise setzten sie sich in Bewegung.

Eine der sharanischen Machtlenkerinnen rief etwas. Egwene erstarrte. Man hatte sie entdeckt!

Nein. Nein. Sie atmete tief ein und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen, denn das Herz schien sich einen Weg aus ihrer Brust freistrampeln zu wollen. Die Frau sprach mit anderen. Egwene glaubte, die Worte »es ist vollbracht« aus dem schweren Akzent heraushören zu können.

Die Fremden knieten nieder. Das mit Schmuck behängte Trio neigte die Köpfe. Und dann bog sich die Luft neben den Gefangenen.

Egwene hätte es nicht anders beschreiben können. Sie verdrehte sich und … und schien auseinanderzureißen, verzerrte sich wie an einem heißen Tag über einer Straße. Aus der Verzerrung schälten sich Umrisse: ein hochgewachsener Mann in funkelnder Rüstung.

Er trug keinen Helm, hatte dunkles Haar und helle Haut. Seine Nase war leicht gekrümmt, und er sah ausgesprochen attraktiv aus, vor allem in dieser Rüstung. Sie schien nur aus Silbermünzen zu bestehen, die sich überlappten. Sie waren auf Hochglanz poliert, und sämtliche Gesichter um ihn herum spiegelten sich darin.

»Ihr habt gute Arbeit geleistet«, verkündete der Mann allen, die vor ihm knieten. »Ihr dürft euch erheben.« Seine Stimme wies nur einen Hauch des sharanischen Akzents auf.

Der Mann legte die Hand auf den Schwertknauf an seiner Taille, während die anderen aufstanden. Aus der Dunkelheit kroch eine Gruppe Machtlenker heran. Sie senkten ununterbrochen die Köpfe vor dem Neuankömmling, wie in einer Art Verneigung. Er zog einen seiner Panzerhandschuhe aus, streckte lässig die Hand aus und kraulte einem der Männer den Kopf, so wie es ein Lord vielleicht bei seinem Lieblingshund getan hätte.

»Das sind also die neuen Inacal«, sagte der Mann fragend. »Weiß einer von euch, wer ich bin?«

Die Gefangenen zuckten vor ihm zusammen. Obwohl die Sharaner aufgestanden waren, waren sie schlau genug, auf dem Boden zu bleiben. Keiner von ihnen sagte ein Wort.

»Vermutlich nicht«, sagte der Mann. »Obwohl man sich nie sicher sein kann, ob sich mein Ruhm unerwarteterweise verbreitet hat. Sagt es mir, wenn ihr wisst, wer ich bin. Sprecht es aus, und ich lasse euch frei.«

Keine Reaktion.

»Nun, ihr werdet zuhören und es nie wieder vergessen«, sagte der Mann. »Ich bin Bao, der Wyld. Ich bin euer Erlöser. Durch die Tiefen des Leides bin ich gekrochen und aufgestiegen, um meinen Ruhm zu akzeptieren. Ich bin gekommen, um das zu suchen, was mir genommen wurde. Erinnert euch daran.«

Die Gefangenen kauerten sich noch mehr zusammen, da sie offensichtlich nicht wussten, was von ihnen erwartet wurde. Gawyn zupfte an Egwenes Ärmeln und gestikulierte hinter sich, aber sie bewegte sich nicht. Irgendetwas an diesem Mann …

Plötzlich schaute er auf. Er konzentrierte sich auf die Machtlenkerinnen, dann schaute er sich um und spähte in die Dunkelheit. »Kennt einer von euch Inacal den Drachen?«, fragte er, obwohl er abgelenkt klang. »Sprecht. Verratet es mir.«

»Ich habe ihn gesehen«, sagte einer der gefangenen Soldaten. »Mehrere Male.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«, wollte Bao wissen und spazierte von den Gefangenen weg.

»Nein, großer Herr«, sagte der Soldat. »Die Aes Sedai, sie sprachen mit ihm. Ich nicht.«

»Ja. Ich hatte schon befürchtet, dass ihr nutzlos sein würdet«, sagte Bao. »Diener, wir werden beobachtet. Ihr habt dieses Lager nicht so gut durchsucht, wie ihr gesagt habt. Ich spüre in der Nähe eine Frau, die die Macht lenken kann.«

Entsetzen durchfuhr Egwene wie ein Stich. Gawyn zog an ihrem Arm und wollte weg, aber wenn sie jetzt rannten, würden sie auf jeden Fall gefangen genommen. Beim Licht! Sie …

Ein plötzlicher Lärm in der Nähe eines der umgestürzten Zelte ließ alle sich umdrehen. Bao hob eine Hand, und Egwene vernahm in der Dunkelheit einen wütenden Schrei. Augenblicke später schwebte Leane mit weit aufgerissenen Augen gefesselt mit Luft durch die Menge der Sharaner. Bao brachte sie nahe an sich heran und hielt sie mit Geweben fest, die Egwene nicht sehen konnte.

Ihr Herz pochte wie verrückt. Leane war am Leben. Wie hatte sich die Blaue Schwester nur verstecken können? Beim Licht! Was konnte sie nur tun?

»Ah«, sagte Bao. »Eine dieser … Aes Sedai. Du, du hast mit dem Drachen gesprochen?«

Leane antwortete nicht. Sie behielt ihre Miene ausdruckslos, was ausgesprochen tapfer war.

»Eindrucksvoll«, sagte Bao und berührte ihr Kinn. Dann hielt er die andere Hand hoch, und sämtliche Gefangenen wanden sich in Krämpfen und schrien. Flammen schlugen aus ihrem Körper, und ihre gequälten Schreie wurden noch schriller. Als Egwene das beobachtete, musste sie sich mit jeder Faser ihres Seins davon abhalten, nicht nach der Wahren Quelle zu greifen. Als es endlich endete, weinte sie, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, wann sie damit angefangen hatte.

Die Sharaner scharrten mit den Füßen.

»Seid nicht verärgert«, sagte Bao. »Ich weiß, dass ihr große Mühen auf euch genommen habt, um mir einige lebend zu bringen, aber sie hätten schlechte Inacal abgegeben. Sie sind nicht dementsprechend erzogen worden, und während dieses Krieges fehlt uns die nötige Zeit, um sie auszubilden. Sie jetzt zu töten ist eine Gnade verglichen mit dem, was sie hätten erdulden müssen. Außerdem wird die hier, diese … Aes Sedai unseren Zwecken dienen.«

Leanes Maske hatte einen Sprung erhalten, und Egwene konnte trotz der Entfernung ihren Hass sehen.

Bao hielt noch immer ihr Kinn. »Du bist ein schönes Ding«, sagte er. »Leider ist Schönheit bedeutungslos. Aes Sedai, du wirst für mich eine Botschaft an Lews Therin überbringen. An den, der sich selbst der Wiedergeborene Drache nennt. Sag ihm, dass ich gekommen bin, um ihn zu töten, und indem ich das tue, fordere ich diese Welt. Ich werde nehmen, was mir hätte gehören sollen. Sag ihm das. Sag ihm, dass du mich gesehen hast, und beschreibe mich ihm. Er wird mich kennen.

So wie ihn die Menschen hier mit ihren Prophezeiungen erwartet haben, so wie sie ihn mit Ruhm überschüttet haben, haben die Menschen meines Landes mich erwartet. Ich habe ihre Prophezeiungen erfüllt. Er ist falsch, und ich bin echt. Sag ihm, dass ich endlich meine Genugtuung bekomme. Er hat zu mir zu kommen, damit wir uns gegenübertreten können. Tut er es nicht, werde ich töten und zerstören. Ich nehme sein Volk gefangen. Ich versklave seine Kinder. Ich nehme mir seine Frauen. Ich werde alles, was er je geliebt hat, brechen, vernichten oder dominieren, eines nach dem anderen. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie er das vermeiden kann, er muss kommen und sich mir stellen.

Sag ihm das, kleine Aes Sedai. Sag ihm, dass ihn ein alter Freund erwartet. Ich bin Bao, der Wyld. ›Der allein dem Land gehört.‹ Der Drachentöter. Einst kannte er mich unter einem Namen, den ich verachtete, dem Namen Barid Bel.«

Barid Bel, dachte Egwene, und Erinnerungen an ihren Unterricht in der Weißen Burg stiegen in ihr auf. Barid Bel Medar … Demandred.


Der Sturm im Wolfstraum veränderte sich ständig. Perrin verbrachte Stunden damit, durch die Grenzlande zu streifen. Er besuchte Wolfsrudel, während er durch trockene Flussbette und über zerstörte Hügel rannte.

Gaul hatte schnell gelernt. Natürlich würde er keinen Moment lang gegen den Schlächter bestehen können, aber zumindest hatte er gelernt, wie er verhindern musste, dass sich seine Kleidung ständig veränderte – obwohl sich noch immer sein Schleier vors Gesicht schob, wenn ihn etwas überraschte.

Zusammen eilten sie durch Kandor und zeichneten Schemen in die Luft, als sie sich von einem Hügel zum nächsten bewegten. Manchmal war der Sturm sehr stark, manchmal auch schwach. Im Augenblick war Kandor auf eine schon unheimliche Weise still. Das grasige Hochland war mit allen möglichen Trümmern übersät. Zelte, Dachziegel, das Segel eines großen Schiffes, sogar der Amboss einer Schmiede, der mit der Spitze in einem schlammigen Hang steckte.

Der gefährlich mächtige Sturm konnte überall im Wolfstraum aufsteigen und Städte oder Wälder auseinanderpflügen. Perrin hatte tairenische Hüte oben in Shienar gefunden.

Perrin kam oben auf einem Hügel zum Stehen, und Gaul raste an seine Seite. Wie lange suchten sie jetzt schon nach dem Schlächter? Einerseits schienen es nur wenige Stunden gewesen zu sein. Andererseits … welche Distanzen hatten sie zurückgelegt? Bis jetzt hatten sie sich dreimal bei ihren Vorräten bedient. Bedeutete das, dass ein Tag vergangen war?

»Gaul«, sagte Perrin. »Wie lange machen wir das jetzt schon?«

»Das vermag ich nicht zu sagen, Perrin Aybara«, erwiderte der Aiel. Er überprüfte den Sonnenstand, obwohl sie gar nicht zu sehen war. »Eine Weile. Müssen wir aufhören und schlafen?«

Das war eine gute Frage. Plötzlich knurrte Perrin der Magen, und er bereitete ihnen eine Mahlzeit aus Trockenfleisch und einer Kante Brot zu. Würde herbeigedachtes Brot sie im Wolfstraum ernähren oder würde es einfach verschwinden, nachdem sie es verspeist hatten?

Das Letztere. Das Essen verschwand, noch während Perrin kaute. Sie würden auf ihre Vorräte zurückgreifen müssen, vielleicht sogar Nachschub holen, wenn Rands Asha’man einmal täglich das Tor öffnete. Nun versetzte er sich zurück zu ihren Bündeln und kramte etwas Trockenfleisch hervor, bevor er sich wieder im Norden zu Gaul gesellte.

Als sie sich auf den Hügel setzten, um in Ruhe zu essen, richteten sich seine Gedanken wieder einmal auf den Traumnagel. Er trug ihn bei sich, versetzt in seinen Schlummerzustand, so wie Lanfear es ihm beigebracht hatte. Jetzt erschuf das Ding keine Kuppel, aber er konnte sie jederzeit machen, wenn er wollte.

Lanfear hatte ihm den Nagel so gut wie ohne Gegenleistung überlassen. Was hatte das zu bedeuten? Warum verspottete sie ihn?

Er biss ein Stück Fleisch ab. War Faile in Sicherheit? Falls der Schatten entdeckte, was sie da machte … Er wünschte sich, er hätte wenigstens nach ihr sehen können.

Er nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserschlauch, dann suchte er mit seinen Gedanken nach den Wölfen. Hier oben in den Grenzlanden gab es Hunderte von ihnen. Vielleicht sogar Tausende. Er grüßte die in der Nähe und übermittelte ihnen seinen Geruch vermengt mit seinem Bild. Die Dutzenden Antworten kamen nicht in Form von Worten, aber er verstand sie trotzdem.

Junger Bulle! Das kam von einem Wolf namens Weißauge. Die Letzte Jagd ist da. Führst du uns?

In letzter Zeit fragten das viele, und Perrin kam einfach nicht darauf, was er davon halten sollte. Warum braucht ihr mich, um euch anzuführen?

Dein Ruf ist erforderlich, sagte Weißauge. Dein Heulen.

Ich verstehe nicht, was du damit meinst, erwiderte Perrin. Könnt ihr nicht allein jagen?

Nicht dieses Wild, Junger Bulle.

Perrin schüttelte den Kopf. Diese Antwort hatte er schon von anderen erhalten. Weißauge. Hast du den Schlächter gesehen? Den Wolfsmörder? Hat er euch hier nachgestellt?

Perrin sandte diese Worte in alle Richtungen aus, und einige der anderen Wölfe antworteten. Sie wussten über den Schlächter Bescheid. Sein Bild und sein Geruch waren unter vielen Wölfen weitergereicht worden, genau wie Perrins. In der letzten Zeit hatte ihn niemand gesehen, aber bei den Wölfen war Zeit eine seltsame Sache; Perrin konnte sich nicht sicher sein, von welchem Zeitraum sie sprachen.

Er nahm noch einen Bissen von dem Trockenfleisch und ertappte sich dabei, wie er leise knurrte. Sofort hörte er damit auf. Er hatte seinen Frieden mit dem Wolf in seinem Inneren geschlossen, aber das bedeutete nicht, dass er ihn Dreck ins Haus tragen lassen würde.

Junger Bulle, übermittelte eine andere Wölfin. Drehwurm, eine alte Rudelführerin. Mondjägerin wandelt wieder im Traum. Sie sucht dich.

Danke, erwiderte er. Das weiß ich. Ich werde ihr aus dem Weg gehen.

Dem Mond aus dem Weg gehen? Das ist schwierig, Junger Bulle. Schwierig.

Das hatte sie richtig erkannt.

Eben sah ich Herzsucherin, übermittelte Schritt, ein Jungtier mit schwarzem Pelz. Sie trägt einen neuen Geruch, aber sie ist es.

Andere Wölfe stimmten ihm zu. Herzsucherin befand sich im Wolfstraum. Ein paar hatten sie im Osten gesehen, aber andere behaupteten, sie im Süden gesehen zu haben.

Aber was war mit dem Schlächter? Was tat der Mann, wenn er keine Wölfe jagte? Perrin erwischte sich wieder bei einem Knurren.

Herzsucherin. Das musste eine der Verlorenen sein, obwohl ihm die von den Wölfen übermittelten Bilder nichts sagten. Sie war uralt, aber das waren die Erinnerungen der Wölfe auch. Jedoch waren die Dinge, an die sie sich erinnerten, oft nur Fragmente dessen, was ihre Vorfahren einst gesehen hatten.

»Neuigkeiten?«, fragte Gaul.

»Eine andere der Verlorenen ist hier.« Perrin grunzte. »Macht irgendetwas im Osten.«

»Hat das was mit uns zu tun?«

»Die Verlorenen haben immer mit uns zu tun«, sagte Perrin und stand auf. Er beugte sich vor, berührte Gaul an der Schulter und versetzte sie in die Richtung, die Schritt angezeigt hatte. Es war nicht die genaue Stelle, aber sobald Perrin eingetroffen war, fand er einige Wölfe, die Herzsucherin am Vortag auf ihrem Weg in die Grenzlande gesehen hatten. Sie begrüßten Perrin eifrig und fragten ihn, ob er sie anführen würde.

Er wehrte die Fragen ab und ermittelte die Stelle, an der Herzsucherin gesehen worden war. Es war Merrilor.

Perrin versetzte sich dorthin. Hier hing ein seltsamer Nebel über der Landschaft. Die hohen, von Rand gezüchteten Bäume wurden widergespiegelt, und ihre luftigen Kronen ragten daraus hervor.

Zelte wuchsen Pilzhüten gleich aus der Landschaft. Viele Aiel-Zelte, dazwischen funkelten Kochfeuer im Nebel. Das Lager stand lange genug, um sich im Wolfstraum zu manifestieren, auch wenn sich die Eingangsplanen ständig veränderten und Bettzeug in der substanzlosen Art dieses Ortes flackerte.

Perrin führte Gaul vorbei an ordentlichen Zeltreihen und pferdelosen Pferdeseilen. Beide erstarrten, als sie einen Laut hörten. Jemand murmelte etwas. Perrin benutzte den Trick, den er Lanfear abgeschaut hatte, und erschuf eine Falte aus … was auch immer um sich herum, das unsichtbar war, aber jeden Laut verschluckte. Es war seltsam, aber es gelang ihm, indem er eine luftlose Barriere erschuf. Warum sollte das jeden Laut verschlucken?

Sie schlichen weiter. Vor ihnen erhob sich das Zelt von Rodel Ituralde, einem der Großen Hauptmänner, wie das Banner verkündete. Darin stöberte eine Frau in Hosen in auf dem Tisch liegenden Dokumenten herum. Ständig lösten sie sich in ihren Fingern auf.

Perrin erkannte sie nicht, auch wenn sie schrecklich hässlich war. Das hätte er mit Sicherheit von keiner der Verlorenen erwartet; nicht diese riesige Stirn, die Knollennase, die ungleichmäßigen Augen oder das schüttere Haar. Ihre Flüche sagten ihm nichts, allerdings verriet ihm der Tonfall, worum es ging.

Gaul sah ihn an, und Perrin griff nach seinem Hammer, zögerte dann aber. Den Schlächter anzugreifen war eine Sache, aber eine der Verlorenen? Er vertraute auf seine Fähigkeit, hier im Wolfstraum allen möglichen Geweben widerstehen zu können. Trotzdem …

Wieder fluchte die Frau, als die Seite, die sie las, einfach verschwand. Dann schaute sie auf.

Perrin reagierte augenblicklich. Er erschuf eine papierdünne Mauer zwischen ihnen, ihre Seite war mit einer genauen Kopie der Landschaft hinter ihm bemalt, seine Seite war durchsichtig. Die Frau schaute ihn direkt an, sah ihn aber nicht, und wandte sich ab.

Neben ihm stieß Gaul einen sehr leisen Seufzer der Erleichterung aus. Wie habe ich das denn gemacht?, fragte sich Perrin. Das hatte er nie geübt; es war einfach bloß richtig erschienen.

Herzsucherin – es konnte nur sie sein – schwenkte die Finger, und über ihr teilte sich das Zelt in zwei Hälften, und die Zeltplane baumelte nach unten. Sie flog einfach in die Luft nach oben auf den schwarzen Sturm zu.

Perrin flüsterte Gaul zu: »Warte hier und halte nach Gefahren Ausschau!«

Gaul nickte. Vorsichtig folgte Perrin Herzsucherin, schwang sich mit einem Gedanken in die Luft. Er versuchte eine weitere Mauer zwischen sich und ihr zu formen, aber es war einfach zu schwierig, während des Fluges das richtige Bild hinzubekommen. Stattdessen hielt er Abstand und schob eine braungrüne Wand zwischen sich und die Verlorene und hoffte, dass sie die kleine Unregelmäßigkeit einfach übersehen würde, falls sie nach unten zum Boden schaute.

Nun bewegte sie sich schneller, und Perrin zwang sich, mit ihr Schritt zu halten. Er schaute nach unten und wurde mit dem magenumdrehenden Anblick von Merrilors Landschaft belohnt, die immer kleiner wurde. Dann wurde sie dunkel und verschwand in der Finsternis.

Sie passierten die Wolken nicht. Als der Boden verschwand, galt das auch für die Wolken, und sie kamen zu einem schwarzen Ort. Plötzlich erschienen überall um Perrin herum stecknadelkopfgroße Lichter. Die Frau vor ihm hielt inne und hing ein paar Momente in der Luft, bevor sie nach rechts weitereilte.

Perrin verfolgte sie wieder und färbte sich schwarz, um nicht aufzufallen – Haut, Kleidung, alles. Die Frau näherte sich einem der winzigen Lichter, bis es immer größer wurde und den Himmel vor ihr dominierte.

Herzsucherin streckte die Hände aus und drückte sie gegen das Licht. Sie murmelte irgendetwas zu sich selbst. Von dem drängenden Gefühl angetrieben, dass er unbedingt hören musste, was sie da sagte, bewegte sich Perrin näher an sie heran, obwohl er befürchtete, das laute Pochen seines Herzens würde ihn verraten.

»… mir wegnehmen?«, sagte sie. »Glaubst du, das interessiert mich? Gib mir das Gesicht eines zertrümmerten Steins. Das ist mir doch egal. Das bin nicht ich. Ich werde deinen Platz einnehmen, Moridin. Er wird mir gehören. Dieses Gesicht wird lediglich dafür sorgen, dass mich alle unterschätzen. Sei verflucht.«

Perrin runzelte die Stirn. Ihre Worte ergaben für ihn nicht viel Sinn.

»Lasst sie von euren Heeren überrennen, ihr Narren«, murmelte sie weiter. »Ich werde den größeren Sieg davontragen. Ein Insekt kann tausend Beine haben, aber es hat nur einen Kopf. Zerstöre den Kopf, und der Tag gehört dir. Du schneidest ihm bloß die Beine ab, du dämlicher Narr. Dämlicher, arroganter, unerträglicher Narr. Ich bekomme, was mir zusteht, ich …«

Sie stockte und fuhr herum. Erschrocken versetzte sich Perrin sofort zurück zum Boden. Glücklicherweise funktionierte es – dort oben am Ort der Lichter hatte er nicht gewusst, ob es funktionieren würde. Gaul zuckte zusammen, und Perrin holte tief Luft. »Lass uns …«

Ein Feuerball krachte neben ihm in den Boden. Fluchend rollte Perrin sich ab, kühlte sich mit einem Windstoß und dachte sich den Hammer in die Hand.

Eingehüllt in eine Machtlohe, landete Herzsucherin auf dem Boden, Energie wogte aus ihr. »Wer bist du?«, verlangte sie zu wissen. »Wo bist du? Ich …«

Plötzlich konzentrierte sie sich auf Perrin und sah ihn zum ersten Mal, da die Dunkelheit aus seiner Kleidung gewichen war. »Du!«, kreischte sie. »Daran bist nur du schuld!«

Sie hob die Hände; ihre Augen schienen förmlich vor Hass zu glühen. Trotz des stürmischen Windes konnte Perrin das Gefühl riechen. Sie schleuderte einen glühend heißen Lichtstrahl, aber Perrin lenkte ihn um sich herum.

Die Frau starrte ihn ungläubig an. Das taten sie immer. War ihnen denn nicht klar, dass hier nichts real war, außer man verlieh ihm durch seine Gedanken Realität? Perrin verschwand, erschien hinter ihr und hob den Hammer. Dann zögerte er. Eine Frau?

Schreiend fuhr sie herum und ließ den Boden unter seinen Füßen explodieren. Er sprang in den Himmel, und die Luft um ihn herum versuchte, ihn zu ergreifen – aber er tat einfach das, was er schon zuvor getan hatte, erschuf einen Wall aus Nichts. Es gab keine Luft mehr, die ihn packen konnte. Den Atem anhaltend verschwand er und erschien wieder auf dem Boden, schichtete Erdwälle vor sich auf, um die Feuerkugeln aufzuhalten, die in seine Richtung flogen.

»Ich wollte dich tot sehen!«, kreischte die Frau. »Du solltest tot sein! Meine Pläne waren perfekt!«

Perrin verschwand und ließ eine Statue von sich zurück. Er erschien neben dem Zelt, wo Gaul mit erhobenem Speer vorsichtig wartete. Perrin erschuf eine Mauer zwischen ihnen und der Frau, bemalte sie, um sie zu verstecken, und machte eine Barriere, um ihre Stimmen zu verbergen.

»Jetzt kann sie uns nicht mehr hören«, sagte er.

»Du bist hier sehr stark«, meinte Gaul nachdenklich. »Sehr stark. Wissen das die Weisen Frauen?«

»Verglichen mit ihnen bin ich ein Welpe«, sagte Perrin.

»Vielleicht. Ich habe sie hier nicht erlebt, und sie sprechen mit Männern nicht über diesen Ort.« Er schüttelte den Kopf. »Viel Ehre, Perrin Aybara. Du hast viel Ehre.«

»Ich hätte sie einfach niederschlagen sollen«, sagte Perrin, während Herzsucherin die Statue von ihm zerstörte, sich dann zu ihr begab und verwirrt aussah. Hektisch drehte sie sich um und suchte weiter.

»Ja«, gab Gaul ihm recht. »Ein Krieger, der eine Tochter nicht schlagen will, ist ein Krieger, der ihr die Ehre verweigert. Natürlich wäre es eine viel größere Ehre für dich, wenn du …«

Wenn er sie zu seiner Gefangenen machte. Schaffte er das? Perrin holte Luft, dann versetzte er sich hinter sie und stellte sich vor, wie sich Schlingpflanzen um ihren Körper wanden, um sie festzuhalten. Die Frau brüllte ihm Flüche entgegen und zerschnitt die Fesseln mit unsichtbaren Klingen. Sie griff nach ihm, und er versetzte sich zur Seite.

Seine Füße landeten in etwas Reif, der ihm zuvor nicht aufgefallen war, und sie fuhr sofort herum und schleuderte wieder Baalsfeuer. Schlau, dachte Perrin und schaffte es nur mühsam, das Licht zur Seite zu lenken. Es traf den Hügel hinter ihm, bohrte ein Loch hinein und trat auf der anderen Seite wieder hinaus.

Geifernd hielt Herzsucherin das Gewebe fest; ihr schreckliches Gesicht war völlig verzerrt. Das Gewebe beschrieb eine Kurve und kam wieder auf Perrin zu, und er biss die Zähne zusammen und hielt es in Schach. Sie war stark. Sie drückte mit aller Kraft, aber schließlich ließ sie es keuchend los. »Wie … wie ist es möglich … wie kannst du …«

Perrin füllte ihren Mund mit Spaltwurzel. Das war sehr schwierig, etwas direkt an jemandem zu verändern war immer schwierig. Aber es war wesentlich einfacher als der Versuch, sie in ein Tier oder Ähnliches zu verwandeln. Panisch hob sie eine Hand an den Mund. Sie fing an zu spucken und zu husten, dann öffnete sie verzweifelt ein Wegetor hinter sich.

Perrin knurrte, stellte sich Seile vor, die sich um sie schlangen, aber sie zerstörte sie mit einem Gewebe Feuer – sie musste die Spaltwurzel losgeworden sein. Sie warf sich durch das Wegetor, und er versetzte sich direkt davor, um hindurchzuspringen. Und erstarrte, als er sah, wie sie mitten in einer gewaltigen Horde Trollocs und Blassen in der Nacht auftauchte. Viele starrten begierig auf das Wegetor.

Perrin trat zurück, während Herzsucherin eine Hand an den Mund hob und mit entsetztem Gesichtsausdruck noch mehr Spaltwurzel ausspuckte. Das Wegetor schloss sich.

»Ihr hättet sie töten sollen«, sagte Lanfear.

Perrin drehte sich um und fand die Frau in der Nähe mit gefalteten Armen stehen. Ihr silbergraues Haar war dunkelbraun geworden. Tatsächlich hatte sich auch ihr Gesicht verändert und ähnelte jetzt mehr dem Aussehen wie vor zwei Jahren, als er ihr zum ersten Mal begegnet war.

Perrin enthielt sich jeden Kommentars und steckte seinen Hammer weg.

»Das ist eine Schwäche, Perrin«, sagte Lanfear. »Bei Lews Therin fand ich das bis zu einem gewissen Grad ja ganz anziehend, aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass es trotzdem eine Schwäche ist. Ihr müsst das überwinden.«

»Das werde ich«, fauchte er. »Was tat sie dort oben bei diesen Lichtpunkten?«

»In Träume eindringen. Sie war im Fleisch hier. Das verschafft einem gewisse Vorteile, vor allem, wenn man mit Träumen spielt. Diese Schlampe. Sie glaubt diesen Ort zu kennen, dabei hat er immer schon mir gehört. Ihr hättet sie wirklich töten sollen.«

»Das war Graendal, richtig?«, fragte Perrin. »Oder war es Moghedien?«

»Graendal. Obwohl wir sie nicht mehr so nennen dürfen. Sie ist in Hessalam umbenannt worden.«

»Hessalam«, wiederholte Perrin und probierte das Wort aus. »Das sagt mir nichts.«

»Es bedeutet ›keine Vergebung‹.«

»Und wie lautet Euer neuer Name, der, mit dem wir Euch jetzt ansprechen sollen?«

Das ließ sie tatsächlich erröten. »Egal«, sagte sie. »Ihr seid in Tel’aran’rhiod sehr geschickt. Viel besser, als es Lews Therin je war. Ich habe immer geglaubt, ich würde an seiner Seite herrschen, dass nur ein Mann meiner wert ist, der die Macht lenken kann. Aber die Macht, die Ihr hier zeigt … ich glaube, ich werde sie als Ersatz akzeptieren.«

Perrin grunzte. Gaul hatte die kleine Lichtung zwischen den Zelten mit erhobenem Speer und mit der Shoufa verhülltem Gesicht überquert. Perrin winkte ab. Mit Sicherheit war Lanfear nicht nur viel besser im Wolfstraum als der Aiel, sondern hatte bis jetzt auch noch nichts wirklich Bedrohliches getan.

»Falls Ihr mich beobachtet habt«, sagte er, »dann werdet Ihr wissen, dass ich verheiratet bin, und zwar recht glücklich.«

»Das habe ich gesehen.«

»Dann hört auf, mich wie ein Stück Fleisch zu betrachten, das man auf dem Markt zum Verkauf ausstellt«, knurrte er. »Was hat Graendal hier gemacht? Was will sie?«

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Lanfear unbeschwert. »Sie verfolgte immer drei oder vier Pläne zur gleichen Zeit. Unterschätzt sie nicht, Perrin. Sie ist hier nicht so geschickt wie andere, aber sie ist gefährlich. Im Gegensatz zu Moghedien ist sie eine Kämpferin. Die ergreift sofort vor dir die Flucht, wenn sie kann.«

»Ich behalte das im Gedächtnis«, sagte Perrin und ging zurück zu der Stelle, wo sie durch ihr Wegetor verschwunden war. Mit der Stiefelspitze drückte er an der Erde herum, wo das Tor den Boden aufgeschnitten hatte.

»Ihr wisst, dass Ihr das ebenfalls tun könntet«, sagte Lanfear.

Er fuhr zu ihr herum. »Was?«

»In die wache Welt treten und zurückkommen«, antwortete sie. »Ohne dabei die Hilfe von jemandem wie Lews Therin zu brauchen.«

Es gefiel Perrin nicht, wie sie höhnisch die Lippen verzog, wenn sie seinen Namen aussprach. Sie versuchte es zu überspielen, aber er roch den Hass an ihr, wenn sie ihn erwähnte.

»Ich kann nicht die Macht lenken. Vermutlich könnte ich mir vorstellen, sie lenken zu …«

»Das würde nicht funktionieren«, sagte sie. »Es gibt Grenzen in dem, was man hier erreichen kann, ganz egal, wie stark der Wille auch ist. Die Fähigkeit, die Macht lenken zu können, hat nichts mit dem Körper zu tun, sondern entstammt der Seele. Trotzdem gibt es für einen wie Euch Möglichkeiten, sich im Fleisch zwischen den Welten hin und her zu bewegen. Der, den Ihr den Schlächter nennt, tut das.«

»Er ist kein Wolfsbruder.«

»Nein. Aber er ist etwas Ähnliches. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob jemals ein anderer seine Fähigkeiten hatte. Der Dunkle König hat etwas mit diesem Schlächter gemacht, als er seine Seele oder vielmehr seine Seelen einfing. Semirhage hätte uns vielleicht mehr darüber verraten können. Bedauerlicherweise ist sie tot.«

Sie roch nicht im Mindesten nach Bedauern. Sie schaute zum Himmel, war aber ganz ruhig und nicht besorgt.

»Ihr scheint nicht mehr so beunruhigt darüber zu sein, entdeckt zu werden, wie das früher der Fall war«, bemerkte Perrin.

»Mein früherer Herr ist … beschäftigt. Seinen Blick habe ich kaum gespürt, während ich Euch vergangene Woche beobachtete.«

»Woche?«, fragte Perrin entsetzt. »Aber …«

»Hier vergeht die Zeit auf sehr seltsame Weise«, sagte sie, »außerdem lösen sich die Ränder der Zeit selbst auf. Je näher Ihr dem Stollen seid, umso größer ist die Zeitverzerrung. Für jene, die sich Shayol Ghul in der wachen Welt nähern, wird das genauso schlimm sein. Für jeden ihrer Tage könnten für jene, die weit entfernt sind, drei oder vier vergehen.«

Eine Woche? Licht! Was hatte sich draußen bloß alles zugetragen? Wer lebte und wer war gestorben, während Perrin gejagt hatte? Er hätte auf dem Reisegelände darauf warten sollen, dass sich sein Tor öffnete. Aber nach der Dunkelheit in Graendals Wegetor zu urteilen, war es Nacht. Sein Fluchttor konnte noch Stunden entfernt sein.

»Ihr könntet ein Wegetor für mich erschaffen«, sagte er. »Einen Weg nach draußen und wieder hinein. Wollt Ihr das tun?«

Lanfear dachte darüber nach, spazierte an einem der flackernden Zelte entlang und strich mit den Fingern über die verschwindende Zeltplane. »Nein«, sagte sie schließlich.

»Aber …«

»Wenn wir zusammen sein wollen, müsst Ihr lernen, das allein zu schaffen.«

»Wir werden nicht zusammen sein«, erwiderte er tonlos.

»Diese Macht werdet Ihr selbst brauchen, und sie muss aus Euch kommen«, sagte sie und ignorierte seine Worte. »Solange Ihr in nur einer der Welten gefangen seid, seid Ihr schwach; mit eigener Kraft herkommen zu können, wann immer Ihr wollt, wird Euch große Macht verleihen.«

»Macht ist mir egal, Lanfear«, erwiderte er und beobachtete sie, wie sie weiterhin unbeschwert herumspazierte. Sie war hübsch. Natürlich nicht so hübsch wie Faile. Trotzdem konnte man sie als Schönheit bezeichnen.

»Wirklich?« Sie sah ihn an. »Habt Ihr Euch nie gefragt, was Ihr mit mehr Kraft, mehr Macht und mehr Autorität alles erreichen könntet?«

»Das würde mich nicht reizen …«

»Leben retten?«, fuhr sie fort. »Kinder vor dem Hungertod bewahren? Dafür sorgen, dass die Schwachen nicht länger unterdrückt werden, der Sündhaftigkeit ein Ende bereiten, Ehre belohnen? Die Macht, Männer dazu zu ermuntern, ehrlich und offen miteinander umzugehen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ihr könntet so viel Gutes tun, Perrin Aybara«, sagte sie, trat auf ihn zu, berührte seine Wange und strich dann mit den Fingern durch seinen Bart.

»Lehrt mich, das zu tun, was der Schlächter tut«, sagte Perrin und stieß ihre Hand fort. »Wie bewegt er sich zwischen den Welten?«

»Das kann ich Euch nicht erklären.« Sie wandte sich ab. »Das ist eine Fertigkeit, die ich nie erlernen musste. Ich benutze andere Methoden. Vielleicht könnt Ihr es ja aus ihm herausprügeln. Ich würde mich beeilen, vorausgesetzt, Ihr wollt Graendal aufhalten.«

»Sie aufhalten?«

»Ist Euch das denn nicht klar geworden?« Lanfear wandte sich ihm wieder zu. »Der Traum, in den sie eindrang, gehörte keinem der Leute aus diesem Lager – Ort und Distanz spielen in Träumen keine Rolle. Dieser Traum, in den Ihr sie habt eindringen sehen … er gehört Davram Bashere. Dem Vater Eurer Frau.«

Und mit diesen Worten verschwand Lanfear.

Загрузка...