33 Tabak für den Prinzen

Perrin jagte den Schlächter quer über den Himmel.

Er sprang aus einer wogenden schwarz-silbernen Wolke, und der Schlächter war ein Schemen am verkohlten Firmament. Die Luft pulsierte im Rhythmus der Blitze und Sturmwinde. Ein Geruch nach dem anderen stürmte auf Perrin ein, ohne jede Logik. Schlamm in Tear. Ein verbrennender Kuchen. Verfaulender Müll. Eine Todeslilie.

Der Schlächter landete vor ihm auf einer Wolke und versetzte sich, drehte sich in der Dauer eines Wimpernschlags mit gespanntem Bogen herum. Der Pfeil schoss so schnell durch die Luft, dass es donnerte, aber Perrin vermochte ihn mit dem Hammer zur Seite zu schlagen. Er landete auf derselben Gewitterwolke wie der Schlächter und stellte sich vor, dass der Untergrund fest war, und die Schwaden der Sturmwolken erstarrten zu einer festen Masse.

Perrin stürmte durch wogenden dunkelgrauen Nebel, der über die Oberseite der Wolke strich, und griff an. Sie stießen zusammen, der Schlächter dachte Schwert und Schild herbei. Perrins Hammer schlug einen Rhythmus gegen den Schild und unterstrich das tobende Gewitter. Ein Donnerschlag mit jedem Hieb.

Der Schlächter fuhr herum, um zu fliehen, aber Perrin erwischte den Saum seines Umhangs. Als sich der Schlächter versetzen wollte, stellte sich Perrin vor, dass sie blieben. Er wusste, dass sie das tun würden. Es war keine Möglichkeit, es war eine unverrückbare Tatsache.

Einen Augenblick lang verloren ihre Konturen an Schärfe, dann standen sie wieder auf der Wolke. Knurrend schlug der Schlächter mit dem Schwert um sich, trennte die Spitze seines Umhangs ab und befreite sich. Er drehte sich um und stellte sich Perrin, machte einen langsamen Schritt zur Seite, die Klinge zu allem bereitgehalten. Unter ihm erzitterten die Wolken, ein Phantomblitz erhellte die Nebelschwaden unter ihren Füßen.

»Du wirst immer lästiger, Welpe«, sagte der Schlächter.

»Du hast nie gegen einen Wolf gekämpft, der sich wehren kann«, erwiderte Perrin. »Du hast sie aus der Ferne getötet. Sie auf diese Weise abzuschlachten war leicht. Jetzt versuchst du eine Beute zu jagen, die Zähne hat, Schlächter.«

Der Schlächter schnaubte. »Du bist wie ein Junge, der das Schwert seines Vaters hält. Gefährlich, aber völlig ahnungslos, warum oder wie du deine Waffe benutzen musst.«

»Wir werden ja sehen, wer …«, erwiderte Perrin, aber der Schlächter stieß zu. Perrin stellte sich vor, dass das Schwert stumpf wurde, sich die Luft verdickte, um die Klinge aufzuhalten, und seine Haut hart genug wurde, um die Waffe zur Seite zu lenken.

Eine Sekunde später flog er durch die Luft.

Narr!, dachte er. Er hatte sich so sehr auf den Angriff konzentriert, dass er nicht darauf vorbereitet gewesen war, als der Schlächter den Untergrund veränderte. Perrin stürzte durch die grollende Wolke den Himmel hinab, und der Wind riss an seiner Kleidung. Er bereitete sich auf den Pfeilhagel vor, der ihm durch die Schwaden folgen würde. Der Schlächter konnte ja so berechenbar sein …

Es kamen keine Pfeile. Perrin stürzte ein paar Augenblicke lang, dann fluchte er und drehte sich um. Ein Geschosshagel raste vom Boden nach oben. Er versetzte sich Sekunden bevor die Pfeile die Stelle durchschlugen, an der er sich noch gerade eben aufgehalten hatte.

Noch immer stürzend, erschien er hundert Schritte entfernt. Er machte sich nicht die Mühe, den Fall zu beenden; er verstärkte seinen Körper, um den Aufprall zu überstehen, und schlug auf. In allen Richtungen breiteten sich Risse von ihm aus. Staub wirbelte in die Höhe.

Der Sturm war viel schlimmer als zuvor. Hier irgendwo im Süden, wo sich Schlingpflanzen um die Bäume wanden und Büsche wucherten, war der Boden aufgewühlt und vernarbt. Ständig zuckten Blitze in die Tiefe, so häufig, dass er kaum bis drei zählen konnte, ohne den nächsten zu sehen.

Es gab keinen Regen, aber die Landschaft löste sich auf. Ganze Hügel verschwanden. Der links von Perrin sackte wie ein gewaltiger Haufen Staub in sich zusammen, und der Wind riss Schwaden aus Erde und Sand mit sich.

Perrin sprang in den Himmel und suchte den Schlächter. Hatte sich der Mann zurück zum Shayol Ghul versetzt? Nein. Zwei weitere Pfeile sausten durch die Luft auf ihn zu. Der Schlächter war sehr gut darin, sie die Sturmböen trotzen zu lassen.

Er schlug sie zur Seite und eilte in die Richtung seines Feindes. Er entdeckte ihn auf einer Felsenspitze, deren Hänge auf allen Seiten abbröckelten und dann in die Höhe gepeitscht wurden.

Mit schwingendem Hammer landete er. Natürlich versetzte sich der Schlächter, und der Hammer krachte donnernd auf den Felsboden. Perrin knurrte. Der Schlächter war zu schnell!

Aber er war auch schnell. Früher oder später würde einer von ihnen einen Fehler machen. Ein Fehler würde reichen.

Schemenhaft sah er den Schlächter fliehen, und er folgte ihm. Als er vom nächsten Hügel sprang, zersplitterte hinter ihm der Stein und stieg in den Wind empor. Das Muster wurde schwächer. Darüber hinaus war seine Willenskraft jetzt viel stärker, da er sich im Fleisch an diesem Ort befand. Er musste sich keine Sorgen mehr machen, den Traum zu ungestüm zu betreten und sich darin zu verlieren. Er hatte ihn so energisch betreten, wie das nur vorstellbar war.

Und so erbebte bei jeder seiner Bewegungen die Landschaft um ihn herum. Der nächste Sprung zeigte ihm das vor ihm liegende Meer. Sie hatten sich viel weiter nach Süden bewegt, als ihm bewusst gewesen war. Waren sie in Illian? Tear?

Der Schlächter landete am Strand, wo Wasser gegen Felsen schlug. Sämtlicher Sand – falls es hier jemals welchen gegeben hatte – war weggeweht worden. Das Land schien sich in einen urzeitlichen Zustand zurückzuverwandeln, der Boden war erodiert und hatte nur noch Stein und donnernde Wellen zurückgelassen.

Perrin landete neben dem Schlächter. Dieses Mal versetzte sich keiner. Beide Männer waren auf den Kampf versessen, auf die Hiebe von Hammer und Schwert. Metall klirrte gegen Metall.

Perrin landete beinahe einen Treffer, der Hammerkopf berührte die Kleidung des Schlächters. Er hörte einen Fluch, aber im nächsten Augenblick kam der Schlächter mit einer großen Axt in der Hand aus seiner geduckten Haltung. Perrin verhärtete seine Haut und fing sie mit der Seite ab.

Die Klinge forderte kein Blut, nicht bei der Härte, die Perrin erschaffen hatte, aber sie traf mit einer gewaltigen Wucht. Der Hieb schleuderte Perrin hinaus aufs Meer.

Eine Sekunde später erschien der Schlächter über ihm und schlug erneut mit der Axt zu. Perrin parierte mit dem Hammer, während er stürzte, aber der Schlag trieb ihn nach unten auf den Ozean zu.

Er befahl dem Wasser, sich zurückzuziehen. Wie von einem mächtigen Wind getrieben, wich es rauschend nach allen Seiten zurück. Perrin landete schwer und spaltete den noch nassen Felsboden der Bucht. Ringsum erhoben sich nun dreißig Fuß hohe Wände aus Meerwasser.

Der Schlächter landete in der Nähe. Die Anstrengungen des Kampfes ließen den Mann keuchen. Gut. Perrins Müdigkeit manifestierte sich als Brennen in der Tiefe seiner Muskeln.

»Ich bin froh, dass du da warst«, sagte der Schlächter und legte das Schwert auf die Schulter. Sein Schild verschwand. »Ich hatte so sehr gehofft, dass du eingreifst, wenn ich komme, um den Drachen zu töten.«

»Was bist du, Luc?«, fragte Perrin misstrauisch und versetzte sich zur Seite, blieb in dem von Wasserwänden umgebenen Steinkreis genau gegenüber von seinem Feind. »Was bist du wirklich?«

Der Schlächter schlich langsam seitlich und redete weiter. Wie Perrin nur zu genau wusste, tat er es, um seine Beute abzulenken. »Ich habe ihn gesehen, wusstest du das?«, sagte er leise. »Den Dunklen König, den Großen Herrn, wie ihn einige nennen. Beide Bezeichnungen sind grobe, fast schon beleidigende Untertreibungen.«

»Glaubst du wirklich, er belohnt dich?« Perrin spuckte aus. »Wie kannst du nicht begreifen, dass er dich wie so viele andere auch einfach wegwerfen wird, sobald du seine Wünsche erfüllt hast?«

Der Schlächter lachte. »Hat er die Verlorenen weggeworfen, als sie versagten und zusammen mit ihm in der Bohrung eingekerkert wurden? Er hätte sie alle töten und ihre Seelen für alle Ewigkeit quälen können. Tat er es?«

Darauf erwiderte Perrin nichts.

»Der Dunkle König wirft keine nützlichen Werkzeuge weg«, fuhr der Schlächter fort. »Versage, und vielleicht bestraft er dich, aber er wirft niemals etwas weg. Er ist wie eine gute Hausfrau mit ihren Schnurknäueln und kaputten Teekesseln irgendwo ganz unten in der Truhe, die nur auf den richtigen Augenblick warten, um wieder nützlich zu sein. Genau da irrst du dich, Aybara. Ein normaler Sterblicher tötet das erfolgreiche Werkzeug vielleicht, weil er Angst hat, es könnte ihn irgendwann bedrohen. Das ist nicht die Art des Dunklen Königs. Er wird mich belohnen.«

Perrin wollte etwas erwidern, aber der Schlächter versetzte sich im Glauben, ihn abgelenkt zu haben, genau vor ihn. Perrin verschwand, und sein Gegner traf bloß Luft. Der Schlächter fuhr herum, und seine Klinge durchteilte die Luft, aber Perrin hatte sich auf die andere Seite versetzt. Zu seinen Füßen zuckten kleine Meeresgeschöpfe mit vielen Armen verwirrt wegen des plötzlich fehlenden Wassers. Hinter dem Schlächter schwamm etwas Großes und Dunkles durch das schattenverhüllte Meer.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Perrin. »Was bist du?«

»Ich bin kühn«, antwortete der Schlächter und setzte sich in Bewegung. »Und ich bin es leid, Angst zu haben. In diesem Leben gibt es Raubtiere, und es gibt ihre Beute. Oft enden Raubtiere selbst als Fressen. Man kann nur auf eine Weise überleben, man muss die Kette hinauf und selbst zum Jäger werden.«

»Darum tötest du Wölfe?«

Das Gesicht des Schlächters war in Schatten gehüllt, er lächelte gefährlich. Durch die Sturmwolken am Himmel und die hohen Wasserwände war es hier unten auf dem Grund sehr dunkel – obwohl das seltsame Licht des Wolfstraums auch an diese Orte drang, war es dennoch gedämpft.

»Wölfe und Männer sind die besten Jäger dieser Welt«, sagte der Schlächter leise. »Töte sie, und du setzt dich über sie. Nicht jedem von uns war es vergönnt, in einem behaglichen Heim mit einem warmen Herd und lachenden Geschwistern aufzuwachsen.«

Sie fingen an, sich im Kreis zu bewegen; Schatten verschmolzen, Blitze aus der Höhe flackerten im Wasser.

»Wenn du mein Leben kennen würdest, würdest du aufheulen«, sagte der Schlächter. »Die Hoffnungslosigkeit, die Qualen … Ich fand schnell meinen Weg. Meine Macht. An diesem Ort bin ich ein König.«

Er überbrückte die Distanz so schnell, dass er wie ein Schemen erschien. Perrin bereitete sich auf einen Schlag vor, aber der Schlächter setzte sein Schwert nicht ein. Stattdessen krachte er gegen ihn und schleuderte sie beide in die Wassermauer hinein. Um sie herum brodelte das Meer.

Dunkelheit. Perrin erschuf Licht, schaffte es irgendwie, die Felsen zu seinen Füßen leuchten zu lassen. Im dunklen Wasser hielt der Schlächter mit der einen Hand seinen Umhang fest und schwang mit der anderen die Klinge. Das Schwert hinterließ Luftblasen, bewegte sich aber genauso schnell wie in der Luft. Perrin schrie auf, Blasen sprudelten aus seinem Mund. Er wollte parieren, aber seine Arme bewegten sich zu langsam.

In diesem erstarrten Augenblick versuchte er sich vorzustellen, dass das Wasser seine Bewegungen nicht behinderte, aber sein Verstand verwarf die Idee. Das war nicht natürlich. Das konnte es auch nicht sein.

Das Schwert des Schlächters hatte ihn fast erreicht, als er das Wasser um sie beide herum verzweifelt gefrieren ließ. Das zermalmte ihn um ein Haar, aber es hielt den Schlächter für den kostbaren Moment auf, den er brauchte, um sich zu orientieren. Er ließ seinen Umhang verschwinden, damit er den Schlächter nicht mit sich nehmen würde, dann versetzte er sich.

Perrin landete auf dem felsigen Strand, direkt neben einem steilen Hügel, den die Macht der Elemente zur Hälfte abgetragen hatte. Keuchend stürzte er auf Hände und Knie. Wasser strömte aus seinem Bart. Sein Verstand fühlte sich … taub an. Es fiel ihm schwer, das Wasser wegzudenken, um sich zu trocknen.

Was passiert mit mir?, dachte er zitternd. Um ihn herum tobte der Sturm und fetzte Rinde von Baumstämmen, deren Äste er schon längst weggerissen hatte. Er war so … müde. Erschöpft. Wann hatte er das letzte Mal geschlafen? In der realen Welt waren Wochen vergangen, aber hier konnten es doch unmöglich Wochen gewesen sein, oder? Es …

Das Meer brodelte aufgewühlt. Perrin drehte sich um. Irgendwie hatte er seinen Hammer festgehalten, und er hob ihn, um sich dem Schlächter zu stellen.

Das Wasser kam nicht zur Ruhe, aber niemand erhob sich aus den Wellen. Plötzlich zerbarst der Hügel hinter ihm in zwei Hälften. Etwas Schweres wie ein Schlag traf ihn an der Schulter. Er stürzte auf die Knie und verrenkte den Kopf. Nun sah er, dass der Hügel in zwei Teile zerbrochen war und der Schlächter auf der anderen Seite stand, wo er gerade den nächsten Pfeil in seinen Bogen einspannte.

Verzweifelt versetzte sich Perrin, und erst jetzt flammte der Schmerz zuerst in seiner Seite und dann im ganzen Körper auf.


»Ich sage ja nur, dass die Schlachten stattfinden«, sagte Mandevwin, »und wir nicht dabei sind.«

»Irgendwo wird immer eine Schlacht geschlagen«, erwiderte Vanin und lehnte sich gegen die Mauer eines Lagerhauses in Tar Valon. Faile hörte den Männern mit halbem Ohr zu. »Wir haben unseren Teil geschlagen. Und ich sage bloß, dass ich froh bin, diese besondere Schlacht meiden zu können.«

»Menschen sterben«, sagte Mandevwin missbilligend. »Das ist nicht irgendeine Schlacht, Vanin. Hier handelt es sich um Tarmon Gai’don!«

»Was bedeutet, dass uns keiner bezahlt«, meinte Vanin.

»Dafür zahlen … in der Letzten Schlacht zu kämpfen …«, stotterte Mandevwin. »Du Schuft! Diese Schlacht steht für das Leben selbst!«

Faile lächelte, während sie die Kontobücher überflog. Die beiden Rotwaffen standen an der Tür herum, während Diener mit der Flamme von Tar Valon auf den Gewändern Failes Karawane beluden. Hinter ihnen erhob sich die Weiße Burg über die Stadt.

Zuerst war ihr das ständige Gezanke auf die Nerven gegangen, aber die Art und Weise, mit der Vanin den anderen Mann ständig auf den Arm nahm, erinnerte sie an Gilber, einen der Quartiermeister ihres Vaters in Saldaea.

»Also ehrlich, Mandevwin«, fuhr Vanin fort, »Ihr hört Euch wirklich nicht wie ein Söldner an! Wenn das Lord Mat hören könnte.«

»Lord Mat wird kämpfen.«

»Wenn er es muss. Wir müssen es nicht. Seht mal, diese Vorräte sind wichtig, nicht wahr? Und jemand muss sie bewachen, oder etwa nicht? Und hier sind wir.«

»Ich sehe bloß nicht ein, warum gerade wir dafür zuständig sein sollen. Ich sollte Talmanes helfen, die Bande anzuführen, und Euer Haufen, ihr solltet Lord Mat vor …«

Faile vermochte das Ende dieses Satzes förmlich zu hören, denn das dachten sie alle. Ihr solltet Lord Mat vor diesen Seanchanern beschützen.

Die Soldaten hatten Mats Verschwinden genauso akzeptiert wie sein Wiederauftauchen bei den Seanchanern. Anscheinend erwartete man ein solches Benehmen von »Lord« Matrim Cauthon. Faile verfügte über eine Abteilung aus fünfzig der besten Männer der Bande, einschließlich Hauptmann Mandevwin, Leutnant Sandip und mehrerer Rotwaffen, die Talmanes in höchsten Tönen gelobt hatte. Keiner von ihnen wusste, dass sie eigentlich das Horn von Valere bewachten.

Wäre es ihr möglich gewesen, hätte sie zehnmal so viele Männer mitgebracht. Aber schon fünfzig waren verdächtig genug. Diese Männer waren die besten der Bande, einige waren sogar von Kommandopositionen abgezogen worden. Sie würden reichen müssen.

Wir gehen nicht weit, dachte Faile und widmete sich der nächsten Seite im Buch. Sie musste den Anschein erwecken, als würde sie sich für den Nachschub interessieren. Warum sorge ich mich so?

Sie musste das Horn bloß zum Feld von Merrilor bringen, jetzt, da Cauthon endlich aufgetaucht war. Sie hatte bereits drei Karawanen mit denselben Wächtern von anderen Orten geführt, also würde ihre derzeitige Aufgabe keinerlei Verdacht erregen.

Die Bande hatte sie nach reiflicher Überlegung ausgesucht. In den Augen der meisten Leute waren das bloß Söldner, also die unwichtigsten – und am wenigsten vertrauenswürdigsten – Truppen der Armee. Aber trotz all ihrer Bedenken wegen Mat – sie kannte ihn nicht besonders gut, aber ihr reichte schon, wie Perrin von ihm sprach – hielten ihm seine Männer die Treue. Männer, die ihren Weg zu Cauthon fanden, ähnelten ihm. Sie versuchten sich vor ihren Pflichten zu drücken und zogen Trank und Spiele jeder nützlichen Tätigkeit vor, aber in der Klemme würde jeder von ihnen wie zehn Mann kämpfen.

In Merrilor würde Cauthon gute Gründe haben, Mandevwin und seine Männer zu inspizieren. Dabei konnte Faile ihm das Horn übergeben. Natürlich hatte sie auch ein paar Mitglieder der Cha Faile als Leibwächter dabei. Sie brauchte ein paar Leute, von denen sie wusste, dass sie vertrauenswürdig waren.

In der Nähe kam Laras, die stämmige Herrin der Küchen der Weißen Burg, aus dem Lagerhaus und drohte ein paar Mägden mit dem Finger. Sie begab sich auf direktem Weg zu Faile, im Gefolge einen hinkenden schlaksigen Jüngling, der eine mitgenommene kleine Truhe trug.

»Etwas für Euch, meine Lady.« Laras zeigte auf den Behälter. »Die Amyrlin selbst hat das Eurem Transport nachträglich zugeteilt. Es hat etwas mit einem ihrer Bekannten zu tun, aus der alten Heimat?«

»Das ist Matrim Cauthons Tabak«, sagte Faile mit einer Grimasse. »Als er entdeckte, dass die Amyrlin noch einen Vorrat von Blättern von den Zwei Flüssen hat, beharrte er darauf, sie zu kaufen.«

»Tabak, zu diesem Zeitpunkt.« Laras schüttelte den Kopf und wischte sich die Finger an der Schürze ab. »Ich erinnere mich an diesen Jungen. In meiner Zeit habe ich ein paar junge Burschen wie ihn gekannt, die sich wie Streuner auf der Suche nach ein paar Happen in der Küche herumtrieben. Jemand sollte für ihn eine nützliche Beschäftigung finden.«

»Wir arbeiten dran«, erwiderte Faile, während Laras’ Diener die Truhe auf Failes Wagen lud. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als er sie krachend fallen ließ und sich dann die Hände abstaubte.

Laras nickte, dann marschierte sie zurück in ihr Lager. Faile legte die Finger auf die Truhe. Philosophen behaupteten, das Muster hätte nicht den geringsten Sinn für Humor. Das Muster und das Rad waren einfach nur; sie ergriffen keine Partei, und sie hatten auch kein Mitgefühl. Aber Faile konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass der Schöpfer sie irgendwo angrinste. Sie hatte ihr Zuhause mit einem Kopf voller hochfliegender Träume verlassen, ein Kind, das sich auf der großartigen Suche nach dem Horn glaubte.

Das Leben hatte ihr diese Träume unsanft ausgetrieben, und sie hatte sich aus eigener Kraft wieder auf die Beine stellen müssen. Sie war erwachsen geworden und hatte angefangen, auf das zu achten, was wirklich wichtig war. Und jetzt … jetzt hatte ihr das Muster mit beinahe schon verächtlicher Gleichgültigkeit das Horn von Valere in den Schoß geworfen.

Sie nahm die Hand zurück und weigerte sich bewusst, die Truhe zu öffnen. Sie hatte den Schlüssel, den man ihr bereits übergeben hatte, und sie würde überprüfen, ob sich das Horn auch tatsächlich in dieser Truhe befand. Aber nicht jetzt. Nicht, bevor sie allein und überzeugt war, dass sie sich in Sicherheit befand.

Sie stieg auf den Wagen und stellte die Füße auf die Truhe.

»Es gefällt mir noch immer nicht«, sagte Mandevwin neben dem Lagerhaus.

»Euch gefällt doch nie etwas«, erwiderte Vanin. »Seht doch ein, unsere Arbeit ist wichtig. Soldaten müssen essen.«

»Ich schätze, das ist wohl richtig«, sagte Mandevwin.

»Das ist es!«, stimmte eine neue Stimme ein. Harnan, eine weitere Rotwaffe, gesellte sich zu ihnen. Faile entging nicht, dass keiner der drei Männer Anstalten machte, den Dienern beim Beladen der Karawane zu helfen. »Essen ist etwas Wunderbares«, sagte Harnan. »Und wenn es einen Experten für dieses Thema gibt, dann seid Ihr das, Vanin.«

Harnan war ein kräftig gebauter Mann mit breitem Gesicht und einem auf die Wange tätowierten Falken. Talmanes schwor auf ihn und bezeichnete ihn als Veteranen und Überlebenden von sowohl dem »Massaker im sechsstöckigen Haus« als auch Hinderstap, was auch immer es damit auf sich hatte.

»Also das verletzt mich ja doch, Harnan«, sagte Vanin von hinten. »Das verletzt mich sehr.«

»Ich bezweifle es.« Harnan lachte. »Um Euch zu verletzen, müsste ein Angriff zuerst durch das ganze Fett, um bis zum Muskel zu kommen. Ich bin mir nicht sicher, dass die Trollocs überhaupt so lange Schwerter haben.«

Mandevwin lachte, und die drei Männer gingen los. Faile überflog die letzten paar Seiten des Buches, dann stieg sie vom Wagen und rief nach Setalle Anan. Die Frau hatte ihr bei diesen Karawanen als Helferin gedient. Aber als sie nach unten kletterte, bemerkte sie, dass nicht alle Angehörigen der Bande gegangen waren. Nur zwei von ihnen waren fort. Der stattliche Vanin stand noch immer dort. Sie erblickte ihn und hielt inne.

Sofort ging Vanin zu ein paar der anderen Soldaten. Hatte er sie beobachtet?

»Faile! Faile! Aravine sagt, sie ist damit fertig, die Ladepapiere für dich zu überprüfen. Wir können aufbrechen, Faile.«

Olver kletterte eifrig auf den Kutschbock. Er hatte darauf bestanden, sich der Karawane anzuschließen, und die Männer der Bande hatten sie überredet, es zu erlauben. Selbst Setalle hatte vorgeschlagen, dass es klug sein würde, ihn mitzunehmen. Anscheinend machten sie sich Sorgen, dass Olver irgendwie eine Möglichkeit finden würde, sich den Kämpfen anzuschließen, wenn sie ihn nicht ständig im Auge behielten. Zögernd hatte Faile ihn schließlich mit Botengängen beschäftigt.

»Also gut«, sagte sie und stieg ebenfalls wieder auf den Wagen. »Ich schätze, wir können los.«

Schwerfällig setzten sich die Wagen in Bewegung. Die ganze Strecke aus der Stadt versuchte sie, nicht auf die Truhe zu starren.

Sie bemühte sich, sich durch irgendetwas anderes davon abzulenken, aber das brachte sie bloß zu einer anderen drängenden Sorge. Perrin. Sie hatte ihn nur kurz während eines Nachschubtransports nach Andor gesehen. Er hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er möglicherweise eine andere Pflicht zu erfüllen hatte, hatte sich aber nicht näher darüber auslassen wollen.

Jetzt war er verschwunden. Er hatte Tam an seiner Stelle zum Verwalter gemacht, war durch ein Wegetor nach Shayol Ghul getreten und verschwunden. Sie hatte alle gefragt, die dort gewesen waren, aber seit seiner Unterhaltung mit Rand hatte ihn niemand mehr gesehen.

Ihm würde es doch gut gehen, oder nicht? Sie war die Tochter eines Soldaten und die Frau eines Soldaten; sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu sehr zu sorgen. Und trotzdem machte sie sich ihre Gedanken, wenigstens ein bisschen. Perrin hatte sie als Hüterin des Horns vorgeschlagen.

Flüchtig fragte sie sich, ob er es getan hatte, um sie vom Schlachtfeld fernzuhalten. Es hätte sie nicht einmal besonders gestört, obwohl sie ihm das nie gesagt hätte. Tatsächlich würde sie – wenn alles einmal erledigt war – andeuten, dass sie es beleidigend fand, und auf seine Reaktion warten. Er musste wissen, dass sie nicht brav abwarten und sich verhätscheln lassen würde, auch wenn ihr echter Name so etwas andeutete.

Faile lenkte ihren Wagen, der erste der Karawane, auf die Jualdhe-Brücke, die aus Tar Valon führte. Etwa auf halbem Weg erbebte die Brücke. Die Pferde stampften mit den Hufen und warfen die Köpfe in die Höhe, als Faile sie langsamer gehen ließ und einen Blick über die Schulter warf. Der Anblick schwankender Gebäude in Tar Valon versicherte ihr, dass nicht nur die Brücke zitterte, sondern es sich um ein Erdbeben handelte.

Die anderen Pferde tänzelten und wieherten, die Wagen wurden durchgeschüttelt.

»Wir müssen von der Brücke runter, Lady Faile!«, rief Olver.

»Die Brücke ist viel zu lang, als dass wir es rechtzeitig auf die andere Seite schaffen«, sagte Faile ruhig. Sie hatte in Saldaea schon Erdbeben erlebt. »Das Risiko, dass wir uns bei einer wilden Fahrt verletzen, ist viel höher, als wenn wir hierbleiben. Diese Brücke ist das Werk von Ogiern. Vermutlich sind wir hier sicherer als auf festem Boden.«

Tatsächlich verging das Erdbeben, ohne dass sich auch nur ein Stein von der Brücke löste. Faile beruhigte die Pferde und fuhr wieder los. Wenn es das Licht wollte, waren die Schäden in der Stadt nicht groß. Sie wusste nicht, ob es hier häufig Erdbeben gab. Mit dem Drachenberg in der Nähe kam es doch sicherlich gelegentlich zu Erschütterungen, oder nicht?

Trotzdem verebbte das Beben. Es wurde oft davon gesprochen, dass das Land instabil wurde, dass das Ächzen der Erde Blitz und Donner am Himmel entsprach. Sie hatte mehr als nur einen Bericht von den spinnwebenartigen Rissen in Felsen gehört, die so schwarz waren, als würden sie in die Ewigkeit selbst führen.

Sobald der Rest der Karawane die Stadt verlassen hatte, lenkte Faile ihre Wagen neben ein paar Söldnergruppen, die darauf warteten, auf einem Reisegelände der Aes Sedai an die Reihe zu kommen. Sie konnte nicht darauf bestehen, vorgezogen zu werden; sie musste jede Aufmerksamkeit vermeiden. So nervenaufreibend es auch war, bereitete sie sich auf die Wartezeit vor.

Ihre Karawane war die letzte, die an diesem Tag abgefertigt wurde. Schließlich kam Aravine zu ihrem Wagen, und Olver rutschte eilig zur Seite, um ihr Platz zu machen. Sie tätschelte ihm den Kopf. Viele Frauen reagierten auf diese Weise auf den Jungen, und er erschien ja auch meistens so unschuldig. Faile war davon nicht so überzeugt; sie kniff die Augen zusammen, als sich Olver an Aravine schmiegte. Mat schien einen starken Einfluss auf dieses Kind gehabt zu haben.

»Ich bin mit dieser Lieferung sehr zufrieden, meine Lady«, sagte Aravine. »Mit dieser Zeltplane müssten wir genügend Material haben, damit die meisten Männer des Heeres ein Zeltdach über dem Kopf haben. Aber wir brauchen noch immer Leder. Wir wissen, dass Königin Elayne ihre Männer schnell marschieren lässt, und wir werden Anforderungen für neue Stiefel bekommen.«

Faile nickte gedankenverloren. Ein Stück voraus öffnete sich ein Wegetor nach Merrilor, und sie konnte einen Blick auf die sich noch immer sammelnden Heere werfen. Im Verlauf der letzten paar Tage waren sie langsam zurückgehinkt, um ihre Wunden zu lecken. Drei Fronten, drei Katastrophen verschiedenen Ausmaßes. Licht! Die Ankunft der Sharaner war ein vernichtender Schlag, genau wie der Verrat der Großen Hauptmänner, einschließlich ihres eigenen Vaters. Die Heere des Lichts hatten insgesamt über ein Drittel ihrer Streitkräfte eingebüßt.

Auf dem Feld von Merrilor berieten sich Befehlshaber, und ihre Soldaten flickten Rüstungen und Waffen und warteten auf das, was da kam. Ein letztes Aufgebot.

»… wir brauchen auch noch mehr Fleisch«, sagte Aravine. »Wir sollten ein paar schnelle Jagdausflüge in den nächsten Tagen mit Wegetoren vorschlagen, um zu sehen, was wir finden können.«

Faile nickte. Aravine dabeizuhaben war eine echte Erleichterung. Obwohl sie Berichte las und die Quartiermeister besuchte, erleichterte Aravines sorgfältige Aufmerksamkeit die Aufgabe beträchtlich. Sie war wie ein guter Sergeant, der dafür sorgte, dass seine Männer vor einer Inspektion in einem ordentlichen Zustand waren.

»Aravine«, sagte sie. »Ihr habt nie ein Wegetor beansprucht, um nach Eurer Familie in Amadicia zu sehen.«

»Dort gibt es für mich nichts mehr, meine Lady.«

Aravine weigerte sich stur, zuzugeben, dass sie vor der Gefangennahme durch die Shaido eine Adlige gewesen war. Zumindest benahm sie sich nicht wie einige der ehemaligen Gai’shain, also sanftmütig und unterwürfig. Wenn Aravine so entschlossen war, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, dann wollte ihr Faile das gern zugestehen. Es war das Mindeste, das sie dieser Frau schuldete.

Während sie sich unterhielten, stieg Olver vom Wagen, um sich mit einigen seiner »Onkel« unter den Rotwaffen zu unterhalten. Faile blickte zur Seite, als Vanin mit zwei weiteren Kundschaftern der Bande vorbeiritt. Er plauderte freundlich mit ihnen.

Du schätzt sein Aussehen falsch ein, sagte sie sich. Da ist nichts Verdächtiges an dem Mann, das Horn macht dich nervös.

Trotzdem fragte sie Harnan nach dem Mann, als er kam und sie fragte, ob sie etwas benötigte – so wie es ein Angehöriger der Bande jede halbe Stunde tat.

»Vanin?«, sagte Harnan vom Sattel aus. »Ein guter Bursche. Manchmal kann er einem das Ohr mit seinen ständigen Klagen abkauen, meine Lady, aber daran solltet Ihr Euch nicht stören. Er ist unser bester Kundschafter.«

»Ich kann mir das gar nicht vorstellen«, erwiderte sie. »Ich meine, mit dieser Masse kann er sich doch gar nicht schnell oder leise bewegen.«

Harnan lachte. »Er dürfte Euch überraschen, meine Lady. Ich ziehe ihn ja gern damit auf, aber er ist wirklich sehr geschickt.«

»Hat er sich je etwas zuschulden kommen lassen?«, fragte Faile und versuchte, ihre Worte sorgsam zu wählen. »Raufereien? Etwas aus den Zelten anderer Männer gestohlen?«

»Vanin?« Harnan lachte wieder. »Er leiht sich deinen Branntwein aus, wenn man ihn lässt, und gibt die Flasche dann so gut wie leer zurück. Und um die Wahrheit zu sagen, könnte er in seiner Vergangenheit möglicherweise gelegentlich gestohlen haben, aber ich wüsste nicht, dass er jemals eine Rauferei angefangen hat. Er ist ein guter Mann. Ihr braucht Euch seinetwegen keine Sorgen zu machen.«

Diebstahl in der Vergangenheit? Aber Harnan sah nicht so aus, als wollte er sich weiter darüber auslassen. »Danke«, sagte sie, aber ihre Sorge war nicht verflogen.

Harnan hob die Finger in einer Art Salut an die Schläfe, dann ritt er weg. Es dauerte drei weitere Stunden, bevor eine Aes Sedai auftauchte, um sie wegzubringen. Berisha kam und beäugte die Karawane kritisch. Sie hatte harte Züge und war ausgesprochen schlank. Zu diesem Zeitpunkt waren die anderen Aes Sedai, die sich um das Reisegelände kümmerten, bereits nach Tar Valon zurückgekehrt, und die Sonne neigte sich dem Horizont zu.

»Eine Karawane mit Vorräten und Zeltplane«, sagte Berisha und blätterte in Failes Kontobuch. »Für das Feld von Merrilor bestimmt. Bis jetzt haben wir ihnen heute bereits sieben Karawanen geschickt. Warum denn noch eine? Die Flüchtlinge aus Caemlyn könnten das alles genauso gut brauchen.«

»Das Feld von Merrilor ist bald der Schauplatz einer großen Schlacht«, erwiderte Faile und hielt ihren Unmut nur mühsam im Zaum. Aes Sedai mochten es gar nicht, angefaucht zu werden. »Ich bezweifle, dass wir dort zu viel Nachschub hinschaffen können.«

Berisha schnaubte. »Ich sage, es ist zu viel.« Die Frau erschien chronisch unzufrieden, als wäre sie darüber verärgert, nicht mitkämpfen zu können.

»Die Amyrlin ist anderer Meinung als Ihr«, erwiderte Faile. »Bitte ein Wegetor. Es wird spät.« Und wenn du schon über Verschwendung sprechen willst, warum dann nicht darüber, dass ihr mich den ganzen Weg aus der Stadt kommen und warten lasst, statt mich direkt vom Gelände der Weißen Burg wegzubringen?

Der Saal der Burg bestand auf einem einzigen Reisegelände für große Truppen- oder Nachschubbewegungen, um besser kontrollieren zu können, wer Tar Valon betrat und verließ. Faile konnte ihnen diese Vorsichtsmaßnahme nicht verdenken, selbst wenn das manchmal lästig war.

Bürokratie war Bürokratie, und endlich zeigte Berisha einen konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht, um ein Wegetor zu erschaffen. Aber bevor sie das Gewebe fertigstellen konnte, grollte plötzlich der Boden.

Nicht schon wieder, dachte Faile mit einem Seufzen. Nun, für gewöhnlich gab es Nachbeben nach einem großen …

In der Nähe brachen eine Reihe scharfer schwarzer Kristallnadeln aus der Erde und schossen zehn oder fünfzehn Fuß in die Höhe. Eine spießte das Pferd einer Rotwaffe auf und ließ Blut durch die Luft spritzen, als Tier und Mann durchbohrt wurden.

»Eine Blase des Bösen!«, rief Harnan aus der Nähe.

Weitere Kristallnadeln rissen den Untergrund auf, einige so dünn wie Speere, andere so breit wie ein Mensch. Faile versuchte verzweifelt, ihre Pferde zu beruhigen. Sie tänzelten zur Seite und stürzten um ein Haar den Wagen um, während sie an den Zügeln zerrte.

Um sie herum herrschte der Wahnsinn. Die Nadeln schossen gruppenweise aus dem Boden, und jede war so scharf wie eine Rasierklinge. Ein Wagen zersplitterte, als Kristalle seine linke Seite zerstörten. Lebensmittel ergossen sich auf das tote Gras. Pferde gingen durch und kippten Wagen um. Die Kristallnadeln erschienen weiterhin überall auf dem Feld. Aus dem nahe gelegenen Dorf am Ende der Brücke aus Tar Valon tönte Geschrei herüber.

»Wegetor!«, brüllte Faile, die noch immer mit ihrem Gespann kämpfte. »Macht schon!«

Berisha sprang zurück, als neben ihren Füßen Kristallnadeln aus dem Boden schossen. Sie warf ihnen einen Blick zu, während ihr Gesicht jede Farbe verlor, und erst da erkannte Faile, dass sich etwas in den schattenhaften Kristallen bewegte. Es sah aus wie Rauch.

Eine Kristallnadel durchbohrte Berishas Fuß. Sie schrie auf und ging auf die Knie, während im gleichen Moment ein Strich aus Licht die Luft durchschnitt. Sie mussten alle dem Schöpfer danken, denn die Frau hielt ihr Gewebe fest, und der Lichtstrich rotierte mit scheinbar gletscherhafter Langsamkeit und öffnete ein Loch, das gerade groß genug für einen Wagen war.

»Durch das Tor!«, schrie Faile, aber ihre Stimme ging im Aufruhr unter. Dicht neben ihr brachen Kristalle aus dem Boden und spritzten Erde auf ihr Gesicht. Ihre Pferde tänzelten, brachen dann im Galopp aus. Statt völligen Kontrollverlust zu riskieren, lenkte sie sie auf das Wegetor zu. Aber bevor sie durchfuhren, brachte sie die Tiere brutal zum Stehen.

»Das Wegetor!«, brüllte sie den anderen zu. Wieder ging ihre Stimme unter. Glücklicherweise nahmen die Rotwaffen den Ruf auf, preschten die in Unordnung geratene Reihe entlang, packten die Zügel von Gespannen und steuerten Wagen auf das Tor zu. Andere Männer halfen jenen hoch, die zu Boden geworfen worden waren.

Harnan donnerte vorbei; er hielt Olver fest gepackt. Ihm folgte Sandip, während Setalle Anan sich von hinten an ihm festklammerte. Die Kristalle kamen jetzt immer schneller. Einer schoss direkt neben Faile in die Höhe, und voller Entsetzen erkannte sie, dass die darin gefangene rauchige Bewegung eine Gestalt hatte. Es waren die Umrisse von Männern und Frauen, die vor Qualen schrien, als wären sie darin gefangen.

Entsetzt zuckte sie zurück. Ein Stück entfernt raste der letzte noch intakte Wagen durch das Wegetor. Bald würde das Feld nur noch aus Kristallen bestehen. Ein paar Nachzügler der Bande halfen den Verletzten auf Pferde, aber zwei starben, als die Kristalle Auswüchse bildeten, die aus den Seiten hervorschossen. Es war Zeit zu gehen. Aravine kam und schnappte sich Failes Zügel, um sie in Sicherheit zu bringen.

»Berisha!«, sagte Faile. Die Aes Sedai kniete mit schweißüberströmtem Gesicht neben der Öffnung. Faile sprang vom Kutschbock und packte die Frau an den Schultern, während Aravine den Wagen durch das Tor steuerte.

»Kommt schon!«, sagte Faile zu Berisha. »Ich trage Euch.«

Die Schwester schwankte, dann stürzte sie auf die Seite und hielt sich den Bauch. Erst jetzt sah Faile das Blut, das zwischen ihren Fingern hervorquoll. Berisha starrte in den Himmel, ihre Lippen bewegten sich, aber es drang kein Laut hervor.

»Meine Lady!« Mandevwin galoppierte herbei. »Mir ist egal, wo es hinführt! Wir müssen jetzt durch!«

»Was …«

Sie verstummte, als Mandevwin sie bei der Taille packte und in die Höhe riss, während um sie herum weitere Kristalle aus dem Boden platzten. Er hielt sie fest und galoppierte durch die Öffnung.

Einen Augenblick später schnappte das Wegetor zu.

Faile keuchte, als Mandevwin sie absetzte. Sie starrte zurück auf die Stelle, wo eben noch das Tor gewesen war.

Erst jetzt drangen seine Worte zu ihr durch. Mir ist egal, wo es hinführt … Er hatte etwas gesehen, das ihr in ihrer Panik, alle in Sicherheit zu schaffen, entgangen war.

Das Wegetor hatte nicht zum Feld von Merrilor geführt.

»Wo …?«, flüsterte Faile und gesellte sich zu den anderen, die die schreckliche Landschaft anstarrten. Drückende Hitze, mit schwarzen Flecken gesprenkelte Pflanzen, stinkende Luft.

Sie befanden sich in der Fäule.


Aviendha kaute auf ihrer Ration, mit Honig versetzte Haferflocken. Sie schmeckten gut. In Rands Nähe zu sein bedeutete, dass ihre Vorräte nicht länger verdarben.

Sie griff nach ihrer Feldflasche und zögerte. In letzter Zeit hatte sie viel Wasser getrunken. Nur selten dachte sie an seinen Wert. Hatte sie bereits wieder die Lektionen vergessen, die sie während ihrer Rückkehr ins Dreifache Land bei ihrem Besuch in Rhuidean gelernt hatte?

Beim Licht, dachte sie und hob die Flasche an die Lippen. Was soll’s? Es ist die Letzte Schlacht!

Sie saß auf dem Boden eines großen Aiel-Zeltes im Tal von Thakan’dar. In der Nähe aß Melaine ihre Portion. Die Frau stand kurz vor der Geburt ihrer Zwillinge, ihr Bauch wölbte sich unter ihrem Gewand und Schultertuch weit vor. So wie Töchtern der Kampf in der Schwangerschaft verboten war, war auch Melaine jede gefährliche Aktivität untersagt. Sie hatte freiwillig in Berelains Lazarett in Mayene gearbeitet – aber sie hatte sich regelmäßig über den Verlauf der Schlacht auf dem Laufenden gehalten. Viele Gai’shain waren durch die Wegetore gekommen, um so gut zu helfen, wie sie es vermochten, auch wenn sie lediglich Wasser oder Erde für die Hügel schleppen konnten, deren Bau Ituralde als Deckung für die Verteidiger angeordnet hatte.

In der Nähe aß eine Gruppe Töchter und unterhielt sich in der Handsprache. Aviendha hätte sie lesen können, aber sie verzichtete darauf. Es würde nur wieder den Wunsch entfachen, sich ihnen anschließen zu können. Sie war zur Weisen Frau geworden und hatte ihrem alten Leben entsagt. Stattdessen wischte sie ihre Schüssel sauber und verstaute sie in ihrem Bündel, dann stand sie auf und schlüpfte aus dem Zelt.

Die Nachtluft war kühl. Es war etwa eine Stunde vor der Morgendämmerung, und beinahe fühlte es sich wie das Dreifache Land in der Nacht an. Aviendha schaute zu dem Berg hinauf, der das Tal überragte; trotz der Dunkelheit des frühen Morgens konnte sie die klaffende Öffnung sehen, die in sein Inneres führte.

Viele Tage waren vergangen, seit Rand ihn betreten hatte. In der Nacht zuvor war Ituralde ins Lager zurückgewandert und hatte eine Geschichte erzählt, dass ihn Wölfe und ein Mann gefangen gehalten hatten, der von sich behauptete, Perrin Aybara hätte ihn geschickt, um den Großen Hauptmann zu entführen. Ituralde war in Gewahrsam genommen worden, und er hatte keine Einwände dagegen erhoben.

Den ganzen Tag hatte es keine Trolloc-Angriffe gegeben. Noch immer hielten die Verteidiger sie im Pass fest. Der Schatten schien auf etwas zu warten. Mochte das Licht dafür sorgen, dass es kein weiterer Angriff der Myrddraal war. Der letzte hatte beinahe den Widerstand beendet. Aviendha hatte die Machtlenker um sich geschart, sobald die Augenlosen gekommen waren, um die Verteidiger des Passes zu töten; sie mussten erkannt haben, dass es unklug von ihnen war, in so großer Anzahl aus der Deckung zu kommen, und sobald die Machtlenker zuschlugen, flohen sie zurück in die Sicherheit des Passes.

Wie dem auch sei, Aviendha war für diesen seltenen Augenblick der Ruhe und des relativen Friedens zwischen den Angriffen dankbar. Sie starrte in diese Höhlenöffnung im Berg, in der Rand kämpfte. Tief aus dem Berginneren drang ein starker Puls; dort wurde viel Macht in Wellen gelenkt. Draußen waren mehrere Tage vergangen, aber wie viel Zeit war dort drinnen verstrichen? Ein Tag? Stunden? Minuten? Töchter, die den Pfad zum Eingang bewachten, berichteten, dass nach ihrer Rückkehr ins Tal dort unten doppelt so viele Stunden vergangen waren.

Wir müssen durchhalten, dachte Aviendha. Wir müssen kämpfen. Ihm so viel Zeit verschaffen, wie wir nur können.

Zumindest wusste sie, dass er noch lebte. Das konnte sie fühlen. Genau wie seinen Schmerz.

Sie schaute weg.

Dabei bemerkte sie etwas. Im Lager lenkte eine Frau die Macht. Es war nur schwach zu spüren, aber Aviendha runzelte die Stirn. Zu dieser Stunde und ohne Kampfhandlungen hätte die Eine Macht lediglich auf dem Reisegelände gelenkt werden dürfen, und das war die falsche Richtung.

Leise vor sich hin murmelnd, setzte sie sich in Bewegung. Vermutlich war das wieder eine der dienstfreien Windsucherinnen. Sie wechselten sich darin ab, die Schale der Winde ununterbrochen zu benutzen, um den Sturm unter Kontrolle zu halten. Diese Aufgabe wurde oben auf der nördlichen Talwand durchgeführt, und die Frauen wurden gut von einer großen Streitmacht Meervolk bewacht. Schichtwechsel war nur mit Wegetoren möglich.

Wenn die Windsucherinnen nicht mit der Schale zugange waren, kampierten sie ebenfalls im Lager. Aviendha hatte ihnen immer wieder eingehämmert, dass sie im Tal nicht die Macht lenken durften. Man sollte glauben, dass sie, nachdem sie diese vielen Jahre damit verbracht hatten, sich niemals von einer Aes Sedai beim Gebrauch ihrer Kräfte erwischen zu lassen, über mehr Selbstbeherrschung verfügten! Wenn sie noch eine dabei erwischte, wie sie mit der Einen Macht ihren Tee aufwärmte, würde sie sie zu einer Unterweisung zu Sorilea schicken. Das sollte ein sicheres Lager sein.

Aviendha erstarrte mitten im Schritt. Dieses Machtlenken kam nicht vom kleinen Kreis der Zelte, wo die Windsucherinnen untergebracht waren.

Hatte sie einen Infiltrationsversuch gespürt? Ein Schattenlord oder eine Verlorene würde vermutlich von der Voraussetzung ausgehen, dass es in einem mit so vielen Aes Sedai, Windsucherinnen und Weisen Frauen gefüllten Lager niemandem auffallen würde, wenn eine winzige Menge Macht gelenkt wurde. Aviendha ging neben einem Zelt in die Hocke und mied das Licht einer auf einem Pfosten steckenden Lampe. Wieder flackerte das Machtlenken auf. Es war kaum zu spüren. Sie schlich weiter.

Sollte sich herausstellen, dass sich jemand Wasser für ein Bad warm macht …

Lautlos bewegte sie sich zwischen den Zelten. Als sie näher kam, zog sie die Stiefel aus und ließ sie zurück, dann zog sie das Messer aus der Scheide. Sie konnte nicht riskieren, die Quelle zu umarmen; schließlich wollte sie ihre Beute nicht alarmieren.

Im Grunde schlief das Lager gar nicht. Die dienstfreien Krieger fanden hier einfach keinen guten Schlaf. Erschöpfung bei den Speeren wurde langsam zu einem Problem, selbst bei den Töchtern. Alle beklagten sich über schreckliche Träume.

Aviendha schlich lautlos an Zelten vorbei und mied jene, in denen Licht brannte. Dieser Ort war für jeden unerträglich, also überraschte sie es nicht, von Albträumen zu hören. Wie sollte man so nahe am Domizil des Dunklen Königs in Frieden schlafen?

Wenn sie die Angelegenheit vernünftig betrachtete, wusste sie, dass sich der Dunkle König nicht in der Nähe befand, jedenfalls nicht richtig. Darum ging es bei der Bohrung nicht. Er lebte nicht an diesem Ort; er existierte außerhalb des Musters in seinem Kerker. Trotzdem war jede Nachtruhe hier wie der Versuch einzuschlafen, während ein Mörder mit gezückter Klinge neben dem Bett stand und über deine Haarfarbe nachsann.

Da, dachte sie und wurde langsamer. Das Machtlenken erlosch, aber sie war ganz nahe. Draghkar-Angriffe und mögliche Bedrohungen durch Myrddraal, die sich nachts einschlichen, hatte die Lagerbefehlshaber veranlasst, die Offiziere überall im Lager in Zelten unterzubringen, die nicht anzeigten, ob sie einem Kommandanten oder einem ganz normalen Fußsoldaten gehörten. Aber Aviendha wusste, dass es sich um das Zelt von Darlin Sisnera handelte.

Nach der Ablösung Ituraldes hatte Darlin offiziell den Befehl über das Schlachtfeld. Er war kein General, aber die Tairener stellten den größten Teil der Truppen, und die Verteidiger des Steins waren ihre Eliteeinheit. Ihr Kommandant Tihera war ein guter Taktiker, und Darlin hörte auf die Vorschläge des Mannes. Sicherlich gehörte Tihera nicht zu den Großen Hauptmännern, aber er war sehr klug. Er, Darlin und Rhuarc hatten nach Ituraldes Sturz die Schlachtpläne geschmiedet …

In der Dunkelheit übersah Aviendha um ein Haar die drei Gestalten, die direkt neben Darlins Zelt in der Dunkelheit hockten. Stumm gaben sie einander Zeichen, und Aviendha vermochte nur wenig von ihnen zu erkennen – nicht einmal ihre Kleidung. Sie hob ihr Messer, und dann zerriss ein Blitz den Himmel und verschaffte ihr einen besseren Blick auf einen der dort Lauernden. Der Mann trug einen Schleier. Aiel.

Auch sie haben den Eindringling bemerkt, dachte sie, schlich zu ihnen und hob eine Hand, damit sie sie nicht angriffen. »In der Nähe habe ich Machtlenken gespürt«, flüsterte sie, »und ich glaube nicht, dass das eine der Unseren ist. Was habt ihr gesehen?«

Die drei Männer starrten sie an, als wären sie völlig verblüfft, obwohl sie nicht viel von ihren Gesichtern erkennen konnte.

Dann griffen sie an.

Fluchend sprang Aviendha zurück, als Speere gezückt wurden und einer ein Messer in ihre Richtung schleuderte. Aiel-Schattenfreunde? Sie kam sich vor wie eine Närrin. Sie hätte es besser wissen müssen.

Sie griff nach der Quelle. Falls sich ein weiblicher Schattenlord in der Nähe befinden sollte, würde sie ihre Bemühungen fühlen, aber das ließ sich nicht ändern. Sie musste diese drei Angreifer abwehren.

Aber als sie nach der Einen Macht griff, peitschte etwas zwischen sie und die Quelle. Eine Abschirmung aus Geweben, die sie nicht wahrnehmen konnte.

Einer dieser Männer konnte die Macht lenken. Ihre Reaktion war purer Instinkt. Sie unterdrückte ihre Panik, hörte auf, nach der Quelle zu greifen, und warf sich auf den Angreifer, der ihr am nächsten stand. Sie wehrte seinen Speerstoß mit der freien Hand ab – ignorierte die Schmerzen, als die Klinge über ihre Rippen schnitt – und riss ihn nach vorn, um ihm ihr Messer in den Hals zu rammen.

Einer der anderen beiden fluchte, und plötzlich fand sich Aviendha in Gewebe aus Luft gehüllt und konnte weder sprechen noch sich bewegen. Blut tränkte ihre Bluse und sammelte sich auf ihrer verletzten Seite. Der Mann, den sie getroffen hatte, zappelte keuchend auf dem Boden, während er starb. Die anderen beiden machten nicht die geringsten Anstalten, ihm zu helfen.

Einer der Schattenfreunde trat geschmeidig auf sie zu; in der Dunkelheit war er fast unsichtbar. Er zog ihr Gesicht heran, um sie besser sehen zu können, dann winkte er dem anderen. Ein sehr schwaches Licht erschien zwischen ihnen und verschaffte ihnen einen besseren Blick auf Aviendha – und auf sie selbst. Sie trugen rote Schleier, aber dieser Kerl hatte seinen für den Kampf nach unten gezogen. Warum? Was hatte das zu bedeuten? Kein Aviendha bekannter Aiel verhielt sich so. Handelte es sich um Shaido? Hatten sie sich auf die Seite des Schattens geschlagen?

Die Männer gestikulierten schnell in der Handsprache. Nicht die Handsprache der Töchter, aber doch etwas Ähnliches. Der andere Mann nickte.

Aviendha wehrte sich gegen ihre unsichtbaren Fesseln. Sie rannte mit ihrem Willen gegen die Abschirmung an, biss auf ihren Knebel aus Luft. Der Aiel zu ihrer Rechten – der größere von ihnen, der vermutlich die Abschirmung hielt – grunzte. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Finger über die Kante einer fast geschlossenen Tür kratzen, hinter der Licht, Wärme und Macht lag. Aber die Tür gab keinen Zoll nach.

Der hochgewachsene Aiel starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Er ließ das Licht verschwinden und tauchte sie in Dunkelheit. Aviendha hörte, wie er einen Speer zog.

In der Nähe ertönten Schritte. Die Rotschleier hörten sie und fuhren herum. Aviendha versuchte die Dunkelheit zu durchdringen, konnte den Neuankömmling aber nicht erkennen.

Die Männer standen reglos da.

»Was ist hier los?«, fragte eine Frauenstimme. Cadsuane. Mit einer Laterne in der Hand kam sie näher. Aviendha wurde durch die Luft gerissen, als der Mann, der ihre Gewebe hielt, sie in die Schatten beförderte, und Cadsuane schien sie nicht gesehen zu haben. Die Aes Sedai sah allein den anderen Mann, der in der Nähe des Pfades stand.

Dieser Aiel trat nun gänzlich aus dem Schatten. Auch er hatte seinen Schleier gesenkt. »Ich dachte, ich hätte etwas in der Nähe dieser Zelte gehört, Aes Sedai«, sagte er. Er hatte einen seltsamen Akzent, der irgendwie merkwürdig war. Aber nur einen Hauch. Ein Feuchtländer würde den Unterschied niemals erkennen.

Das sind keine Aiel, dachte Aviendha. Sie sind etwas anderes. Ihr Verstand rang mit der Vorstellung. Aiel, die keine Aiel waren? Männer, die die Macht lenken konnten?

Die Männer, die wir ausschickten! Diese Erkenntnis kam ihr voller Entsetzen. Männer, die bei den Aiel die Macht lenken konnten und entdeckt wurden, wurden losgeschickt, um zu versuchen, den Dunklen König zu vernichten. Allein auf sich gestellt zogen sie in die Fäule. Niemand wusste, was danach mit ihnen passierte.

Aviendha wehrte sich wieder und versuchte ein Geräusch zu machen, ganz egal was, um Cadsuane zu warnen. Vergeblich. Verschnürt hing sie in der Dunkelheit in der Luft, und die Aes Sedai blickte nicht in ihre Richtung.

»Und, habt Ihr etwas gefunden?«, fragte Cadsuane den Mann.

»Nein, Aes Sedai.«

»Ich spreche mit den Wächtern.« Cadsuane klang hörbar unzufrieden. »Wir müssen wachsam sein. Gelänge es einem Draghkar oder noch schlimmer einem Myrddraal, sich ins Lager zu schleichen, könnten sie Dutzende töten, bevor man sie entdeckt.«

Cadsuane drehte sich um und ging. Aviendha schüttelte den Kopf, Tränen der Wut in den Augen. So nahe!

Der Rotschleier, der mit Cadsuane gesprochen hatte, schlüpfte zurück in die Schatten und kam zu Aviendha. Ein Blitz enthüllte das Lächeln auf seinem Gesicht, das dem des Mannes entsprach, der sie gefesselt hielt.

Der Rotschleier vor ihr zog einen Dolch aus dem Gürtel und hob die Hand. Hilflos musste sie zusehen, wie sich die Klinge ihrem Hals näherte.

Sie spürte Machtlenken.

Übergangslos verschwanden ihre Fesseln, und sie fiel zu Boden. Noch im Sturz schnappte sie sich die Messerhand des Mannes, und er riss die Augen auf. Obwohl sie urtümlicher Instinkt wild die Quelle umarmen ließ, waren ihre Hände bereits in Bewegung. Sie verdrehte das Handgelenk und brach die Knochen, die Hand und Arm miteinander verbanden. Mit ihrer anderen Hand fing sie das Messer auf und rammte es ihm ins Auge, während er vor Schmerzen aufbrüllte.

Der Schrei brach ab. Der Rotschleier brach zusammen, und sie schaute besorgt zu dem anderen hinüber – der Mann, der sie mit seinen Geweben gehalten hatte. Er lag tot am Boden.

Keuchend eilte sie zu dem Pfad, wo sie auf Cadsuane stieß.

»Es ist so einfach, das Herz eines Mannes anzuhalten«, sagte Cadsuane mit verschränkten Armen. Sie erschien unzufrieden. »Dem Heilen so ähnlich, aber genau der gegenteilige Effekt. Vielleicht ist das ja etwas Böses, aber ich habe nie begriffen, wieso das schlimmer sein soll, als jemanden mit Feuer zu Asche zu verbrennen.«

»Aber wie?«, stieß Aviendha hervor. »Wie konntet Ihr erkennen, was sie sind?«

»Ich bin keine schlecht ausgebildete Wilde«, erwiderte Cadsuane. »Ich hätte sie gern niedergeschlagen, als ich eintraf, aber ich musste vorher sichergehen. Als der eine Euch mit dem Messer bedrohte, wusste ich Bescheid.«

Aviendha atmete ein und aus und versuchte ihren Herzschlag zu beruhigen.

»Und da war natürlich noch der andere. Der, der die Macht lenkte. Wie viele Aiel-Krieger können insgeheim die Macht lenken? War das eine Ausnahme, oder hat Euer Volk sie verborgen gehalten?«

»Was? Nein! Das tun wir nicht. Vielmehr haben wir es nicht getan.« Aviendha war sich nicht sicher, wie sie nun verfahren würden, da die Quelle gereinigt worden war. Mit Sicherheit sollte man keine Männer mehr allein losschicken, damit sie gegen den Dunklen König kämpften.

»Seid Ihr sicher?«, fragte Cadsuane tonlos.

»Ja!«

»Schade. Das hätte ein großer Vorteil für uns sein können.« Die Aes Sedai schüttelte den Kopf. »Es hätte mich nicht überrascht, nicht nach diesen Enthüllungen über die Windsucherinnen. Das waren also ganz normale Schattenfreunde, von denen einer bloß seine Fähigkeit im Machtlenken verborgen gehalten hat? Was hatten sie heute Nacht vor?«

»Das sind alles andere als gewöhnliche Schattenfreunde«, sagte Aviendha leise und untersuchte die Leichen. Rote Schleier. Der Mann, der die Macht hatte lenken können, wies spitz zugefeilte Zähne auf, was für die anderen beiden nicht galt. Was hatte das zu bedeuten?

»Wir müssen Alarm schlagen«, fuhr Aviendha fort. »Es ist vorstellbar, dass die drei ungehindert eintreten konnten. Viele der Feuchtländer-Wachen vermeiden es, Aiel zu kontrollieren. Sie gehen davon aus, dass wir alle dem Car’a’carn dienen.«

Für zu viele Feuchtländer war ein Aiel ein Aiel. Narren. Obwohl … Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass auch sie diese Aiel auf den ersten Blick für ihre eigenen Leute gehalten hatte. Wann war das bloß passiert? Hätte sie noch vor zwei Jahren einen fremden Algai’d’siswai beim Herumschleichen erwischt, hätte sie sofort angegriffen.

Aviendha untersuchte die Toten weiter – jeder von ihnen trug ein Messer, Speere und Bogen. Sonst gab es nichts Verräterisches. Aber eine leise Stimme flüsterte ihr zu, dass sie irgendetwas übersah.

»Die Machtlenkerin«, sagte sie plötzlich und schaute auf. »Mich zog eine Frau an, die die Eine Macht benutzte, Aes Sedai. Wart Ihr das?«

»Ich habe die Macht nicht gelenkt, bevor ich diesen Mann tötete«, sagte Cadsuane stirnrunzelnd.

Unvermittelt nahm Aviendha Kampfhaltung an und drückte sich in die Schatten. Was würde sie nun noch finden? Weise Frauen, die dem Schatten dienten? Cadsuane verfolgte mit finsterer Miene, wie Aviendha die unmittelbare Umgebung erkundete. Sie passierte Darlins Zelt, in dem sich Soldaten um Lampen drängten und Schatten warfen, die über die Zeltplane huschten. Sie passierte Soldaten, die stumm in enger Formationen über die Pfade gingen. Sie trugen Fackeln und blendeten sich selbst damit.

Aviendha hatte tairenische Offiziere sagen gehört, dass es einmal eine nette Abwechslung war, sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, ob die Wächter auf ihren Posten schliefen. Mit den allgegenwärtigen Blitzen, den Trolloc-Trommeln in der Nähe und den gelegentlichen Angriffen des Schattengezüchts … die Soldaten wussten, dass sie in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachlassen durften. Die kalte Luft roch nach Rauch, und aus den Trolloc-Lagern wehte widerlicher Gestank herüber.

Schließlich gab sie ihre Jagd auf und ging denselben Weg zurück, wo sie schließlich Cadsuane mit einer Soldatengruppe sprechen sah. Sie wollte sich ihr gerade anschließen, als ihr Blick über eine schwarze Stelle aus Dunkelheit glitt und ihr Gespür zum Leben erwachte. Die schwarze Stelle lenkt die Macht.

Augenblicklich webte sie eine Abschirmung. Die hinter der Dunkelheit verborgene Gestalt erschuf Feuer und Luft, die auf Cadsuane zielten. Aviendha ließ ihr Gewebe fallen und schlug stattdessen mit Geist zu, zerschnitt das feindliche Gewebe in dem Moment, in dem es losgelassen wurde.

Ein Fluch ertönte, dann wirbelte ein hastig gewebtes Feuergewebe in Aviendhas Richtung. Aviendha duckte sich, und es flog zischend über ihren Kopf in die kalte Luft. Die Hitzewelle passierte sie. Ihre Feindin eilte aus den Schatten – ihr Tarngewebe war zusammengebrochen – und enthüllte sich als die Frau, mit der sie schon zuvor gekämpft hatte. Die Frau mit dem Gesicht, das in Hässlichkeit keinem Trolloc nachstand.

Die Frau hechtete einen Augenblick bevor der Boden hinter ihr explodierte hinter eine Zeltgruppe – ein Gewebe, das nicht von Aviendha stammte. Eine Sekunde später faltete sich die Frau genau wie zuvor wieder zusammen. Verschwand einfach.

Aviendha blieb misstrauisch stehen. Cadsuane trat neben sie. »Danke«, sagte die Aes Sedai widerstrebend. »Dafür, dass Ihr das Gewebe zerstört habt.«

»Dann sind wir wohl quitt«, sagte Aviendha.

»Quitt? Nein, nicht einmal in mehreren Hundert Jahren, Kind. Ich will aber zugeben, dass ich für Euer Eingreifen dankbar bin.« Sie runzelte die Stirn. »Sie ist verschwunden.«

»Das tat sie schon einmal.«

»Eine Methode des Reisens, die uns unbekannt ist«, sagte Cadsuane und sah beunruhigt aus. »Ich konnte keinerlei Ströme erkennen. Vielleicht ein Ter’angreal? Es …«

An den Frontlinien des Heeres raste ein rotes Licht in den Himmel. Die Trollocs griffen an. Gleichzeitig fühlte Aviendha, wie an verschiedenen Stellen um das Lager herum die Macht gelenkt wurde. Einmal, zweimal, dreimal … Sie fuhr herum und versuchte jeden der Orte zu bestimmen. Sie zählte fünf.

»Machtlenker«, sagte Cadsuane in scharfem Tonfall. »Dutzende von ihnen.«

»Dutzende? Ich spürte fünf.«

»Die meisten sind Männer, dummes Kind.« Cadsuane machte mit der Hand eine scheuchende Bewegung. »Geht schon, sammelt die anderen!«

Aviendha rannte los und rief lautstark Alarm. Später würde sie noch ein Wörtchen mit Cadsuane zu wechseln haben, sie einfach auf diese Weise herumzukommandieren. Vielleicht. Mit Cadsuane »ein Wörtchen zu wechseln« ließ einen sich oft wie eine völlige Närrin fühlen. Aviendha erreichte den Bereich der Aiel gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Amys und Sorilea ihre Schultertücher zurechtzogen und den Himmel überprüften. Aus einem Zelt in der Nähe stolperte Flinn und blinzelte müde. »Männer?«, fragte er. »Machtlenken? Sind noch mehr Asha’man eingetroffen?«

»Unwahrscheinlich«, verkündete Aviendha. »Amys, Sorilea, ich brauche einen Zirkel.«

Sie sahen sie mit hochgezogener Braue an. Sie mochte jetzt eine von ihnen sein, und sie mochte auch dank der Autorität des Car’a’carn das Kommando haben, aber Sorilea daran zu erinnern würde damit enden, dass man sie bis zum Hals im Boden begrub. »Wenn ihr so freundlich wärt«, fügte sie hastig hinzu.

»Es ist deine Entscheidung, Aviendha«, sagte Sorilea. »Ich gehe und spreche mit den anderen und schicke sie zu dir, damit du deinen Zirkel bekommst. Ich glaube, wir machen zwei davon, wie du zuvor vorgeschlagen hast. Das wäre wohl am besten.«

Sie ist so stur wie Cadsuane, dachte Aviendha. Die beiden konnten Bäumen noch etwas über Geduld beibringen. Aber Sorilea war nicht besonders stark in der Macht – tatsächlich vermochte sie sie kaum zu lenken –, also würde es klüger sein, die anderen zu nehmen, genau wie sie es vorgeschlagen hatte.

Sorilea rief nach den anderen Weisen Frauen und Aes Sedai. Aviendha erduldete die Verzögerung nervös; sie vernahm bereits die ersten Schreie und Explosionen im Tal. Feuerstöße stiegen in die Luft und rasten dem Boden entgegen.

»Sorilea«, sagte sie leise zu der älteren Weisen Frau, während sich die anderen Frauen zu den Zirkeln verknüpften, »eben griffen mich drei Aiel-Männer im Lager an. Bei dem bevorstehenden Kampf wird es vermutlich weitere Aiel geben, die für den Schatten kämpfen.«

Sorilea fuhr auf dem Absatz herum und erwiderte Aviendhas Blick. »Erkläre das.«

»Ich halte sie für die Männer, die wir losschickten, um Sichtblender zu vernichten.«

Sorilea zischte leise. »Wenn das stimmt, Kind, dann bringt uns diese Nacht viel Toh. Toh gegenüber dem Car’a’carn, Toh gegenüber dem Land selbst.«

»Ich weiß.«

»Gib mir Bescheid«, sagte Sorilea. »Ich werde einen dritten Zirkel organisieren, vielleicht mit einigen der dienstfreien Windsucherinnen.«

Aviendha nickte und akzeptierte die Kontrolle des Zirkels, als man sie an sie übergab. Sie hatte drei Rand verschworene Aes Sedai und zwei Weise Frauen. Aufgrund ihres Befehls hatte sich Flinn dem Zirkel nicht angeschlossen. Er sollte nach Machtlenkern Ausschau halten und ihren Standort markieren, und Teilnehmer an einem Zirkel zu sein würde ihm das wohl unmöglich machen.

Sie bewegten sich wie eine Abteilung Speerschwestern. Sie passierten Gruppen von tairenischen Verteidigern, die sich polierte Harnische über Uniformen mit breiten gestreiften Ärmeln zogen. In einer Gruppe entdeckte sie König Darlin, der Befehle brüllte.

»Einen Moment«, sagte sie zu den anderen und eilte zu dem Tairener.

»… sie alle!«, sagte Darlin zu seinen Kommandanten. »Lasst die Frontlinien nicht aufweichen! Wir dürfen diese Ungeheuer nicht ins Tal lassen!« Anscheinend hatte ihn der Angriff geweckt, denn er trug bloß Hosen und ein weißes Unterhemd. Ein zerzaust aussehender Diener hielt ihm den Mantel hin, aber abgelenkt von einem Boten, wandte sich der König ab.

Als er Aviendha entdeckte, winkte er sie drängend herbei. Der Diener seufzte tief und senkte den Mantel.

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie heute Nacht noch angreifen«, sagte Darlin und warf dann einen Blick zum Himmel. »Oder, nun ja, heute Morgen. Die Kundschafterberichte sind so verwirrend, ich fühle mich, als hätte man mich in einen Käfig voller verrückter Hühner geworfen, um das eine mit der einen schwarzen Feder zu fangen.«

»Diese Berichte«, sagte Aviendha, »werden da Aiel-Männer erwähnt, die für den Schatten kämpfen? Möglicherweise auch die Macht lenken?«

Darlin wandte ruckartig den Kopf. »Also ist das wahr?«

»Ja.«

»Und die Trollocs rücken mit allem vor, was sie haben, um sich den Weg ins Tal zu erzwingen«, sagte Darlin. »Wenn diese Aiel-Schattenlords anfangen, unsere Truppen anzugreifen, haben wir ohne euch nicht die geringste Chance, sie abzuwehren.«

»Wir sind unterwegs«, erwiderte Aviendha. »Schickt nach Amys und Cadsuane, um Wegetore zu weben. Aber ich warne Euch. Ich habe einen Schattenlord dabei erwischt, wie er um Euer Zelt herumschlich …«

Darlin erblasste. »Wie Ituralde … Beim Licht, sie haben mich nicht berührt. Ich schwöre es. Ich …« Er hielt sich den Kopf. »Wem sollen wir vertrauen, wenn wir nicht einmal mehr dem eigenen Verstand vertrauen können?«

»Wir müssen den Tanz der Speere so einfach wie möglich machen«, sagte Aviendha. »Geht zu Rhuarc, versammelt Eure Führer. Plant zusammen, wie ihr dem Schatten entgegentretet, lasst die Schlacht nicht allein von einem Mann kontrollieren – und erlaubt nicht, dass eure Pläne verändert werden.«

»Das könnte in die Katastrophe führen«, widersprach Darlin. »Wenn wir nicht flexibel sein können …«

»Was muss denn verändert werden?«, fragte Aviendha grimmig. »Wir halten die Stellung. Wir halten die Stellung mit allem, was uns zur Verfügung steht. Wir ziehen uns nicht zurück. Wir versuchen nichts Schlaues. Wir halten einfach die Stellung.«

Darlin nickte. »Ich schicke nach Wegetoren, um die Töchter auf diese Hänge zu befördern. Sie können die Trollocs ausschalten, die auf unsere Jungs schießen. Könnt Ihr Euch um die feindlichen Machtlenker kümmern?«

»Ja.«

Aviendha kehrte zu ihrer Gruppe zurück und fing an, ihre Macht in sich aufzunehmen. Je mehr man von der Einen Macht hielt, umso schwerer wurde es, einen von der Wahren Quelle abzuschneiden. Sie beabsichtigte so viel davon zu halten, dass kein Mann sie davon trennen konnte.

Hilflosigkeit. Sie hasste es, sich hilflos zu fühlen. Sie ließ den Zorn über das, was man ihr eben angetan hatte, in sich wüten und führte ihre Gruppe zur nächsten Quelle männlichen Machtlenkens, die Flinn identifizieren konnte.

Загрузка...