XIII

Wieder in Zimmer 203, dem Polizeilabor für psychologische Tests, hörte Fred ohne großes Interesse zu, wie die beiden Psychologen versuchten, ihm seine Testergebnisse zu erläutern.

»Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß bei Ihnen keine gewöhnlichen Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, sondern etwas, das wir eher als ein ›Konkurrenz-Phänomen‹ bezeichnen möchten. Setzen Sie sich.«

»Okay«, sagte Fred stoisch und setzte sich.

»Konkurrenz«, sagte der andere Psychologe, »zwischen der linken und der rechten Hemisphäre Ihres Gehirns. Das Problem liegt nicht so sehr darin begründet, daß ein einzelnes Signal unzulänglich oder, wenn man es einmal so ausdrücken will, verseucht wäre; uns scheint es vielmehr, als würden sich ständig zwei Signale in die Quere kommen, miteinander interferieren, weil sie einander widersprechende Informationen tragen.«

»Normalerweise«, erläuterte der andere Psychologe, »benutzt jeder Mensch die linke Hemisphäre. Das Ego, das Ich-Bewußtsein, hat dort seinen Sitz. Sie ist dominant, weil in eben dieser linken Hemisphäre auch stets das Sprachzentrum lokalisiert ist; oder, um es präziser auszudrücken: Die Zweigeteiltheit des Gehirns manifestiert sich vor allem darin, daß die Sprachfähigkeit – beziehungsweise das Potential für den Spracherwerb – in der linken und die räumlichen Fähigkeiten in der rechten Hälfte verortet sind. Die linke Hemisphäre kann mit einem Digitalcomputer verglichen werden, die rechte mit einem Analogcomputer. Daher führt die bilaterale Funktionsweise des Gehirns nicht zu einer einfachen Verdopplung; beide Perzeptionssysteme registrieren und verarbeiten die hereinkommenden Daten auf unterschiedliche Weise. Bei Ihnen jedoch ist keine der beiden Hemisphären dominant; sie ergänzen einander nicht, kompensieren nicht die funktionalen Defizite der jeweils anderen Hemisphäre. Die eine Hälfte gibt Ihnen eine Information, die andere Hälfte eine andere.«

»Das ist ungefähr so, als hätten Sie in Ihrem Wagen zwei Tankanzeiger«, sagte der andere Mann, »und einer davon würde anzeigen, daß der Tank voll ist, wohingegen der andere auf ›leer‹ steht. Beide Anzeigen können nicht gleichzeitig zutreffen. Die Informationen liegen im Widerstreit miteinander. Aber es ist – in Ihrem Fall – nicht so, daß einer der Tankanzeiger funktioniert und der andere nicht; vielmehr … Also noch mal anders rum. Beide Tankanzeiger überwachen genau die gleiche Menge Benzin: das gleiche Benzin, den gleichen Tank. Sie testen sozusagen das gleiche Ding. Sie als Fahrer haben nur eine indirekte Beziehung zum Benzintank, nämlich vermittelt über die Benzinuhr, oder, in Ihrem Fall, die Benzinuhren. Tatsächlich könnte der Tank sogar völlig leer sein, und Sie würden nichts davon wissen, bis eine Anzeige auf dem Armaturenbrett es Ihnen mitteilt oder der Wagen schließlich stehenbleibt. Es sollte nie zwei Benzinuhren geben, die einander widersprechende Informationen liefern, denn sobald dieser Fall eintritt, können Sie überhaupt kein Wissen mehr über den Zustand erlangen, auf den sich diese Informationen beziehen. Das ist nicht dasselbe, als hätten Sie zwei Benzinuhren, eine reguläre und eine als Reserve, und die Reserveuhr immer dann einspringt, wenn die reguläre ausfällt.«

Fred sagte: »Und was bedeutet das Ganze also?«

»Ich bin mir sicher, daß Sie das schon wissen«, sagte der Psychologe zur Linken. »Sie haben es am eigenen Leibe erfahren, ohne zu begreifen, woran es lag und was es war.«

»Die beiden Hemisphären meines Gehirns konkurrieren miteinander?« sagte Fred.

»Ja.«

»Warum?«

»Substanz T. In funktioneller Hinsicht bewirkt sie das oft. Das war es, was wir erwartet hatten; das war es, was der Test uns bestätigt hat. Die für gewöhnlich dominante linke Hemisphäre ist geschädigt, und die rechte Hemisphäre versucht fortwährend, die durch diese Schädigung bedingten Ausfälle zu kompensieren. Aber die nun paarweise auftretenden Gehirnfunktionen verschmelzen nicht zu einem einheitlichen Ganzen, weil dieser Zustand abnorm ist, da der Körper für so etwas nicht ausgelegt ist. So etwas könnte normalerweise nie eintreten. Wir nennen das Überkreuz-Überlagerungen. Ein mit dem Spaltungsirresein verwandtes Phänomen. Wir könnten natürlich eine rechtsseitige Hemisphärektomie durchführen, aber –«

»Wird das wieder weggehen«, unterbrach ihn Fred, »wenn ich von Substanz T runterkomme?«

»Möglicherweise«, sagte der Psychologe zur Linken nickend. »Es ist eine funktionale Störung.«

Der andere Mann sagte: »Es könnte auch eine organische Schädigung sein. Es könnte irreversibel sein. Das wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen, und zwar erst dann, wenn Sie schon lange von Substanz T runter sind. Und zwar vollständig.«

»Was?« sagte Fred. Er verstand die Antwort nicht – lautete sie ja oder nein? War er für immer geschädigt oder nicht? Was hatten sie denn nun eigentlich gesagt?

»Und selbst wenn es ein Schaden am Gehirngewebe ist«, sagte einer der Psychologen, »sollten Sie die Hoffnung nicht aufgeben. Derzeit laufen Experimente zur operativen Entfernung kleiner Gewebeabschnitte aus beiden Hemisphären, um so konkurrierende Verarbeitungsprozesse im Bereich der Gestaltwahrnehmung nach­haltig abzustellen. Es wird allgemein angenommen, daß dadurch vielleicht die ursprüngliche Hemisphäre ihre Dominanz wieder zurückerlangen könnte.«

»Das Problem dabei ist jedoch, daß das jeweilige Individuum für den Rest seines Lebens vielleicht nur noch partielle Eindrücke – einlaufende Sinnesdaten – empfangen mag. Statt zweier Signale bekommt es ein halbes Signal. Was meiner Ansicht nach ebenso schädlich ist.«

»Ja, aber partielle, nichtkonkurrierende Funktionen sind immer noch besser als gar keine Funktionen, weil paarweise auftretende, konkurrierende Überkreuz-Über­lagerungen sich am Ende immer zu einer Null-Aufnahme auf summieren.«

»Sehen Sie mal, Fred«, sagte der andere Mann, »Sie können nicht länger –«

»Ich werde nie wieder Substanz T einpfeifen«, sagte Fred. »In meinem ganzen Leben nicht mehr.«

»Wieviel schlucken Sie jetzt?«

»Nicht viel.« Nach Pause sagte er: »In letzter Zeit mehr. Wegen dem Streß bei meinem Job. «

»Man sollte Sie auf jeden Fall von Ihren Aufgaben entbinden«, sagte der Psychologe. »Sie ganz freistellen. Sie sind geschädigt, Fred. Und Sie werden das noch für eine ganze Zeit sein. Allermindestens. Was danach sein wird, kann jetzt noch niemand mit Sicherheit wissen. Vielleicht werden Sie wieder ein volles Comeback machen; vielleicht aber auch nicht.«

»Und wie kommt es«, knirschte Fred, »daß die beiden Hemisphären meines Gehirns, selbst wenn sie beide zugleich dominant sein mögen, nicht dieselben Reize empfangen? Warum können ihre beiden Dingsbumse nicht synchronisiert werden, wie etwa die beiden Kanäle beim Stereoempfänger?«

Schweigen.

»Ich meine«, sagte er gestikulierend, »die linke Hand und die rechte Hand – wenn die ein Objekt ergreifen, dasselbe Objekt, dann müßten –«

»Linksseitigkeit versus Rechtsseitigkeit und ihre Bedeutung, zum Beispiel, sagen wir mal, hinsichtlich eines Spiegelbildes – in dem die linke Hand zur rechten Hand ›wird‹…« Der Psychologe beugte sich über Fred, der nicht aufschaute. »Wie würden Sie einen linken Handschuh im Gegensatz zu einem rechten Handschuh definieren, so daß jemand, der nichts über diese Begriffe weiß, Ihnen sagen könnte, welchen Sie meinen? Und nicht den anderen erwischt? Das spiegelbildliche Gegenstück?«

»Ein linker Handschuh«, sagte Fred und hielt inne.

»Es ist, ab nähme eine Hemisphäre Ihres Gehirns die Wirklichkeit so wahr, als werde sie von einem Spiegel widergespiegelt. Wie durch einen Spiegel hindurch. Verstehen Sie? Und darum wird links zu rechts, mit allen Implikationen, die sich daraus ergeben. Und wir wissen bisher noch nicht, was für Implikationen es mit sich bringt, wenn man die Welt auf diese Weise verkehrt sieht. Topologisch gesprochen ist ein linker Handschuh ein rechter Handschuh, der durch die Unendlichkeit gezogen wurde.«

»Durch einen Spiegel hindurch«, sagte Fred. Ein dunkler Spiegel, dachte er; ein dunkler Schirm. Und der heilige Paulus hatte, wenn er von einem Spiegel sprach, nicht einen Glasspiegel – die hatte es damals noch gar nicht gegeben – gemeint, sondern das Abbild seiner selbst, das er sah, wenn er auf den polierten Boden einer metallenen Pfanne schaute. Das hatte Luckman ihm bei einer seiner theologischen Vorlesungen erzählt. Kein Blick durch ein Teleskop oder Linsensystem, wo ja keine Umkehrung stattfindet, kein Blick durch irgend etwas, sondern nur der Anblick seines eigenen Gesichts, zu ihm zurückgespiegelt, und zwar verkehrt – durch die Unendlichkeit gezogen. Wie sie es mir die ganze Zeit begreiflich machen wollten. Nicht durch ein Glas hindurch, sondern wie von einem Glas zurückgespiegelt. Und diese Widerspiegelung, die auf dich zurückfällt: das bist du, das ist dein Gesicht, aber zugleich auch wieder nicht. Und sie hatten in jenen alten Zeiten noch keine Kameras, und darum ist das die einzige Art, in der jemand sich selber sehen konnte: rückwärts.

Ich habe mich selbst rückwärts gesehen.

Ich habe in gewisser Hinsicht damit angefangen, das gesamte Universum rückwärts zu sehen. Mit der anderen Seite meines Gehirns!

»Topologie«, sagte einer der Psychologen gerade. »Eine bisher nur unzulänglich verstandene Wissenschaft oder mathematische Theorie, wie auch immer man das bezeichnen will. Genau wie die Schwarzen Löcher im Weltall, wie –«

»Fred sieht die Welt von innen heraus«, erklärte der andere Mann gerade im selben Augenblick. »Von vorne und von hinten zugleich, vermute ich. Es dürfte uns schwerfallen, zu sagen, wie sie ihm daher erscheint. Die Topologie ist der Zweig der Mathematik, der jene Eigenschaften einer geometrischen oder andersgearteten Konfiguration untersucht, die unverändert bleiben, wenn das Objekt einer isomorphen, ja jeder denkbaren isomorphen, kontinuierlichen Transformation unterworfen wird. Aber angewandt auf die Psychologie …«

»Und wenn Objekte eine solche Transformation durchmachen – wer weiß, wie sie dann hinterher aussehen würden? Sie würden prinzipiell unerkennbar sein. Um ein Analogiebeispiel zu wählen: Wenn ein primitiver Eingeborener zum ersten Mal eine Fotografie von sich sieht, dann erkennt er nicht, daß er das selbst ist. Und das, obwohl er doch schon viele Male sein Spiegelbild gesehen hat, in Flüssen oder auf der Oberfläche metallener Gegenstände. Weil sein Spiegelbild nämlich seitenverkehrt ist und die Fotografie nicht. Darum weiß er nicht, daß es dieselbe Person ist.«

»Er ist nur das seitenverkehrte, zurückgespiegelte Abbild gewohnt und denkt, er sehe so aus.«

»Es kommt auch oft vor, daß eine Person, die ihre eigene Stimme vom Tonband hört –«

»Das ist etwas ganz anderes. Das hat etwas zu tun mit der Resonanz im Sinus –«

»Vielleicht seid ihr Scheißkerle es«, sagte Fred, »die das Universum verkehrt sehen, wie in einem Spiegel. Vielleicht sehe ich es richtig.«

»Sie sehen es auf beide Arten. «

»Und welches ist nun –«

Ein Psychologe sagte: »Früher wurde bisweilen die Ansicht vertreten, daß man nur ›Abspiegelungen‹ der Wirklichkeit sehe. Nicht die Wirklichkeit selbst. Der grundlegende Fehler einer solchen Abspiegelung ist nicht, daß sie nicht wirklich ist, sondern daß sie umgekehrt ist. Ich frage mich …« In seiner Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit. »Parität. Das wissenschaftliche Prinzip der Gleichgewichtigkeit. Universum und abgespiegeltes Bild, und aus irgendeinem Grunde halten wir das letztere für das erstere … weil es uns an bilateraler Parität mangelt.«

»Wohingegen eine Fotografie das Fehlen der bilateralen hemisphärischen Parität kompensieren kann; sie ist nicht das Ding, aber sie ist auch nicht verkehrt, so daß fotografische Bilder gar keine bloßen Abbilder mehr wären, sondern das Ding selbst in ihnen aufgehoben sein müßte. Durch eine Umkehrung der Umkehrung.«

»Aber ein Foto kann auch durch einen unglücklichen Zufall umgekehrt werden, nämlich wenn man das Negativ falsch herum einlegt und seitenverkehrt belichtet; man kann das normalerweise nur erkennen, wenn Schrift auf dem Bild ist. Aber nicht am Gesicht eines Menschen. Man könnte zwei Kontaktabzüge von einem beliebigen Menschen haben, einen seitenverkehrten und einen korrekten. Jemand, der diesem Menschen nie persönlich begegnet wäre, könnte nicht feststellen, welches das richtige Bild wäre, aber er könnte sehen, daß sie sich voneinander unterscheiden und nicht zur Deckung gebracht werden können.«

»Merken Sie jetzt, Fred, wie vielschichtig das Problem ist, den Unterschied zwischen einem linken Handschuh und –«

»Und alsbald wird sich das Wort erfüllen, das da geschrieben steht«, sagte eine Stimme. »Der Tod wird aufgezehrt. Im Sieg.« Vielleicht konnte nur Fred diese Worte vernehmen. »Denn«, sagte die Stimme, »sobald die Schrift rückwärts erscheint, wirst du wissen, was Illusion ist und was nicht. Die Verwirrung endet, und der Tod, der letzte Feind, Substanz Tod, wird nicht hinuntergeschluckt, sondern au/gezehrt – im Sieg. Siehe, ich verkünde dir nun das heilige Geheimnis: Wir werden nicht alle im Tode ruhen.«

Das Geheimnis, dachte er, er meint die Offenbarung. Eines Geheimnisses. Eines geheiligten Geheimnisses. Wir werden nicht sterben.

Die Spiegelbilder werden erlöschen

Und das wird rasch geschehen.

Wir werden alle verwandelt sein, und damit meint er: plötzlich wieder umgekehrt, auf rechte Weise. In einem Augenblick!

Weil, dachte er düster, während er zuschaute, wie die Polizeipsychologen ihre Schlußfolgerungen schriftlich fixierten und die Berichtbögen abzeichneten, wir jetzt verkehrt sind. Ganz beschissen nach rückwärts gekehrt, nehme ich an, jeder einzelne von uns, jedermann und jedes verdammte Ding, und auch die Abstände zwischen uns und sogar die Zeit. Aber wie lange, dachte er, dauert es wohl, wenn ein Abzug gemacht wird, ein Kontaktabzug, und der Fotograf entdeckt, daß er das Negativ falsch eingelegt hat, wie lange dauert es da wohl, es wieder zu wenden? Es wieder umzukehren, so daß es wieder so ist, wie es eigentlich sein sollte?

Den Bruchteil einer Sekunde.

Jetzt begreife ich, dachte er, was jene Bibelstelle bedeutet: Durch ein dunkles Glas. Aber trotzdem ist mein perzeptives System so im Arsch wie eh und je. Wie sie es mir erklärt haben. Ich begreife, aber ich bin hilflos – kann mir nicht selber helfen.

Da ich beide Formen auf einmal sehe, dachte er, die, die der Norm entspricht, und die, die ihr nicht entspricht, bin ich vielleicht der erste Mensch in der Geschichte, für den beides völlig gleichwertig ist und der so einen flüchtigen Blick von dem erhascht, wie es sein wird, wenn alles richtig ist. Obwohl ich auch das andere wahrnehme, das Gewöhnliche. Und was davon ist was?

Was ist verkehrt, und was nicht?

Wann sehe ich eine Fotografie, wann ein Spiegelbild?

Und wie hoch ist wohl mein Krankengeld oder mein Ruhestandsgehalt oder meine Invalidenrente, während die mich trockenlegen? fragte er sich, und schon jetzt spürte er ein ungeheures Entsetzen, eine alles durchdringende Furcht und Kälte. Wie kalt ist es in diesem unterirdischen Gewölbe! Das ist natürlich, es ist ja tief.[10] Und ich muß von dem Dreck loskommen. Auf Entzug gehen. Ich habe gesehen, wie andere Leute das durchgemacht haben. Herr im Himmel, dachte er und schloß die Augen.

»Es mag wie Metaphysik klingen«, sagte einer von ihnen gerade, »aber die Leute bei den Mathematikern sagen, daß wir so dicht vor der Grenze einer neuen Kosmologie stehen könnten, daß –«

Der andere sagte erregt: »Die Unendlichkeit der Zeit, die als Ewigkeit ausgedrückt wird – als eine Schleife. Genau wie eine Endlosschleife auf einer Tonbandcassette!«


*


Er mußte noch eine Stunde rumbringen, bis er wieder in Hanks Büro erwartet wurde, um sich Barris’ Beweise anzuhören und sie zu überprüfen.

Die Cafeteria des Gebäudes zog ihn irgendwie an, und so ging er in diese Richtung, Teil eines ununterbrochenen Stromes von Menschen in Uniform und Menschen in Jedermann-Anzügen und Menschen in Schlips und Kragen.

In der Zwischenzeit wurden die Befunde der Psychologen vermutlich gerade zu Hank hochgebracht. Sie würden dort vorliegen, wenn er hinkam.

Wenigstens gibt mir diese Frist Zeit zum Nachdenken, überlegte er, als er in die Cafeteria schlenderte und sich in die Schlange der Wartenden einreihte. Zeit. Angenommen, dachte er, die Zeit ist rund, wie die Erde. Du segelst nach Westen, um Indien zu erreichen. Alle lachen dich aus, aber am Ende liegt Indien da vor dir, nicht hinter dir. In der Zeit – vielleicht liegt die Kreuzigung vor uns, während wir dahinsegeln und glauben, sie liege hinter uns im Osten. Vor ihm eine Sekretärin. Enger blauer Sweater, kein BH, fast kein Rock. Es war ein angenehmes Gefühl, sie mit Blicken auszuziehen; er starrte und starrte, und schließlich bemerkte sie ihn und rückte unbehaglich mit ihrem Tablett ein paar Schritte weiter vor.

Die Menschwerdung und die Wiederkunft Christi – ein und dasselbe Ereignis, dachte er; Zeit eine Endlosschleife auf einer Tonbandcassette. Kein Wunder, daß sie sich so sicher waren, daß es geschehen würde. Er würde zurückkommen.

Er betrachtete das Hinterteil der Sekretärin, aber dann fiel ihm ein daß sie ihn ihrerseits unmöglich so erkennen konnte, wie er sie erkannte, denn in seinem Anzug hatte er kein Gesicht und keinen Arsch. Aber sie spürt, daß ich sie im Visier habe, entschied er. Jede Puppe mit solchen Beinen würde das sehr deutlich spüren – bei jedem Mann.

Weißt du, dachte er, in diesem Jedermann-Anzug könnte ich ihr eins über den Kopf geben und sie bis in alle Ewigkeit bumsen, und wer würde je erfahren, wer es getan hat? Wie könnte sie mich überhaupt identifizieren?

Was für Verbrechen man in diesen Anzügen begehen könnte! philosophierte er. Aber nicht nur richtige Ver­brechen, sondern auch läßlichere Sünden – Sachen eben, die man sonst nie tat; immer tun wollte, aber nie tat.

»Miß« sagte er zu dem Mädchen mit dem engen blauen Sweater, »Sie haben aber verdammt hübsche Beine. Aber ich vermute, das wissen Sie längst, oder Sie würden nicht so einen Mikrorock wie den da tragen.«

Das Mädchen schnappte nach Luft. »Eh«, sagte sie. »Oh, jetzt weiß ich, wer Sie sind.«

»Wirklich?« sagte er überrascht.

»Pete Wickam«, sagte das Mädchen.

»Was?« sagte er.

»Sind Sie nicht Pete Wickam? Sie sitzen mir immer bei Tisch gegenüber – Sie sind’s doch, Pete?«

»Bin ich der Typ«, sagte er, »der immer dasitzt und Ihre Beine mustert und eine Menge über Sie-wissen-schon-was nachgrübelt?«

Sie nickte.

»Habe ich eine Chance?« sagte er.

»Nun, kommt ganz drauf an.«

»Darf ich Sie demnächst mal abends zum Essen einladen?«

»Vielleicht.«

»Kann ich Ihre Telefonnummer haben? Damit ich Sie anrufen kann?«

Das Mädchen murmelte: »Geben Sie mir lieber Ihre.«

»Ich werde Sie Ihnen geben«, sagte er, »wenn Sie sich jetzt zu mir hersetzen und mit mir essen. Was immer Sie haben möchten.«

»Nein, da drüben sitzt eine Freundin von mir – sie wartet auf mich.«

»Dann könnte ich mich doch zu Ihnen setzen, zu Ihnen beiden.«

»Wir wollen was Persönliches besprechen.«

»Okay«, sagte er.

»Tja, dann bis demnächst mal, Pete.« Sie ließ ihn stehen und trat mit ihrem Tablett, auf dem Besteck und eine Serviette lagen, zur Essensausgabe.

Er holte sich einen Kaffee und ein Sandwich, suchte sich einen freien Tisch und setzte sich alleine hin. Ließ kleine Brocken von dem Sandwich in den Kaffee fallen. Starrte darauf.

Sie werden mich von Arctor abziehen, entschied er. Verdammte Scheiße. Ich werde in Syanon oder im Neuen Pfad oder in einem anderen dieser Heime sitzen und auf Entzug sein, und sie werden jemand anders damit beauftragen, ihn zu beobachten und die Erkenntnisse über ihn auszuwerten. Irgendein Arschloch, das einen Scheißdreck über Arctor weiß. Sie werden noch einmal ganz von vorne anfangen müssen.

Wenigstens können sie mich Barris’ Beweise begutachten lassen, dachte er. Mich erst in den zeitweiligen Ruhestand versetzen, nachdem wir das Zeug durchgecheckt haben, was immer es auch ist.

Wenn ich sie wirklich mal bumsen würde, und wie würde schwanger, grübelte er. Die Babys – keine Gesichter. Nur vage Flecken. Er schauderte.

Ich weiß, daß man mir den Fall entziehen muß. Aber warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Wenn ich nur noch ein paar Dinge tun könnte … Barris’ Informationen bearbeiten, an der Entscheidung teilhaben. Oder einfach nur dasitzen und sehen, was er vorlegt. Um meines eigenen Seelenfriedens willen endlich herausfinden, in was Arctor eigentlich verwickelt ist. Ist er überhaupt in etwas verwickelt? Oder etwa doch nicht?

Sie sind es mir schuldig, mir zu gestatten, lange genug dabeizubleiben, um das herauszufinden.

Wenn ich bloß einfach nur zuhören und zuschauen könnte, sogar ohne etwas zu sagen.

Er saß da und starrte vor sich hin, und irgendwann später bemerkte er, daß das Mädchen in dem engen blauen Sweater und ihre Freundin, die kurze, schwarze Haare hatte, von ihrem Tisch aufstanden und sich anschickten, hinauszugehen. Die Freundin, die nicht besonders scharf aussah, zögerte plötzlich und kam dann auf den Tisch zu, an dem Fred vornübergebeugt vor seinem Kaffee und den Überresten des Sandwichs saß.

»Pete?« sagte das Mädchen mit den kurzen Haaren.

Er schaute auf.

»Äh, Pete«, sagte sie nervös. »Ich habe nur einen winzigen Augenblick Zeit. Äh, wollte es Ihnen eigentlich selbst sagen, aber dann hatte sie doch nicht die Traute. Pete, sie wäre schon längst mit Ihnen ausgegangen, vielleicht schon vor einem Monat oder so, vielleicht sogar schon im März. Wenn –«

»Wenn was?« sagte er.

»Nun, sie hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen schon seit einiger Zeit den Tip geben wollte, daß Sie viel mehr Erfolg hätten, wenn Sie eines dieser Mittel benutzen würden … sagen wir, Odol.«

»Ich wünschte, ich hätte das früher gewußt«, sagte er ohne Begeisterung.

»Okay, Pete«, sagte das Mädchen und wandte sich sichtlich erleichtert zum Gehen. »Bis später mal.« Grinsend eilte sie davon.

Der arme Teufel, dachte er bei sich selbst. War das nun wirklich gut gemeint? Oder einfach nur eine Verarscherei, um Pete endgültig durcheinanderzubringen? Ausgekocht von zwei gehässigen Weibsbildern, als sie sahen, wie er – ich – hier so alleine saß. Einfach nur ein mieser kleiner Seitenhieb, um – Ach, zur Hölle damit, dachte er.

Oder es könnte auch wahr sein, entschied er, während er sich den Mund abwischte, seine Serviette zerknüllte und sich steif erhob. Ich möchte zu gerne wissen, ob der heilige Paulus Mundgeruch hatte. Er schlenderte aus der Cafeteria, die Hände wieder in den Taschen vergraben. In den Taschen des Jedermann-Anzugs und dann auch in den richtigen Anzugtaschen darunter. Vielleicht war das der Grund dafür, warum Paulus in den späteren Jahren seines Lebens dauernd im Gefängnis saß. Sie haben ihn deswegen reingesteckt.

Auf solche beschissenen Trips wird man ausgerechnet immer dann geschickt, wenn sowieso schon alles schiefläuft, dachte er, als er die Cafeteria verließ. Erst diese ganzen Tiefschläge, und dann knallt einem so eine Puppe glatt noch mal einen vor den Latz. Als ob die gebauten Weisheiten dieser Psychologen-Macker, die sich für unfehlbarer als der Papst halten, nicht schon ausreichen würden. Anscheinend nicht. Scheiße, dachte er. Er fühlte sich jetzt sogar noch schlechter als vorher; er konnte kaum noch gehen, kaum noch denken; sein Gehirn summte, so durcheinander war er. Durcheinander und verzweifelt. Jedenfalls, dachte er, bringt’s Odol nicht; Lavons ist besser. Außer, daß es, wenn du’s wieder ausspuckst, so aussieht, als würdest du Blut spucken. Vielleicht Micrin, dachte er. Das könnte das Richtige sein.

Wenn es in diesem Gebäude einen Drugstore gäbe, dachte er, könnte ich mir eine Flasche kaufen und das Zeug anwenden, bevor ich raufgehe, um Hank gegenüberzutreten. Und dann – dann würde ich vielleicht selbstsicherer auftreten können. Vielleicht würde ich eine bessere Chance haben.

Ich könnte jetzt alles gebrauchen, überlegte er, was mir irgendwie helfen könnte. Ganz egal, was. Jeden Fingerzeig, wie den, den mir dieses Mädchen gegeben hat. Jeden guten Rat. Er fühlte sich niedergeschlagen und ängstlich. Scheiße, dachte er, was soll ich bloß machen?

Wenn ich von allem runter bin, dachte er, dann werde ich keinen von ihnen mehr wiedersehen, keinen meiner Freunde, der Leute, die ich beobachtet und gekannt habe. Ich werde endgültig draußen sein; ich werde vielleicht für den Rest meines Lebens außer Dienst sein. Auf jeden Fall werde ich sie nie wieder zu Gesicht kriegen, weder Arctor noch Luckman noch Jerry Fabin noch Charles Freck. Und, was am schlimmsten ist. auch Donna Hawthorne nicht. Ich werde keinen meiner Freunde wiedersehen, für den Rest der Ewigkeit. Es ist aus.

Donna. Dun fiel ein Lied ein, das sein Großonkel vor Jahren zu singen pflegte, in Deutsch.

»Ich seh’, wie ein Engel im rosigen Duft

Sich tröstend zur Seite mir stellet.«[11]

Sein Großonkel hatte ihm die Zeilen übersetzt und ihm erklärt, mit dem Engel sei die Frau gemeint, die er liebte, die Frau, die ihn rettete (im Lied). Im Lied, nicht im wirklichen Leben. Jetzt war sein Großonkel schon tot, und es war lange her, daß er jene Worte gehört hatte. Die Stimme seines in Deutschland geborenen Großonkels, der im Haus sang oder laut las.

Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!

Öd’ ist es um mich her. Nichts lebet außer mir…[12]

Selbst wenn mein Gehirn nicht ausgebrannt ist, begriff er, wenn ich später wieder im Dienst sein werde, wird jemand anders zu ihrer Überwachung eingesetzt worden sein. Oder sie werden tot sein oder im Knast oder in Staatlichen Nervenkliniken oder einfach nur in alle Winde verstreut, verstreut, verstreut. Ausgebrannt und zerstört, so wie ich, unfähig, herauszuknobeln, was zum Teufel eigentlich läuft. Für mich ist alles irgendwie an einem Endpunkt angekommen. Ich habe, ohne es zu wissen, längst adieu gesagt.

Alles, was ich irgendwann tun könnte, dachte er, ist, die Holo-Bänder wieder abzuspielen, um mich an sie zu erinnern.

»Ich sollte ins Kontroll-Zentrum gehen …« Er blickte um sich und verstummte. Ich sollte ins Kontroll-Zentrum gehen und die Bänder jetzt klauen, dachte er. Solange ich noch dazu in der Lage bin. Später mögen sie gelöscht werden, und später werde ich sowieso keinen Zugang mehr zu ihnen haben. Scheiß was auf die Abteilung, dachte er; sie können die Materialkosten ja mit meinem ausstehenden Gehalt verrechnen. Aufgrund jeder ethischen Erwägung gehören mir die Bänder von jenem Haus und den Leuten darin. Und jetzt, jetzt sind diese Bänder alles, was ich von all dem übrigbehalten habe; das ist alles, was ich mitzunehmen hoffen kann.

Aber zum Abspielen der Bänder, dachte er gehetzt, brauche ich auch das komplette holografische Projektionssystem aus dem Kontroll-Zentrum. Ich werde es demontieren und Stück für Stück wegkarren müssen. Die Kameras und die Aufzeichnungskomponenten werde ich ja nicht benötigen – nur die Abspielvorrichtung und die Mitschauanlage. Ja, besonders die Schirme. Sie werden mich zwar auffordern, den Schlüssel abzuliefern, aber ich kann mir ein Duplikat davon machen lassen, kurz bevor ich ihn abgebe; es ist ein ganz gewöhnlicher BKS-Schlüssel. Ich kann es schaffen! Er fühlte sich sogleich wohler, als er das begriff; in seinem Innern spürte er grimmige Entschlossenheit und eine neue innere Stärke. Und ein wenig Zorn. Auf jedermann. Und Befriedigung darüber, wie gut er alles regeln würde.

Wenn ich andererseits auch die Kameras und die Aufzeichnungsgeräte und das ganze andere Zeug klauen würde, dachte er, könnte ich die Überwachung fortführen. Auf eigene Faust. Könnte die Kontrolle am Leben erhalten, wie ich es bisher getan habe. Zumindest für eine Weile. Aber schließlich ist alles im Leben nur für eine Weile – wie das hier beweist.

Die Überwachung, dachte er, muß erhalten bleiben, das ist das Wichtigste. Und, wenn möglich, die Überwachung durch mich. Ich sollte bis in alle Ewigkeit beobachten, beobachten und auswerten, selbst wenn ich nie irgend etwas hinsichtlich dessen, was ich sehe, unternehme; selbst wenn ich einfach nur dasitze und still überwache, ungesehen: das allein ist wichtig, allein die Tatsache, daß ich an meinem Platz bin und alles überwache, was passiert.

Nicht um ihretwillen. Um meinetwillen.

Yeah, verbesserte er sich, auch um ihretwillen. Falls etwas passiert, so wie damals, als Luckman erstickte. Wenn jemand zuschaut – wenn ich zuschaue –, kann ich es bemerken und Hilfe holen. Um Hilfe telefonieren. Ihnen auf der Stelle Beistand leisten. Den richtigen Beistand.

Sonst, dachte er, könnten sie sterben, und niemand würde darum wissen! Darum wissen oder sich vielleicht auch nur einen Scheißdreck darum kümmern.

Irgendwer muß doch in so erbärmliche kleine Leben wie die ihren eingreifen. Oder wenigstens ihre traurigen Auftritte und Abgänge registrieren. Registrieren und, wenn möglich, dauerhaft aufzeichnen, damit man sich an sie erinnere und ihrer gedenke. An einem besseren Tag, später mal, wenn die Menschen begreifen werden.


*


In Hanks Büro saß er mit Hank und einem uniformierten Beamten und dem schwitzenden, grinsenden Informanten Jim Barris zusammen, während auf dem Tisch vor ihnen eine von Barris’ Cassetten ablief. Ein zweites Gerät zeichnete die Einspielungen auf, damit auch für den Abteilungsgebrauch eine Kopie zur Verfügung stand.

»… Oh, hallo. Hör mal, ich kann jetzt nicht sprechen.«

»Wann denn?«

»Ich ruf dich zurück.

»Aber es ist dringend.«

»Worum geht’s denn?«

»Wir planen –«

Hank hob die Hand und gab Barris ein Zeichen, das Band anzuhalten. »Würden Sie bitte die Stimmen für uns identifizieren, Mr. Barris?« sagte Hank.

»Aber natürlich«, erklärte Barris eifrig. »Die weibliche Stimme ist die von Donna Hawthorne, die männliche die von Robert Arctor.«

»All right«, sagte Hank nickend und blickte dann Fred an. Er hatte Freds medizinischen Befund vor sich liegen und blickte immer wieder hinein. »Lassen Sie das Band weiterlaufen.«

»… halb Südkalifornien morgen nacht«, fuhr die Männerstimme, die der Informant als die Bob Arctors identifiziert hatte, fort. »Das Luftwaffendepot in Vandenberg AFB soll überfallen werden, um automatische und halbautomatische Waffen –«

Hank hielt in der Lektüre des medizinischen Berichts inne und hörte zu, wobei er den vom Jedermann-Anzug verwischten Kopf hin und her wiegte.

Barris, der bisher still vor sich hin gegrinst hatte, grinste nun alle im Raum offen an; seine Finger spielten mit Büroklammern, die er vom Tisch genommen hatte, fummelten und fummelten, als wolle er aus Draht ein Metallnetz stricken. Er strickte und fummelte und schwitzte und strickte.

Die weibliche Person, die als Donna Hawthorne identifiziert worden war, sagte: »Was ist mit dieser Desorientierungsdroge, die die Motorradfreaks für uns geklaut haben? Wann bringen wir dieses Dreckszeug hoch zur Wasserscheide, um –«

»Die Organisation braucht zuerst die Waffen«, sagte die Stimme des Mannes. »Das andere ist Stufe B.«

»Okay, aber jetzt muß ich Schluß machen; ich habe einen Kunden.«

Klick. Klick.

Barris verlagerte sein Gewicht im Stuhl und sagte laut:

»Ich kann die eben erwähnte Motorrad-Gang identifizieren. Sie wird noch auf einem anderen –«

»Haben Sie noch mehr Material von dieser Sorte?« sagte Hank. »Um diese Erkenntnisse zu vertiefen? Oder handelt es sich im wesentlichen nur um dieses eine Band?«

»Viel mehr.«

»Aber es dreht sich im Grunde immer um das gleiche.«

»Sicher, es bezieht sich auf die gleiche konspirative Organisation und ihre Pläne, ja. Insbesondere auf dieses Komplott.«

»Was sind das für Leute?« sagte Hank. »Und was ist das für eine Organisation?«

»Es ist eine weltweite –«

»Nennen Sie uns Namen. Sie spekulieren schon wieder.«

»Robert Arctor, Donna Hawthorne, in erster Linie. Ich habe hier auch verschlüsselte Nachrichten …« Barris fummelte mit einem schmutzigen Notizbuch herum, ließ es beinahe fallen, als er versuchte, es aufzuschlagen.

Hank sagte: »Ich beschlagnahme das ganze Zeug hier, Mr. Barris, die Bänder und was Sie sonst noch haben. Dir Beweismaterial geht damit zeitweise in unseren Besitz über. Wir werden es selbst sichten.

»Aber meine Handschrift … und das chiffrierte Material, das ich –«

»Sie werden zur Verfügung stehen, um uns das zu erklären, wenn wir zu diesem Punkt kommen und das Gefühl haben, daß wir irgend etwas erklärt haben möchten.« Hank gab dem uniformierten Bullen, nicht Barris, ein Zeichen, die Cassette zu stoppen. Barris streckte die Hand zur Abschalttaste aus. Sofort hielt ihn der Bulle auf und stieß ihn grob zurück. Blinzelnd starrte Barris die anderen Männer an, immer noch maskenhaft lächelnd. »Mr. Barris«, sagte Hank, »wir können Sie leider nicht entlassen, bis die Sichtung dieses Materials abgeschlossen ist. Damit Sie jederzeit verfügbar sind, werden Sie formal unter dem Vorwurf belangt werden, den Behörden wissentlich falsche Informationen vorgelegt zu haben. Das ist natürlich nur ein Vorwand um Ihrer eigenen Sicherheit willen, und wir alle wissen das, aber die formale Anklage wird jedenfalls erhoben werden. Sie wird an den Bezirksstaatsanwalt weitergeleitet werden, allerdings mit einem Stillhaltevermerk. Ist diese Regelung zufriedenstellend?« Er wartete nicht auf eine Antwort; statt dessen gab er dem uniformierten Bullen ein Zeichen, Barris hinauszubringen. Die Beweise und der Shit und der ganze restliche Kram blieben auf dem Tisch zurück.

Der Bulle führte den grinsenden Barris hinaus. Hank und Fred saßen sich gegenüber, zwischen sich das Durcheinander auf dem Tisch. Hank sagte nichts; er las die Befunde der Psychologen. Nach einer Weile hob er den Telefonhörer ab und wählte eine hausinterne Nummer. »Ich habe hier eine Ladung noch nicht ausgewertetes Material – ich möchte, daß Sie es durchsehen und feststellen, wieviel davon eine Fälschung ist. Geben Sie mir über Ihre Erkenntnisse Bescheid, und dann werde ich Ihnen sagen, was Sie als nächstes damit machen sollen. Es sind ungefähr zwölf Pfund; Sie werden wohl einen Pappkarton brauchen, Größe drei. Okay, danke.« Er legte auf. »Das Elektronik- und Entschlüsselungslabor«, informierte er Fred und las weiter.

Zwei schwerbewaffnete uniformierte Labortechniker erschienen mit einem schweren Stahlbehälter.

»Wir konnten nur den hier finden«, entschuldigte sich einer von ihnen, als sie die Beweisstücke auf dem Tisch sorgfältig in den Kasten luden.

»Wer hat da unten jetzt Dienst?«

»Hurley.«

»Richten Sie Hurley aus, daß er das auf jeden Fall noch irgendwann heute sichten soll. Und er soll mir sofort Bericht erstatten, wenn er Hinweise darauf findet, daß es sich um Fälschungen handeln könnte. Die Sache muß unbedingt noch heute über die Bühne gehen; sagen Sie ihm das.«

Die Labortechniker verschlossen den Metallkasten und schleppten ihn wieder aus dem Büro.

Hank warf die medizinischen Befunde auf den Tisch, lehnte sich zurück und sagte: »Was – okay, was haben Sie bisher für ein Gefühl bei Barris’ Beweisen?«

Fred sagte: »Das ist mein medizinischer Bericht, den Sie da haben, nicht wahr?« Er streckte die Hand aus, um ihn aufzuheben, überlegte er sich dann aber anders. »Ich würde sagen, das, was er uns vorgespielt hat, die kurzen Passagen, die er uns vorgespielt hat, das hörte sich für mich echt an.«

»Es ist eine Fälschung«, sagte Hank. »Völlig wertlos.«

»Sie mögen recht haben«, sagte Fred, »aber ich bin anderer Ansicht.«

»Das Depot in Vandenberg, über das sie sprachen, ist möglicherweise das OSI-Depot.« Hank griff nach dem Telefon. Wie im Selbstgespräch sagte er laut: »Wollen wir doch mal sehen – wie hieß der Typ vom OSI doch gleich, mit dem ich mich damals unterhalten habe … er war am Donnerstag mit einigen Bildern hier …«

Hank schüttelte den Kopf, schob das Telefon wieder weg und wandte sich erneut Fred zu. »Ich werde damit warten. Das hat Zeit, bis der vorläufige Bericht über die Fälschungen vorliegt. Fred?«

»Was sagt mein medizinischer –«

»Sie behaupten, daß Sie völlig plemplem sind.«

Fred zuckte die Achseln, so gut er das in seinem Jedermann-Anzug konnte. »Völlig?«


Wie kalt ist es in diesem unterirdischen Gewölbe![13]


»Na, vielleicht flackern noch irgendwo so zwei Gehirnzellen vor sich hin. Aber das war’s auch schon. Hauptsächlich Kurzschlüsse und Funken.«


Das ist natürlich, es ist ja tief.[14]


»Zwei, sagen Sie«, sagte Fred. »Von wie vielen?«

»Keine Ahnung. Das Gehirn hat eine Menge Zellen. Soviel ich weiß – Billionen.«

»Und es gibt mehr mögliche Verbindungen zwischen ihnen«, sagte Fred, »als Sterne im Universum.«

»Wenn das stimmt, dann haben Sie aber im Moment keine allzu gute Trefferquote. Ungefähr zwei Zellen von – vielleicht fünfundsechzig Billionen?«

»Eher fünfundsechzig Billionen Billionen«, sagte Fred.

»Das ist ja noch schlechter als die Trefferquote der guten alten Philadelphia Phillies unter Connie Mack. Die schlossen die Saison immer mit einem Prozentsatz von –«

»Was kriege ich,« sagte Fred, »wenn ich angebe, daß es in Ausübung meines Dienstes passiert ist?«

»Einen Ehrenplatz in einem Wartezimmer, wo Sie ganz umsonst eine Menge Saturday Evening Posts und Cosmopolitans lesen dürfen.«

»Und wo ist dieses Wartezimmer?«

»Wo möchten Sie denn am liebsten hin?«

Fred sagte: »Darüber müßte ich erst mal nachdenken.«

»Ich will Ihnen mal sagen, was ich tun würde«, sagte Hank. »Ich würde nicht in eine Staatliche Nervenklinik gehen; ich würde mir an Ihrer Stelle sechs Flaschen guten Bourbons kaufen, Marke I. W. Harper, und in die Hügel gehen, ‘rauf in die San Bernadino-Berge, irgendwo in die Nähe eines der Seen, in eine einsame Gegend, und einfach ganz allein dort bleiben, bis alles vorüber ist. An einem Ort, wo mich niemand finden kann.«

»Aber vielleicht geht es nie mehr vorüber.«

»Dann kommen Sie eben nie mehr zurück. Kennen Sie irgendwen, der da oben ein Blockhaus hat?«

»Nein«, sagte Fred.

»Sind Sie fit genug, um zu fahren?«

»Mein –« Er hielt inne, und eine traumartige Kraft überkam ihn; plötzlich fühlte er sich ganz entspannt und gelöst. Alle räumlichen Beziehungen in dem Büro veränderten sich; die Veränderung berührte sogar seine Zeitwahrnehmung. »Er ist in …« Er gähnte.

»Sie erinnern sich nicht.«

»Ich erinnere mich daran, daß er nicht mehr funktioniert.«

»Wir könnten dafür sorgen, daß jemand Sie hinauffährt. Das wäre auf jeden Fall sicherer.«

Mich wo hinauffährt? fragte er sich. Hinauf in was? Straßen, Feldwege, Pfade hinauf, zerrend und sich aufbäumend in der Motsche, wie ein Kater an einer Leine, der nur wieder ins Haus zurückwill. Der sich befreien will.

Er dachte: Ein Engel, der Gattin so gleich, der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich.[15] Sicher«, sagte er und lächelte. Erleichterung. Gegen den Zug der Leine ankämpfen, sich abmühen, freizukommen, und sich dann zur Ruhe betten. »Was denken Sie jetzt eigentlich von mir«, sagte er, »jetzt, da Sie wissen, daß ich so einer bin – ausgebrannt, vorübergehend jedenfalls. Vielleicht auch auf Dauer.«

Hank sagte: »Ich denke, daß Sie ein sehr guter Mensch sind.«

»Danke«, sagte Fred.

»Nehmen Sie Ihren Revolver mit.«

»Was?« sagte er.

»Wenn Sie mit den I. W. Harper-Flachmännern in die San Bernadino-Berge aufbrechen. Packen Sie Ihren Revolver ein.«

»Sie meinen, für den Fall, daß ich nicht mehr von dem Zeug loskomme?«

Hank sagte: »Nicht nur für diesen Fall. Bei der Dosis, auf der Sie laut diesem Bericht mittlerweile sind, sind die Entziehungserscheinungen … Sie sollten ihn bei sich haben.«

»Okay.«

»Wenn Sie zurückkommen«, sagte Hank, »melden Sie sich bei mir. Lassen Sie es mich wissen.«

»Hölle, ich werde meinen Anzug nicht anhaben.«

»Rufen Sie mich trotzdem an. Mit oder ohne Ihren Anzug.«

Wieder sagte er: »Okay.« Offenbar machte selbst das nichts mehr aus. Offenbar war das ein für allemal vorüber.

»Wenn Sie hingehen und Ihre nächste Gehaltszahlung abholen, wird unter dem Strich ein anderer Betrag stehen. Der Unterschied wird beträchtlich sein, allerdings nur dieses eine Mal.«

Fred sagte: »Bekomme ich einen Bonus dafür – für das, was mir passiert ist?«

»Nein. Lesen Sie Ihre Dienstvorschrift. Ein Beamter, der willentlich süchtig wird und das nicht auf der Stelle meldet, macht sich eines Dienstvergehens schuldig und muß mit einer Geldbuße von dreitausend Dollar und/oder sechs Monaten Haft rechnen. Sie werden möglicherweise nur mit einer Geldbuße davonkommen. «

»Willentlich?« sagte er in ungläubigem Staunen.

»Es hat Ihnen ja niemand eine Pistole an den Kopf gehalten und Sie mit dem Zeug vollgepumpt. Niemand hat Ihnen etwas in den Kaffee getan. Sie haben wissentlich und willentlich eine suchtbildende Droge eingenommen, eine Droge, die zu Gehirnschäden und Desorientierungserscheinungen führt.«

»Aber ich mußte doch!«

Hank sagte: »Sie hätten es auch vortäuschen können. Die meisten Beamten schaffen es, damit klarzukommen. Und wenn man die Menge in Betracht zieht, die Sie laut diesem Bericht schlucken –«

»Sie behandeln mich wie einen Gauner. Ich bin kein Gauner.«[16]

Hank griff nach einem Notizblock und einem Stift und begann zu rechnen. »Wie hoch sind Sie jetzt eigentlich, gehaltsmäßig, meine ich? Ich kann das Ganze ja mal durchrechnen, wenn –«

»Könnte ich die Geldbuße nicht später bezahlen? Vielleicht in einer Reihe von monatlichen Raten, verteilt über zwei Jahre?«

Hank sagte: »Na, hören Sie mal, Fred.«

»Okay«, sagte er.

»Wieviel kriegen Sie pro Stunde?«

Er konnte sich nicht daran erinnern.

»Wissen Sie wenigstens, wie viele eingetragene Stunden Sie haben?«

Daran auch nicht.

Hank warf den Schreibblock wieder hin. »Möchten Sie eine Zigarette?« Er bot Fred seine Schachtel an.

»Ich werde mir auch das abgewöhnen«, sagte Fred. »Alles. Eingeschlossen Erdnüsse und …« Er konnte nicht mehr denken. Sie saßen beide einfach nur da, beide in ihren Jedermann-Anzügen, beide schweigend.

»Wie ich meinen Kindern immer sage«, begann Hank.

»Ich habe zwei Kinder«, sagte Fred. »Zwei Mädchen.«

»Ich glaube nicht; von Rechts wegen dürften Sie keine haben.«

»Vielleicht nicht.« Er hatte den Versuch unternommen, darüber nachzudenken, wann wohl die Entzugssymptome einsetzen würden, und jetzt unternahm er den Versuch, darüber nachzudenken, wie viele Tabletten Substanz T er an allen möglichen Stellen versteckt hatte. Und ob das Geld, das er in Zukunft am Zahltag kriegte, wohl reichen würde, genügend Nachschub ranzuschaffen.

»Soll ich denn nun für Sie ausrechnen, wie hoch Ihr Ruhestandsgehalt sein wird, oder was?« sagte Hank.

»Okay«, sagte er und nickte heftig. »Tun Sie das.« Er saß da und wartete angespannt, trommelte auf dem Tisch. Wie Barris.

»Wieviel kriegen Sie also jetzt pro Stunde?« wiederholte Hank und griff dann resigniert zum Telefon. »Ich werde mal die Gehaltsstelle anrufen.«

Fred sagte nichts, sondern starrte nur auf den Boden und wartete. Er dachte: Vielleicht kann Donna mir helfen. Donna, dachte er, bitte hilf mir jetzt.

»Ich glaube nicht, daß Sie es bis in die Berge schaffen werden«, sagte Hank. »Selbst, wenn jemand Sie hinfährt.«

»Nein.«

»Wohin wollen Sie dann?«

»Lassen Sie mich noch ein bißchen hier sitzen und nachdenken.«

»Staatliche Nervenklinik?«

»Nein.«

Sie saßen da.

Er fragte sich, was von Rechts wegen wohl bedeuten mochte.

»Wollen Sie vielleicht rüber zu Donna Hawthorne?« sagte Hank. »Aufgrund der ganzen Informationen, die ich von Ihnen und allen anderen Agenten erhalten habe, weiß ich, daß Sie sich nahestehen.«

»Ja.« Er nickte. »Tun wir.« Und dann blickte er auf und sagte: »Wie haben Sie das herausgefunden?«

Hank sagte: »Durch einen Eliminationsprozeß. Ich weiß, wer Sie nicht sind, und die Zahl der Verdächtigen in dieser Gruppe ist nicht unendlich groß – tatsächlich handelt es sich ja sogar um eine sehr kleine Gruppe. Wir dachten, wir würden auf dem Weg über diesen Personenkreis weiter nach oben vorstoßen, und vielleicht gelingt uns das ja tatsächlich – durch Barris. Sie und ich haben eine Menge Zeit damit verbracht, miteinander zu plaudern. Ich hab’s schon vor langer Zeit rausgeknobelt. Daß Sie Arctor sind.«

»Ich bin wer?« sagte er und starrte auf Hank, den Jedermann-Anzug, der ihm gegenübersaß. »Ich bin Bob Arctor?« Er konnte es nicht glauben. Es ergab keinen Sinn für ihn. Es paßte mit nichts von dem zusammen, was er getan oder gedacht hatte; es war grotesk.

»Machen Sie sich nichts draus«, sagte Hank. »Wie ist Donnas Telefonnummer?«

»Sie ist vielleicht gerade auf der Arbeit.« Seine Stimme zitterte. »In der Parfumerie. Die Nummer ist –« Er konnte seine Stimme nicht mehr unter Kontrolle halten, und er konnte sich nicht an die Nummer erinnern. Wer, zum Teufel, soll ich sein? sagte er zu sich selbst. Ich bin nicht Bob Arctor. Aber wer bin ich dann? Vielleicht bin ich –

»Geben Sie mir die Telefonnummer von Donna Hawthornes Arbeitsstelle«, sagte Hank gerade rasch in die Sprechmuschel des Telefons. »Hier«, sagte er und hielt Fred den Hörer hin. »Sprechen Sie selbst mit ihr. Nein, vielleicht besser doch nicht. Ich werde ihr sagen, sie soll Sie abholen … wo? Wir werden Sie hinfahren und dort absetzen; Sie können sie schließlich nicht hier treffen. Wüßten Sie einen guten Ort? Wo treffen Sie sich für gewöhnlich?«

»Bringen Sie mich zu ihrer Wohnung«, sagte er. »Ich weiß, wie man reinkommt. «

»Ich werde ihr sagen, daß Sie hier neben mir sitzen und auf Entzug sind. Ich werde einfach sagen, ich sei ein Bekannter von Ihnen und daß Sie mich gebeten haben, anzurufen.«

»Spitze«, sagte Fred. »Find’ ich ja echt dufte. Danke, Mann.«

Hank nickte und wählte erneut, diesmal eine Nummer im öffentlichen Netz. Fred kam es so vor, als wähle er von Ziffer zu Ziffer langsamer, als dauere der Wählvorgang ewig, und er schloß die Augen, atmete schwer vor sich hin und dachte: Wow. Ich bin echt hinüber.

Da haste recht mit, stimmte er zu. Ausgeklinkt, ausgeflippt, ausgebrannt und abgenibbelt. Und angeschissen. Total im Arsch. Er hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, laut zu lachen.

»Wir werden Sie zu ihr rüberbringen –«, begann Hank, unterbrach sich dann aber und wandte seine Aufmerksamkeit dem Telefon zu. Er sagte: »Hey, Donna, hier is’ ‘n Kumpel von Bob, hörste? Hey, Mann, ihm geht’s unheimlich beschissen, nein, echt, ich will dich nich’ verarschen. Hey, er –«

So was von dufte, dachten zwei Stimmen unisono in seinem Geist, als er hörte, wie sein Kumpel Donna die Sache verklickerte. Und vergiß nicht, ihr zu sagen, daß sie mir was mitbringen soll; ich geh’ echt aufm Zahnfleisch! Kann sie für mich Nachschub besorgen oder so? Mich vielleicht aufladen, wie sie’s sonst immer tut? Er streckte seine Hand aus, um Hank zu berühren, schaffte es aber nicht; seine Hand griff zu kurz.

»Du, ich mach’ das bestimmt auch mal für dich«, versprach er, als Hank auflegte.

»Bleiben Sie nur ganz ruhig da sitzen, bis der Wagen draußensteht. Ich werde jetzt einen bestellen.« Wieder telefonierte Hank; dieses Mal sagte er: »Wagenpark? Ich brauche einen nicht als Polizeifahrzeug kenntlichen Wagen und einen Beamten in Zivil. Was ist derzeit verfügbar?«

Im Innern des Jedermann-Anzugs, des vagen Flecks, schlossen sie die Augen, um zu warten.

»Vielleicht sollte ich doch lieber veranlassen, daß Sie in ein Krankenhaus gebracht werden«, sagte Hank. »Ihnen geht’s ja wirklich unheimlich dreckig; vielleicht hat Jim Barris Sie vergiftet. In Wirklichkeit waren und sind wir an Barris interessiert, nicht an Ihnen; die Installation der Kameras im Haus sollte in erster Linie dazu dienen, Barris unter Überwachung zu halten. Wir hofften, ihn auf diese Weise hierherlocken zu können … und das haben wir ja auch geschafft.« Hank schwieg. »Eben aus diesem Grunde bin ich mir ziemlich sicher, daß seine Bänder und die anderen Beweisstücke gefälscht sind. Das Labor wird das bestätigen. Aber Barris ist in eine ganz große Sache verwickelt. Eine ganz üble Geschichte. Es hat was mit Waffen zu tun.«

»Ich war dann also ein Was?« sagte er plötzlich sehr laut.

»Wir mußten an Barris rankommen und ihn reif schießen.«

»Ihr Arschficker«, sagte er.

»Auf die Art, wie wir es arrangiert haben, mußte Barris – wenn das überhaupt sein richtiger Name ist – im Laufe der Zeit immer deutlicher gewahr werden, daß Sie ein geheimer Polizeiagent waren, der kurz davorstand, ihn festzunageln oder aber ihn dazu zu benutzen, über ihn an seine Hintermänner heranzukommen. Und darum –«

Das Telefon klingelte.

»All right«, sagte Hank später. »Bleiben Sie nur ganz ruhig da sitzen, Bob, Fred, was auch immer. Beruhigen Sie sich – wir haben den Mistkerl ja geschnappt, und er ist wirklich ein – na, was Sie uns jetzt gerade genannt haben. Dafür hat es sich doch gelohnt, meinen Sie nicht auch? Um ihn zu fangen. Ein solches Etwas, egal, in was er nun eigentlich verwickelt ist?«

»Sicher, gelohnt.« Er konnte kaum noch sprechen; seine Stimme war ein mechanisches Knirschen.

Zusammen saßen sie da.


*


Auf der Fahrt zum Neuen Pfad hielt Donna am Straßenrand an, an einer Stelle, wo sie unter sich zu allen Seiten die Lichter sehen konnten. Aber inzwischen hatten die Qualen für ihn begonnen; sie konnte das deutlich erkennen, und es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Sie hatte sich so sehr gewünscht, noch einmal mit ihm zusammenzusein. Tja, sie hatte wohl zu lange gewartet. Tränen rannen ihr über die Wangen, und er hatte jetzt begonnen zu würgen und sich zu übergeben.

»Wir bleiben ein paar Minuten hier sitzen«, erklärte sie ihm, während sie ihn durch die Büsche und das Unkraut führte, über den sandigen Boden, zwischen weggeworfenen Bierdosen und allerlei anderem Müll hindurch. »Ich –«

»Hast du deine Hasch-Pfeife dabei?« brachte er mühsam heraus.

»Ja«, sagte sie. Sie mußten sich weit genug von der Straße entfernen, um nicht von der Polizei bemerkt zu werden. Oder wenigstens weit genug, damit sie die Hasch-Pfeife verschwinden lassen konnten, wenn ein Polizist vorbeikam. Sie würde den Polizeiwagen anhalten sehen, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, ein Stück entfernt in sicherer Deckung, und die Beamten, die sich zu Fuß näherten. Es würde genügend Zeit sein.

Sie dachte: Dafür jedenfalls. Zeit genug, um sicher vor dem Gesetz zu sein. Aber Bob Arctor hatte keine Zeit mehr. Jedenfalls keine Zeit nach menschlichen Maßstäben mehr – die war abgelaufen. Es war eine andere Art von Zeit, in die er jetzt eingetreten war. Ähnlich der Zeit, dachte sie, die eine Ratte hat: nämlich Zeit, hin und her zu rennen, nutzlos zu sein. Sich ziellos zu bewegen, hin und her, her und hin. Aber wenigstens kann er noch die Lichter unter uns sehen. Obwohl ihm das vielleicht nichts mehr bedeutet.

Sie fanden einen geschützten Platz, und sie holte den in Alufolie gewickelten Klumpen Hasch hervor und zündete die Hasch-Pfeife an. Bob Arctor, der neben ihr hockte, schien es nicht einmal zu bemerken. Er hatte sich beschmutzt, aber sie wußte, daß er nichts dafür konnte. Tatsächlich war er sich dessen vielleicht nicht einmal bewußt. Während des Entzugs wurden sie alle so.

»Hier.« Sie beugte sich zu ihm hinüber, um ihn aufzuladen. Aber er bemerkte auch sie nicht. Er saß einfach nur da, völlig weggetreten, von Magenkrämpfen geschüttelt, kotzte und beschmutzte sich, zitterte und wimmerte wie wahnsinnig vor sich hin. Es klang fast wie eine Art Lied.

Sie mußte plötzlich an einen Typen denken, den sie einmal gekannt hatte – einen Typen, der Gott gesehen hatte. Er hatte sich ganz ähnlich verhalten, gewimmert und geweint, ohne sich allerdings selbst zu beschmutzen. Er hatte Gott während eines Flashbacks nach einem Acid-Trip gesehen, zu einem Zeitpunkt, als er gerade mit riesigen Dosen wasserlöslicher Vitamine experimentierte. Ihre orthomolekulare Struktur sollte angeblich die neuralen Impulse im Gehirn anregen, beschleunigen und synchronisieren. Bei diesem Typen jedoch hatten sie anders gewirkt. Er war nicht einfach nur smarter geworden – er hatte Gott gesehen. Er war völlig überrascht gewesen.

»Ich nehme an«, sagte sie, »wir wissen nie, was das Schicksal für uns bereithält. «

Neben ihr stöhnte Bob Arctor und antwortete nicht.

»Kanntest du einen Macker namens Tony Amsterdam?«

Keine Reaktion.

Donna nahm einen Zug aus der Hasch-Pfeife und versenkte sich in die Lichter, die unter ihnen ausgebreitet lagen; sie roch die Luft und lauschte. »Nachdem er Gott gesehen hatte, fühlte er sich richtig gut, so ungefähr ein Jahr lang. Und dann fühlte er sich richtig mies. Mieser, als er sich je zuvor in seinem Leben gefühlt hatte. Weil er eines Tages schlagartig kapierte, daß er Gott nie wieder sehen würde; er würde für den Rest seines Lebens – Jahrzehnte, fünfzig Jahre vielleicht – dahinvegetieren und nichts außer dem sehen, was er schon immer gesehen hatte. Das, was auch wir sehen. Er war schlechter dran, als wenn er Gott nicht gesehen hätte. Er erzählte mir später mal, daß er daraufhin richtig durchgedreht wäre; er flippte einfach aus und fing an zu fluchen und zerdepperte alle möglichen Sachen in seinem Apartment. Er zerschlug sogar seine Stereoanlage. Er hatte begriffen, daß er für alle Zeit so würde weiterleben müssen, wie er jetzt lebte – nämlich ohne etwas zu sehen. Ohne jeden Sinn. Einfach nur ein Fetzen Fleisch, der sich dahinquält, ißt, trinkt, schläft, arbeitet und scheißt.«

»Wie wir anderen auch.« Es war das erste, was Bob Arctor zu sagen fertiggebracht hatte; die Worte kamen heraus, als müsse er jedes einzelne von ihnen unter großen Schwierigkeiten erbrechen.

Donna sagte: »Genau das habe ich ihm auch gesagt. Ich hab’ versucht, ihm das klarzumachen. Wir säßen alle im gleichen Boot, und es würde den Rest von uns auch nicht zum Ausflippen bringen. Und er sagte: ›Du weißt nicht, was ich gesehen habe. Du weißt es nicht.‹«

Ein Krampf ging durch Bob Arctor und erschütterte seinen ganzen Körper, und dann würgte er heraus: »Hat er … hat er gesagt, wie es war?«

»Funken. Ganze Kaskaden von farbigen Funken, ungefähr so, als würde an deinem Fernseher was kaputtgehen. Funken, die die Wände hochgingen, Funken in der Luft. Und die ganze Welt war ein lebendiges Wesen, wohin auch immer er blickte. Und es gab keine Zufälle: alles paßte zusammen und geschah planvoll, weil damit etwas erreicht werden sollte – irgendein Ziel in der Zukunft. Und dann sah er eine Pforte. Ungefähr eine Woche lang sah er sie, wohin auch immer er schaute – drinnen in seinem Apartment oder draußen, wenn er zum Laden ging oder durch die Gegend fuhr. Und sie hatte immer die gleichen Proportionen; sie war sehr schmal. Er sagte, sie sei – beglückend gewesen. Das ist der Begriff, den er immer gebraucht hat. Er hat nie versucht, durch die Pforte hindurchzugehen; er hat sie einfach nur angeschaut, weil sie so beglückend war. Klare Konturen aus lebendigem roten und goldenen Licht, sagte er. Als ob sich die Funken entlang bestimmter Linien versammelt hätten, wie in der Geometrie. Und dann, hinterher, meine ich, hat er sie nie wieder gesehen, in seinem ganzen Leben nicht, und das war es, was ihn schließlich so fertiggemacht hat.«

Nach einer Weile sagte Bob Arctor: »Und was war auf der anderen Seite.«

Donna sagte: »Er sagte, da sei noch eine Welt auf der anderen Seite gewesen. Er konnte sie sehen.«

»Er … ist nie hindurchgegangen?«

»Das ist ja der Grund, warum er wie ein Irrer in seinem Apartment rumgetobt ist; er hat nie auch nur daran gedacht, hindurchzugehen, er hat einfach nur die Pforte bewundert, und später konnte er sie überhaupt nicht mehr sehen, und da war’s zu spät. Sie öffnete sich ihm nur für ein paar Tage, und dann war sie wieder dicht und für immer verschwunden. Er hat wieder und wieder jede Menge LSD und diese wasserlöslichen Vitamine genommen, aber er hat sie nie wieder gesehen; er hat nie die richtige Dosierung gefunden.«

Bob Arctor sagte: »Was war auf der anderen Seite?«

»Er sagte, es sei immer Nacht gewesen.«

»Nacht!«

»Da war Mondschein und Wasser, immer das gleiche Bild. Nichts bewegte oder veränderte sich. Schwarzes Wasser, wie Tinte, und ein Ufer, ein Inselstrand. Er war sich sicher, daß es Griechenland war, das Griechenland des Altertums. Er legte sich die Theorie zurecht, daß die Pforte eine schwache Stelle in der Zeit war und daß er zurück in die Vergangenheit sah. Und dann, später, als er sie nicht mehr sehen konnte, meine ich, ist er immer auf den Freeway hinausgefahren, mitten hinein in den dichtesten Lastwagenverkehr, und dabei jedesmal schier wahnsinnig geworden. Er sagte, er könne die ganze Bewegung und den Lärm nicht aushalten, dieses ganze verrückte Hin- und Hergeschiebe, all das Scheppern und Bumsen. Jedenfalls konnte er nie herausfinden, warum ihm das, was er gesehen hatte, gezeigt worden war. Er glaubte wirklich daran, daß es Gott gewesen und die Pforte zur nächsten Welt, aber unter dem Strich ist dabei doch nur herausgekommen, daß es ihn ganz wirr im Kopf gemacht hat. Er konnte es nicht festhalten, und darum konnte er nicht damit fertig werden. Jedesmal, wenn er irgendwen kennenlernte, erzählte er ihm todsicher nach einiger Zeit, er hätte alles verloren.«

Bob Arctor sagte: »So fühle ich mich auch.«

»Da war eine Frau auf der Insel. Keine richtige – mehr so ‘ne Art Statue. Er sagte, es sei eine Statue gewesen, die die Aphrodite von Kyrene darstellte. Und sie stand einfach nur da im Mondschein, bleich und kalt und ganz aus Marmor verfertigt.«

»Er hätte durch die Pforte gehen sollen, als er die Chance dazu hatte.«

Donna sagte: »Er hatte die Chance gar nicht. Es war ein Versprechen. Etwas, was später sein würde. Etwas Besseres, das ihn in ferner Zukunft erwartete. Vielleicht, nachdem er –« Sie hielt inne. »Wenn er starb.«

»Er hat sie verpaßt«, sagte Bob Arctor. »Man kriegt nur eine Chance, und damit hat sich’s.« Er schloß die Augen, als wolle er sich so vor der Qual und dem Schweiß schützen, der in Bächen über sein Gesicht rann. »Und überhaupt, was weiß denn so ein ausgebrannter Säurekopf schon? Was weiß überhaupt einer von uns? Ich kann nicht mehr reden. Vergiß es.« Er wandte sich von ihr ab, der Dunkelheit zu, zuckend und zitternd.

»Sie zeigen uns jetzt Vorschauen«, sagte Donna. »Wie im Kino.« Sie legte ihre Arme um ihn und preßte ihn so dicht an sich, wie sie es nur vermochte, wiegte ihn sanft vor und zurück. »Damit wir durchhalten.«

»Genau das versuchst du auch gerade zu tun. Für mich.«

»Du bist ein guter Mann. Dir ist verdammt übel mitgespielt worden. Aber das Leben ist für dich noch nicht vorüber. Du bedeutest mir sehr viel. Ich wünschte –« Sie ließ ihn nicht mehr los, hielt ihn schwiegend in den Armen, in der Dunkelheit, die ihn von innen heraus aufzehrte. Die ihn selbst jetzt, da sie ihn an sich drückte, ihr immer mehr entriß. »Du bist ein guter und freundlicher Mensch«, sagte sie. »Und es ist ungerecht so, aber es kann nicht anders sein. Versuche, das Ende abzuwarten. Irgendwann einmal, sehr weit vom Hier und Jetzt entfernt, wirst du den Weg wiedererkennen, den du früher schon gegangen bist. Es wird dir alles wieder einfallen.« Zurückgegeben werden, dachte sie. An dem Tage, da den Menschen alles, was ihnen ungerechterweise weggenommen worden ist, zurückgegeben wird. Es mag tausend Jahre dauern oder sogar noch länger, aber jener Tag wird kommen, und dann werden alle Konten ausgeglichen. Vielleicht hast du wie Tony Amsterdam eine Vision von Gott gesehen, die nur vorübergehend verschwunden ist; die dir entzogen wurde, dachte sie, aber nicht für alle Zeit erloschen ist. Und tief drinnen in den schrecklich verbrannten, den immer noch brennenden Schaltkreisen deines Kopfes, die mehr und mehr verschmoren, selbst jetzt, da ich dich halte, hat sich vielleicht unerkannt ein Funke aus Farbe und Licht gebildet, der sein wahres Wesen nicht preisgibt und der dich doch dank der darin beschlossenen Erinnerung durch die Jahre, die vor dir liegen, diese schrecklichen Jahren, leiten wird. Ein Wort, nicht einmal ganz verstanden, irgendein winziges Ereignis, das man zwar sieht, doch nicht begreift; ein Splitter eines Sterns, begraben unter dem Gerümpel dieser Welt, der dich durch Reflexe leiten soll, bis zu dem Tag … aber wie schwach glomm dieser Funke doch. Nicht einmal sie selbst vermochte ihn sich wirklich vorzustellen. Vermengt mit dem Gewöhnlichen, Alltäglichen, war Bob Arctor vielleicht etwas aus einer anderen Welt erschienen, für einen Augenblick nur.

Alles, was sie jetzt tun konnte, war, ihn in ihren Armen zu halten und zu hoffen.

Aber wenn er eines Tages wieder darauf stieß, dann würde – falls sie Glück hatten – das Muster von seinem Gehirn wiedererkannt werden. Die rechte Hemisphäre würde den korrekten Vergleich ziehen. Und das, auch wenn er jetzt nur noch auf einem subkortikalen Niveau zu denken in der Lage war. Und die Reise, diese für ihn so schreckliche Reise, die ihn so viel gekostet hatte, obwohl sie anscheinend doch völlig ohne Sinn war, würde endlich vorüber sein.

Ein Licht stach in ihre Augen. Vor ihr stand ein Bulle mit Gummiknüppel und Taschenlampe. »Würden Sie beide bitte aufstehen?« sagte der Beamte. »Und mir Ihre Ausweise zeigen? Sie zuerst, Miß.«

Sie löste sich von Bob Arctor, der zur Seite rutschte, bis er auf dem Boden lag; er bemerkte den Bullen gar nicht, der sich ihnen heimlich von einem Privatweg am Fuß des Hügels genähert hatte. Während Donna ihr Ausweismäppchen aus der Geldtasche holte, winkte sie zugleich den Beamten beiseite, dahin, wo Bob Arctor nicht mithören konnte. Mehrere Minuten lang studierte der Beamte beim gedämpften Licht seiner Taschenlampe ihre Ausweise, und dann sagte er:

»Sie sind ein Geheimagent der Bundespolizei.«

»Sprechen Sie leise«, sagte Donna.

»Tut mir leid.« Der Beamte gab ihr die Ausweismappe zurück.

»Hauen Sie endlich ab, verdammt noch mal«, sagte Donna.

Der Beamte leuchtete ihr kurz mit der Taschenlampe ins Gesicht und wandte sich dann ab; er verschwand so geräuschlos, wie er auch gekommen war.

Als sie zu Bob Arctor zurückkehrte, wurde ihr sofort klar, daß er den Bullen überhaupt nicht bewußt wahrgenommen hatte. Er nahm jetzt nahezu nichts mehr bewußt wahr. Nicht einmal sie, geschweige denn irgend jemanden oder irgend etwas anderes.

Weit weg konnte Donna den Polizeiwagen hören, der wie ein verklingendes Echo den ausgefahrenen, von hier aus nicht einsehbaren Privatweg hinunterrollte. Ein paar Wanzen, vielleicht eine Eidechse, raschelten durch das trockene Gras um sie herum. In der Ferne schimmerte das Lichterband des Freeway 91, aber kein Geräusch erreichte sie; der Abstand war zu groß.

»Bob«, sagte sie sanft. »Kannst du mich hören?«

Keine Antwort.

Alle Schaltkreise sind zusammengeschmolzen, dachte sie. Geschmolzen und verschmolzen. Und keiner wird sie wieder öffnen können, egal, wie sehr sie es versuchen mögen. Und sie werden es versuchen.

»Los, komm«, sagte sie und versuchte, ihn auf die Füße zu zerren. »Wir müssen endlich losspritzen.«

Bob Arctor sagte: »Ich kann keine Liebe machen. Mein Ding ist weg.«

»Sie erwarten uns schon«, sagte Donna bestimmt. »Ich hab’ die Verantwortung dafür übernommen, daß du ankommst.«

»Aber was soll ich bloß machen, wenn mein Ding weg ist? Werden sie mich trotzdem aufnehmen?«

Donna sagte: »Sie werden dich nehmen.«

Es bedarf der größten Weisheit, die es nur geben mag, dachte sie, um zu erkennen, wann man Ungerechtigkeit walten lassen darf. Wie kann die Gerechtigkeit jemals dem zum Opfer fallen, was richtig ist? Wie kann so etwas passieren? Sie dachte: Weil auf dieser Welt ein Fluch liegt, und all das hier beweist es; das hier ist der endgültige Beweis, gerade das hier. Irgendwo, auf dem tiefsten möglichen Level, ist der Mechanismus, die Konstruktion der Dinge, auseinandergefallen, und aus dem, was übriggeblieben ist, hat sich das Bedürfnis gelöst, alle die verschiedenen Arten von vagem, verschwommenem Bösen zu tun, zu dem der weiseste Ratschluß uns befähigt hat, und ist an die Oberfläche getrieben. Es muß vor Tausenden von Jahren begonnen haben. Und jetzt hat es sich in das Wesen von allem eingeschlichen. Und, dachte sie, in jeden einzelnen von uns. Wir können uns nicht umwenden oder unseren Mund öffnen und sprechen, ja nicht einmal eine einzige Entscheidung treffen, ohne das Böse zu tun. Es interessiert mich nicht, wie es angefangen hat, wann oder warum. Sie dachte: Ich hoffe nur, daß es einmal enden wird. Wie bei Tony Amsterdam; ich hoffe einfach nur, daß eines Tages der Sprühregen aus helleuchtenden Funken zurückkehren wird und wir ihn diesmal alle sehen werden. Die schmale Pforte, hinter der es Frieden gibt. Eine Statue, das Meer, und das, was wie Mondschein aussieht. Und nichts, was sich bewegt, nichts, was die Ruhe stören könnte.

Vor langer, langer Zeit, dachte sie. Vor dem Fluch, und jedermann und alles fand diese Ruhe. Das Goldene Zeitalter, dachte sie, als Weisheit und Gerechtigkeit dasselbe waren. Bevor alles in scharfkantige Splitter zerbarst. In winzig kleine Bruchstücke, die nicht zusammenpassen, die nicht wieder zusammengefügt werden können, so sehr wir uns auch bemühen.

Unter ihr, in der Dunkelheit, zwischen den wie zufällig in der Nacht verstreuten Lichtern der Stadt, ertönte eine Polizeisirene. Ein Polizeiwagen, der seiner Beute dicht auf den Fersen war. Es klang wie ein geistesgestörtes Tier, das danach gierte, zu töten. Und wußte, daß es bald töten würde. Sie erschauerte; die Nachtluft war kalt geworden. Es war Zeit, zu gehen.

Jetzt kann nicht das Goldene Zeitalter sein, dachte sie. Nicht, wenn solche Geräusche aus der Dunkelheit dringen. Geht diese Art von gierigem Geräusch auch von mir aus? fragte sie sich. Bin ich das? Bin ich jenes Ding, das sich an seine Beute anschleicht oder schon zum Sprung ansetzt?

Das seine Beute schon erlegt hat?

Der Mann neben ihr regte sich schwach und stöhnte; sie half ihm auf. Half ihm auf die Füße und zurück zum Wagen, Schritt für Schritt, half ihm, half ihm, half ihm, weiterzumachen. Unter ihnen war das Geräusch des Polizeiwagens abrupt verstummt; er hatte seine Beute angehalten. Sein Job war getan. Bob Arctor an sich drückend, dachte sie: Meiner ist jetzt auch vorüber.


*


Die beiden Mitarbeiter des Neuen Pfades standen da und musterten das Ding, das da vor ihnen auf dem Fußboden lag, das sich erbrach und zitterte und selbst beschmutzte, die Arme eng um sich gelegt wie in einer Umarmung, als könne es sich auf diese Weise die Kälte fernhalten, die es so heftig zittern ließ.

»Was ist das?« sagte ein Angehöriger des Anstaltspersonals.

Donna sagte: »Ein Mensch.«

»Substanz T?«

Sie nickte.

»Sie hat sein Gehirn aufgefressen. Noch ein Verlierer.«

Sie sagte zu den beiden: »Es ist leicht, zu gewinnen. Jeder, kann gewinnen.« Indem sie sich über Robert Arctor niederbeugte, sagte sie schweigend:

Lebe wohl.

Sie legten gerade eine alte Armeedecke über ihn, als sie ging. Sie schaute nicht zurück.

Sie stieg wieder in ihren Wagen und fuhr sofort zum nächsten Freeway, mitten hinein in den dichtesten Verkehr. Aus der Cassettenbox auf dem Boden des Wagens nahm sie das Band mit Carole Kings Tapestry – ihre Lieblingscassette – und stieß es in das Cassettendeck; gleichzeitig zerrte sie ihre Ruger-Pistole aus der unter dem Armaturenbrett vor neugierigen Blicken verborgenen Magnethalterung. Mit Höchstgeschwindigkeit hängte sie sich an die Stoßstange eines Lieferwagens, der Holzkästen mit Coca-Cola-Familienflaschen transportierte, und während Carole King in Stereo sang, entleerte sie das Magazin der Ruger auf die Coke-Flaschen ein paar Meter vor ihr.

Während Carole King mit einschmeichelnder Stimme von Leuten sang, die sich hinsetzten und sich in Kröten verwandelten, schaffte Donna es, vier Flaschen zu treffen, bevor das Magazin der Pistole leer war. Glassplitter und Coke-Spritzer prasselten auf die Windschutzscheibe ihres Wagens. Jetzt ging es ihr besser.

Gerechtigkeit und Ehrlichkeit und Treue sind nicht Eigenschaften dieser Welt, dachte sie; und dann, bei Gott, rammte sie ihren alten Gegner, ihren Feind von alters her, den Coca-Cola-Lieferwagen, der einfach weiterfuhr, ohne es überhaupt zu bemerken. Der Zusammenprall brachte ihren Wagen ins Schleudern; die Scheinwerfer erloschen, ein Kotflügel kreischte mit einem schreckerregenden Geräusch über einen Reifen, und dann war sie plötzlich vom Freeway herunter, stand auf dem Randstreifen der Gegenfahrbahn. Wasser strömte aus dem Kühler, und Autofahrer bremsten ab, um zu gaffen.

»Komm zurück, du Wichser«, sagte sie zu sich selbst, aber der Coca-Cola-Lieferwagen war längst weg. Möglicherweise war er nicht einmal beschädigt worden. Höchstens ein Kratzer. Tja, früher oder später hatte es wohl dazu kommen müssen, daß sie es in diesem ihrem Krieg mit einem Symbol und einer Realität aufzunehmen versuchte, die zu übermächtig für sie waren. Jetzt wird mein Versicherungssatz wieder in die Höhe gehen, begriff sie, als sie aus ihrem Wagen stieg. Wenn du ein Turnier mit dem Bösen ausfichst, bezahlst du dafür in dieser Welt mit kaltem, hartem Bargeld.

Ein Mustang neueren Jahrgangs wurde langsamer, und der Fahrer, ein Mann, rief ihr zu: »Kann ich Sie mitnehmen, Miß?«

Sie antwortete nicht. Sie ging einfach nur weiter. Eine kleine zerbrechliche Gestalt zu Fuß, die einer Unendlichkeit auf sie eindringender Lichter entgegenblickte.


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