XII

Zwei Tage später beobachtete Fred verwirrt auf dem Schirm von Holo-Kamera Drei, wie sein Objekt offensichtlich nach Zufallskriterien ein Buch aus dem Bücherschrank im Wohnzimmer seines Hauses nahm. Ein Versteck für Dope? fragte Fred und zoomte mit der Kameralinse näher heran. Oder hatte er sich in diesem Band vielleicht eine Telefonnummer oder eine Adresse notiert? Er konnte auf den ersten Blick sehen, daß Arctor das Buch nicht hervorgeholt hatte, um darin zu lesen; Arctor hatte gerade eben erst das Haus betreten und trug immer noch seinen Mantel. Eine eigentümliche Aura umgab ihn; er wirkte gleichzeitig angespannt und ausgelaugt. Als stehe er unter emotionaler Hochspannung und sei doch zugleich völlig abgestumpft.

Die Zoom-Linse zeigte, daß sich auf der von Arctor aufgeschlagenen Seite ein Farbfoto eines Mannes befand, der an der rechten Brustwarze einer Frau knabberte; beide Individuen waren nackt. Die Frau hatte offensichtlich gerade einen Orgasmus; ihre Augen hatten sich halb geschlossen, und ihr Mund klaffte in einem unhörbaren Stöhnen offen. Vielleicht benutzt Arctor das dazu, um sich aufzugeilen, dachte Fred, während er zuschaute. Aber Arctor schenkte dem Bild keine große Aufmerksamkeit; statt dessen rezitierte er zu Freds Verblüffung mit knarrender Stimme einen höchst merkwürdigen Text, teilweise in Deutsch, offenbar, um jeden zu verwirren, der ihn zufällig belauschen sollte. Vielleicht nahm er an, daß seine Mitbewohner irgendwo im Haus waren, und wollte sie auf diese Weise ins Wohnzimmer locken, mutmaßte Fred.

Aber niemand tauchte auf. Luckman – das wußte Fred, weil er sich schon längere Zeit vor den Schirmen aufhielt – hatte sich stereo mit einer Handvoll Reds und einer Ladung Substanz T vollgepumpt und war, noch immer vollständig angezogen, in seinem Schlafzimmer bewußtlos geworden, nur ein paar Schritte von seinem Bett entfernt. Barris war überhaupt nicht zu Hause.

Was macht Arctor da bloß? fragte sich Fred und notierte sich die Kennziffern dieser Bandabschnitte. Er wird immer seltsamer. Jetzt verstehe ich erst, was der Informant, der wegen Arctor anrief, gemeint hat.

Oder, überlegte er, könnten die Sätze, die Arctor laut ausgesprochen hat, der akustische Auslöser für irgendeine elektronische Apparatur sein, die er im Haus installiert hat? An oder aus. Vielleicht erzeugt diese Apparatur sogar ein Interferenzfeld, das die Funktion der Abtastkameras stört … und damit unsere Überwachungstätigkeit. Aber er zweifelte daran. Zweifelte daran, daß Arctors Handlungsweise überhaupt verstandesmäßig erklärbar war oder einen Zweck oder eine Bedeutung hatte – außer für Arctor selbst.

Der Typ ist verrückt, dachte er. Echt verrückt. Seit dem Tag, da er die Schäden an seinem Cephskop entdeckte – spätestens aber von dem Tag an, als er von der Fahrt heimkam, auf der er merkte, daß jemand an seinem Wagen rumgebastelt hatte, und zwar so, daß er dadurch beinahe draufgegangen wäre –, verhält er sich permanent wie ein Irrer. Bis zu einem gewissen Grad auch schon früher, dachte Fred. Aber permanent jedenfalls seit dem »Hundescheiße-Tag«, wie Fred diesen Tag seines Wissens nach nannte.

Eigentlich konnte man ihm deswegen sogar nicht einmal Vorwürfe machen. So etwas, überlegte Fred, während er beobachtete, wie Arctor sich müde aus seinem Mantel schälte, würde jeden um den Verstand bringen. Aber die meisten Leute würden nach einiger Zeit wieder einklinken. Nicht so Arctor. Bei ihm wird’s immer schlimmer. Jetzt liest er doch tatsächlich schon laut Botschaften vor, die gar nicht existieren, und das, obwohl keiner da ist, der sie hören könnte. Und noch dazu in fremden Zungen.

Oder will er mich vielleicht nur bluffen? dachte Fred unbehaglich. Hat er irgendwie herausgefunden, daß er unter permanenter Überwachung steht … und tut er nur so, als sei er verrückt, weil er dadurch von seinen wirklichen Aktivitäten ablenken will? Oder spielt er einfach nur irgendwelche ausgeflippten Spielchen mit uns? Die Zeit, entschied er, wird es an den Tag bringen.

Also wenn man mich fragt, dachte Fred, spielt er uns etwas vor. Manche Leute spüren, wenn sie beobachtet werden. Ein sechster Sinn. Nicht Paranoia, sondern ein primitiver Instinkt: da, was eine Maus hat, jedes gejagte Ding. Es weiß, daß sich jemand anschleicht. Es spürt das. Arctor zieht extra für uns eine Nummer ab, foppt uns. Aber andererseits kann man sich da nie ganz sicher sein. Es gibt Bluffs, unter denen sich noch andere Bluffs verbergen. Unter jeder Schicht liegt immer noch eine weitere.

Der Klang von Arctors obskurer Lesung hatte Luckman geweckt. Die Kamera in seinem Schlafzimmer zeigte, wie er sich benommen aufsetzte und lauschte. Dann vernahm er den Lärm, der entstand, als Arctor beim Aufhängen seines Mantels einen Kleiderbügel fallen ließ. Luckman ließ seine langen, muskulösen Beine unter sich gleiten und griff nach einer Handaxt, die er immer auf dem Tisch neben seinem Bett liegen hatte; er stand jetzt aufrecht und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Tieres auf die Tür seines Schlafzimmers zu.

Im Wohnzimmer nahm Arctor die Post vom Kaffeetisch und blätterte sie durch. Er warf eine kitschige Reklamesendung in Richtung Papierkorb, verfehlte ihn aber.

In seinem Schlafzimmer hörte Luckman das. Er versteifte sich und hob den Kopf, als wolle er eine Witterung aufnehmen.

Arctor, der die Post las, machte plötzlich ein finsteres Gesicht und sagte: »Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt.«

In seinem Schlafzimmer entspannte Luckman sich, legte die Axt mit einem lauten Klirren beiseite, glättete sein Haar, öffnete die Tür und trat hinaus. »Hi. Was gibt’s Neues?«

Arctor sagte: »Ich bin heute am Gebäude der Maylar Mikropunkt AG vorbeigekommen.«

»Erzähl mir doch keinen vom Pferd.«

»Sie waren gerade dabei, Inventur zu machen«, sagte Arctor. »Aber anscheinend hatte einer der Angestellten die ganzen Inventurlisten am Absatz seines Schuhs nach draußen geschleppt. Darum hechelte die ganze Belegschaft draußen auf dem Parkplatz der Maylar Mikropunkt AG herum, mit Pinzetten und einer Unmenge von Lupen. Und einer kleinen Papiertüte.«

»Gab’s auch ‘ne Prämie für den ehrlichen Finder?« sagte Luckman gähnend und schlug sich mit den Handflächen auf seinen flachen, harten Bauch.

»Klar hatten die ‘ne Belohnung ausgesetzt«, sagte Arctor. »Nur hatten sie die auch verloren. Es war nämlich ‘n winzig kleiner Penny.«

Luckman sagte: »Du siehst ‘ne ganze Menge merkwürdiger Sachen, wenn du so durch die Gegend fährst, ja?«

»Nur in Orange County«, sagte Arctor.

»Wie groß ist eigentlich das Gebäude dieser Maylar Mikropunkt AG?«

»Knapp drei Zentimeter«, sagte Arctor.

»Und was schätzt du, daß es wiegt?«

»Mit oder ohne Belegschaft?«

Fred ließ das Band im Schnellvorlauf vorwärtsschießen. Als die Skalen anzeigten, daß eine Stunde verstrichen war, hielt er es für einen Augenblick an.

»– ungefähr zehn Pfund«, sagte Arctor gerade.

»Sag’ mal, wenn das Gebäude nur drei Zentimeter groß ist und nur zehn Pfund wiegt, wieso hast du es dann überhaupt bemerkt?«

Arctor, der jetzt auf der Couch saß und die Füße hochgelegt hatte, sagte: »Sie haben ein großes Firmenschild.«

Herr im Himmel! dachte Fred und spulte das Band erneut vorwärts. Aus einem vagen Impuls heraus hielt er es nach nur zehn Minuten real verstrichener Zeit an.

»– wie sieht dieses Firmenschild aus?« sagte Luckman gerade. Er saß auf dem Fußboden und reinigte eine Katzengras-Kiste. »Neon oder so? Farben? Ich überleg’ mir die ganze Zeit, ob ich’s vielleicht schon mal gesehen hab’ Fällt es einem sofort ins Auge?«

»Hier, ich werd’s dir zeigen«, sagte Arctor und langte in die Brusttasche seines Hemdes. »Ich hab’s mitgebracht.«

Wieder schaltete Fred auf Schnellvorlauf.

»– weißt du eigentlich, wie man Mikropunkte in jedes beliebige Land schmuggeln könnte, ohne daß irgendwer was spitzkriegen würde?« sagte Luckman gerade.

»Wahrscheinlich auf jedem beliebigen Weg«, sagte Arctor und lehnte sich bequem zurück. Er rauchte einen Joint, und eine dicke Qualmwolke verfinsterte das Wohnzimmer.

»Nein, ich meine einen Weg, auf den nie jemand kommen würde«, sagte Luckman. »Barris hat ihn mir eines Tages mal verraten, unter dem Siegel der Verschwiegenheit; ich sollte keinem was davon erzählen, weil er es in seinem Buch verarbeiten will.«

»Was für ein Buch? Kleine Dopekunde für –«

»Nein. Einfache Tricks, um x-beliebige Objekte in die Vereinigten Staaten einzuschmuggeln oder auch wieder hinaus, je nachdem, in welcher Richtung man die Grenze überquert. Man schmuggelt sie mit einer Lieferung Dope ein. Zum Beispiel mit Heroin. Die Mikropunkte sind in den Päckchen drin. Keiner würde das merken, weil sie so klein sind. Sie würden nicht –«

»Aber dann würde sich irgendein Junkie einen Hit schießen, der zur Hälfte aus Smack und zur Hälfte aus Mikropunkten besteht.«

»Tja, dann würde er wohl plötzlich der scheiß-ge­bil­detste Junkie sein, der dir je über den Weg gelaufen ist. «

»Käme ganz darauf an, was auf den Mikropunkten war.«

»Barris hatte auch noch ‘nen ganz neuen Trick auf Lager, um Dope über die Grenze zu schmuggeln. Du kennst das doch, diese Typen vom Zoll fragen einen immer, ob man was zu verzollen hat, richtig? Und da kann man ja schließlich nicht sagen: ›Ja, Dope‹, weil –«

»Okay, wie geht dieser Trick denn nun?«

»Tja, schau mal, du nimmst einfach einen großen Klotz Hasch und schnitzst so lange daran herum, bis er von außen wie ein Mensch aussieht. Anschließend höhlst du ihn teilweise aus und baust ein Aufziehwerk und ein kleines Cassettengerät ein. Dann stellst du dich mit ihm in die Schlange, und direkt vor der Zollabfertigung ziehst du ihn mit dem Schlüssel auf, und er geht von ganz alleine zu dem Mann vom Zoll hin. Der sagt dann zu ihm: ›Haben Sie etwas zu verzollen?‹ und der Haschklotz sagt: ›Nein, nichts‹ und marschiert einfach immer geradeaus weiter bis er auf der anderen Seite der Grenze stehenbleibt, weil das Uhrwerk abgelaufen ist.«

»Man könnte auch statt einer Feder eine Art Solarzellenbatterie einbauen. Dann könnte er jahrelang weitermarschieren. Bis in alle Ewigkeit.«

»Und was sollte das bringen? Am Ende würde er entweder den Pazifik oder den Atlantik erreichen. Vielleicht würde er sogar über den Rand der Welt hinauswandern, wie –«

»Stell’ dir mal ein Eskimodorf vor und einen zwei Meter großen Haschklotz, so ungefähr im Wert von – wieviel würde der wohl wert sein?«

»Ungefähr eine Milliarde Dollars.«

»Mehr. Zwei Milliarden.«

»Die Eskimos kauen gerade Seehundsfelle und schnitzen Knochenspeere, und dieser Haschklotz, der zwei Milliarden Dollar wert ist, kommt durch den Schnee dahermarschiert und sagt wieder und wieder: ›Nein, nichts‹.«

»Sie würden sich bestimmt fragen, was er damit wohl meint. «

»Sie würden so verwirrt sein, daß sie gar nicht mehr darüber wegkämen. Legenden würden entstehen.«

»Kannst du dir vorstellen, deinen Enkeln zu erzählen: ›Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie der zwei Meter große Haschklotz aus den treibenden Nebeln auftauchte und vorüberschritt, ungefähr in die Richtung da vorne, und er war zwei Milliarden Dollar wert und sagte immer nur: ›Nein, nichts.‹ Seine Enkel würden ihn ins Irrenhaus stecken.«

»Nein, schau mal, Legenden bauschen immer alles auf. Nach ein paar Jahrhunderten würde die Geschichte ungefähr so gehen: ›Zu Zeiten unserer Altvorderen stürmte eines Tages ein dreißig Meter großer Klotz aus ganz hervorragendem Schwarzen Afghanen, der acht Trilliarden Dollar wert war und tödliches Feuer versprühte, auf uns los und schrie: »Sterbt, Eskimo-Hunde!« und wir kämpften todesmutig mit unseren Speeren gegen ihn und töteten ihn am Ende auch.‹«

»Die Kinder würden auch die Version nicht glauben.«

»Kinder glauben einem sowieso überhaupt nichts mehr.«

»Es bringt dich echt runter wenn du dich mit einem Kind unterhältst. Mich hat mal ein Kind gefragt: ›Wie war das eigentlich für dich, als du das erste Auto gesehen hast?‹ Scheiße, Mann, ich bin 1962 geboren.«

»Mein Gott«, sagte Arctor, »genau das hat mich auch mal ein Typ gefragt, den ich kannte. Hatte zuviel Acid geschluckt. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, nur drei Jahre jünger als ich. Er bekam überhaupt nichts mehr auf die Reihe. Später pfiff er noch ein paar Hits Acid ein – oder was sie ihm als Acid verkauft hatten –, und danach pinkelte er auf den Fußboden und schiß auf den Fußboden, und wenn man etwas zu ihm sagte, wie etwa: ›Wie geht’s dir, Don?‹ dann sprach er einem das nur nach wie ein Papagei. ›Wie geht’s dir, Don?‹«

Das Gespräch verstummte, und das Schweigen hing wie der Qualm des Joints zwischen den beiden Männern in dem dunstigen Wohnzimmer. Ein langes, düsteres Schweigen.

»Bob, weißt du was?« sagte Luckman schließlich. »Ich bin immer gerade so alt gewesen wie alle anderen.«

»Ich glaube, ich auch«, sagte Arctor.

»Ich weiß nicht, woran das gelegen hat.«

»Aber natürlich weißt du das, Luckman«, sagte Arctor. »Nämlich daran, woran es bei uns allen gelegen hat.«

»Hm. Du, reden wir über was anderes, ja?« Er inhalierte wieder geräuschvoll, und sein langes Gesicht war ein blasser Fleck im trüben Licht des Mittags.


*


Eines der Telefone im Kontroll-Zentrum klingelte. Ein Jedermann-Anzug nahm das Gespräch entgegen und schob den Apparat dann zu Fred hinüber. »Fred.«

Er stellte die Holos ab und griff nach dem Hörer.

»Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie letzte Woche unten bei uns waren?« sagte eine Stimme. »Und dem OH-Test unterzogen wurden?«

Nach längerem Schweigen sagte Fred: »Ja.«

»Sie sollten noch einmal wiederkommen.« Eine Pause auch am anderen Ende der Leitung. »Wir haben weiteres Material über Sie gesichtet. Material neueren Datums … Ich habe es für nötig erachtet, einen neuen Termin für Sie anzuberaumen, bei dem Sie sämtliche Standard-Perzep­tionstests sowie einige andere Tests absolvieren werden. Dieser Termin ist morgen um fünfzehn Uhr, wieder im selben Raum. Alles in allem werden die Tests ungefähr vier Stunden in Anspruch nehmen. Wissen Sie noch die Zimmernummer?«

»Nein«, sagte Fred.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Okay«, sagte Fred stoisch.

»Irgendwelche Probleme? Während oder außerhalb des Dienstes?«

»Ich hab’ Krach mit meinem Mädchen gehabt. «

»Irgendwelche Bewußtseinsstörungen? Haben Sie bisweilen Schwierigkeiten, Personen oder Gegenstände zu identifizieren? Kommt es Ihnen manchmal so vor, als seien bestimmte Dinge, die Sie sehen, umgekehrt oder verkehrt? Und da ich gerade danach frage … irgendwelche Raum-Zeit- oder Sprachdesorientierungen?«

»Nein«, sagte er mürrisch. »Nein auf alle Fragen.«

»Wir erwarten Sie dann also morgen in Zimmer 203«, sagte der medizinische Assistent.

»Welches Material über mich hat Sie eigentlich dazu bewogen –«

»Darüber reden wir morgen. Kommen Sie einfach hin. All right? Und, Fred … Kopf hoch.« Klick.

Tja, ein herzliches Klick auch Ihnen, dachte er und legte auf.

Voller Verärgerung darüber, daß sie ihm solche Scherereien machten und ihn dazu zwangen, etwas zu tun, wogegen sich alles in ihm auflehnte, schaltete er einmal mehr die Holos an; die Schirme leuchteten in bunten Farben auf, und die dreidimensionalen Szenen darauf erfüllten sich mit Leben. Aus dem Lautsprecher drang noch mehr von dem nutzlosen, für Fred so frustrierenden Geplapper:

»Diese Puppe«, schwafelte Luckman weiter, »war also schwanger geworden und beantragte eine Abtreibung, weil ihre Periode schon viermal ausgeblieben war und ihr Bauch sichtlich dicker wurde. Die ganze Zeit über beschwerte sie sich ständig über die Kosten für die Abtreibung; aus irgendeinem Grund wollte die Wohlfahrt nämlich kein Geld dafür rausrücken. Nun, eines Tages war ich mal bei ihr auf der Bude, und da war so eine Freundin von ihr da und sagte ihr knallhart ins Gesicht, daß sie ja sowieso nur eine hysterische Schwangerschaft – ‘ne Scheinschwangerschaft also – hätte. ›Du willst einfach nur glauben, daß du schwanger bist‹ schimpfte die Puppe auf sie ein. ›Ein reiner Schuld-Trip. Und die Abtreibung und das ganze Moos, das du dafür blechen mußt, das ist ein Selbstbestrafungs-Trip.‹ Und daraufhin schaute die Puppe sie ganz ruhig an – ich stand damals echt auf sie, nebenbei bemerkt – und sagte: ›Na gut, wenn es also eine hysterische Schwangerschaft ist, dann werde ich auch eine hysterische Abtreibung haben und dafür mit hysterischem Geld bezahlen!‹«

Arctor sagte: »Ich möchte zu gerne wissen, wem eigentlich das Gesicht auf der hysterischen Fünf-Dollar-Note gehört.«

»Tja, wer war unser hysterischster Präsident?«

»Bill Falkes. Er glaubte bloß, er sei Präsident.«

»Und wann, dachte er, sei seine Amtszeit gewesen?«

»Er bildete sich ein, er sei für zwei Amtsperioden im Amt gewesen, so ungefähr um 1882. Später, nachdem er sich einer längeren Therapie unterzogen hatte, kam er immerhin so weit, daß er bloß noch glaubte, es sei nur eine Amtszeit gewesen –«

Wutentbrannt schlug Fred auf die Bedienungselemente der Holos und ließ die Bänder zweieinhalb Stunden vorwärts jagen. Wie lange geht dieser Rotz denn noch weiter? fragte er sich. Den ganzen Tag? Bis in alle Ewigkeit?

»– also bringst du dein Kind zum Doktor – zum Psychologen – und erzählst ihm, daß dein Kind die ganze Zeit über schreit und Wutanfälle hat.« Vor Luckman auf dem Kaffeetisch lagen neben einer Dose Bier zwei Beutel mit Grass; er unterzog gerade das Grass einer genauen Überprüfung. »Und es lügt; das Kind lügt. Erfindet übertriebene Geschichten. Und der Psychologe untersucht das Kind, und seine Diagnose lautet: ›Gnädige Frau, Ihr Kind ist hysterisch. Sie haben ein hysterisches Kind. Aber ich kann Ihnen leider auch nicht sagen, woran das liegt.‹ Und dann merkst du, die Mutter, daß deine große Stunde gekommen ist, und du jubelst ihm die Wahrheit ganz locker unter den Kittel: ›Ich weiß, woran das liegt, Herr Doktor. Nämlich daran, daß ich eine hysterische Schwangerschaft hatte.‹ Luckman und Arctor lachten beide, und auch Jim Barris fiel in ihr Gelächter ein; er war irgendwann während der letzten zwei Stunden zurückgekommen und saß bei ihnen. Er arbeitete wieder an seiner irren Hasch-Pfeife; er war immer noch nicht fertig, den Pfeifenkopf mit weißem Bindfaden zu umwickeln.

Wieder spulte Fred das Band um eine volle Stunde vor.

»– dieser Typ«, sagte Luckman gerade und strich vorn­übergebeugt das Grass in einer kleinen Schachtel glatt, während Arctor ihm gegenübersaß und ihm mit halbem Auge dabei zuschaute, »trat im Fernsehen auf und behauptete von sich, ein weltberühmter Hochstapler zu sein. Im Laufe seiner Karriere, so erzählte er dem Interviewer, sei er in einer Vielzahl von Rollen aufgetreten, unter anderem als berühmter Chirurg vom John Hopkins Medical College, als Physiker, der mit einem staatlichen Forschungsstipendium in Harvard an der Theorie hochbeschleunigter subatomarer Teilchen arbeitete, als ein finnischer Romancier, der den Literaturnobelpreis gewonnen hatte, als abgesetzter argentinischer Staatspräsident, der jetzt verheiratet war mit –«

»Und mit dem allen ist er durchgekommen?« fragte Arctor. »Man hat ihn nie erwischt?«

»Der Typ hat sich nie als irgendeiner dieser Leute ausgegeben. Er hat sich nie als irgendwas ausgegeben, außer als weltberühmter Hochstapler. Das kam später durch einen Artikel in der L. A. Times heraus – die hatten die Geschichte nachgeprüft. Der Typ war ‘n einfacher Besenschwinger in Disneyland, oder jedenfalls war er das so lange gewesen, bis er die Autobiographie eines weltberühmten Hochstaplers in die Finger kriegte –es gab nämlich wirklich mal so einen – und sich sagte: ›Zum Teufel, wenn der sich als diese ganzen exotischen Macker ausgibt und damit durchkommt, dann kann ich das schon lange‹, aber später hat er sich’s wohl anders überlegt und sich gesagt: ›Zum Teufel, was soll das eigentlich; ich werd’ mich einfach als Hochstapler ausgeben!‹ Er hat auf diese Weise ‘ne Menge Moos gemacht, stand in der Times. Fast so viel wie der echte weltberühmte Hochstapler. Und er sagte, es wäre so doch viel einfacher gewesen.«

Barris, der in seiner Ecke immer noch Bindfaden aufwickelte, sagte wie zu sich selbst: »Auch wir sehen ab und an Hochstapler. In unserer nächsten Umgebung. Aber sie geben sich nicht als Physiker für subatomare Teilchen aus.«

»Rauschgift-Agenten, meinst du«, sagte Luckman. »Yeah, Rauschgift-Agenten. Ich frage mich manchmal, wie viele Rauschgift-Agenten wir kennen. Wie sieht so ein Rauschgift-Agent eigentlich aus?«

»Das ist ja, als würdest du fragen: Wie sieht so ein Hochstapler eigentlich aus?« sagte Arctor. »Ich hab’ mich mal mit einem großen Hasch-Dealer unterhalten, der hopsgenommen worden war, als er gerade zehn Pfund Hasch in seiner Tasche hatte. Ich hab’ ihn gefragt, wie der Rauschgift-Agent, der ihn hatte auffliegen lassen, denn aussah. Ihr wißt schon, der – na, wie sagt man doch gleich? – der Lockvogel, der auftrat und sich als Freund eines Freundes ausgab und ihn dazu brachte, ihm etwas Hasch zu verkaufen.«

»Wahrscheinlich«, sagte Barris und wickelte weiter Bindfaden auf, »ganz genau so wie wir.«

»Viel echter als wir«, sagte Arctor. »Dieser Macker, dieser Hasch-Dealer, meine ich – er war übrigens schon verknackt worden und mußte am nächsten Tag in den Kahn –, der erzählte mir: ›Sie haben längere Haare als wir.‹ Und die Lehre, die man daraus ziehen kann, ist wohl: Halte dich bloß von Typen fern, die so aussehen wie wir.«

»Es gibt auch weibliche Rauschgift-Agenten«, sagte Barris.

»Ich möchte gerne mal einen Rauschgift-Agenten kennenlernen«, sagte Arctor. »Ich meine, bewußt. Einen, bei dem ich mit Bestimmtheit weiß, daß es einer ist.«

»Tja«, sagte Barris, »mit Bestimmtheit würdest du das erst wissen, wenn er dir die Handschellen anlegt. Falls es mal so weit kommt.«

Arctor sagte: »Was mich interessieren würde … haben Rauschgift-Agenten eigentlich Freunde? Wie sieht ihr gesellschaftliches Leben aus? Wissen ihre Ehefrauen Bescheid?«

»Rauschgift-Agenten haben keine Ehefrauen«, sagte Luckman. »Sie leben in Höhlen und spähen unter geparkten Wagen hinter dir her, wenn du vorübergehst. Wie Trolle.«

»Und was essen sie?« sagte Arctor.

»Menschen«, sagte Barris.

»Wie kann ein Typ das bloß machen?« sagte Arctor. »Sich als Rauschgift-Agent ausgeben?«

»Was?« sagten Barris und Luckman wie aus einem Munde.

»Scheiße, ich bin heute echt ausgeklinkt«, sagte Arctor mit einem schiefen Grinsen. »›Sich als Rauschgift-Agent ausgeben‹ – wow.« Er schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf.

Luckman starrte ihn an. »SICH ALS RAUSCHGIFT-AGENT AUSGEBEN? SICH ALS RAUSCHGIFT-AGENT AUSGEBEN?«

»Ich glaub’, mein Gehirn ist heute eine einzige Motsche«, sagte Arctor. »Ich hau’ mich besser in die Falle. «

Vor den Schirmen unterbrach Fred den Bandvorlauf; alle Bildwürfel gefroren, und der Ton erstarb.

»Machste ‘ne Pause, Fred?« rief einer der anderen Jedermann-Anzüge zu ihm hinüber.

»Yeah«, sagte Fred. »Ich bin müde. Dieser Scheiß geht einem nach ‘ner Weile ganz schön auf den Geist.« Er stand auf und zündete sich eine Zigarette an. »Ich kapier’ schon nicht mehr die Hälfte von dem, was sie sagen, so müde bin ich. Und ich hab’s satt«, fügte er hinzu, »ihnen zuzuhören.«

»Wenn man selbst dabeisitzt«, sagte ein Jedermann-Anzug, »ist es längst nicht so schlimm; richtig? Ich nehm’ doch an, daß du dabeigesessen hast – daß du einer aus dieser Gruppe bist, natürlich in einer Tarnidentität. Stimmt’s?«

»Ich würde nie mit Spinnern wie denen da rumhängen«, sagte Fred. »Die reden doch nur immer und immer wieder das gleiche, wie senile alte Opas. Warum machen sie das eigentlich, dauernd nur rumsitzen und Scheiß labern?«

»Warum machen wir das, was wir machen? Im Grunde genommen ist das doch auch immer wieder das gleiche, wenn man’s sich mal genau anschaut.«

»Aber wir müssen das machen; das ist unser Job. Wir können uns das nicht aussuchen.«

»Wie senile alte Opas«, warf ein Jedermann-Anzug ein. »Die können sich das auch nicht aussuchen. Die sind einfach so.«

Sich als Rauschgift-Agent ausgeben, dachte Fred. Was bedeutet das? Keiner weiß das …

So tun, überlegte er, als sei man ein Hochstapler. Einer, der unter parkenden Wagen lebt und Dreck frißt. Nicht ein weltberühmter Chirurg oder Romancier oder Politiker; jemand, um den sich keine Fernsehanstalt reißen würde. Das ist kein Leben, das irgend jemand, der noch bei Verstand ist …


Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt,

Den, wie er sich im Staube nährend lebt,

Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt.[9]


Ja, das trifft es ganz genau, dachte er. Dieses Gedicht. Luckman muß es mir vorgelesen haben, oder vielleicht haben wir es mal in der Schule durchgenommen. Lustig, was da manchmal aus den Tiefen der Erinnerung wieder an die Oberfläche kommt. Was das Gehirn so alles speichert.

Arctors verdrehte Worte wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen, obwohl er doch das Band schon längst gestoppt hatte. Ich wünschte mir, ich könnte sie vergessen, dachte er. Ich wünschte mir, ich könnte – wenigstens für eine Zeitlang – ihn vergessen.

»Irgendwie krieg’ ich das Gefühl«, sagte Fred, »daß ich manchmal weiß, was sie im nächsten Augenblick sagen werden. Noch bevor sie es aussprechen. Ihre genauen Worte.«

»Das nennt man Déjà vu«, nickte einer der Jedermann-Anzüge. »Paß mal auf, ich will dir mal ‘n paar gute Tips geben. Spul das Band immer über einen längeren Aufnahmezeitraum vor, also nicht nur eine Stunde sondern, sagen wir mal, sechs Stunden. Wenn sich da nichts Bemerkenswertes ereignet, dann spulst du es zurück, bis du auf etwas stößt. Rückwärts, verstehst du, statt vorwärts. Auf diese Weise kommst du nicht in ihren Rhythmus. Du schwimmst sozusagen gegen den Strom. Sechs oder sogar acht Stunden vorwärts, dann in großen Sprüngen zurück … Du wirst den Dreh bald raushaben und ein Gespür dafür kriegen, ob du nun Kilometer um Kilometer von diesem Nichts vor dir hast oder ob irgendwo was Verwertbares darunter ist.«

»Und du wirst eigentlich gar nicht wirklich zuhören«, sagte der andere Jedermann-Anzug. »Bis du wirklich auf etwas stößt. Wie eine Mutter, wenn sie schläft – nichts macht sie wach, nicht einmal ein vorbeifahrender Lastwagen, bis sie ihr Baby weinen hört. Das weckt sie – das erregt ihre Aufmerksamkeit. Ganz egal, wie schwach das Weinen auch immer sein mag. Das Unterbewußtsein arbeitet selektiv, wenn es erst einmal gelernt hat, auf was es achten muß.«

»Ich weiß«, sagte Fred. »Ich habe selbst zwei Kinder.«

»Jungen?«

»Mädchen«, sagte er. »Zwei kleine Mädchen.«

»Ist ja suuuuper«, sagte einer der Jedermann-Anzüge. »Ich hab’ auch ein Mädchen, ein Jahr alt.«

»Bitte keine Namen«, sagte der andere Jedermann-Anzug, und sie alle lachten. Ein bißchen.

Jedenfalls, sagte Fred zu sich selbst, gibt es jetzt endlich etwas, das sich aus dem ganzen Zeug auf den Bändern auszusondern und weiterzuleiten lohnt. Diese kryptische Äußerung darüber, »sich als ein Rauschgift-Agent auszugeben«. Die anderen Männer bei Arctor im Haus – auch die hat diese Äußerung überrascht. Wenn ich morgen um drei rübergehe, werde ich eine Kopie davon mitnehmen – ein Band allein mit dem Ton müßte reichen – und das mal mit Hank durchdiskutieren. Das und alles andere, was ich bis morgen noch finde.

Aber selbst wenn das alles ist, was ich Hank vorlegen kann, dachte er, so ist es immerhin doch ein Anfang. Es zeigt, daß diese Rund-um-die-Uhr-Überwachung Arctors keine Verschwendung ist.

Es zeigt, dachte er, daß ich recht hatte.

Diese Bemerkung war ein Ausrutscher. Arctor hat sich verplappert.

Was diese Äußerung allerdings bedeuten sollte, wußte er bisher noch nicht.

Aber das, sagte er zu sich selbst, werden wir schon noch herausfinden. Wir werden so lange an Bob Arctor dranbleiben, bis er reif ist. Auch wenn es noch so unerquicklich ist, ihm und seinen Kumpels die ganze Zeit über zusehen und zuhören zu müssen. Diese Kumpels von ihm, dachte er, sind genauso schlimm wie er selbst. Wie habe ich es bloß jemals aushalten können, die ganze Zeit über mit denen allen in diesem Haus rumzuhängen? Was für eine Art, sein Leben zu verbringen; was für ein, wie der andere Beamte es genannt hatte, endloses Nichts.

Ganz tief unten, dachte er, in der Motsche, der Motsche ihres Gehirns und der Motsche, die sie von außen umgibt; überall nichts als Motsche. Und das liegt nur an ihnen selbst – daran, was für eine Art von Individuen sie sind.

Er steckte seine Zigaretten ein und ging zurück in den Waschraum, verriegelte die Tür. Dann nahm er zehn Tabletten Tod aus der Zigarettenschachtel, füllte eine Blechtasse mit Wasser und pfiff alle zehn Tabs ein. Er wünschte sich, mehr Tabs mitgenommen zu haben. Na ja, dachte er, ich kann ja noch ein paar schlucken, wenn ich die Arbeit hinter mich gebracht habe. Wenn ich nach Hause komme. Er schaute auf seine Uhr und versuchte, auszurechnen, wie lange das wohl noch hin war. Aber er konnte kaum noch klar denken; wie lange, zum Teufel, ist es bis dahin noch? fragte er sich und überlegte zugleich, was aus seinem Zeitgefühl geworden sein mochte. Das Betrachten der Schirme hat mein Zeitgefühl durcheinandergebracht, erkannte er plötzlich. Ich weiß nicht einmal mehr, wie spät es schon ist.

Ich fühle mich, als hätte ich Acid geschluckt und wäre dann durch eine Wagenwaschanlage geschickt worden, dachte er.

Unmengen von gigantischen, wirbelnden, seifigen Bürsten, die auf mich eindringen; von einer Kette immer tiefer hineingezogen in Tunnels aus schwarzem Schaum. Was für eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dachte er und entriegelte die Tür des Waschraumes, um widerwillig zurück an die Arbeit zu gehen.

Als er den Bandtransport erneut anstellte, sagte Arctor gerade: »– soweit ich das bisher überblicken kann, ist Gott tot.«

Luckman antwortete: »Ich wußte nicht mal, daß Er krank war.«

»Da mein Olds jetzt wohl endgültig im Arsch ist«, sagte Arctor, »habe ich beschlossen, ihn zu verscheuern und mir statt dessen eine Ente zu kaufen.«

»Wie teuer ist ‘ne Ente?« sagte Barris.

Bei sich dachte Fred: Kommt ganz aufs Gewicht an.

»Kommt ganz aufs Gewicht an«, sagte Arctor.


*


Am folgenden Nachmittag um drei Uhr wurde Fred, der sich noch schlechter fühlte als am Tag zuvor, von zwei medizinischen Assistenten – nicht denselben wie beim ersten Mal – mehreren Tests unterzogen.

»In rascher Aufeinanderfolge werden Sie nun eine Anzahl von Objekten, die Ihnen vertraut sein müßten, vor sich vorbeiziehen sehen, und zwar zunächst vor Ihrem linken und dann vor Ihrem rechten Auge. Zur gleichen Zeit werden auf dem Leuchtschirm vor Ihnen simultan Umrißzeichnungen mehrerer solcher Ihnen vertrauter Objekte erscheinen, und Sie sollen mit Hilfe des Druckstiftes markieren, welches Ihrer Ansicht nach die korrekte Umrißzeichnung des jeweils gerade sichtbaren Objektes ist. Die Objekte werden sich allerdings sehr schnell an Ihnen vorüberbewegen, also zögern Sie nicht zu lange. Neben Ihrer Trefferzahl wird auch die von Ihnen benötigte Zeit bewertet. Okay?«

»Okay«, sagte Fred, den Druckstift einsatzbereit.

Dann lief eine ganze Herde vertrauter Objekte an ihm vorbei, und er stieß mit dem Stift auf die beleuchteten Fotos darunter. Zuerst exerzierte er diese Übung mit dem linken Auge durch und dann noch einmal mit dem rechten Auge.

»Als nächstes wird vor Ihrem rechten Auge kurzzeitig das Bild eines vertrauten Objekts erscheinen; Ihr linkes Auge wird dabei abgedeckt sein. Sie sollen mit Ihrer linken Hand, ich wiederhole, Ihrer linken Hand, in eine Gruppe von Objekten hineinlangen und das eine finden, dessen Bild Sie gesehen haben.«

»Okay«, sagte Fred. Das Bild eines einzelnen Würfels wurde kurzzeitig gezeigt; mit der linken Hand tastete er zwischen vor ihm aufgebauten kleinen Objekten herum, bis er einen Würfel fand.

»Im nächsten Test werden sich in Reichweite Ihrer linken Hand mehrere Buchstaben befinden, die zusammen ein Wort ergeben, die Sie aber nicht sehen können. Sie werden diese Buchstaben ertasten und dann mit Ihrer rechten Hand das von den Buchstaben gebildete Wort aufschreiben.«

Er tat das. Die Buchstaben ergaben das Wort WARM.

»Sprechen Sie bitte nun das Wort aus, das sich ergibt.«

Also sagte er: »Warm.«

»Als nächstes werden Sie in diese vollständig dunkle Schachtel hineinlangen, während zugleich beide Augen abgedeckt sind, und mit Ihrer linken Hand ein Objekt berühren, um es zu identifizieren. Sagen Sie uns dann, worum es sich bei diesem Objekt handelt, ohne es visuell wahrgenommen zu haben. Danach werden Ihnen drei Objekte gezeigt werden, die einander irgendwie ähnlich sehen, und Sie sollen uns sagen, welches der drei Objekte, die Sie sehen, am stärksten dem Objekt ähnelt, das Sie mit der Hand berührt haben.«

»Okay«, sagte Fred und absolvierte auch diesen und viele weitere Tests, fast eine Stunde lang. Tasten, benennen, mit einem Auge betrachten, auswählen. Tasten, benennen, mit dem anderen Auge betrachten, auswählen. Hinschreiben, zeichnen.

»In dem nun folgenden Test werden Sie, während Ihre Augen wieder abgedeckt sind, hinauslangen und mit jeder Ihrer beiden Hände jeweils ein Objekt fühlen. Sie sollen uns sagen, ob das Objekt, das Ihrer linken Hand präsentiert wird, mit dem identisch ist, das Ihrer rechten präsentiert wird.«

Er tat das.

»Hier nun in schneller Folge Bilder von Dreiecken in verschiedenen Positionen. Sie sollen uns sagen, ob es dasselbe Dreieck ist oder –«

Nach zwei Stunden ließen sie ihn komplizierte Klötze in komplizierte Löcher einpassen und stoppten die Zeit, die er dafür brauchte. Er fühlte sich, als sei er wieder in der ersten Klasse, in der er auch immer alle Tests vermasselt hatte. Ihm kam es vor, als schneide er jetzt noch schlechter ab als damals. Fräulein Frinkel, dachte er; das alte Fräulein Frinkel. Während ich diesen Scheiß machen mußte, stand sie immer nur da, beobachtete mich und schleuderte mir Sterbebefehle entgegen, wie man das in der Transaktions-Analyse nennt. Stirb. Hör auf zu existieren. Hexenmutter-Flüche. Eine ganze Ladung davon, bis ich am Ende wirklich Mist baute. Vielleicht war Fräulein Frinkel jetzt schon längst tot. Vielleicht hatte es jemand geschafft, sich seinerseits mit einem Sterbebefehl zu revanchieren, und es hatte gewirkt. Er hoffte es. Vielleicht hatte sie sogar einer seiner eigenen Sterbebefehle erwischt. Übrigens schleuderte er auch den Testern, die ihm gegenübersaßen, jetzt solche Befehle entgegen.

Es schien aber nicht viel zu nützen. Der Test ging weiter.

»Was ist an diesem Bild falsch? Eines der Objekte paßt nicht zu den anderen. Sie sollen markieren –«

Er tat das. Dann folgte ein Test mit realen Objekten, von denen eines nicht in die Schar der anderen gehörte; man erwartete von ihm, hinzugreifen und das Anstoß erregende Objekt zu entfernen. Danach sollte er alle Anstoß erregenden Objekte aus einer Vielzahl von »Sets« – wie die Tester das nannten – herausnehmen und sagen, ob all die Anstoß erregenden Objekte ein gemeinsames Merkmal hatten, und wenn ja, welches. Ob auch sie zusammen wieder ein »Set« ergaben.

Er mühte sich immer noch damit ab, als die Tester ihm mitteilten, die ihm zur Verfügung stehende Zeit sei abgelaufen, die Testreihen für beendet erklärten und ihn aufforderten, eine Tasse Kaffee trinken zu gehen und anschließend draußen zu warten, bis man ihn wieder hereinriefe.

Nach einer Zeit – die ihm verdammt lange vorkam – erschien einer der Tester und sagte: »Da wäre noch eine Sache, Fred –wir hätten gerne eine Blutprobe von Ihnen.« Er gab ihm einen Zettel: eine Laborüberweisung. »Gehen Sie die Halle hinunter zu dem Raum mit der Aufschrift ›Pathologisches Labor‹ und geben Sie das hier dort ab. Dann, nach der Blutentnahme, kommen Sie hierher zurück und warten.«

»In Ordnung«, sagte er düster und schlenderte mit der Überweisung in der Hand davon.

Spuren im Blut, begriff er. Danach suchen sie.

Als er vom pathologischen Labor wieder nach Zimmer 203 zurückkam, machte er sich an einen der Tester heran und sagte: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich nach oben gehen würde, um mit meinem Vorgesetzten zu konferieren, während ich auf Ihre Ergebnisse warte? Er hat bald Dienstschluß.«

»Keine Einwände«, sagte der Tester. »Da wir beschlossen haben, Ihnen eine Blutprobe abnehmen zu lassen, wird es ohnehin länger dauern, bis wir die Schluß­auswertung machen können; ja, gehen Sie ruhig rauf. Wir werden oben anrufen, wenn wir Sie wieder hier benötigen. Hank, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Fred. »Ich werde oben bei Hank sein.«

Der Tester sagte: »Sie kommen mir heute sehr viel niedergeschlagener vor als da, wo wir uns das erste Mal gesehen haben.«

»Wie bitte?« sagte Fred.

»Als Sie das erste Mal hier bei uns waren. Letzte Woche. Da waren Sie zwar auch angespannt, aber Sie haben immer noch Scherze gemacht und gelacht.«

Fred starrte ihn an und begriff plötzlich, daß das einer der beiden medizinischen Assistenten war, mit denen er es schon früher zu tun gehabt hatte. Aber er sagte nichts; er grunzte einfach nur und verließ dann ihr Büro, wankte zum Aufzug. Das bringt einen echt runter, dachte er. Diese ganze Sache. Ich möchte zu gerne wissen, welcher der beiden medizinischen Assistenten das war. Der mit dem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart oder der andere. Der andere, vermute ich. Der hier hatte ja keinen Schnurrbart.

»Sie werden dieses Objekt manuell mit Ihrer linken Hand abtasten«, sagte er zu sich selbst, »und es gleichzeitig mit Ihrer rechten anschauen. Anschließend werden Sie uns in Ihren eigenen Worten sagen –« Er brachte es nicht fertig, sich noch mehr solchen Unsinn auszudenken. Nicht ohne ihre Hilfe.


*


Als er Hanks Büro betrat, sah er, daß außer Hank noch ein anderer Mann anwesend war. Er trug keinen Jedermann-Anzug und saß in der hintersten Ecke des Raumes, Hank gegenüber.

Hank sagte: »Das ist der Informant, der uns wegen Bob Arctor angerufen und dabei diese elektronische Abschirmung benutzt hat – ich habe Ihnen davon erzählt. «

»Ja«, sagte Fred. Er stand reglos mitten im Raum.

»Dieser Mann hat uns erneut angerufen, um uns weitere Informationen über Bob Arctor zukommen zu lassen; wir haben ihm daraufhin erklärt, daß er sein Inkognito aufgeben und seine wahre Identität enthüllen müsse. Wir forderten ihn auf, persönlich hier vorzusprechen, und das hat er getan. Kennen Sie ihn?«

»Aber sicher«, sagte Fred und starrte unverwandt Jim Barris an, der grinsend dasaß und mit einer Schere herumspielte. Barris wirkte ganz so, als behage ihm das alles nicht so recht. Und er sah häßlich aus. Superhäßlich, dachte Fred mit innerem Widerwillen. »Sie sind James Barris, nicht wahr?« sagte er. »Sind Sie schon mal verhaftet worden?«

»Seine ID-Karte weist ihn als James R. Barris aus«, sagte Hank, »und der behauptet er auch zu sein.« Er fügte hinzu: »Er hat kein Vorstrafen-Register. «

»Was will er?« Zu Barris sagte Fred: »Wie lauten Ihre Informationen?«

»Ich habe Beweise dafür«, sagte Barris mit gedämpfter Stimme, »daß Mr. Arctor einer weitgespannten, im Verborgenen operierenden Geheimorganisation angehört, die über beträchtliche Geldmittel sowie über ein umfangreiches Waffenarsenal verfügt, Kodeworte benutzt und deren Endziel möglicherweise der Sturz der –«

»Dieser Teil ist reine Spekulation«, unterbrach ihn Hank. »Von welchen Aktionen dieser Organisation wissen Sie konkret? Wie sehen Ihre Beweise aus? Aber liefern Sie uns jetzt ja keine Informationen, die nicht aus erster Hand stammen.«

»Sind Sie je in eine Nervenklinik eingewiesen worden?« sagte Fred zu Barris.

»Nein«, sagte Barris.

»Wären Sie bereit«, fuhr Fred fort, »im Büro des Bezirksstaatsanwalts eine notariell beglaubigte eidesstattliche Erklärung hinsichtlich Ihrer Beweise und Informationen zu unterzeichnen? Und würden Sie unter Eid vor Gericht erscheinen und –«

»Er hat bereits durchblicken lassen, daß er das tun würde«, unterbrach ihn Hank.

»Meine Beweise«, sagte Barris, »die ich zwar heute größtenteils nicht mitgebracht habe, aber jederzeit vorlegen könnte, bestehen aus Bandaufnahmen, die ich von Telefongesprächen Robert Arctors angefertigt habe. Ich meine Gespräche, die er führte, ohne zu wissen, daß ich zuhörte.«

»Was ist das für eine Organisation?« sagte Fred.

»Ich halte sie für eine –«, begann Barris, aber Hank winkte ab. »Eine politische Organisation«, sagte Barris. Obwohl er schwitzte und ein wenig zitterte, machte er einen zufriedenen Eindruck. »Eine Verschwörung gegen den Staat. Von außen initiiert. Den USA feindlich gesonnen.«

Fred sagte: »Was für eine Verbindung besteht zwischen Arctor und der Quelle, aus der Substanz T stammt?«

Barris blinzelte, leckte sich dann die Lippen und sagte, indem er das Gesicht verzog: »Meiner Meinung nach –« Er unterbrach sich mitten im Satz. »Wenn Sie alle meine Informationen auswerten, werden Sie – meine Beweise, meine ich – werden sie zweifellos daraus den Schluß ziehen, daß Substanz T von einer fremden Macht hergestellt wird, die entschlossen ist, die USA zu vernichten, und daß Mr. Arctor eine wesentliche Funktion in der Maschinerie dieses –«

»Können Sie uns noch weitere Angehörige dieser Organisation namhaft machen?« sagte Hank. »Personen, mit denen Arctor sich getroffen hat? Sie sind sich sicher der Tatsache bewußt, daß es ein Verbrechen ist, staatlichen Behörden wissentlich falsche Informationen zu geben, und daß man Sie deswegen belangen kann und vermutlich auch belangen wird.«

»Ich bin mir dessen bewußt«, sagte Barris.

»Mit wem hat Arctor konferiert?« sagte Hank.

»Mit einer gewissen Miß Donna Hawthorne«, sagte Barris. »Unter verschiedenen Vorwänden fährt er hinüber zu ihrer Wohnung und kollaboriert dort regelmäßig mit ihr.«

Fred lachte. »Kollaboriert. Was meinen Sie damit?«

»Ich bin ihm gefolgt«, sagte Barris langsam und betont. »In meinem eigenen Wagen. Ohne sein Wissen.«

»Er geht oft dahin?« sagte Hank.

»Ja, Sir«, sagte Barris. »Sehr oft. So oft er –«

»Donna Hawthorne ist sein Mädchen«, sagte Fred.

Barris sagte: »Außerdem hat Mr. Arctor –«

Hank wandte sich zu Fred um und sagte: »Glauben Sie, daß an dieser Sache was dran ist?«

»Wir sollten uns auf jeden Fall die Beweise anschauen«, sagte Fred.

»Bringen Sie Ihre Beweise her«, befahl Hank Barris. »Alle. Vor allen Dingen interessieren uns Namen – Namen, Autonummern, Telefonnummern. Haben Sie jemals beobachten können, daß Arctor mit größeren Mengen von Drogen zu tun hatte? Mengen, die den Bedarf eines gewöhnlichen Drogenkonsumenten bei weitem überstiegen?«

»Aber ja doch«, sagte Barris.

»Welche Arten von Drogen?«

»Verschiedene Arten. Ich habe Proben davon. Ich habe sorgfältig Proben gesammelt … damit Sie sie analysieren können. Die kann ich auch mitbringen. Eine ziemliche Menge und über ein breites Spektrum verteilt.«

Hank und Fred wechselten einen kurzen Blick.

Barris, der blicklos vor sich hin starrte, lächelte.

»Gibt es noch etwas, was Sie uns für diesmal mitteilen wollen?« sagte Hank zu Barris. Zu Fred sagte er: »Vielleicht sollten wir ihm einen Beamten mitgeben, wenn er die Beweise holt.« Was im Klartext hieß: Um ganz sicherzugehen, daß er nicht plötzlich Angst vor seiner eigenen Courage bekam und sich verdünnisierte. Daß er gar nicht erst auf den Gedanken kam, es sich doch noch anders zu überlegen und wieder auszusteigen.

»Da wäre noch eine Sache, die ich Ihnen gerne sagen möchte«, sagte Barris. »Mr. Arctor ist schwer drogenabhängig, süchtig nach Substanz T, und daher jetzt geistesgestört. Seine geistige Verwirrung hat in letzter Zeit immer mehr zugenommen, und er ist gefährlich. «

»Gefährlich«, echote Fred.

»Ja«, erklärte Barris. »Er zeigt bereits Symptome, wie sie bei einem durch Substanz T verursachten Hirnschaden auftreten. Sein optischer Chiasmus muß ernsthaft beeinträchtigt sein, was eine Schwächung der ipsilaternalen Komponente nach sich zieht … Und zudem –« Barris räusperte sich. »Verfallserscheinungen auch im Corpus Callosum.«

»Ich habe Ihnen doch schon einmal erklärt«, sagte Hank, »daß solche durch nichts gestützte Spekulationen völlig wertlos sind, und ich möchte Ihnen dringend raten, in Zukunft darauf zu verzichten. Aber auf jeden Fall werden wir Ihnen einen Beamten mitgeben, wenn Sie jetzt Ihre Beweise holen. All right?«

Grinsend nickte Barris. »Aber ich nehme doch an –«

»Der Beamte wird selbstverständlich in Zivil sein.«

»Ich könnte –« Barris gestikulierte. »Ermordet werden. Ich sagte ja schon, daß Mr. Arctor –«

Hank nickte. »All right, Mr. Barris, wir wissen es zu würdigen, daß Sie ein derartiges Risiko eingehen, und wenn alles klappt, wenn Ihre Informationen von maßgeblicher Bedeutung dafür sind, bei Gericht eine Verurteilung zu erzielen, dann werden Sie natürlich –«

»Aus diesem Grunde bin ich nicht hier«, sagte Barris. »Der Mann ist krank. Gehirngeschädigt. Durch Substanz T. Der Grund, aus dem ich hier bin –«

»Uns interessiert nicht, warum Sie hier sind«, sagte Hank. »Uns interessiert nur, ob Ihre Beweise und das von Ihnen gesammelte Material uns etwas in die Hand geben. Der Rest ist Ihr Problem.«

»Vielen Dank, Sir«, sagte Barris und grinste und grinste.


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