XIV

Zeitungsausschnitt, im Foyer des Samarkand House, des Zentrums des Neuen Pfades in Santa Ana, Kalifornien, mit Reißzwecken an eine Wand gepinnt:


Wenn der senile Patient am Morgen aufwacht und nach seiner Mutter ruft, dann erinnern Sie ihn daran, daß sie schon lange tot ist, daß er über achtzig Jahre alt ist und in einem Genesungsheim lebt und daß wir nicht mehr 1913, sondern schon 1992 schreiben und daß er darum der Wirklichkeit und der Tatsache ins Gesicht sehen muß, daß …


Ein Insasse hatte den Rest des Textes abgerissen; er hörte an dieser Stelle auf. Offensichtlich stammte der Artikel aus einer Fachzeitschrift für Krankenpflegerinnen; er war nämlich auf Kunstdruckpapier gedruckt.

»Was du hier zuerst tun wirst«, sagte George, der zum Betreuerstab gehörte, als er ihn durch die Halle führte, »ist, die Badezimmertür zu putzen. Die Böden, die Becken und besonders die Toiletten. Es gibt drei Badezimmer in diesem Trakt, eines auf jeder Etage. «

»Okay«, sagte er.

»Hier ist ein Scheuerlappen. Und ein Wischeimer. Glaubst du, daß du weißt, wie man so was macht? Ein Badezimmer putzen? Fang an, und ich werde dir zusehen und dir Tips geben, wenn du nicht klarkommst.«

Er trug den Eimer zu der Wanne im rückwärtigen Teil des überdachten Vorbaus und schüttete Reinigungsmittel hinein und ließ dann das heiße Wasser einlaufen. Alles, was er sehen konnte, war der entstehende Schaum direkt vor ihm; der Schaum und das Brausen.

Aber er konnte Georges Stimme hören, die von außerhalb seines Gesichtsfeldes kam. »Nicht zu voll, sonst kannst du ihn hinterher nicht hochheben.«

»Okay.«

»Es soll dir ein bißchen schwerfallen, zu sagen, wo du eigentlich bist«, sagte Georg nach einiger Zeit.

»Ich bin in einem Heim des Neuen Pfades.« Er stellte den Eimer auf dem Boden ab, und der Eimer schwappte über; er stand bloß da und starrte teilnahmslos auf die Bescherung.

»In welchem Heim des Neuen Pfades?«

»In Santa Ana.«

George hob den Eimer hoch, um ihm zu zeigen, wie man den Drahtgriff anfassen und den Eimer beim Gehen schwingen mußte. »Ich denk’ mir, daß wir dich später auf die Insel oder auf eine der Farmen schicken werden. Aber zuerst geht’s mal ‘ne Runde ab aufs Klo.

»Das kann ich«, sagte er. »Aufs Klo gehen.«

»Magst du Tiere? Oder Gartenarbeit?«

»Tiere.«

»Na, mal sehen. Wir werden damit warten, bis wir dich besser kennen. Auf jeden Fall wird das ‘ne Weile dauern; alle, die zu uns kommen, müssen erst mal ‘n Monat lang Klos schrubben.«

»Irgendwie würde ich gerne auf dem Land leben«, sagte er.

»Wir unterhalten verschiedene Arten von Rehabilitationseinrichtungen. Wir werden später entscheiden, was für dich am besten ist. Du weißt, daß du hier rauchen darfst, aber es wird nicht gerne gesehen. Hier ist’s nicht wie in Syanon; die lassen dich nicht rauchen. «

Er sagte: »Ich habe keine Zigaretten mehr.«

»Wir geben jedem Insassen ein Päckchen pro Tag.«

»Geld?« Er hatte keines.

»Es kostet nichts. Hier ist alles umsonst. Du hast deinen Preis längst bezahlt.« George nahm den Scheuerlappen, tauchte ihn in den Eimer, zeigte ihm, wie man scheuern mußte.

»Weswegen habe ich eigentlich kein Geld?«

»Aus dem gleichen Grund, weswegen du keine Brieftasche und keinen Nachnamen hast. Das wird dir später zurückgegeben werden, das alles. Genau das ist ja unser Programm: dir zurückzugeben, was man dir weggenommen hat. «

Er sagte: »Diese Schuhe passen mir nicht.«

»Wir sind auf Spenden angewiesen, aber wir nehmen nur neue Sachen, von Läden. Später können wir dir vielleicht mal welche anmessen. Hast du alle Schuhe in der Kiste durchprobiert?«

»Ja«, sagte er.

»All right, das hier ist das Badezimmer im Erdgeschoß; mach das zuerst. Dann, wenn das erledigt ist, alles blitzblank und so, dann geh nach oben – nimm den Wischlappen und den Eimer mit – und ich werde dir das Badezimmer da oben zeigen. Und danach kommt dann das Badezimmer in der dritten Etage dran. Aber du mußt dir eine Erlaubnis holen, bevor du in die dritte Etage raufgehst, weil da die Puppen wohnen; also frag zuerst jemanden vom Personal und geh nie ohne Erlaubnis rauf.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »All right, Bruce? Alles kapiert?«

»Okay«, sagte Bruce, während er weiterscheuerte.

George sagte: »Du wirst so lange Badezimmer schrubben, bis du so weit kommst, daß du gute Arbeit leisten kannst. Es ist völlig egal, was jemand tut; es kommt nur darauf an, daß er so weit kommt, daß er es richtig tun und darauf stolz sein kann.«

»Werde ich jemals wieder so werden, wie ich früher war?« fragte Bruce.

»Das, was du früher warst, hat dich hierhergebracht. Wenn du wieder so würdest, wie du früher mal warst, dann würde dich das früher oder später wieder hierherbringen. Und beim nächsten Mal würdest du’s vielleicht nicht mal bis hierhin schaffen. Stimmt doch, oder? Du hast Glück gehabt, daß du hierhergekommen bist; du hättest es fast nicht geschafft.«

»Jemand anderes hat mich hergefahren.«

»Du bist ein Glückspilz. Beim nächsten Mal würden sie’s vielleicht nicht tun. Vielleicht würden sie dich am Straßenrand aus dem Wagen kippen und sich sagen: Zum Teufel damit.«

Bruce scheuerte unbeirrt weiter.

»Am einfachsten geht’s, wenn du zuerst die Waschbecken machst, dann die Wanne, dann die Toiletten und erst ganz zuletzt den Fußboden.«

»Okay«, sagte er und legte den Scheuerlappen weg.

»Man muß erst mal den richtigen Dreh rauskriegen. Das wirst du schon schaffen.«

Als er genauer hinschaute, sah er vor sich Risse in der Emaille des Beckens; er träufelte Reinigungsmittel in die Risse und ließ heißes Wasser darüberlaufen. Der Dampf wallte auf, und er stand regungslos mitten darin, während der Dampf immer dichter wurde. Er mochte den Geruch.


*


Nach dem Mittagessen saß er im Gemeinschaftsraum und trank Kaffee. Die anderen ließen ihn in Ruhe, weil sie wußten, daß er auf Entzug war. Während er so dasaß und aus seiner Tasse trank, konnte er ihre Gespräche verfolgen. Sie kannten sich alle untereinander.

»Wenn du durch die Augen eines Toten hinaussehen könntest, könntest du immer noch etwas erkennen, aber du könntest die Augenmuskulatur nicht mehr betätigen, und darum könntest du den Blick nicht auf eine bestimmte Stelle richten. Dir bliebe nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich irgendein Objekt an dir vorüberbewegt. Du würdest wie eingefroren sein. Einfach nur warten und warten. Das wäre bestimmt ganz schrecklich.«

Er starrte hinunter auf den Dampf seines Kaffees; nur darauf. Der Dampf stieg auf; er mochte den Geruch.

»Hey«.

Eine Hand berührte ihn. Die Hand einer Frau.

»Hey«.

Er schaute ein wenig zur Seite.

»Wie geht’s dir?«

»Gut«, sagte er.

»Fühlst du dich schon ein bißchen besser?«

»Ich fühle mich gut«, sagte er.

Er betrachtete den Kaffee und den Dampf und schaute weder die Frau noch einen der anderen Anwesenden an; er schaute bloß hinunter auf den Kaffee, schaute und schaute. Er mochte die Wärme des Geruchs.

»Du könntest dann jemanden sehen, wenn er direkt vor dir hergeht, aber eben nur dann. Du könntest nur das sehen, was in der Richtung liegt, in die du schaust, aber nichts, was in einer anderen Richtung liegt. Wenn ein Blatt oder sonst was über deine Augen fallen würde … tja, das wär’s dann. Für immer. Nur noch das Blatt. Nichts anderes; du könntest dich ja nicht bewegen. «

»Okay«, sagte er, den Kaffee, die Tasse, mit beiden Händen haltend.

»Stell dir mal vor, Empfindungen zu haben, aber nicht zu leben. Zu sehen und sogar zu begreifen, aber nicht zu leben. Einfach nur hinauszuschauen. Zu erkennen, aber nicht zu leben. Ein Mensch kann sterben und trotzdem weiterexistieren, Vielleicht ist das, was manchmal aus den Augen eines Menschen auf dich hinausschaut, schon damals in seiner Kindheit gestorben. Das, was in einem Menschen schon tot ist, schaut immer noch hinaus. Es ist nicht einfach der Körper, der dich anblickt, der leere Körper; da ist immer noch etwas darin, aber das ist irgendwann gestorben und schaut nur einfach weiter und weiter hinaus; es kann nicht damit aufhören, zu schauen. «

Jemand anderes sagte: »Genau das bedeutet es ja letztlich, zu sterben: wenn man nicht mehr aufhören kann, das anzustarren, was auch immer vor dir ist. Da ist irgendein verdammtes Ding, genau vor dir, und du kannst einfach nichts dagegen unternehmen, also zum Beispiel eine Wahl treffen oder etwas verändern. Du kannst nur noch das, was vor dich hingestellt wird, akzeptieren – und zwar so, wie es ist. «

»Wie würde es dir gefallen, in alle Ewigkeit auf eine Bierdose zu starren? Vielleicht war’ das gar nicht mal so schlimm. Wenigstens müßte man sich davor nicht fürchten.«


*


Vor dem Abendessen, das sie im Speiseraum zu sich nahmen, hatten sie Diskussionsstunde. Verschiedene philosophische Konzepte wurden von verschiedenen Mitgliedern des Betreuerstabes auf eine Tafel geschrieben und dann gemeinsam diskutiert.

Er saß mit im Schoß gefalteten Händen da, betrachtete den Fußboden und lauschte darauf, wie sich die große Kaffeemaschine aufheizte; es klang wie blub-blub, und das Geräusch machte ihm Angst.

»Das Lebende gibt ununterbrochen seine Eigenschaften an das Nichtlebende ab und umgekehrt.«

Alle saßen im Raum verstreut auf Klappstühlen und diskutierten das. Das Konzept schien ihnen vertraut zu sein. Offensichtlich waren solche Sätze Teile der Denkweise des Neuen Pfades und wurden vielleicht sogar auswendig gelernt, damit man wieder und wieder über sie nachdenken konnte. Blub-Blub.

»Das Nichtlebende drängt stärker vorwärts als das Lebende.«

Sie sprachen auch darüber. Blub-blub. Das Geräusch, das von der Kaffeemaschine ausging, wurde lauter und lauter und ängstigte ihn immer mehr, aber er bewegte sich nicht und schaute nicht hinüber; er saß nur da, an seinem Platz, und lauschte. Es war schwierig, zu hören, was die anderen sagten; die Maschine war so laut.

»Wir haben zuviel von dem in uns, was das Nichtlebende vorwärts treibt. Und der Austausch – kann nicht mal jemand aufstehen und nachsehen, was mit dieser verdammten Kaffeemaschine los ist?«

Es gab eine Unterbrechung, während jemand die Kaffeemaschine untersuchte. Er saß da, starrte nach unten, wartete.

»Ich schreibe das jetzt noch mal auf. ›Wir tauschen zuviel unseres passiven Lebens gegen die äußere Wirklichkeit ein.‹«

Sie diskutierten das. Die Kaffeemaschine verstummte, und sie trotteten wie eine Herde hinüber, um sich Kaffee zu holen.

»Möchtest du nicht auch etwas Kaffee?« Eine Stimme hinter ihm, die ihn sanft berührte. »Ned? Bruce? Wie heißt er noch mal – Bruce?«

»Okay.« Er stand auf und folgte ihnen zur Kaffeemaschine. Er wartete geduldig, bis er an der Reihe war. Sie schauten ihm dabei zu, wie er Sahne und Zucker in seine Tasse tat. Sie schauten ihm dabei zu, wie er zu seinem Stuhl – demselben wie vorher – zurückkehrte; er hatte ihn sich gut gemerkt, damit er ihn auch wiederfand, um sich hinsetzen und weiter zuhören zu können. Der warme Kaffee, der Dampf, verschaffte ihm angenehme Gefühle.

»Aktivität bedeutet nicht notwendigerweise Leben. Quasare sind aktiv. Und ein Mönch, der meditiert, ist nicht unbelebt.«

Er saß da und schaute auf den leeren Becher; es war ein Porzellanbecher. Als er ihn umdrehte, entdeckte er einen Aufdruck auf dem Boden und daß die Glasur gesplittert war. Der Becher sah sehr alt aus, aber er war in Detroit hergestellt worden.

»Kreisförmige Bewegung ist die toteste Form des Universums. «

Eine andere Stimme sagte: »Es ist Zeit.«

Er wußte die Antwort darauf. Zeit ist rund.

»Richtig, wir müssen jetzt Schluß machen, aber will irgend jemand noch eine abschließende Bemerkung machen?«

»Nun, man muß dem Weg des geringsten Widerstandes folgen; das ist die Grundregel, wenn man überleben will. Man muß folgen, nicht führen.«

Eine andere, ältere Stimme sagte: »Ja, die, die folgen, überleben den Führer. Wie bei Christus. Nicht umgekehrt.«

»Wir sollten jetzt lieber essen, weil Rick neuerdings genau ab halb sechs nichts mehr ausgibt.«

»Sprecht während des Spiels darüber, nicht jetzt.«

Stühle kreischten, knarrten. Er stand ebenfalls auf, trug ganz wie die anderen seinen alten Becher zurück zum Tablett und stellte sich mit ihnen in einer langen Reihe auf. Er konnte kalte Kleidungsstücke um sich herum riechen; gute Gerüche, aber kalt. Es klingt so, als würden sie sagen, passives Leben sei gut, dachte er. Aber so etwas wie passives Leben gibt es doch gar nicht. Das ist ein Widerspruch in sich.

Er fragte sich nach dem Wesen und der Bedeutung des Lebens; vielleicht verstand er bloß noch nicht richtig, was sie meinten.


*


Ein großes Spendenpaket mit lollyhaften Kleidungsstücken war angekommen. Mehrere Leute standen mit Haufen von Kleidern auf dem Arm herum, und einige hatten sich Hemden angezogen, um sie anzuprobieren und Komplimente einzuheimsen. »Hey, Mike, du bist ja ein wahnsinnig scharfer Macker.«

In der Mitte des Foyers stand ein untersetzter, stämmiger Mann mit lockigem Haar und einem Boxergesicht; er fummelte stirnrunzelnd an seinem Gürtel herum. »Wie funktioniert denn das hier? Ich kapier’ einfach nicht, wie man ihn am Verrutschen hindert. Und warum geht er jetzt auf einmal nicht mehr auf?« Er hatte sich einen zehn Zentimeter breiten, schnallenlosen Gürtel mit Metallringen ausgesucht, wußte aber nicht, wie man die Ringe einklinken mußte. Augenzwinkernd blickte er um sich und sagte: »Ich glaube, die haben mir einen gegeben, mit dem sonst keiner klarkommen konnte.«

Bruce trat hinter ihn, griff um ihn herum und zog die Gürtelschleife zurück durch die Ringe.

»Dane«, sagte Mike. Er wühlte sich durch einen Stapel von Hawaiihemden, die Lippen geschürzt. Zu Bruce gewandt, sagte er: »Wenn ich heirate, zieh’ ich eins davon an.«

»Hübsch«, sagte er.

Mike schlenderte zur anderen Seite des Foyers hinüber, wo zwei Frauen standen; sie lächelten. Indem er sich ein weinrotes Hemd mit Blumenmuster vor die Brust hielt, sagte Mike: »Ich geh’ heut’ groß aus, in die Stadt.«

»All right, geht rein und kommt essen«, rief der Direktor des Rehabilitationszentrums anfeuernd. Seine Stimme klang so kraftvoll wie immer. Er winkte Bruce zu. »Na, wie steht’s, mein Junge?«

»Gut«, sagte Bruce.

»Klingt, als ob du dich erkältet hättest. «

»Ja«, stimmte er zu, »das kommt vom Entzug. Könnte ich nicht doch ein bißchen Dristan oder –«

»Keine Chemikalien«, sagte der Direktor des Zentrums. »Nichts. Jetzt rein mit dir, damit du was in den Magen kriegst. Was macht dein Appetit?«

»Besser«, sagte er, dem Direktor folgend. Von den Tischen aus lächelten die anderen ihn an.


*


Nach dem Essen saß er auf halber Höhe der breiten Treppe, die zum zweiten Stock führte. Keiner sprach ihn an; derzeit fand gerade eine Mitarbeiterbesprechung statt. Er saß da, bis sie zu Ende war. Alle Mitarbeiter tauchten jetzt wieder auf und strömten in die Halle.

Er spürte, daß sie ihn ansahen, und vielleicht sprachen ihn auch einige an. Er saß auf den Stufen, vornübergebeugt, die Arme um sich gelegt, und starrte und starrte. Auf den dunklen Teppich vor seinen Augen.

Jetzt keine Stimmen mehr.

»Bruce?«

Er regte sich nicht.

»Bruce?« Eine Hand berührte ihn.

Er sagte nichts.

»Bruce, komm mal mit in den Gemeinschaftsraum. Eigentlich müßtest du ja schon auf deinem Zimmer sein und im Bett liegen, aber ich möchte mit dir sprechen, hörst du?« Mit einem Wink forderte Mike ihn auf, ihm zu folgen. So begleitete er Mike die Treppe hinunter und in den Gemeinschaftsraum, der jetzt leer war. Als sie im Gemeinschaftsraum waren, schloß Mike die Tür.

Er ließ sich in einen tiefen Sessel fallen und bedeutete Bruce, sich ihm gegenüber hinzusetzen. Mike schien müde zu sein; dicke Ringe langen um seine kleinen Augen, und er rieb sich die Stirn.

»Ich bin seit halb sechs heute morgen auf den Beinen«, sagte Mike.

Ein Klopfen; die Tür ging einen Spaltbreit auf.

Mit erhobener Stimme brülle Mike: »Ich möchte nicht, daß irgendwer hier hereinkommt; wir unterhalten uns. Hört ihr?«

Gemurmel. Die Tür schloß sich.

»Weißt du, du solltest lieber dein Hemd ein paarmal am Tag wechseln«, sagte Mike. »Ist ja furchtbar, wie du schwitzt.«

Er nickte.

»Aus welcher Ecke des Staates kommst du eigentlich?«

Er sagte nichts.

»Von jetzt an kommst du zu mir, wenn’s dir so schlecht geht. Ich hab’ das gleiche durchgemacht, vor ungefähr anderthalb Jahren. Sie haben mich immer im Wagen durch die Gegend gefahren. Andere vom Personal. Hast du schon Eddie kennengelernt? Das große, dürre Handtuch, das immer alle Leute fertigmacht? Der hat mich acht Tage lang pausenlos durch die Gegend kutschiert. Hat mich nie allein gelassen.« Mike brüllte plötzlich: »Wollt ihr wohl endlich draußenbleiben? Wir sind hier drin und reden. Geht und schaut euch Fernsehen an.« Seine Stimme wurde leiser, und er blickte Bruce prüfend an. »Manchmal muß man das tun. Jemanden nie allein lassen.«

»Verstehe«, sagte Bruce.

»Bruce, paß auf, daß du dir nicht das Leben nimmst.«

»Ja, Sir«, sagte Bruce, zu Boden starrend.

»Nenn mich nicht Sir!«

Er nickte.

»Warst du bei der Armee, Bruce? Hat’s daran gelegen? Bist du deswegen auf dem Zeug hängengeblieben?«

»Nein.«

»Schießt du, oder schluckst du Tabletten?«

Er gab nicht das geringste Geräusch von sich.

»›Sir‹«, sagte Mike. »Ich selbst hab’ zehn Jahre im Knast gesessen. Einmal hab’ ich miterlebt, wie sich in unserem Zellentrakt acht Typen an einem Tag die Kehle durchgeschnitten haben. Wir mußten mit den Füßen in der Toilette schlafen, so klein waren unsere Zellen. Genau das ist es, was ein Gefängnis ausmacht: Du schläfst mit deinen Füßen in der Toilette. Du bist nie im Knast gewesen, oder?«

»Nein«, sagte er.

»Aber andererseits hab’ ich Gefangene gesehen, die achtzig Jahre alt waren und froh darüber, zu leben und die auch am Leben bleiben wollten. Ich erinnere mich noch genau an die Zeit, als ich auf Dope war und schoß; ich hab’ zu schießen angefangen, als ich noch ein Teenager war. Sonst hab’ ich mir nie was zuschulden kommen lassen. Ich hab’ mich nur vollgeschossen und bin dann für zehn Jahre in den Bau gewandert. Ich hab’ so viel geschossen – Heroin und T durcheinander –, daß ich gar nicht mehr fähig war, was anderes anzustellen; ich hab’ außer dem Stoff gar nichts anderes mehr wahrgenommen. Jetzt bin ich davon runter und aus dem Knast raus und lebe hier. Weißt du, was mir am meisten auffällt? Weißt du, was der Unterschied ist, den ich bemerkt hab’? Jetzt kann ich die Straße entlanggehen und etwas sehen. Ich kann das Wasser hören, wenn wir in den Wald fahren – du wirst unsere anderen Einrichtungen später kennenlernen, die Farmen und das alles. Ich kann die Straße entlanggehen und die Hunde und Katzen sehen. Ich hab’ sie früher nicht mal bemerkt. Alles, was ich gesehen hab’, war der Stoff.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Und darum verstehe ich, wie du dich fühlst.«

»Es ist hart«, sagte Bruce, »von dem Zeug runterzukommen.«

»Jeder einzelne hier ist davon runtergekommen. Natürlich fangen einige hinterher wieder damit an. Wenn du von hier weggehen würdest, würdest du auch wieder damit anfangen. Du weißt das.«

Er nickte.

»Keiner von denen, die in diesem Heim sind, hat ein leichtes Leben gehabt. Ich will damit nicht sagen, daß dein Leben leicht gewesen ist. Eddie würde das vielleicht sagen. Er würde dir knallhart erklären, deine Probleme seien läppisch. Aber Probleme sind nie läppisch, bei keinem. Ich sehe, wie mies du dich fühlst, aber ich hab’ mich auch mal so gefühlt. Jetzt geht’s mir ‘ne ganze Menge besser. Wer ist dein Stubenkamerad?«

»John.«

»Ah ja, John. Dann bist du also unten im Erdgeschoß.«

»Mir gefällt es«, sagte er.

»Ja, es ist schön warm da. Du wirst wahrscheinlich sehr viel frieren. Die meisten von uns tun das, und ich erinnere mich noch gut dran, wie’s bei mir war; ich hab’ die ganze Zeit über vor Kälte gezittert, und die Hosen hab’ ich mir auch vollgeschissen. Aber glaub mir, du wirst das nicht noch einmal durchmachen müssen, wenn du hier im Neuen Pfad bleibst.«

»Für wie lange?« sagte er.

»Für den Rest deines Lebens.«

Bruce hob den Kopf.

»Ich kann hier jedenfalls nicht mehr raus«, sagte Mike. »Ich würde sofort wieder an der Nadel hängen, wenn ich wieder nach draußen ginge. Ich hab’ zu viele Kumpels draußen. Ich würd’ wieder in die Scene einsteigen, dealen und schießen, und dann zurück in den Knast wandern, aber diesmal für zwanzig Jahre. Weißt du – hey – ich bin jetzt 35 und heirate demnächst zum ersten Mal. Hast du Laura schon kennengelernt? Meine Verlobte?«

Er war sich nicht sicher.

»Ein hübsches Mädchen, ziemlich stämmig? Ganz hübsche Figur?«

Er nickte.

»Sie fürchtet sich davor, aus dem Heim zu gehen. Irgendwer muß sie immer begleiten. Wir gehen jetzt bald mal zusammen in den Zoo … wir nehmen den Kurzen vom Direktor nächste Woche mit in den Zoo von San Diego, und Laura hat jetzt schon ‘n höllischen Bammel. Mehr Bammel als ich.«

Schweigen.

»Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt hab’?« sagte Mike. »Daß ich Bammel hab’, in den Zoo zu gehen?«

»Ja.«

»Ich bin noch nie in einem Zoo gewesen, jedenfalls könnt’ ich mich nicht dran erinnern«, sagte Mike. »Was macht man eigentlich in so einem Zoo? Vielleicht weißt du’s?«

»Man schaut in verschiedene Käfige und Freigehege hinein.«

»Was für Tierarten gibt’s denn da so?«

»Alle möglichen.«

»Wilde Tiere, denk’ ich mir. Normalerweise wilde Tiere. Und exotische.«

»Im Zoo von San Diego haben sie fast alle wilden Tiere«, sagte Bruce.

»Die haben auch einen von diesen … wie heißen die doch gleich? Koalabären?«

»Ja.«

»Ich hab’ mal einen Werbespot im Fernsehen gesehen«, sagte Mike. »Da kam ein Koalabär drin vor. Die hüpfen. Irgendwie erinnern die mich an ein ausgestopftes Spielzeug.«

Bruce sagte: »Die Leute, die in den zwanziger Jahren den guten alten Teddybären erfunden haben – den, mit dem die Kinder spielen –, haben den Koalabären als Vorbild genommen.«

»Ach, wirklich? Ich hatte immer geglaubt, man müßte nach Australien fahren, um einen Koalabären zu sehen. Oder sind die da jetzt ausgestorben?«

»In Australien gibt’s sie in rauhen Mengen«, sagte Bruce, »aber die Ausfuhr ist verboten. Egal, ob von lebenden Tieren oder von Fellen. Sie wären früher mal fast ausgerottet worden.«

»Ich bin nie weit rumgekommen«, sagte Mike, »außer, wenn ich Stoff von Mexiko rauf nach Vancouver in Britisch Kolumbien transportiert hab’. Aber ich hab’ immer die gleiche Route genommen, und darum hab’ ich nie was gesehen. Ich bin einfach nur mit Vollgas durch die Gegend gedüst, um’s hinter mich zu bringen. Ich fahr’ jetzt übrigens einen Wagen von der Anstalt. Wenn du dich danach fühlst, ich meine, wenn du dich richtig mies fühlst, dann fahr’ ich dich rum. Ich werde fahren, und wir können dabei reden. Mir macht das nichts aus. Eddie und ein paar andere, die jetzt nicht mehr hier sind, haben das auch für mich getan. Mir macht’s echt nichts aus. «

»Danke.«

»Jetzt sollten wir uns aber alle beide in die Falle hauen. Haben sie dich schon für den Küchendienst am Morgen eingeteilt? Tische decken und auftragen?«

»Nein.«

»Dann kannst du ja genauso lange pennen wie ich. Wir sehen uns dann also beim Frühstück, okay? Du setzt dich zu mir an den Tisch, und ich mach’ dich mit Laura bekannt.«

»Wann wollt ihr heiraten?«

»In sechs Wochen. Wir würden uns freuen, wenn du kommen würdest. Natürlich wird die Trauung hier im Gebäude sein, und darum werden sowieso alle dran teilnehmen.«

»Danke«, sagte er.


*


Er saß im Spiel, und sie schrien auf ihn ein. Gesichter überall, schreiende Gesichter; er senkte den Blick und starrte zu Boden.

»Wißt ihr, was er ist? Ein Kußmäulchen!« Der Klang dieser Stimme, die noch schriller war als die anderen, ließ ihn aufblicken. Inmitten der entsetzlich schreienden Fratzen ein chinesisches Mädchen, das wie ein Dämon kreischte. »Du bist ein Kußmäulchen, genau das bist du!«

»Kannst du dir einen runterholen? Kannst du dir einen runterholen?« sangen die anderen in endloser Wiederholung auf ihn ein; der Kreis, den sie auf dem Fußboden bildeten, schloß sich immer enger um ihn.

Der Direktor des Zentrums, jetzt in roten Pluderhosen und rosa Pantoffeln, lächelte. Winzige, gesplitterte Glitzeraugen, wie die eines Gespenstes. Sich vor und zurück wiegend, die Beine unter sich zusammengelegt, ohne Sitzkissen.

»Los, wir wollen endlich sehen, wie du dir einen runterholst!«

Der Direktor schien es zu genießen, wenn seine Augen sahen, wie etwas zerbrach; seine Augen glänzten vor freudiger Erregung. Wie ein tuntiger alter Schmierenkomödiant, der im Kreise seiner Verehrer hofhält, eingehüllt in den Mantel seines Charismas, paradiesvogelbunt, spähte er umher und genoß. Und dann, von Zeit zu Zeit, trillerte seine Stimme heraus, schabend und monoton, wie Metall auf Metall. Eine knarrende Türangel.

»Das Kußmäulchen!« heulte ihm das chinesische Mädchen entgegen; neben ihr flatterte ein Mädchen wie ein Vogel mit den Armen und blies ihre Backen auf, plop-plop. »Hier!« heulte das chinesische Mädchen und drehte sich herum, um ihm ihr Hinterteil entgegenzustrecken, auf das sie dann mit dem Finger zeigte, während sie ihn zugleich anheulte: »Dann küß mir doch den Arsch, Kußmäulchen! Er möchte andere Leute küssen! Küß doch das hier, Kußmäulchen!«

»Wir wollen endlich sehen, wie du dir einen runterholst!« psalmodierte die Familie. »Hol dir einen runter, Kußmäulchen!«

Er schloß die Augen, aber seine Ohren hörten immer noch.

»Du Tunte«, sagte der Direktor langsam zu ihm. Monoton. »Du dämliches Stück Scheiße. Du Pimmel. Du Dreck. Du Arschwichser. Du –« Weiter und weiter.

Seine Ohren nahmen immer noch Geräusche auf, aber die Töne vermischten sich jetzt alle miteinander. Er schaute nur einmal kurz auf, als er Mikes Stimme erkannte, die sich über die anderen Stimmen erhob, als der Lärm für einen Moment ein wenig abebbte. Mike saß da und starrte ihn teilnahmslos an; sein Gesicht war ein bißchen gerötet und die Haut seines Nackens wund und geschwollen von dem zu engen Kragen seines Hemdes.

»Bruce«, sagte Mike. »Was ist mit dir los? Was hat dich hierhergebracht? Was möchtest du uns erzählen? Kannst du uns überhaupt irgendwas über dich erzählen?«

»Tunte!« kreischte George, auf und ab hüpfend wie ein Gummiball. »Was warst du, du Tunte?«

Das chinesische Mädchen sprang auf, schrill kreischend: »Erzähl’s uns, du Schwanzlutscher! Wichsjunge! Arschficker! Scheißhaufen! Pisser!«

Er sagte: »Ich bin wie ein Auge.«

»Du Arschwichser«, sagte der Direktor. »Du Schwächling. Du Gewichs. Du Wichselecker. Du Fotze.«

Er hörte jetzt nichts mehr. Und vergaß die Bedeutung der Worte und schließlich auch die Worte selbst.

Das einzige, was er noch spürte, war Mike; Mike, der ihn ansah, ihn ansah und lauschte, aber nichts hörte. Er wußte nichts, er erinnerte sich an nichts, er fühlte kaum noch etwas, er fühlte sich schlecht, er wollte weg.

Die Leere in ihm breitete sich immer weiter aus. Und er war sogar ein bißchen froh darüber.


*


Später am Tag.

»Schau mal hier hinein«, sagte eine Frau. »Hier bringen wir die Freaks unter. «

Er spürte eine unbestimmte Angst, als er die Tür öffnete. Die Tür schwang beiseite, und aus dem Raum ergoß sich ein Lärm, dessen Ausmaß ihn überraschte; aber er sah viele kleine Kinder, die spielten.

An jenem Abend beobachtete er zwei ältere Männer, die in einer abgeteilten kleinen Nische nahe der Küche saßen und die Kinder mit Milch und Babynahrung fütterten. Rick, der Koch, gab zuerst den beiden ältlichen Männern das Essen für die Kinder, während alle anderen im Speisesaal warteten.

Ein chinesisches Mädchen, das Teller in den Speisesaal trug, lächelte ihn an und sagte: »Du magst Kinder?«

»Ja«, sagte er.

»Du kannst dich zu den Kindern setzen und da mit ihnen essen.«

»Oh«, sagte er.

»Du kannst sie später auch mal füttern, so in ein oder zwei Monaten.« Sie zögerte. »Wenn wir sicher sein können, daß du sie nicht schlägst. Wir haben hier eine Regel: Die Kinder dürfen nie für etwas, das sie tun, geschlagen werden.«

»Okay«, sagte er. Ihm wurde warm ums Herz, und er fühlte sich plötzlich wieder lebendig, als er die Kinder essen sah; er setzte sich, und eines der ganz kleinen Kinder krabbelte ihm auf den Schoß. Er begann, das Kind mit einem Löffel zu füttern. Das Kind und er selbst, dachte er, fühlten sich nun gleichermaßen geborgen. Das chinesische Mädchen lächelte ihm zu und ging dann mit den Tellern weiter in den Speisesaal.

Eine lange Zeit über saß er mitten zwischen den Kindern und hielt erst eines, dann ein anderes. Die beiden ältlichen Männer stritten mit den Kindern und kritisierten gegenseitig ihre Füttermethoden. Der Tisch und der Fußboden waren über und über mit größeren und kleineren Essensbrocken und Schmierflecken bedeckt; erschrocken stellte er fest, daß schon alle Kinder gefüttert worden waren und nun in das große Spielzimmer strömten, um sich Zeichentrickfilme im Fernsehen anzuschauen. Linkisch beugte er sich vor, um das verschüttete Essen aufzuwischen.

»Nein, das ist nicht deine Aufgabe!« sagte einer der ältlichen Männer scharf. »Das soll ich machen.«

»Okay«, stimmte er zu. Als er sich wieder erhob, stieß er sich den Kopf an der Tischkante. Seine Hände waren von Essen verschmiert, und er starrte sie nachdenklich an.

»Geh und hilf dabei, den Speisesaal sauberzumachen!« sagte der andere Mann zu ihm. Er hatte einen leichten Sprachfehler.

Einer von den Küchenhelfern sagte im Vorübergehen zu ihm: »Du brauchst eine Erlaubnis, um bei den Kindern sitzen zu dürfen.«

Verwirrt stand er da und nickte.

»Das ist was für die Alten«, sagte der Küchenhelfer. »Babysitten.« Er lachte. »Für die, die nichts anderes mehr können.« Er ging weiter.

Ein Kind – ein kleines Mädchen – war in der Nische zurückgeblieben. Es musterte ihn mit großen Augen und sagte zu ihm: »Wie heißt’n du?«

Er antwortete nicht.

»Ich hab’ dich gefragt, wie du’n heißt?«

Zögernd berührte er ein Stück Rindfleisch, das auf dem Tisch lag. Es war jetzt kalt. Aber er selbst fühlte sich immer noch warm, weil er sich der Gegenwart des Kindes an seiner Seite bewußt war; er berührte ihren Kopf, aber nur kurz.

»Mein Name ist Thelma«, sagte das Kind. »Hast du deinen Namen vergessen?« Sie tätschelte ihn. »Wenn du deinen Namen öfters vergißt, kannst du ihn dir doch auf die Hand schreiben. Soll ich dir zeigen, wie?« Sie tätschelte ihn wieder.

»Wird er denn nicht abgegeben?« fragte er sie. »Wenn ich ihn mir auf die Hand schreibe und dann irgendwas tue oder ein Bad nehme, wird er doch sofort wieder abgewaschen.«

»Oh, verstehe.« Sie nickte. »Tja, du könntest ihn auch an die Wand schreiben, über deinen Kopf. In dem Zimmer, wo du drin schläfst. Am besten ganz weit oben, damit er nicht weggewischt werden kann. Und wenn du dann wissen willst, wie du heißt, mußt du nur –«

»Thelma«, murmelte er.

»Nein, das ist doch mein Name. Du heißt bestimmt anders. Und außerdem ist’s ein Mädchenname.«

»Hm, mal überlegen«, sagte er und dachte angestrengt nach.

»Das nächste Mal, wenn wir uns treffen, werde ich dir einen Namen geben«, sagte Thelma. »Ich denk’ mir einen für dich aus. Wie wär’s den mit ›Kay‹?«

»Du wohnst doch auch hier, oder?« sagte er.

»Ja, aber meine Mami dürfte jetzt eigentlich von hier weg. Sie ist noch am Überlegen, ob sie von hier weggeht und uns mitnimmt, mich und meinen Bruder.«

Er nickte. Etwas von der Wärme, die ihn bisher erfüllt hatte, war von ihm gewichen.

Urplötzlich, ohne erkennbaren Grund, rannte das Kind fort.

Ich sollte mir selbst einen Namen ausdenken, entschied er; eigentlich ist das doch meine eigene Aufgabe. Er betrachtete eingehend seine Hand und fragte sich, warum er das tat; da war nichts Besonderes zu sehen. Bruce, dachte er; das ist mein Name. Aber es müßte noch einen anderen, besseren Namen geben als den, dachte er. Die Wärme, die ihm noch geblieben war, verschwand nach und nach, ganz so wie das Kind.

Er fühlte sich wieder allein und sehr weit weg von sich selbst und verloren. Und nicht sehr glücklich.


*


Eines Tages konnte Mike Westaway es so hindrehen, daß er losgeschickt wurde, um eine Fuhre halb verrotteten Gemüses abzuholen, die ein ortsansässiger Supermarkt dem Neuen Pfad gespendet hatte. Nachdem er sich jedoch vergewissert hatte, daß ihm niemand vom Personal folgte, tätigte er einen Telefonanruf und traf dann in einem McDonald’s-Schnellimbiß Donna Hawthorne.

Sie saßen zusammen draußen, und auf dem Holztisch zwischen ihnen standen Coke und Hamburger.

»Haben wir es wirklich geschafft, ihn einzuschleusen?« erkundigte sich Donna.

»Ja«, sagte Westaway. Aber bei sich dachte er: Der Typ ist so total ausgebrannt. Ich frage mich, ob uns das weiterbringt. Ich frage mich, ob wir damit wirklich einen entscheidenden Erfolg verbucht haben. Und doch mußte alles so ablaufen, wie es abgelaufen ist.

»Sie haben noch keinen Verdacht geschöpft?«

»Nein«, sagte Mike Westaway.

Donna sagte: »Sind Sie sich eigentlich sicher, daß sie das Zeug anbauen?«

»Nein. Aber das zählt nicht. Die da oben glauben es.« Die, die uns bezahlen, dachte er.

»Was bedeutet der Name?«

»Mors ontologica. Tod der Seele. Der Identität. Des innersten Wesens.«

»Wird er dazu fähig sein, zu handeln?«

Westaway betrachtete die Autos und die Menschen, die vorüberströmten, mit schwermütigem Blick, während er zugleich in seinem Essen herumstocherte.

»Wer kann das schon sagen?«

»Man kann es nie mit Sicherheit wissen, bis der entscheidende Augenblick da ist. Eine vage Erinnerung. Ein paar durchgeschmorte Gehirnzellen, die noch ein bißchen weiterflackern. Wie ein Reflex. Reagieren, nicht agieren. Wir können nur hoffen. Erinnern Sie sich, was Paulus in der Bibel sagt: Glaube, Hoffnung und Selbstaufgabe bis zum letzten Cent.« Er musterte eingehend das hübsche, dunkelhaarige Mädchen, das ihm gegenübersaß, und ihr intelligentes Gesicht verriet ihm, warum Bob Arctor – nein, dachte er; ich muß von ihm immer nur als Bruce denken. Andernfalls gebe ich zu, daß ich zuviel weiß: Dinge, die ich nicht wissen sollte, nicht wissen kann. Etwa, warum Bruce so viel von ihr hielt. Jedenfalls damals, als er noch fähig war, zu denken.

»Er ist sehr gründlich auf seine Aufgabe vorbereitet worden«, sagte Donna in einem, wie es ihm vorkam, ungewöhnlich hoffnungslosen Tonfall. Und gleichzeitig huschte ein Ausdruck von Trauer über ihr Gesicht und entstellte es. »Ein so hoher Preis«, sagte sie dann wie zu sich selbst und nippte an ihrer Coke.

Er dachte: Aber es gibt keinen anderen Weg. Anders kann man nicht hineinkommen. Ich kann nicht hineinkommen. Das ist jetzt endgültig sicher; ich muß nur daran denken, wie lange ich es versucht habe. Sie werden nur eine ausgebrannte Hülle wie Bruce hereinlassen. Jemanden, der harmlos ist. Er würde so sein müssen wie … ja, genau so, wie er jetzt ist. Sonst würden sie das Risiko nicht eingehen. Das ist ihr Grundsatz.

»Die Regierung verlangt schrecklich viel«, sagte Donna.

»Das Leben verlangt schrecklich viel.«

Sie hob ihren Blick und starrte ihn voller mühsam unterdrückter Wut an. »In diesem Fall doch wohl die Bundesregierung. Und sie verlangt es von Ihnen, von mir, von –« Sie unterbrach sich. »Von dem, was einmal mein Freund war.«

»Er ist immer noch Ihr Freund. «

Donna sagte heftig: »Ja, das, was von ihm übriggeblieben ist.«

Das, was von ihm übriggeblieben ist, dachte Mike Westaway, sucht immer noch nach dir. Auf seine Weise jedenfalls. Auch er fühlte sich niedergeschlagen. Aber der Tag war schön, die Menschen und die Autos ringsum ließen seine Stimmung wieder besser werden, und die Luft roch gut. Und endlich bestand wieder Aussicht auf Erfolg; das beflügelte ihn am meisten. Sie waren so weit gekommen, und jetzt konnten sie den Rest des Weges auch noch schaffen.

Donna sagte: »Ich glaube wirklich, es gibt nichts, was schrecklicher wäre, als jemanden oder etwas – ein lebendes Geschöpf zu opfern, ohne daß dieses Geschöpf jemals erfährt, was mit ihm geschieht. Wenn er es nur wüßte! Wenn er es nur verstehen würde und sich freiwillig zur Verfügung stellen würde. Aber –« Sie hob resignierend die Hände. »Er weiß es nicht; er hat es nie gewußt. Er hat sich nicht freiwillig –«

»Natürlich hat er das. Es gehört zu seinem Job.«

»Es ist ihm nie zu Bewußtsein gekommen, und auch jetzt ist es ihm noch nicht bewußt, weil er jetzt überhaupt kein aktives Bewußtsein mehr hat. Sie wissen das genausogut wie ich. Und er wird nie wieder in seinem Leben, nie wieder, solange er lebt, ein aktives Bewußtsein haben. Nur noch Reflexe. Und das war kein Betriebsunfall; es sollte passieren. Darum lastet ein schlechtes Karma auf uns. Ich spüre es auf meinem Rücken. Wie ein Leichnam. Ich trage einen Leichnam mit mir herum –Bob Arctors Leichnam. Auch wenn er klinisch gesehen noch lebt.« Ihre Stimme war laut geworden; Mike Westaway bedeutete ihr, sich zu mäßigen, und mit sichtlicher Anstrengung zwang sie sich wieder zur Ruhe. Von den anderen Holztischen hatten schon andere Gäste, die dort genußvoll ihre Hamburger und Shakes verzehrten, fragend herübergeblickt.

Nach einer Pause sagte Westaway: »Betrachten Sie es doch einmal unter diesem Aspekt – man kann nicht etwas … jemanden verhören, der keinen Verstand hat.«

»Ich muß zurück zur Arbeit«, sagte Donna. Sie schaute auf die Armbanduhr. »Ich werde ihnen berichten, daß alles okay zu sein scheint, wenn man von dem ausgeht, was Sie mir erzählt haben. Ihrer Einschätzung nach.«

»Warten Sie bis zum Winter«, sagte Westaway.

»Winter?«

»Bis dahin wird es dauern. Fragen Sie nicht, warum, aber so ist es nun mal; entweder wird es im Winter klappen, oder es läuft überhaupt nicht. Wir werden es dann schaffen oder nie.« Genau zur Sonnenwende, dachte er.

»Ein angemessener Zeitpunkt. Dann, wenn alles tot ist und unter dem Schnee begraben.«

Er lachte. »In Kalifornien?«

»Der Winter der Seele. Mors ontologica. Wenn der Geist tot ist.«

»Nur am Schlafen«, sagte Westaway. Er erhob sich. »Ich muß auch abhauen. Ich muß eine Fuhre Gemüse abholen.«

Donna starrte ihn mit einem Blick an, in dem zugleich stumme Trauer, Schmerz und Bestürzung lagen.

»Für die Küche«, sagte Westaway sanft. »Möhren und Salat. Richtiges Gemüse. Gespendet von McCoy’s Supermarkt, für uns Arme vom Neuen Pfad. Tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Es sollte kein Witz sein. Es sollte überhaupt nichts bedeuten.« Er tätschelte ihre in Leder gehüllte Schulter. Und als er das tat, kam ihm auf einmal der Gedanke, daß vielleicht Bob Arctor diese Jacke als Geschenk für sie gekauft hatte – in besseren, glücklicheren Tagen.

»Wir arbeiten schon lange in dieser Angelegenheit zusammen«, sagte Donna in gedämpftem, ruhigem Tonfall. »Ich möchte nicht mehr viel länger daran arbeiten. Ich wünsche mir, daß das endlich aufhört. Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, denke ich mir: Scheiße, wir sind kälter als sie. Als der Gegner.«

»Ich sehe nichts Kaltes, wenn ich Sie anschaue«, sagte Westaway. »Aber natürlich kenne ich Sie eigentlich nicht sehr genau. Was ich allerdings sehe – und ich glaube nicht, daß ich mich täusche –, ist einer der warmherzigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. «

»Ich bin nach außen hin warm, und die Leute können nur die Außenseite sehen. Warme Augen, ein warmes Gesicht, ein warmes, vorgetäuschtes Scheiß-Lächeln, aber innendrin bin ich die ganze Zeit über kalt und voller Lügen. Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine; in Wirklichkeit bin ich schrecklich.« Die Stimme des Mädchens blieb ruhig, und während sie sprach, lächelte sie. Ihre Pupillen waren groß und sanft und ohne Arglist. »Aber dann wieder sage ich mir, daß es nicht anders geht. Oder? Ich habe das vor langer Zeit begriffen und mich gezielt so gemacht, wie ich jetzt bin. Aber eigentlich ist das gar nicht so schlecht. Auf diese Weise bekommt man alles, was man will. Und bis zu einem gewissen Grad ist jeder so. Nur eines an mir ist tatsächlich schlimm – ich bin ein Lügner. Ich habe meinen Freund angelogen. Ich habe Bob Arctor die ganze Zeit über belogen. Ich habe ihm sogar einmal gesagt, er solle bloß nichts von dem glauben, was ich sagte, aber natürlich hat er gedacht, ich würde nur scherzen; er hat nicht auf mich gehört. Aber nachdem ich es ihm einmal gesagt habe, lag es doch nur noch an ihm, ob er von da an noch auf mich hören und mir glauben wollte oder nicht. Ich habe ihn gewarnt. Aber er hat das, was ich ihm gesagt habe, sofort wieder vergessen und einfach weitergemacht. Ist einfach auf seinem Weg weitergegangen, ohne nach rechts oder links zu schauen.«

»Sie haben getan, was Sie tun mußten. Sie haben sogar mehr getan, als Sie tun mußten.«

Das Mädchen entfernte sich langsam vom Tisch. »Okay, dann gibt es soweit also nichts, was ich berichten müßte. Außer Ihrer optimistischen Einschätzung. Einfach nur, daß er eingeschleust worden ist und sie den Köder geschluckt haben. Sie haben nichts aus ihm herausgekriegt bei diesen –« Sie schauderte. »Diesen gemeinen Spielen.«

»Richtig.«

»Dann bis später.« Sie hielt inne. »Die Regierungsleute werden nicht bis zum Winter warten wollen.«

»Im Winter oder nie«, sagte Westaway. »Zur Wintersonnenwende.«

»Zur was?«

»Warten Sie einfach ab«, sagte er. »Und beten Sie.«

»Das ist Quatsch«, sagte Donna. »Beten, meine ich. Ich habe früher mal gebetet, sehr viel sogar, aber jetzt nicht mehr. Wir würden das, was wir tun, nicht tun müssen, wenn Gebete funktionieren würden. Das ist nur wieder so ein Selbstbetrug.«

»Das sind die meisten Sachen.« Als sie sich langsam noch ein paar Schritte zurückzog, folgte er ihr, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte; Zuneigung für sie empfand. »Ich glaube nicht, daß Sie Ihren Freund zerstört haben. Mir scheint, Sie sind genausosehr zerstört worden, ebensosehr ein Opfer. Nur tritt das bei Ihnen nicht so offen zutage. Aber wie dem auch sei – es gab keine andere Wahl.«

»Ich werde in die Hölle kommen«, sagte Donna. Sie lächelte plötzlich, ein breites, jungenhaftes Grinsen. »Meine katholische Erziehung.«

»In der Hölle verkaufen die einem jetzt Klingelbeutel, und wenn man heimkommt, sind lauter kleine McDonald’s-Hamburger drin.«

»Und die sind aus Truthahnscheiße«, sagte Donna. Und dann, ganz plötzlich, war sie verschwunden. Hatte sich zwischen den ziellos dahineilenden Menschen verflüchtigt; er blinzelte. Ob Bob Arctor das gleiche gefühlt hat wie ich jetzt? dachte er. Bestimmt. Im einen Augenblick war sie noch da, und sie schien so dauerhaft zu sein, als würde sie für alle Ewigkeit auch bleiben; dann – nichts. Verschwunden wie Feuer oder Luft, ein Element der Erde, das in die Erde zurückkehrt. Sich mit den Jedermann-Menschen vermischt, die es immer gab und immer geben wird. In ihrer Mitte ausgegossen. Das Mädchen, das verdunstete, dachte er. Das sich nach Belieben wandelt. Das kommt und geht, ganz wie sie will. Und niemand, nichts, kann sie fassen.

Ich versuche, den Wind mit Netzen einzufangen, dachte er. Und das hatte auch Arctor versucht. Wie sinnlos es doch ist, dachte er, einen Rauschgiftagenten der Regierung festhalten zu wollen. Sie sind substanzlos. Schatten, die mit dem Hintergrund verschmelzen, wenn ihr Job das von ihnen fordert. Als ob sie eigentlich schon vorher gar nicht dagewesen wären.

Arctor, dachte er, hat ein von den Behörden geschaffenes Trugbild geliebt, eine holografische Projektion, durch die ein gewöhnlicher Mensch wieder und wieder hindurchgehen kann, nur um am Ende allein herauszukommen. Allein und ohne auch nur für einen Augenblick wirklich in ihr Innerstes eingedrungen zu sein – in das Mädchen selbst.

Der Wille des Herrn, überlegte er, ist es, aus dem Bösen das Gute zu erschaffen. Wenn Er hier aktiv ist, tut Er das auch gerade jetzt, obwohl unsere Augen es nicht wahrnehmen können; der Prozeß liegt unter der Oberfläche der Wirklichkeit verborgen und kommt erst viel später zum Vorschein. Vielleicht für unsere Nachgeborenen, jene armseligen Wesen, die nichts von dem Kampf wissen werden, den wir durchgestanden haben, und nichts von den Verlusten, die wir hinnehmen mußten – außer, wenn sie vielleicht in einer Fußnote zu einem unbedeutenden Buch einen Hinweis darauf finden. Irgendeine kurze Randnotiz, in der nicht einmal die Namen der Gefallenen aufgeführt sind.

Irgendwo, dachte er, sollte man ein Denkmal mit den Namen all jener errichten, die in diesem Krieg gestorben sind. Und auch derer sollte gedacht werden, denen das noch schlimmere Schicksal zuteil geworden ist, nicht zu sterben. Die weiterleben mußten, über ihren Tod hinaus. Wie Bob Arctor. Der tragischste Fall überhaupt.

Ich habe das Gefühl, daß Donna ein Söldner ist. Jemand, der nicht auf der gewöhnlichen Gehaltsliste steht. Und solche Söldner sind noch mehr als die anderen wie flüchtige Gespenster. Sie verschwinden für immer. Man fragt sich, wo sie jetzt ist, und die Antwort darauf lautet – Nirgendwo. Weil sie nämlich sowieso nie dagewesen ist.

Mike Westaway nahm wieder an dem Holztisch Platz, um seinen Hamburger aufzuessen und seine Coke auszutrinken. Denn das war immerhin noch besser als alles, was man ihnen im Neuen Pfad vorsetzte – selbst wenn der Hamburger aus Kuhfladen bestehen sollte.

Der Gedanke, Donna zurückzurufen, den Versuch zu unternehmen, sie zu finden oder sie zu besitzen … Ich suche das, was auch Bob Arctor gesucht hat, und darum ist er jetzt vielleicht sogar besser dran als vorher, trotz allem. Auch vorher war seine Existenz schon tragisch. Einen Luftgeist zu lieben – das war die eigentliche Tragödie. Die Hoffnungslosigkeit an sich. Ihr Name würde in keinem Buch erscheinen. Nirgendwo in den Annalen der Menschheit: kein Wohnort, kein Name. Es gibt solche Mädchen, dachte er, und genau die liebst du am meisten: die, bei denen es keine Hoffnung gibt, weil sie sich dir gerade in dem Moment, da du deine Hände um sie schließt, auch schon entzogen haben.

Also haben wir ihn vielleicht vor einem noch schlimmeren Geschick gerettet, schloß Westaway. Und zugleich das, was von ihm übriggeblieben ist, sinnvoll eingesetzt. Für einen guten und nützlichen Zweck.

Wenn wir Glück haben.


*


»Kennst du irgendwelche Geschichten?« fragte Thelma eines Tages.

»Ich kenne die Geschichte vom Wolf«, sagte Bruce.

»Vom Wolf und der Großmutter?«

»Nein«, sagte er. »Vom schwarzweißen Wolf. Er lebte oben in einem Baum und sprang von dort aus wieder und wieder hinunter auf die Tiere des Bauern. Eines Tages schließlich rief der Bauer alle seine Söhne und die Freunde seiner Söhne zusammen, und sie stellten sich rund um den Baum auf und warteten darauf, daß der schwarzweiße Wolf heruntersprang. Am Ende stürzte sich der Wolf tatsächlich auf ein räudiges braunes Tier, und da wurde er in seinem schwarzweißen Mantel von ihnen allen gemeinsam erschossen. «

»Oh«, sagte Thelma, »das ist aber schlimm.«

»Aber sie retteten den Pelz«, fuhr er fort. »Sie enthäuteten den großen schwarzweißen Wolf, der sich aus dem Baum schnellte, und bewahrten seinen wunderschönen Pelz auf, damit jene, die auf ihn folgten, jene, die nach ihm kamen, sehen konnten, wie er ausgeschaut hatte, und ihn in all seiner Kraft und Herrlichkeit bewundern konnten. Und zukünftige Generationen erzählten sich voller Ehrfurcht die vielen Geschichten, die sich um seine Tapferkeit und seine Würde rankten, und sie beweinten seinen Tod.«

»Warum haben sie ihn erschossen?«

»Es mußte sein«, sagte er. »Wölfe wie den muß man erschießen.«

»Kennst du sonst noch irgendwelche Geschichten? Bessere?«

»Nein«, sagte er, »das ist die einzige Geschichte, die ich kenne.« Und er saß da und erinnerte sich daran, wie sehr der Wolf seine überlegenen Fähigkeiten genossen hatte und was für ein gutes Gefühl es gewesen war, sich wieder und wieder mit diesem geschmeidigen Körper vom Baum hinunterzuschnellen. Aber jetzt gab es diesen Körper nicht mehr; sie hatten den Wolf niedergeschossen. Und das wegen ein paar magerer Tiere, die sowieso nur abgeschlachtet und gegessen wurden. Kraftlose Tiere, die nie sprangen und die auf ihren Körper nicht stolz sein konnten. Aber andererseits – und das mochte auf seine Weise auch etwas Gutes sein – schleppten sich diese Tiere immer irgendwie vorwärts. Und der schwarzweiße Wolf hatte sich nie beklagt; er hatte nichts gesagt, nicht einmal dann, als sie ihn erschossen. Seine Klauen waren immer noch tief in seine Beute vergraben gewesen. Aus keinem besonderen Grund. Nur, weil das eben so seine Art war und er es gerne tat. Er konnte sich nicht anders verhalten, kannte keinen anderen Lebensstil. Und schließlich erwischten sie ihn eben.

»Ich bin der Wolf«, rief Thelma und sprang ungeschickt durch den Raum. »Wuff, wuff!« Sie schnappte nach verschiedenen Gegenständen und verfehlte sie doch alle, und bestürzt erkannte er, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Zum ersten Mal sah er, daß sie hirngeschädigt war, und das erfüllte ihn mit einer unbestimmten Angst. Wie konnte so etwas nur geschehen?

»Er sagte: »Du bist nicht der Wolf.«

Aber trotzdem stolperte sie nach wie vor, als sie herumtappte und herumhinkte; trotzdem blieb, wie er plötzlich begriff, die Hirnschädigung weiter bestehen. Er fragte sich, wie es möglich war, daß …


Ich unglücksel’ger Atlas! Eine Welt,

Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen,

Ich trage Unerträgliches, und brechen

Will mir das Herz im Leibe.[17]


ein solches Maß an Leid existieren konnte. Er ging weg. Hinter ihm spielte sie immer noch. Sie strauchelte und fiel. Was mag man dabei empfinden? fragte er sich.


*


Er wanderte den Korridor entlang, weil er den Staubsauger suchte. Es war ihm aufgetragen worden, sorgfältig das große Spielzimmer zu saugen, in dem die Kinder den größten Teil des Tages verbrachten.

»Die Halle hinunter rechts.« Jemand wies ihm den Weg. Earl.

»Danke, Earl«, sagte er.

Als er vor der geschlossenen Tür stand, wollte er eigentlich erst klopfen, aber dann öffnete er sie statt dessen einfach so.

In dem Raum stand eine alte Frau, die drei Gummibälle in der Hand hielt, mit denen sie jonglierte. Ihr graues, strähniges Haar hing ihr bis auf die Schultern. Sie wandte sich ihm zu und grinste ihn zahnlos an. Sie trug weiße Sportsöckchen und Tennisschuhe. Er sah, daß ihre Augen tief in den Höhlen lagen; grinsende, eingesunkene Augen, leerer Mund.

»Schaffst du das auch?« schnaufte sie und warf alle drei Bälle hoch in die Luft. Sie fielen herab, trafen sie, sprangen auf den Fußboden. Sie beugte sich über die Bälle und lachte. Aus ihrem Mundwinkel tropfte Speichel.

»Nein«, sagte er und stand einfach nur da, zutiefst erschreckt.

»Aber ich.« Das dünne alte Geschöpf, dessen Armgelenke bei jeder Bewegung knackten, hob die Bälle wieder auf, blinzelte kurzsichtig und versuchte es noch mal.

Jemand erschien neben Bruce in der Tür und stellte sich neben ihn, um ebenfalls zuzuschauen.

»Wie lange übt sie schon?« sagte Bruce.

»Ganz schön lange.« Der andere rief der Frau zu: »Versuch’s noch mal. Bald hast du den Dreh raus!«

Die alte Frau gackerte, während sie sich niederbeugte und mit den Händen umhertastete, um die Bälle wieder aufzuheben.

»Einer ist da drüben«, sagte die Person neben Bruce. »Unter dem Nachtschränkchen.«

»Ohhhhhhh!« keuchte sie.

Sie sahen zu, wie die alte Frau wieder und wieder neue Versuche unternahm – die Bälle fallen ließ, die Bälle wieder aufhob, sorgfältig zielte, sich selbst ausbalancierte, die Bälle hoch in die Luft warf und sich dann krümmte, als sie auf sie herniederregneten und sie dabei manchmal auf den Kopf trafen.

Die Person neben Bruce schnüffelte und sagte naserümpfend: »Donna, du solltest dich jetzt besser waschen gehen. Du bist nicht sauber.«

Seltsam berührt sagte Bruce: »Das ist nicht Donna. Ist das wirklich Donna?« Er hob den Kopf, um die alte Frau zu beäugen, und er spürte ein großes Entsetzen in sich; so etwas wie Tränen standen in den Augen der alten Frau, als sie seinen Blick erwiderte, aber sie lachte, lachte, als sie die drei Bälle auf ihn warf, begierig, ihn zu treffen. Er duckte sich.

»Nein, Donna, das sollst du doch nicht tun«, sagte die Person neben Bruce zu ihr. »Nicht nach anderen Leuten werfen. Probier einfach nur, das nachzumachen, was du im Fernsehen gesehen hast. Du weißt schon, fang sie selbst wieder auf und werf sie sofort wieder hoch. Aber zuerst machst du dich jetzt mal sauber; du stinkst.«

»Okay«, stimmte die alte Frau zu und eilte davon, gebückt und klein. Die drei Gummibälle, die immer noch auf dem Boden umherrollten, ließ sie zurück.

Die Person neben Bruce schloß die Tür, und sie gingen gemeinsam durch die Halle. »Wie lange ist Donna schon hier?« sagte Bruce.

»Lange. Sie war schon da, bevor ich gekommen bin, und das ist sechs Monate her. Sie versucht seit ungefähr einer Woche zu jonglieren.«

»Dann ist das nicht Donna«, sagte er. »Nicht, wenn sie schon so lange hier ist. Ich bin nämlich gerade erst vor einer Woche hierhergekommen.« Und Donna, dachte er, hat mich mit ihrem MG hierhergefahren. Ich erinnere mich daran, weil wir anhalten mußten, um Kühlflüssigkeit nachfüllen zu lassen. Und da sah sie noch gut aus. Ruhig und gelassen, mit dunklen, traurigen Augen, in Lederjäckchen und Stiefeln, mit dem Geldbeutel, an dem der Hasenfuß baumelte. So, wie sie immer aussieht.

Dann ging er weiter, immer noch auf der Suche nach dem Staubsauger. Er fühlte sich jetzt viel besser. Aber er verstand nicht, warum.


Загрузка...