2 Die Entscheidung einer Ajah

Pevara gab sich alle Mühe, so zu tun, als hätte sie nicht die geringste Angst.

Hätten diese Asha’man sie besser gekannt, dann wäre ihnen aufgefallen, dass sie normalerweise niemals still und leise in der Ecke saß. Sie griff auf die Grundlagen ihrer Aes-Sedai-Ausbildung zurück: immer den Eindruck erwecken, alles unter Kontrolle zu haben, auch wenn genau das Gegenteil zutrifft.

Sie zwang sich aufzustehen. Canler und Emarin hatten sich zurückgezogen, um die Männer von den Zwei Flüssen zu besuchen und sich davon zu überzeugen, dass sie nur zu zweit gingen. Damit waren sie und Androl wieder allein. Er bastelte stumm an seinen Ledergurten herum, während draußen der Regen fiel. Er nähte mit zwei Nadeln zugleich, kreuzte die Löcher auf jeder Seite. Der Mann hatte die Konzentration eines Handwerksmeisters.

Pevara ging langsam zu ihm hinüber, was ihn scharf aufsehen ließ, als sie näher kam. Sie unterdrückte ein Lächeln. Man sah es ihr vermutlich nicht an, aber falls nötig, konnte sie sich sehr leise bewegen.

Sie starrte aus dem Fenster. Der Regen war schlimmer geworden, sprühte gegen die Scheibe. »Nachdem es so viele Wochen ausgesehen hat, als würde der Sturm jeden Moment losbrechen, ist er endlich da.«

»Irgendwann mussten diese Wolken aufbrechen«, meinte Androl.

»Der Regen fühlt sich nicht natürlich an.« Sie verschränkte die Hände auf dem Rücken. Die Kälte war durch das Glas hindurch zu spüren. »Da gibt es keinen Rhythmus. Stets nur der gleiche regelmäßige Guss. Viele Blitze, aber nur wenig Donner.«

»Glaubt Ihr, hier handelt es sich um einen dieser …?« Androl musste nicht erklären, was er damit meinte. Früher in dieser Woche hatten sich Menschen in der Burg – aber keine Asha’man – unvermittelt selbst entzündet. Sie hatten einfach gebrannt, ohne jede Erklärung. Vierzig Leute hatten sie verloren. Viele machten dafür noch immer einen abtrünnigen Asha’man verantwortlich, dabei hatten die Männer geschworen, dass niemand in der Nähe die Macht gelenkt hatte.

Sie schüttelte den Kopf und sah eine Gruppe Leute auf der schlammigen Straße vorbeitrotten. Zuerst hatte sie zu jenen gehört, die die Todesfälle zum Werk eines verrückt gewordenen Asha’man erklärt hatten. Jetzt hatte sie akzeptiert, dass diese Geschehnisse und andere Merkwürdigkeiten etwas viel Schlimmeres bedeuteten.

Die Welt löste sich in ihre Bestandteile auf.

Sie musste stark sein. Pevara selbst hatte den Plan entwickelt, Frauen an diesen Ort zu bringen, um mit diesen Männern den Behüterbund einzugehen, auch wenn der Vorschlag ursprünglich von Tarna gekommen war. Sie durfte sie nicht herausfinden lassen, wie sehr es ihr zu schaffen machte, hier gefangen zu sein und Feinden gegenüberzustehen, die einen Menschen auf die Seite des Schattens zwingen konnten. Ihre einzigen Verbündeten waren Männer, die sie noch vor wenigen Monaten hartnäckig gejagt und gnadenlos für immer von der Einen Macht abgeschnitten hätte.

Sie setzte sich auf den Hocker, den Emarin zuvor benutzt hatte. »Ich möchte gern über diesen ›Plan‹ sprechen, den Ihr entwickelt.«

»Ich bin mir nicht sicher, dass ich tatsächlich schon einen geschmiedet habe, Aes Sedai.«

»Vielleicht könnte ich ein paar Vorschläge beisteuern.«

»Ich hätte nichts dagegen, sie zu hören«, sagte Androl, obwohl er die Augen zusammenkniff.

»Was ist?«

»Diese Leute da draußen. Ich erkenne sie nicht. Und …«

Sie blickte wieder aus dem Fenster. Das einzige Licht kam von den Gebäuden, die vereinzelt ein rot-oranges Glühen in die nasse Nacht sandten. Die Passanten bewegten sich sehr langsam über die Straße, tauchten kurz ein in das Licht der Fenster.

»Ihr Kleidung ist nicht nass«, flüsterte Androl.

Mit einem Frösteln erkannte Pevara, dass er recht hatte. Der Mann an der Spitze ging mit einem breitkrempigen tropfenden Hut auf seinem Kopf, aber er fing den Regen nicht auf. Seine bäuerliche Kleidung war völlig unberührt vom Wasser. Und das Kleid der Frau neben ihm flatterte überhaupt nicht im Wind. Jetzt erkannte Pevara, dass einer der jüngeren Männer die Hand hinter dem Rücken hielt, als zöge er die Zügel eines Lasttiers – bloß dass da kein Tier war.

Pevara und Androl sahen schweigend zu, bis die Gestalten in der Nacht verschwunden waren. Visionen von Toten wurden immer häufiger.

»Ihr sagtet etwas von einem Vorschlag?« Androls Stimme zitterte.

»Ich … ja.« Pevara riss den Blick vom Fenster los. »Bis jetzt hat sich Taim auf die Aes Sedai konzentriert. Meine Schwestern wurden alle geholt. Ich bin die Letzte.«

»Ihr wollt Euch als Köder anbieten.«

»Sie werden kommen und mich holen«, sagte sie. »Es ist nur eine Frage der Zeit.«

Androl fuhr über den Ledergurt und sah zufrieden aus. »Wir sollten Euch herausschmuggeln.«

»Tatsächlich?« Sie hob die Brauen. »Bin ich jetzt zur Jungfrau ernannt worden, die gerettet werden muss, ja? Wie heldenhaft von Euch.«

Er errötete. »Sarkasmus? Von einer Aes Sedai? Ich hätte nie gedacht, so etwas je zu hören.«

Pevara lachte. »Ach je, Androl. Eigentlich wisst Ihr nichts über uns, oder?«

»Ganz ehrlich? Nein. Ich bin Euresgleichen den größten Teil meines Lebens aus dem Weg gegangen.«

»Nun, wenn man Eure angeborenen … Neigungen … bedenkt, war das vielleicht sehr klug.«

»Früher konnte ich die Macht nicht lenken.«

»Aber Ihr habt vermutet, dass Ihr es könnt. Ihr kamt her, um zu lernen.«

»Ich war neugierig. Es war etwas, das ich zuvor noch nicht ausprobiert hatte.«

Interessant. Ist es das, was dich antreibt, Sattler? Was dich dazu veranlasst hat, dich vom Wind von Ort zu Ort treiben zu lassen?

»Ich vermute«, sagte sie, »Ihr habt auch noch nie versucht, von einer Klippe zu springen. Die Tatsache, dass Ihr etwas noch nicht ausprobiert habt, sollte nicht immer ein Grund sein, es unbedingt versuchen zu wollen.«

»Tatsächlich bin ich schon von einer Klippe gesprungen. Sogar von mehreren.«

Sie sah ihn ungläubig an.

»Das Meervolk macht das«, erklärte er. »In den Ozean. Je mutiger man ist, umso höher die Klippe, die man wählt. Und Ihr habt wieder kunstvoll das Thema der Unterhaltung in andere Bahnen gelenkt, Pevara Sedai. Ihr seid darin sehr geschickt.«

»Danke.«

»Mein Vorschlag, Euch hier herauszuschmuggeln, liegt darin begründet, dass das nicht Euer Kampf ist. Ihr solltet hier nicht sterben müssen.«

»Also nicht, weil Ihr eine Aes Sedai schnell loswerden wollt, damit sie sich nicht in Eure Dinge einmischt?«

»Ich kam zu Euch, um Hilfe zu bekommen«, sagte Androl. »Ich will Euch nicht loswerden; ich würde Euch nur zu gern benutzen. Aber solltet Ihr hier fallen, dann geschieht das in einem Kampf, der nicht der Eure ist. Das ist nicht gerecht.«

»Lasst mich Euch etwas erklären, Asha’man.« Pevara beugte sich näher an ihn heran. »Das ist mein Kampf. Wenn der Schatten diese Burg übernimmt, hat das schreckliche Konsequenzen für die Letzte Schlacht. Für Euch und Euresgleichen habe ich die Verantwortung übernommen; davon werde ich mich nicht so ohne Weiteres abwenden.«

»Ihr habt für uns ›die Verantwortung übernommen‹? Was soll das denn wieder bedeuten?«

Vielleicht hätte ich das für mich behalten sollen. Aber wenn sie schon Verbündete sein wollten, dann wusste er vielleicht besser Bescheid.

»Die Schwarze Burg braucht Führung«, erklärte sie.

»Also darum geht es, darum wollten die Aes Sedai mit uns den Behüterbund eingehen?«, fragte Androl. »Damit man uns … zusammentreiben kann wie Hengste, die man zureiten muss?«

»Seid kein Narr. Sicherlich müsst Ihr den Wert anerkennen, den die Erfahrungen der Weißen Burg haben.«

»Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Mit Erfahrung kommt die Entschlossenheit, die gewohnten Wege zu bewahren, sich neuen Erfahrungen zu verschließen. Ihr Aes Sedai seid alle der Meinung, dass man die Dinge allein auf die Weise tun kann, wie man es schon immer getan hat. Nun, die Schwarze Burg wird sich euch nicht unterordnen. Wir können selbst auf uns aufpassen.«

»Und bis jetzt habt ihr ja so großartige Arbeit geleistet, was das angeht, nicht wahr?«

»Das war unangebracht«, meinte er leise.

»Vielleicht war es das«, gab sie zu. »Ich entschuldige mich.«

»Eure Motivation überrascht mich nicht«, sagte er. »Was ihr hier tun wolltet, war selbst den Schwächsten unter den Soldaten klar. Aber mich interessiert vor allem eines dabei: warum schickte die Weiße Burg von allen Frauen ausgerechnet Rote Schwestern, um mit uns den Bund einzugehen?«

»Wer wäre besser geeignet? Unser ganzes Leben ist dem Umgang mit Männern gewidmet, die die Macht lenken können.«

»Eure Ajah ist dem Untergang geweiht.«

»Tatsächlich?«

»Eure Existenz basiert auf der Jagd nach Männern, die die Macht lenken können«, sagte er und wandte sich ihr zu. »Um sie zu dämpfen. Um sich ihrer … zu entledigen. Nun, die Quelle ist gereinigt …«

»Das behauptet ihr alle.«

»Sie ist gereinigt, Pevara. Alle Dinge kommen und gehen, und das Rad dreht sich. Einst war sie rein, also muss sie irgendwann wieder rein sein. Das ist passiert.«

Und die Art und Weise, wie du dir jeden Schatten ansiehst, Androl? Ist das ein Zeichen der Reinheit? Oder wie Nalaam etwas in unbekannten Sprachen murmelt? Glaubst du, uns würden solche Dinge nicht auffallen?

»Als Ajah habt ihr zwei Möglichkeiten«, fuhr er fort. »Ihr könnt uns weiterhin jagen und unsere Beweise ignorieren, dass die Quelle gereinigt wurde. Oder ihr könnt aufhören, die Rote Ajah zu sein.«

»Unsinn. Von allen Ajahs sollten die Roten Eure größten Verbündeten sein.«

»Ihr existiert, um uns zu vernichten!«

»Wir existieren, um dafür zu sorgen, dass Männer, die die Macht lenken können, sich oder die Menschen in ihrer Nähe nicht aus Versehen verletzen. Würdet Ihr nicht zustimmen, dass das auch ein Ziel der Schwarzen Burg ist?«

»Das könnte schon sein. Mir hat man lediglich mitgeteilt, dass wir eine Waffe für den Wiedergeborenen Drachen sein sollen, aber gute Männer davon abzuhalten, sich ohne vernünftige Ausbildung selbst zu schaden, ist ebenfalls wichtig.«

»Dann können wir uns auf dieses Vorhaben einigen, oder nicht?«

»Ich würde das ja gern glauben, Pevara, aber mir ist keineswegs entgangen, wie Ihr und die anderen uns anseht. Ihr betrachtet uns wie … wie einen Flecken, den man auswaschen muss, oder Gift, das man in einer Flasche verschließen muss.«

Pevara schüttelte den Kopf. »Falls es stimmt, was Ihr sagt, und die Quelle gereinigt wurde, dann wird es Veränderungen geben. Die Rote Ajah und die Asha’man werden im Laufe der Zeit für ein gemeinsames Ziel zusammenwachsen. Ich bin bereit, jetzt und hier mit Euch zu arbeiten.«

»Uns zu kontrollieren.«

»Euch zu führen. Bitte vertraut mir.«

Er musterte sie im Licht der vielen Lampen, die in diesem Raum brannten. Ein ehrliches Gesicht hatte er ja. Sie konnte verstehen, warum die anderen ihm folgten, auch wenn er der Schwächste von ihnen war. Er verfügte über eine seltsame Mischung aus Leidenschaft und Demut. Wäre er doch bloß nicht einer von … nun ja, eben das gewesen, was er nun einmal war.

»Ich wünschte, ich könnte Euch glauben«, sagte Androl und schaute zur Seite. »Ich muss zugeben, dass Ihr Euch von den anderen unterscheidet. Ihr seid nicht wie eine typische Rote.«

»Ich glaube, Ihr werdet herausfinden, dass wir viel unterschiedlicher sind, als Ihr annehmt«, behauptete Pevara. »Keine Frau wählt die Roten allein aus einem einzigen Motiv.«

»Abgesehen vom Hass auf Männer.«

»Würden wir euch hassen, wären wir dann hergekommen, um mit den Asha’man den Behüterbund zu schließen?« Natürlich war das eine ausweichende Antwort. Auch wenn sie selbst Männer nicht hasste, traf das doch auf viele Rote zu – zumindest betrachteten viele von ihnen Männer mit großem Misstrauen. Sie hoffte, das ändern zu können.

»Die Beweggründe von Aes Sedai sind manchmal merkwürdig«, meinte Androl. »Das weiß jeder. Aber wie dem auch sei, auch wenn Ihr Euch von vielen Eurer Schwestern unterscheidet, habe ich dennoch diesen Ausdruck in Euren Augen gesehen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht glauben, dass ihr gekommen seid, um uns zu helfen. Genauso wenig wie ich glaube, dass die Aes Sedai, die Machtlenker jagten, in ihrem Inneren die Ansicht vertraten, den Männern damit zu helfen. Genauso wenig wie ich glaube, dass der Henker der Ansicht ist, dem Verbrecher einen Gefallen damit zu tun, dass er ihn tötet. Nur weil eine Sache getan werden muss, macht das denjenigen, der sie erledigt, noch lange nicht zum Freund, Pevara Sedai. Es tut mir leid.«

Er wandte sich wieder seinem Leder zu und arbeitete im Licht der Lampe auf dem Tisch.

Pevara fühlte Zorn in sich aufsteigen. Fast hatte sie ihn so weit gehabt. Sie mochte Männer; sie hatte oft gedacht, dass Behüter nützlich sein würden. Konnte der Narr keine Hand erkennen, die sich ihm über den Abgrund ausstreckte, wenn er sie sah?

Beruhige dich. Wenn du dich vom Zorn leiten lässt, erreichst du gar nichts. Sie brauchte diesen Mann auf ihrer Seite.

»Das wird ein Sattel, richtig?«, fragte sie.

»Ja.«

»Ihr stuft die Nähte ab.«

»Das mache ich immer so«, erwiderte er. »Das hilft zu vermeiden, dass sich Risse ausbreiten. Außerdem finde ich, dass es hübsch aussieht.«

»Ein guter Leinenfaden, nehme ich an? Gewachst? Und nehmt Ihr für diese Löcher ein einfaches Locheisen oder ein Reihenlocheisen? Ich konnte keinen guten Blick daraufwerfen.«

Misstrauisch sah er sie an. »Ihr kennt Euch in Lederarbeiten aus?«

»Durch meinen Onkel. Er brachte mir ein paar Dinge bei. Ließ mich in seiner Werkstatt arbeiten, als ich noch klein war.«

»Vielleicht habe ich ihn ja kennengelernt.«

Sie verstummte. Trotz Androls häufiger Bemerkung, dass sie Unterhaltungen hervorragend steuern konnte, war sie jetzt auf direktem Weg zu einem Thema gestolpert, über das sie nun wirklich nicht reden wollte.

»Nun?«, fragte er. »Wo lebt er?«

»In Kandor.«

»Ihr seid eine Kandori?« Er klang überrascht.

»Natürlich bin ich das. Sieht man mir das nicht an?«

»Und ich dachte immer, ich könnte jeden Akzent erkennen.« Er zog einen Faden fest. »Ich bin dort gewesen. Vielleicht kenne ich Euren Onkel ja.«

»Er ist tot. Ermordet von Schattenfreunden.«

Androl verstummte. »Es tut mir leid.«

»Das ist jetzt über hundert Jahre her. Ich vermisse meine Familie, aber mittlerweile wären sie auch dann tot, wenn sie nicht von Schattenfreunden ermordet worden wären. Jeder, den ich zu Hause kannte, ist tot.«

»Dann tut es mir noch mehr leid. Ehrlich.«

»Es ist eine lange Vergangenheit«, sagte Pevara. »Ich kann mich voller Zuneigung an sie erinnern, ohne dass der Schmerz kommt. Aber was ist mit Eurer Familie? Gibt es Geschwister? Nichten, Neffen?«

»Von allem etwas.«

»Seht Ihr sie oft?«

Er musterte sie. »Ihr wollt mich in eine höfliche Unterhaltung verwickeln, um zu beweisen, dass Ihr Euch in meiner Gegenwart nicht unbehaglich fühlt. Aber ich habe gesehen, wie ihr Aes Sedai Leute wie mich anseht.«

»Ich …«

»Sagt, dass Ihr uns nicht abstoßend findet.«

»Ich finde nicht, dass Ihr das so …«

»Eine direkte Antwort, Pevara.«

»Also gut, schön. Männer, die die Macht lenken, bereiten mir Unbehagen. Ihr lasst meine Haut jucken, am ganzen Körper, und je länger ich hier bin, in eurer Nähe, umso schlimmer wird das.«

Androl nickte zufrieden, dass er ihr dieses Geständnis entrungen hatte.

»Aber ich empfinde so«, fuhr Pevara fort, »weil sich das Jahrzehnte meines Lebens so bei mir eingeprägt hat. Was ihr da tut, ist schrecklich unnatürlich, aber Ihr persönlich widert mich nicht an. Ihr seid bloß ein Mann, der versucht, das Richtige zu tun, und ich bin nun wirklich nicht der Meinung, dass das der Verachtung wert ist. Auf jeden Fall bin ich bereit, meine Hemmungen im Namen des Allgemeinwohls hinter mir zu lassen.«

»Das ist mehr, als ich vermutlich hätte erwarten können.« Er wandte sich wieder dem regennassen Fenster zu. »Der Makel ist entfernt. Das ist nicht länger unnatürlich. Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte Euch das einfach zeigen, Frau.« Er blickte sie scharf an. »Wie macht man einen dieser Zirkel, von denen Ihr gesprochen habt?«

»Nun, das habe ich natürlich noch nie mit einem Machtlenker getan«, sagte Pevara. »Vor unserem Aufbruch hierher habe ich es nachgelesen, aber das meiste war natürlich Hörensagen. So viel Wissen ist verloren gegangen. Ihr greift nach der Quelle, ohne sie aber tatsächlich zu berühren, dann öffnet Ihr Euch mir. So etablieren wir die Verknüpfung.«

»Also gut«, sagte er. »Aber im Moment haltet Ihr die Quelle nicht.«

Es war einfach nicht richtig, dass ein Mann feststellen konnte, ob eine Frau die Eine Macht hielt oder nicht. Pevara umarmte die Quelle und überflutete sich mit dem süßen Nektar Saidars.

Dann griff sie nach Androl, um sich mit ihm wie mit einer Frau zu verknüpfen. So sollte man den Unterlagen zufolge beginnen. Aber es war nicht das Gleiche. Saidin war ein reißender Strom, und es stimmte, was sie gelesen hatte: Sie konnte nichts mit den Strömen anfangen.

»Es funktioniert. Meine Macht fließt in Euch hinein.«

»Ja«, erwiderte Pevara. »Aber wenn sich ein Mann und eine Frau verknüpfen, muss der Mann die Kontrolle übernehmen. Ihr müsst die Führung übernehmen.«

»Wie?«

»Das weiß ich nicht. Ich versuche sie an Euch abzugeben. Ihr müsst die Ströme kontrollieren.«

Er betrachtete sie, und sie bereitete sich darauf vor, ihm die Kontrolle zu übergeben. Stattdessen packte er sie irgendwie. Sie wurde in eine stürmische Verknüpfung gezogen, als würde man sie bei den Haaren packen und reinschleifen.

Die Heftigkeit ließ beinahe ihre Zähne wackeln, es fühlte sich an, als zöge man ihr die Haut ab. Pevara schloss die Augen und zwang sich dazu, sich nicht zu wehren. Schließlich hatte sie das versuchen wollen; es könnte nützlich sein. Aber den Moment tief empfundener Panik konnte sie nicht unterdrücken.

Sie befand sich in einem Zirkel mit einem Mann, der die Macht lenkte, eines der furchterregendsten Dinge, die die Welt je gesehen hatte. Jetzt hatte einer von ihnen die völlige Kontrolle über sie. Ihre Macht durchströmte sie und schlug dann über ihm zusammen, und Androl keuchte auf.

»So viel …«, sagte er. »Licht, Ihr seid stark.«

Sie gestattete sich ein Lächeln. Die Verknüpfung brachte einen Sturm der Wahrnehmung mit sich. Sie lernte Androls Gefühle kennen. Er hatte genauso viel Angst wie sie. Außerdem war er eine massive Präsenz. Sie hatte immer angenommen, dass eine Verknüpfung mit ihm wegen seines Wahnsinns furchtbar sein würde, aber davon konnte sie nichts wahrnehmen.

Aber Saidin … dieses flüssige Feuer, mit dem er rang, als wollte es ihn wie eine Schlange mit Haut und Haaren verschlingen. Sie zog sich zurück. War es verdorben? Sie war sich nicht sicher, es genau feststellen zu können. Saidin war so anders, so fremd. Die fragmentarischen Berichte der ersten Tage beschrieben den Makel als Ölschicht auf einem Fluss. Nun, den Fluss konnte sie sehen – eigentlich war es mehr ein tosender Strom. Anscheinend war Androl ehrlich zu ihr gewesen und wirklich nicht besonders mächtig. Einen Makel vermochte sie nicht zu spüren – andererseits wusste sie natürlich auch nicht, wonach sie Ausschau halten musste.

»Ich frage mich …«, sagte Androl. »Ich frage mich, ob ich mit dieser Macht ein Wegetor öffnen kann.«

»In der Schwarzen Burg funktionieren keine Wegetore mehr.«

»Ich weiß«, erwiderte er. »Aber ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass sie nur einen Fingerbreit außerhalb meiner Reichweite sind.«

Pevara öffnete die Augen und sah ihn an. In dem Zirkel fühlte sie seine Ehrlichkeit, aber ein Wegetor zu erschaffen erforderte viel von der Einen Macht, zumindest wenn es eine Frau tat. Androl würde viel zu schwach für ein derartiges Gewebe sein. War es möglich, dass ein Mann dazu weniger Kraft benötigte?

Er streckte die Hand aus und benutzte irgendwie ihre Macht, die er mit der seinen vermischte. Sie fühlte, wie er durch sie die Eine Macht in sich zog. Sie versuchte die Ruhe zu bewahren, aber es gefiel ihr nicht, dass er die Kontrolle hatte. Sie konnte gar nichts mehr tun!

»Androl«, sagte sie. »Gebt mich frei.«

»Es ist so schön …«, flüsterte er und starrte ins Nichts, als er aufstand. »Fühlt sich das so für die anderen an? Für die, die stark in der Macht sind?«

Er zog mehr von ihrer Macht in sich und benutzte sie. Gegenstände stiegen in die Luft.

»Androl!« Panik. Es war die Panik, die sie nach der Nachricht vom Tod ihrer Eltern verspürt hatte. Seit über hundert Jahren hatte sie nicht mehr solches Entsetzen gefühlt, nicht mehr seit ihrer Prüfung für die Stola.

Er hatte die Kontrolle über ihr Machtlenken. Absolute Kontrolle. Sie fing an, nach Luft zu schnappen, versuchte nach ihm zu greifen. Sie konnte Saidar nicht benutzen, bevor er es nicht wieder für sie freigab – aber er konnte es gegen sie benutzen. Bilder stiegen in ihr auf, wie er ihre eigene Kraft dazu benutzte, um sie mit Luft zu fesseln. Sie konnte die Verknüpfung nicht beenden. Das konnte nur er.

Plötzlich wurde ihm das bewusst, und seine Augen weiteten sich. Der Zirkel verschwand in der Zeit eines Blinzelns, und ihre Macht gehörte wieder ihr. Ohne nachzudenken schlug sie zu. Das würde nicht wieder geschehen. Sie würde die Kontrolle haben. Bevor sie sich überhaupt bewusst war, was sie da tat, schleuderte sie die nötigen Gewebe.

Androl fiel auf die Knie, seine Hand zuckte über den Tisch, während er den Kopf zurückwarf, schleuderte Werkzeuge und Lederstreifen zu Boden. Er keuchte auf. »Was habt Ihr getan?«

»Taim sagte, wir könnten jeden von euch nehmen«, murmelte Pevara, als ihr klar wurde, was sie da getan hatte. Sie hatte ihn mit dem Behüterbund an sich gebunden. In gewisser Weise genau das, was er ihr angetan hatte. Sie versuchte ihr aufgeregt pochendes Herz zu beruhigen. In ihrem Hinterkopf breitete sich die Wahrnehmung seiner Gegenwart aus, genau wie zuvor im Zirkel, aber irgendwie persönlicher. Intimer.

»Taim ist ein Ungeheuer!«, knurrte er. »Das wisst Ihr. Ihr beruft Euch auf sein Wort, um das zu tun, und Ihr tut es ohne meine Erlaubnis?«

»Ich … ich …«

Androl biss die Zähne zusammen, und Pevara spürte etwas. Etwas Fremdes, etwas Seltsames. Als würde sie sich von außen betrachten. Sie fühlte, wie ihre Gefühle endlos zu ihr zurückkreisten.

Scheinbar eine Ewigkeit lang verschmolzen sein und ihr Ich. Sie wusste, wie es war, er zu sein, seine Gedanken zu denken. Sie sah sein ganzes Leben in der Zeit eines Wimpernschlags, wurde von seinen Erinnerungen aufgesogen. Keuchend fiel sie vor ihm auf die Knie.

Es verblich. Nicht völlig, aber es verblich. Es fühlte sich an, als wäre man hundert Längen durch kochendes Wasser geschwommen, um nach dem Heraussteigen vergessen zu haben, wie sich alles sonst anfühlte.

»Beim Licht …«, flüsterte sie. »Was war das?«

Er lag auf dem Rücken. Wann war er gestürzt? Blinzelnd schaute er zur Decke. »Ich habe es ein paar der anderen tun sehen. Einige Asha’man gehen den Bund mit ihren Ehefrauen ein.«

»Ihr habt mich gebunden?«, stieß sie entsetzt hervor.

Stöhnend drehte er sich auf die Seite. »Ihr habt es zuerst mit mir gemacht.«

Erschüttert wurde ihr bewusst, dass sie noch immer seine Gefühle wahrnahm. Sein Ich. Sie bekam sogar etwas von dem mit, was er dachte. Nicht die formulierten Gedanken, aber ein paar Eindrücke davon.

Er war verwirrt, besorgt und … neugierig. Neugierig auf die neue Erfahrung. Dummer Mann!

Sie hatte gehofft, dass sich die beiden Behüterbunde irgendwie gegenseitig aufheben würden. Das hatten sie nicht. »Wir müssen damit aufhören«, sagte sie. »Ich gebe Euch frei. Ich schwöre es. Bloß … gebt mich frei.«

»Ich weiß nicht, wie das geht«, sagte er, stand auf und atmete tief durch. »Es tut mir leid.«

Er sagte die Wahrheit. »Dieser Zirkel war eine dumme Idee«, sagte sie. Er reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie nahm sie nicht an und stand allein auf.

»Ich glaube, das war lange vor mir Eure dumme Idee.«

»Das war es«, gab sie zu. »Nicht unbedingt meine erste, aber es könnte eine meiner schlimmsten sein.« Sie setzte sich. »Wir müssen das durchdenken. Eine Möglichkeit finden, um es …«

Die Werkstatttür knallte auf.

Androl fuhr herum, und Pevara umarmte die Quelle. Androl schnappte sich seine Ahle und hielt sie wie eine Waffe. Außerdem hatte er die Eine Macht ergriffen. Sie konnte die Kraft in ihm spüren – wegen seines mangelnden Talents war sie wie ein kleiner Lavastrom und damit dennoch heiß und brennend. Sie konnte seine Ehrfurcht fühlen. Also empfand er darin genau wie sie. Die Eine Macht zu halten war, als würde man zum allerersten Mal die Augen aufschlagen, als erwachte die Welt zum Leben.

Glücklicherweise wurden weder die Waffe noch die Eine Macht gebraucht. Der junge Evin stand in der Tür, Regenwasser tropfte von seinem Gesicht. Er schloss die Tür und eilte zu Androls Werkbank.

»Androl, es …« Er erstarrte, als er Pevara sah.

»Evin«, sagte Androl. »Ihr seid allein.«

»Ich ließ Nalaam auf dem Posten zurück.« Er atmete schwer. »Es war wichtig!«

»Wir sollen niemals allein sein, Evin«, sagte Androl streng. »Niemals. Immer nur zu zweit. Ganz egal, um was für einen Notfall es sich auch handelt.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Evin. »Es tut mir leid. Es ist nur – die Neuigkeit, Androl.« Er warf Pevara einen Blick zu.

»Sprecht.«

»Welyn und seine Aes Sedai sind zurück.«

Pevara konnte Androls plötzliche Anspannung fühlen. »Ist er … ist er noch einer von uns?«

Evin schüttelte angewidert den Kopf. »Er ist einer von ihnen. Jenare Sedai vermutlich auch. Ich kenne sie nicht gut genug, um das mit Sicherheit sagen zu können. Welyn hingegen … seine Augen gehören nicht länger ihm, und er dient jetzt Taim.«

Androl stöhnte. Welyn war bei Logain gewesen. Sie hatten die Hoffnung gehabt, dass Logain und Welyn noch freie Männer waren, obwohl man Mezar erwischt hatte.

»Logain?«, flüsterte Androl.

»Er ist nicht hier«, erwiderte Evin, »aber Androl, Welyn behauptet, dass Logain bald zurückkehrt – und dass er sich mit Taim getroffen hat und sie ihre Meinungsverschiedenheiten aus der Welt geräumt haben. Welyn verspricht, dass Logain morgen kommt, um es zu beweisen. Androl … das war es. Wir müssen es zugeben. Sie haben ihn.«

Pevara konnte Androls Zustimmung fühlen, genau wie sein Entsetzen. Es entsprach dem ihren.


Aviendha bewegte sich lautlos durch das dunkle Lager.

So viele Gruppen. Auf dem Feld von Merrilor mussten mindestens hunderttausend Menschen versammelt sein. Hunderte von Tausenden Menschen. Und sie alle warteten. Wie ein Atemzug, den man vor einem großen Sprung anhielt.

Die Aiel sahen sie, aber sie ging nicht zu ihnen. Die Feuchtländer bemerkten sie nicht, abgesehen von einem Behüter, der sie entdeckte, als sie das Lager der Aes Sedai am Rand passierte. Dieses Lager war von hektischer Betriebsamkeit erfüllt. Etwas war geschehen, allerdings bekam sie nur Bruchstücke mit. Irgendwo hatten Trollocs angegriffen?

Sie hörte genauer hin und erfuhr, dass der Angriff in Andor stattgefunden hatte, in der Stadt namens Caemlyn. Es gab die Sorge, dass die Trollocs die Stadt verlassen und das Land verheeren würden.

Sie musste mehr erfahren; würden heute Nacht die Speere tanzen? Vielleicht wusste Elayne mehr. Lautlos verließ Aviendha das Lager. Sich in diesem feuchten Land mit seinem üppigen Pflanzenwuchs lautlos zu bewegen stellte eine andere Herausforderung als im Dreifachen Land dar. Der trockene Boden dort war oft staubig, was die Schritte dämpfen konnte. Hier konnten feuchte Grashalme unerwartete trockene Zweige verbergen.

Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, wie tot dieses Gras erschien. Einst hätte sie diese braune Farbe als üppig wuchernd bezeichnet. Jetzt wusste sie, dass die Pflanzen in diesem feuchten Land nicht so welk und ausgehöhlt aussehen sollten.

Ausgehöhlte Pflanzen. Was dachte sie da bloß? Sie schüttelte den Kopf und schlich durch die Schatten aus dem Lager der Aes Sedai. Kurz zog sie in Betracht, zurückzuschleichen und diesen Behüter zu überraschen – er hatte sich in einer moosbedeckten Nische in den Trümmern eines alten Gebäudes versteckt und beobachtete die Lagergrenze –, aber dann verwarf sie die Idee. Sie wollte Elayne finden und sich nach dem Angriff erkundigen.

Sie kam zu einem weiteren betriebsamen Lager, duckte sich unter die blattlosen Äste eines Baumes – seinen Namen kannte sie nicht, aber die Äste erstreckten sich hoch und breit – und schlüpfte über die Grenze. Zwei Feuchtländer in Weiß und Rot standen neben einem Feuer auf »Posten«. Sie entdeckten sie nicht, zuckten aber zusammen und richteten Stangenwaffen auf eine gut dreißig Schritt entfernte Hecke, als dort ein Tier raschelte.

Kopfschüttelnd passierte Aviendha sie.

Weiter. Sie musste weitergehen. Was sollte sie wegen Rand al’Thor unternehmen? Wie sahen seine Pläne für den morgigen Tag aus? Weitere Fragen, die sie Elayne stellen wollte.

Die Aiel brauchten einen Daseinszweck, sobald Rand al’Thor mit ihnen fertig war. Das war deutlich aus ihren Visionen hervorgegangen. Vielleicht sollten sie ins Dreifache Land zurückkehren. Aber … nein. Es zerriss ihr das Herz, aber sie musste zugeben, dass die Aiel in diesem Fall zu ihren Gräbern ziehen würden. Sie würden nicht sofort als Volk untergehen, aber so würde es enden. Die sich verändernde Welt mit neuen Gerätschaften und neuen Kampfmethoden würde die Aiel überholen, und die Seanchaner würden sie nie in Ruhe lassen. Nicht, solange sie Frauen hatten, die die Macht lenken konnten. Nicht mit ihren Heeren voller Speere, die zu jedem Zeitpunkt einfallen konnten.

Eine Patrouille näherte sich. Aviendha schichtete zur Tarnung abgefallenes braunes Unterholz über sich, dann lag sie neben ein paar abgestorbenen Gewächsen und rührte sich nicht. Die Wächter gingen keine zwei Handspannen an ihr vorbei.

Wir könnten die Seanchaner jetzt angreifen, dachte sie. In meiner Vision warteten die Aiel damit viele Generationen – und das gab den Seanchanern die Zeit, ihre Position zu stärken.

Bei den Aiel sprach man bereits über die Seanchaner und die Konfrontation, zu der es unweigerlich kommen musste. Die Seanchaner würden sie erzwingen, flüsterte man. Aber in ihrer Vision waren Generationen vergangen, in denen die Seanchaner eben nicht angegriffen hatten. Warum? Was konnte sie möglicherweise zurückgehalten haben?

Aviendha erhob sich und schlich über den Weg, den die Wächter genommen hatten. Sie zog das Messer und rammte es in den Boden. Sie ließ es dort, direkt neben einer Laterne auf einer Stange, wo es selbst für Feuchtländeraugen deutlich zu sehen sein musste. Dann schlüpfte sie zurück in die Nacht und verbarg sich an der Hinterseite des großen Zeltes, das ihr Ziel war.

Sie duckte sich und machte ihre Atemübungen, beruhigte sich mit dem Rhythmus. Aus dem Zelt drangen gedämpfte nervöse Stimmen. Aviendha gab sich alle Mühe, nicht zu lauschen. Zu lauschen gehörte sich nicht.

Als die Patrouille wieder vorbeikam, richtete sie sich auf. Als die Soldaten aufschrien, weil sie ihren Dolch entdeckt hatten, schob sie sich zur Zeltvorderseite. Die beiden Wächter dort hatten sich den Stimmen der Männer zugewandt, die den Dolch entdeckt hatten. Sie bemerkten Aviendha nicht, als sie die Zeltplane ergriff und hinter ihnen ins Zelt schlüpfte.

Auf der anderen Seite des großen Zeltes saßen ein paar Leute an einem Tisch um eine Lampe herum. Sie waren so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie sie nicht bemerkten, also machte sie es sich auf ein paar Kissen am Boden bequem und wartete ab.

Nicht zuzuhören fiel nun sehr schwer, da sie so nahe war.

»… müssen unsere Streitkräfte zurückschicken!«, bellte ein Mann. »Der Fall der Hauptstadt ist ein Symbol, Euer Majestät. Ein Fanal! Wir können Caemlyn nicht untergehen lassen, denn das würde bedeuten, dass die ganze Nation im Chaos versinkt.«

»Ihr unterschätzt die Stärke des andoranischen Volkes«, sagte Elayne. Sie erschien sehr stark, sehr kontrolliert, ihr rotgoldenes Haar leuchtete praktisch im Lampenschein. Hinter ihr standen mehrere ihrer Militärkommandanten und verliehen dem Treffen Autorität und ein Gefühl von Stabilität. Aviendha sah erfreut das leidenschaftliche Feuer in den Augen ihrer Erstschwester.

»Ich war in der Stadt, Lord Lir«, fuhr Elayne fort. »Und ich ließ eine kleine Streitmacht zurück, die uns warnen soll, falls die Trollocs die Stadt verlassen. Unsere Spione werden mithilfe von Wegetoren durch die Stadt schleichen und herausfinden, wo die Trollocs ihre Gefangenen zusammentreiben, dann können wir Rettungsmissionen unternehmen, falls die Bestien die Stadt auch weiterhin halten.«

»Aber die Stadt selbst!«, beharrte Lord Lir.

»Caemlyn ist verloren, Lir!«, fauchte Lady Dyelin. »Wir wären Narren, würden wir jetzt einen Angriff versuchen.«

Elayne nickte. »Ich habe mich mit den anderen Hohen Herren besprochen, und sie stimmen meiner Einschätzung zu. Im Augenblick sind die entkommenen Flüchtlinge in Sicherheit – ich schickte sie unter Bewachung weiter nach Weißbrücke. Falls es in der Stadt noch Überlebende gibt, versuchen wir, sie mit Wegetoren zu retten, aber ich werde meinen Streitkräften keinen Sturmangriff auf Caemlyns Mauern befehlen.«

»Aber …«

»Die Stadt zurückzuerobern wäre sinnlos«, sagte Elayne hart. »Ich weiß ganz genau, welchen Schaden man bei einem Heer anrichten kann, das diese Mauern angreift! Andor wird nicht wegen des Verlusts einer Stadt zusammenbrechen, ganz egal, welche Bedeutung diese Stadt auch hatte.« Ihr Gesicht war eine Maske, ihre Stimme so kalt wie guter Stahl.

»Irgendwann verlassen die Trollocs die Stadt«, fuhr sie fort. »Sie haben nichts davon, wenn sie sie halten; bestenfalls hungern sie sich selbst aus. Sobald sie abziehen, können wir sie bekämpfen – und auf einem weitaus günstigeren Schlachtfeld. Wenn Ihr es wünscht, Lord Lir, dürft Ihr die Stadt selbst besuchen und Euch davon überzeugen, dass ich die Wahrheit spreche. Der Besuch eines Hohen Herrn wäre gut für die Moral der dort stationierten Soldaten.«

Lir runzelte die Stirn, dann nickte er. »Ich glaube, das werde ich auch tun.«

»Dann erfahrt vorher meine Pläne. Noch vor dem Ende der Nacht schicken wir Späher los, um die zusammengetriebenen Zivilisten zu finden, und Aviendha, was beim verdammten linken Ei einer Ziege tust du da!«

Aviendha schaute von ihren Fingernägeln auf, die sie gerade mit ihrem zweiten Messer reinigte. Das verdammte linke Ei einer Ziege? Der war neu. Elayne kannte stets die besten Flüche.

Die drei Hohen Herren am Tisch sprangen wie gestochen auf, kippten die Stühle um und griffen nach den Schwertern. Elayne blieb mit geweiteten Augen sitzen.

»Es ist eine schlechte Angewohnheit«, gab Aviendha zu und steckte das Messer wieder in den Stiefel. »Meine Nägel sind zu lang, aber ich hätte das nicht in deinem Zelt machen sollen, Elayne. Es tut mir leid. Ich hoffe, das war nicht respektlos.«

»Ich spreche nicht von deinen verfluchten Nägeln«, sagte Elayne. »Wie … wann bist du angekommen? Warum haben dich die Wächter nicht angekündigt?«

»Sie haben mich nicht gesehen«, erwiderte Aviendha. »Ich wollte keine Umstände machen, und Feuchtländer können so empfindlich sein. Ich hatte die Befürchtung, dass sie mich vielleicht abweisen, jetzt, da du die Königin bist.« Die letzten Worte sagte sie mit einem Lächeln. Elayne hatte viel Ehre; unter den Feuchtländern wurde man nicht auf die übliche anständige Weise zum Anführer – hier konnten die Dinge ja so verrückt sein –, aber Elayne hatte sich gut gehalten und ihren Thron verdient. Aviendha hätte nicht stolzer auf eine Speerschwester sein können, die einen Clanhäuptling zum Gai’shain machte.

»Sie haben dich nicht …«, wiederholte Elayne. Plötzlich lächelte sie. »Du bist durch das ganze Lager geschlichen, bis zu meinem Zelt in der Mitte, dann bist du hineingeschlüpft und hast dich keine fünf Schritte von mir entfernt hingesetzt. Und niemand hat dich gesehen.«

»Ich wollte keine Umstände machen.«

»Du hast eine merkwürdige Art, keine Umstände zu machen.«

Elaynes Gefährten reagierten nicht so ruhig. Einer der drei, der junge Lord Perival, schaute sich besorgt um, als suchte er nach weiteren Eindringlingen.

»Meine Königin«, sagte Lir. »Diese Vernachlässigung des Wachdiensts muss bestraft werden! Ich werde die Männer finden, die ihre Pflicht so schlampig erledigten, und dafür sorgen, dass man sie …«

»Frieden«, sagte Elayne. »Ich spreche schon mit meinen Wächtern und gebe ihnen zu verstehen, dass sie ihre Augen ein kleines bisschen besser offen halten sollen. Trotzdem ist es eine alberne Vorsichtsmaßnahme, die Vorderseite eines Zeltes zu bewachen, wenn sich jemand hinten einfach einen Weg hineinschneiden kann. Das war es immer schon.«

»Und ein gutes Zelt ruinieren?«, sagte Aviendha und verzog den Mund. »Nur, wenn wir in Blutfehde lebten, Elayne.«

Elayne stand auf. »Lord Lir, Ihr dürft Euch die Stadt ansehen – mit ordentlichem Abstand –, wenn Ihr wünscht. Falls ihn jemand begleiten möchte, dann dürft ihr das. Dyelin, ich sehe Euch morgen früh.«

»Gut«, sagten die Lords nacheinander, dann verließen sie das Zelt. Dabei warfen sie Aviendha misstrauische Blicke zu. Dyelin schüttelte bloß den Kopf, bevor sie ihnen folgte, und Elayne schickte ihre Kommandanten los, um die Erkundung der Stadt vorzubereiten. Damit blieben nur noch Elayne und Aviendha im Zelt übrig.

»Beim Licht, Aviendha«, sagte Elayne und umarmte sie, »wenn die Leute, die mich tot sehen wollen, nur die Hälfte deiner Fähigkeiten hätten …«

»Habe ich etwas Falsches getan?«, fragte Aviendha.

»Abgesehen davon, sich wie ein Meuchelmörder in mein Zelt zu schleichen?«

»Aber du bist meine Erstschwester …«, erwiderte Aviendha. »Hätte ich fragen sollen? Aber wir sind nicht unter einem Dach. Oder … betrachten Feuchtländer ein Zelt als Dach, wie in einer Festung? Es tut mir leid, Elayne. Habe ich Toh? Ihr seid ein so unberechenbares Volk, es ist schwer zu sagen, was euch beleidigt und was nicht.«

Elayne lachte. »Aviendha, du bist ein Juwel. Ein absolutes Juwel. Licht, es tut gut, dich zu sehen. Heute Nacht brauchte ich eine Freundin.«

»Caemlyn ist gefallen?«

»Fast.« Elaynes Miene verdüsterte sich. »Es war dieses verfluchte Tor zu den Kurzen Wegen. Ich hielt es für sicher – ich habe alles getan, außer es zuzumauern, hatte fünfzig Wächter vor der Tür aufgestellt und die Avendesora-Blätter abnehmen und beide draußen aufbewahren lassen.«

»Dann hat sie jemand in Caemlyn reingelassen.«

»Schattenfreunde«, sagte Elayne. »Ein Dutzend Angehörige der Garde – glücklicherweise überlebte ein Mann ihren Verrat und konnte entkommen. Licht, ich weiß nicht, warum mich das überraschen sollte. Wenn sie in der Weißen Burg sind, dann sind sie auch in Andor. Aber das waren Männer, die Gaebril nicht unterstützten und loyal erschienen. Sie haben die ganze Zeit abgewartet, nur um uns jetzt zu verraten.«

Aviendha verzog das Gesicht, nahm dann aber einen Stuhl, um sich zu Elayne an den Tisch zu setzen, statt es sich auf dem Boden bequem zu machen. Ihre Erstschwester saß lieber so. Ihr Leib war mit den Kindern angeschwollen, die sie austrug.

»Ich schickte Birgitte mit den Soldaten zur Stadt, um zu sehen, was man machen kann«, sagte Elayne. »Aber wir haben getan, was in dieser Nacht möglich war, die Stadt wird beobachtet und die Flüchtlinge sind versorgt. Licht, ich wünschte, ich könnte mehr tun. Das Schlimmste auf dem Thron sind nicht die Dinge, die man tun muss, sondern die Dinge, die einem verwehrt bleiben.«

»Wir tragen den Kampf bald zu ihnen.«

»Das werden wir«, sagte Elayne mit wildem Blick. »Ich bringe ihnen Feuer und Zorn, sie werden für das Leid bezahlen, das sie meinem Volk angetan haben.«

»Ich habe gehört, dass du diesen Männern sagtest, sie sollten die Stadt nicht angreifen.«

»Nein. Ich werde dem Feind nicht die Befriedigung geben, meine eigenen Stadtmauern gegen mich einzusetzen. Ich habe Birgitte einen Befehl gegeben – irgendwann werden die Trollocs Caemlyn verlassen, das steht fest. Birgitte wird eine Möglichkeit finden, das zu beschleunigen, damit wir sie außerhalb der Stadt bekämpfen können.«

»Lass nicht den Feind dein Schlachtfeld bestimmen«, sagte Aviendha mit einem Nicken. »Eine gute Strategie. Und … Rands Zusammenkunft?«

»Ich nehme daran teil«, sagte Elayne. »Ich muss es tun, also wird es auch geschehen. Er täte besser daran, auf sein Zaudern und seine Großspurigkeit zu verzichten. Meine Untertanen sterben, meine Stadt brennt, die Welt steht zwei Schritte vor dem Abgrund. Ich werde bis zum Nachmittag bleiben; danach kehre ich nach Andor zurück.« Sie zögerte. »Begleitest du mich?«

»Elayne …«, sagte Aviendha. »Ich kann mein Volk nicht verlassen. Ich bin jetzt eine Weise Frau.«

»Du warst in Rhuidean?«

»Ja«, antwortete Aviendha. Obwohl es sie schmerzte, Geheimnisse vor ihrer Erstschwester zu haben, erzählte sie nichts von den Visionen, die sie dort erlebt hatte.

»Ausgezeichnet. Ich …«, setzte Elayne an, wurde aber unterbrochen.

»Meine Königin?«, rief der Wächter am Eingang. »Ein Bote für Euch.«

»Lasst ihn herein.«

Der Wächter zog die Plane für eine junge Gardistin mit dem Botenband am Mantel zurück. Sie machte eine ausführliche Verbeugung, riss mit der einen Hand den Hut vom Kopf, während sie mit der anderen einen Brief ausstreckte.

Elayne nahm den Brief entgegen, öffnete ihn aber nicht. Die Botin ging wieder.

»Vielleicht können wir doch zusammen kämpfen«, meinte Elayne. »Wenn ich meinen Willen durchsetzen kann, werde ich die Aiel an meiner Seite haben, wenn ich mir Andor zurückhole. Die Trollocs stellen in Caemlyn eine ernste Bedrohung für uns alle dar; selbst wenn ich ihre Hauptstreitmacht aus der Stadt locken kann, kann der Schatten sein Gezücht auch weiterhin durch die Kurzen Wege nach Andor schicken.

Während meine Heere also den größten Teil der Bestien außerhalb von Caemlyn bekämpfen – irgendwie muss ich die Stadt für das Schattengezücht unbewohnbar machen –, schicke ich eine kleinere Streitmacht durch Wegetore hinein, um den Eingang zu den Kurzen Wegen zu erobern. Wenn ich dafür die Hilfe der Aiel erringen könnte …«

Während sie sprach, umarmte sie die Quelle – Aviendha konnte das Glühen sehen – und schlitzte gedankenverloren den Brief auf, brach sein Siegel mit einem Strang Luft.

Aviendha hob eine Braue.

»Es tut mir leid«, sagte Elayne, »ich habe den Punkt meiner Schwangerschaft erreicht, wo ich wieder verlässlich Macht lenken kann, und ich finde immer einen Vorwand, um …«

»Bring die Kinder nicht in Gefahr«, sagte Aviendha.

»Ich bringe sie schon nicht in Gefahr. Du bist genauso schlimm wie Birgitte. Wenigstens hat hier keiner Ziegenmilch. Min sagt …« Sie verstummte und las den Brief. Ihre Miene verfinsterte sich, und Aviendha bereitete sich auf eine schlechte Nachricht vor.

»Ach, dieser Mann …«, stieß Elayne hervor.

»Rand?«

»Eines Tages erwürge ich ihn.«

Aviendha reckte das Kinn. »Wenn er dich beleidigt hat …«

Elayne fuchtelte mit dem Brief herum. »Er besteht darauf, dass ich nach Caemlyn zurückkehre, um mich um mein Volk zu kümmern. Er nennt ein Dutzend Gründe und geht so weit, mich ›von meiner Verpflichtung‹ zu befreien, mich morgen mit ihm zu treffen.«

»Er sollte bei dir auf nichts bestehen.«

»Vor allem nicht mit solchem Nachdruck«, sagte Elayne. »Beim Licht, das ist schlau. Offensichtlich will er mich mit allen Mitteln dazu bringen, zu bleiben. Das hat einen Hauch von Daes Demar

Aviendha zögerte. »Du scheinst stolz zu sein. Aber ich habe den Eindruck, dass dieser Brief nur einen Schritt von einer Beleidigung entfernt ist.«

»Ich bin stolz«, erwiderte Elayne. »Und wütend auf ihn. Aber stolz, weil er weiß, wie er mich auf diese Weise wütend machen kann. Licht! Wir werden doch noch einen König aus dir machen, Rand. Warum ist es ihm so schrecklich wichtig, dass ich an der Zusammenkunft teilnehme? Glaubt er, dass ich bloß wegen meiner Zuneigung zu ihm seine Seite unterstütze?«

»Also kennst du seinen Plan noch nicht?«

»Nein. Offensichtlich schließt er sämtliche Herrscher mit ein. Aber ich nehme daran teil, auch wenn ich dann vermutlich heute Nacht keinen Schlaf bekomme. In etwa einer Stunde treffe ich mich mit Birgitte und meinen anderen Befehlshabern, um die Pläne zu besprechen, wie wir die Trollocs herauslocken und dann vernichten.« Noch immer brannte ein Feuer in ihren Augen. Elayne war eine Kriegerin, so wahrhaftig, wie Aviendha noch keine begegnet war.

»Ich muss zu ihm«, sagte sie.

»Heute Nacht?«

»Heute Nacht. Bald beginnt die Letzte Schlacht.«

»Soweit es mich betrifft, fing sie in dem Augenblick an, in dem die verdammten Trollocs ihren Fuß nach Caemlyn setzten«, sagte Elayne. »Möge das Licht uns beistehen. Sie ist da.«

»Dann kommt der Tag des großen Sterbens«, sagte Aviendha. »Viele von uns werden bald aus diesem Traum erwachen. Möglicherweise gibt es keine Nacht mehr für Rand und mich. Ich habe dich auch besucht, um dich danach zu fragen.«

»Du hast meinen Segen«, erwiderte Elayne leise. »Du bist meine Erstschwester. Hast du Zeit mit Min verbracht?«

»Nicht genug, und unter anderen Umständen würde ich das sofort ungeschehen machen. Aber dazu ist keine Zeit.«

Elayne nickte.

»Ich glaube, sie fühlt sich besser, was mich betrifft«, sagte Aviendha. »Sie erwies mir eine große Ehre, indem sie mir verstehen half, wie der letzte Schritt aussieht, um eine Weise Frau zu werden. Es könnte angebracht sein, einige Bräuche etwas zu lockern. Unter diesen Umständen haben wir viel erreicht. Falls Zeit ist, würde ich gern in deiner Anwesenheit mit ihr sprechen.«

Elayne nickte. »Zwischen den Besprechungen kann ich mir einen Moment freinehmen. Ich lasse nach ihr schicken.«

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