XVI

Unter dem Ausguß in der Küche, bei den Seifenkisten und Bürsten und Eimern, fand er ein kleines Knochenstückchen. Es sah irgendwie menschlich aus, und er fragte sich, ob das Jerry Fabin sein mochte.

Dieser Fund weckte in ihm die Erinnerung an ein Ereignis, das schon sehr lange zurückliegen mußte. Einmal hatte er mit zwei anderen Typen zusammengewohnt, und manchmal hatten sie im Scherz behauptet, eine Ratte namens Fred zu besitzen, die unter dem Ausguß lebte. Und als sie einmal total pleite gewesen waren, so pflegten sie ihren Bekannten zu erzählen, hatten sie den armen alten Fred aufgegessen.

Vielleicht war das hier einer der Knochen jener Ratte, die unter dem Ausguß gehaust hatte. Die sie erfunden hatten, damit sie nicht so allein waren.


*


Die Gespräche im Gemeinschaftsraum.

»Dieser Typ war noch ausgeflippter, als er nach außen hin wirkte. Ich spürte das. Eines Tages fuhr er hinauf nach Ventura und kurvte überall rum, um einen alten Freund zu suchen, der landeinwärts in Richtung Ojai wohnte. Er erkannte das Haus, ohne nach der Nummer zu sehen, hielt an und fragte die Leute, ob er mit Leo sprechen könne. ›Leo ist schon tot. Tut mir leid, daß Sie das nicht wußten.‹ Und darauf sagt dieser Typ zu ihnen: ›Okay, dann komme ich eben nächsten Donnerstag noch mal wieder.‹ Und er fuhr weg, fuhr zurück die Küste runter, und ich schätze, daß er am Donnerstag wieder raufgefahren ist, um Leo zu suchen. Wie findet ihr das?«

Er hörte ihrer Unterhaltung zu und trank dabei seinen Kaffee.

»– es funktioniert echt, das Telefonbuch, in dem nur eine einzige Nummer drinsteht; egal, wen man sprechen will, man wählt immer diese eine Nummer. Seite um Seite immer nur die gleiche Nummer … ich sprech’ natürlich von ‘ner total ausgeflippten Gesellschaft. Und in deiner Brieftasche hast du diese Nummer auch, die Nummer, hingekritzelt auf Zettel und Karten, für verschiedene Leute. Und wenn du die Nummer vergißt, dann könntest du niemanden mehr anrufen.«

»Du könntest die Auskunft anrufen.«

»Die hat dieselbe Nummer.«

Er hörte immer noch zu; er fand den Ort, den sie da beschrieben, sehr interessant. Wenn man anrief, hörte man vielleicht »Kein Anschluß unter dieser Nummer«, oder jemand meldete sich und sagte: »Tut mir leid, Sie sind falsch verbunden. Haben Sie vielleicht die falsche Nummer gewählt?« Und darum rief man noch mal an, wählte einfach wieder dieselbe Nummer, und diesmal war die Person dran, die man sprechen wollte.

Wenn man zum Arzt ging – es gab nur einen, und der war Spezialist für alles –, dann gab es nur eine Medizin. Nachdem der Arzt einen untersucht hatte, pflegte er immer diese Medizin zu verschreiben. Man brachte das Rezept zur Apotheke, um es dort einzulösen, aber der Apotheker konnte nie lesen, was der Doktor geschrieben hatte, und darum gab er einem die einzige Pille, die er hatte, nämlich Aspirin. Und das half immer, ganz egal, was man hatte.

Wenn man gegen das Gesetz verstieß, dann immer nur gegen das eine Gesetz, gegen das alle wieder und wieder verstießen. Der Bulle schrieb alles sorgfältig auf: welches Gesetz, welcher Verstoß. Jedesmal. Und auf jede Gesetzesverletzung, von der Verkehrsgefährdung bis hin zum Verrat, stand immer dieselbe Strafe, und das war die Todesstrafe. Es gab zwar Bemühungen, die Todesstrafe abzuschaffen, aber dazu durfte es letztlich doch nicht kommen, weil es dann ja zum Beispiel für Verkehrsgefährdung überhaupt keine Strafe mehr gegeben hätte. Also blieb man bei der alten Regelung, und das Volk zehrte sich von innen heraus aus und starb. Aber eigentlich konnte man in diesem Fall wohl doch nicht von »Sterben« sprechen – die Bürger waren schon vorher tot gewesen. Sie verblaßten einfach nur ein bißchen mehr, wenn sie das Gesetz brachen, einer nach dem anderen, und lösten sich dann am Ende nur irgendwie endgültig auf.

Er dachte: Und wenn die Leute dann hören, daß der letzte von ihnen verschwunden ist, werden sie bestimmt sagen, ›Möchte ja zu gerne wissen, was das eigentlich für Menschen waren. Hm – tja, am besten kommen wir am Donnerstag noch mal wieder.‹ Obwohl er sich nicht sicher war, lachte er, und als er seine Geschichte laut erzählte, lachten auch alle anderen im Aufenthaltsraum.

»Sehr gut, Bruce«, sagten sie.

Dieser Satz wurde bald zu einer Art geflügeltem Wort; wenn einer der Insassen des Samarkand House etwas nicht verstand oder etwas, das er holen sollte – etwa eine Rolle Toilettenpapier –, nicht finden konnte, dann pflegte er zu sagen: »Tja, dann komme ich wohl am besten am Donnerstag noch mal wieder.« Im allgemeinen wurde dieser Slogan ihm zugeschrieben. Sein Spruch. Wie bei den Trickfilmen im Fernsehen, in denen Woche für Woche als besonderes Erkennungszeichen die gleichen Sprüche gerissen wurden. Der Slogan verbreitete sich im Samarkand House, und alle wußten, was damit gemeint war.

Als sie sich später eines Abends beim Spiel wechselseitig für die Dinge lobten, die jeder von ihnen in die Gemeinschaft des Neuen Pfades eingebracht hatte, wie etwa neue Konzepte, da wurde er dafür gelobt, den Humor eingebracht zu haben. Er hatte die Fähigkeit mitgebracht, die Dinge als spaßig anzusehen, ganz egal, wie schlecht er sich auch fühlen mochte. Alle im Kreis klatschten, und als er überrascht aufblickte, sah er einen Ring aus lächelnden Gesichtern. Alle Augen waren voller Wärme und Einverständnis auf ihn gerichtet, und das Geräusch ihres Applauses blieb noch lange in ihm, ganz tief drinnen in seinem Herzen.


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