27. Kapitel

»Rasch, Hastings! Ich bin blind gewesen, schwachsinnig. Ein Taxi rasch!«

Hercule Poirot


Die Unfähigkeit, meinen Standort im Raumzeitgefüge zu bestimmen • Carruthers weigert sich, nach Coventry zurückzugehen • Das Rätsel um Veritys Sprung klärt sich auf • Carruthers geht nach Coventry… • Finch ist es immer noch nicht erlaubt, über seinen Auftrag zu sprechen • Mehr Zeitschriften • In der Untergrundbahn nach Coventry • Warum Menschen nie ihre zeitgenössischen Transportmittel schätzen • Ich rezitiere Gedichte • Der Verbrecher gesteht • Des Bischofs Vogeltränke wird schließlich gefunden


Wann, oh wann, wird es mir endlich gelingen, bei der Ankunft festzustellen, wo genau im Raumzeitgefüge ich mich befinde? Sicher, mir ging eine Menge im Kopf herum, vor allem, was ich Verity sagen wollte, wenn ich endlich Zeit dazu fand, und was ich jetzt im Moment tun sollte, aber das war keine Entschuldigung.

»Wo ist Mr. Dunworthy?« fragte ich Miss Warder in der Sekunde, als wir durchkamen. Ich wartete nicht ab, bis sich die Schleier hoben, sondern griff nach Veritys Hand und kämpfte mich hindurch zur Konsole.

»Mr. Dunworthy?« fragte Miss Warder verständnislos. Sie war herausgeputzt, trug ein gemustertes Kleid und ihre Haare waren frisch gelockt, was ihr einen beinahe freundlichen Ausdruck verlieh.

»In London«, sagte Carruthers, der gerade ins Labor kam. Er war genauso herausgeputzt und hatte den Ruß vollständig abgewaschen. »Aha, du hast Verity gefunden.« Er lächelte ihr zu. »Du hast nicht zufällig die Vogeltränke entdeckt, als du in Coventry warst?«

»Nein. Was macht Dunworthy in London?«

»Lady Schrapnell fiel zu guter Letzt noch ein, daß des Bischofs Vogeltränke möglicherweise am selben Ort verstaut sein könnte, wo die Schätze des Britischen Museums während des Blitzkriegs gelagert waren, nämlich in einem unbenutzten Tunnel der Untergrundbahn.«

»Ist sie aber nicht«, sagte ich. »Ruf ihn an und sag ihm, er soll sofort hierherkommen. T. J. ist doch hoffentlich nicht bei ihm, oder?« Ich schaute auf die aufeinandergetürmten Monitore, auf denen er seine Waterloo-Simulationen hatte laufen lassen.

»Nein«, erwiderte Carruthers. »Er zieht sich um. Er wird gleich hier sein. Was soll das alles?«

»Wo ist Lady Schrapnell?« fragte ich.

»Lady Schrapnell?« Miss Warders Stimme klang, als hätte sie den Namen noch nie gehört.

»Ja, Lady Schrapnell«, sagte ich. »Die Kathedrale von Coventry. Der Fluch unseres Lebens. Lady Schrapnell.«

»Ich dachte, du wolltest um keinen Preis mit ihr zusammentreffen«, sagte Carruthers.

»Ich will auch jetzt nicht mit ihr zusammentreffen. Es kann aber sein, daß ich sie in ein paar Stunden brauche. Weißt du, wo sie steckt?«

Er wechselte einen Blick mit Miss Warder. »Bei der Kathedrale vermutlich.«

»Einer von euch muß das herausfinden«, sagte ich. »Fragt sie, wie ihr Terminplan für den Rest des Tages aussieht.«

»Ihr Terminplan?« wiederholte Carruthers, und Miss Warder sagte gleichzeitig: »Gehen Sie selbst, wenn Sie das wissen wollen.« Es brauchte offenbar mehr als ein paar Locken, um sie freundlich werden zu lassen. »Ich geh’ nicht das Risiko ein, daß sie mir noch mehr Arbeit aufs Auge drückt! Ich mußte für sie bereits die Altartücher bügeln und…«

»Macht nichts«, sagte ich. Im Augenblick brauchte ich Lady Schrapnell nicht, und es gab andere, wichtige Dinge zu tun. »Ich brauche Kopien vom Coventry Standard und Midlands Daily Telegraph vom fünfzehnten November bis… wann bist du aus Coventry zurückgekommen?« fragte ich Carruthers. »An welchem Tag?«

»Vor drei Tagen. Am Mittwoch.«

»An welchem Tag in Coventry?«

»Zwölfter Dezember.«

»Vom fünfzehnten November bis zwölften Dezember«, sagte ich zu Miss Warder.

»Kommt nicht in Frage!« erwiderte sie. »Ich muß die Altartücher bügeln und drei Rendezvous hereinbringen. Und sämtliche Chorgewänder sind zu pressen. Leinen! Als ob es nicht genügend andere Materialien gäbe, in die sie den Chor hätte einkleiden können, die nicht bereits auf dem Weg durchs Kirchenschiff zum Chor knittern! Nein, sie muß Leinen haben! ›Gott steckt im Detail‹, sagte sie. Und nun erwarten Sie von mir, daß ich auch noch Zeitungskopien…«

»Ich geh’ schon«, sagte Verity. »Brauchst du Seitenfaksimiles oder nur Artikel, Ned?«

»Faksimiles.«

Verity nickte. »Die kann ich in der Bodleiana machen. Ich komm’ dann sofort zurück.« Sie schenkte mir eines ihrer strahlenden Naiadenlächeln, und weg war sie.

»Du mußt für mich nach Coventry gehen«, sagte ich zu Carruthers.

»Coventry?« Carruthers wich so heftig zurück, daß er mit Miss Warder zusammenprallte. »Da geh’ ich nicht mehr hin. Ich habe das letzte Mal genug Probleme gehabt, wieder heimzukommen.«

»Du sollst nicht zum Angriff springen«, sagte ich. »Was ich brauche, ist…«

»Und ich geh’ auch nicht in die Nähe. Hast du das Kürbisfeld vergessen? Und diese verdammten Bluthunde? Ausgeschlossen.«

»Du sollst nicht in der Zeit zurückgehen«, sagte ich. »Alles, was ich brauche, sind ein paar Sachen aus dem Kirchenarchiv. Du kannst die Untergrundbahn nehmen. Ich möchte, daß du herausfindest…«

T. J. betrat das Labor. Er war ebenfalls gut angezogen, mit weißem Hemd und seiner kurzen akademischen Robe. Ich überlegte, ob Lady Schrapnell irgendeine Art Kleiderordnung eingeführt hatte.

»Einen Augenblick noch, Carruthers«, sagte ich »T. J., tun Sie mir einen Gefallen. Sie haben doch die Simulation dieser Inkonsequenz. Verändern Sie den Fokus.«

»Den Fokus?« fragte er verdutzt.

»Das Gebiet, wo die Inkonsequenz erschien.«

»Sagen Sie bloß nicht, es gibt noch eine Inkonsequenz«, sagte Miss Warder. »Das fehlte uns grade noch! Ich habe fünfzig leinene Chorgewänder zu pressen, drei Rendezvous…« Ich ignorierte sie und sagte zu T. J.: »Sie sagten doch, eine Selbstkorrektur könne sich in die Vergangenheit erstrecken, nicht wahr?«

Er nickte. »Einige der Modelle zeigten vorsorgliche Selbstkorrekturen.«

»Und Sie sagten auch, daß es sich bei dem einzigen Mal, als Sie einen wichtigen Gegenstand von seinem Platz in Raumzeitgefüge entfernen konnten, um eine Selbstkorrektur gehandelt hätte.«

Wieder nickte er.

»Ebenso, daß unsere Inkonsequenz zu keiner der Waterloo-Simulationen paßte. Ich möchte, daß Sie prüfen, ob sie paßt, wenn Sie den Fokus verändern.«

Gehorsam setzte sich T. J. an die Computerkonsole und streifte die Ärmel seiner Robe hoch. »Wohin?«

»Kathedrale von Coventry«, sagte ich. »Vierzehnter November…«

»Vierzehnter November?« fragten T. J. und Carruthers wie aus einem Mund. Miss Warder schenkte mir einen jener Wie-oft-sind-Sie-eigentlich- gesprungen?-Blicke.

»Vierzehnter November«, wiederholte ich bestimmt. »1940. Die genaue Zeit weiß ich nicht. Irgendwann zwischen sieben Uhr und elf Uhr abends. Ich vermute, halb zehn.«

»Aber das ist während des Angriffs«, sagte Carruthers. »Der Zeitpunkt, dem sich keiner von uns nähern konnte.«

»Was soll das alles, Ned?« fragte T. J.

»Das Geheimnis des Füllfederhalters und Hercule Poirot«, erwiderte ich. »Wir haben das Pferd von hinten aufgezäumt. Was, wenn die Rettung der Katze überhaupt nicht die Inkonsequenz war? Wenn sie Teil einer Selbstkorrektur des Kontinuums war, und die wirkliche Inkonsequenz früher geschah? Oder später?«

T. J. fing an, Zahlen einzutippen.

»Bei Veritys Sprung gab es keinen erhöhten Schlupfverlust«, fuhr ich fort, »obwohl fünf Minuten früher oder später verhindert hätten, daß sie Prinzessin Arjumand rettete, oder wenn das Netz sich nicht geöffnet hätte, aber keine diese beiden Verteidigungsstrategien setzte ein. Und warum schickte der Schlupfverlust mich nach Oxford, um Terence kennenzulernen und ihn davon abzuhalten, Maud zu begegnen, ließ mich ihm Geld für das Boot leihen, damit er Tossie treffen konnte? Was, wenn das die Absicht des Kontinuums gewesen wäre? Und was, wenn alle Zeichen, die wir für Hinweise auf einen Zusammenbruch deuteten — daß ich ins Mittelalter zurückgeschleudert wurde, daß Carruthers in Coventry feststeckte — ebenso Teil einer Selbstkorrektur gewesen sind?«

Koordinatenreihen erschienen. T. J. studierte die Spalten, gab noch mehr Zahlen ein und betrachtete die neuen Muster. »Nur den Fokus?« fragte er.

»Sie sagten, Diskrepanzen entstünden nur in der nächsten Umgebung des Zwischenfalls«, sagte ich.

»Wenn der Zwischenfall aber gar nicht in Muchings End geschah? Wenn es der Angriff auf Coventry war? Was Verity und ich für Diskrepanzen hielten, war vielleicht der Gang der Ereignisse, die geschähen, wenn die Inkonsequenz nicht beseitigt würde.«

»Interessant.« T. J. tippte rasch weitere Zahlen ein.

»Nur den Fokus«, sagte ich. »Dieselben Ereignisse, derselbe Schlupfverlust.«

»Es wird ein bißchen dauern«, sagte er eifrig tippend.

Ich wandte mich Carruthers zu. »Hier, das sollst du für mich in Coventry herausfinden.« Ich griff an Miss Warder vorbei nach einem Handcomputer und diktierte: »Die Namen der im Jahr 1940 in der Kathedrale Tätigen, Laien und Kleriker, sowie die Eheschließungen in der Kathedrale von 1888 bis…« ich zögerte und dachte nach, »bis 1915. Nein, 1920, um ganz zu sicher zu gehen.«

»Und wenn die Unterlagen bei dem Angriff zerstört wurden?«

»Besorgst du dir die Unterlagen über die Kirchenpfründe von der Kirche von England aus dem Jahr 1940. In Canterbury muß es Akten darüber geben und auch noch an diversen anderen Orten. Sie können nicht alle im Blitzkrieg getroffen worden sein.«

Ich drückte auf dem Handcomputer DRUCKEN, wartete, bis das Blatt herauskam und riß es ab. »Das brauche ich so bald wie möglich.«

Carruthers starrte darauf. »Soll ich etwa sofort los?«

»Ja«, sagte ich. »Es ist wichtig. Wenn ich recht behalte, halten wir des Bischofs Vogeltränke noch rechtzeitig vor der Einweihung in Händen.«

»Dann sollten Sie sich beeilen«, sagte Miss Warder trocken. »Die Einweihung ist in zwei Stunden.«

»Die Einweihung?« fragte ich verständnislos. »Aber das ist unmöglich.« Und dann stellte ich endlich die Frage, die ich sofort beim Verlassen des Netzes hätte stellen sollen: »Welcher Tag ist heute?«

Verity kam, beladen mit Faksimiles, hereingerannt. Sie trug jetzt ein Lamellenkleid und Turnschuhe, und ihre Beine waren genauso lang, wie ich sie mir vorgestellt hatte. »Ned, die Einweihung ist in wenigen Stunden!«

»Das habe ich auch gerade festgestellt«, sagte ich, während sich meine Gedanken überschlugen. Ich hatte angenommen, mir blieben ein paar Tage, um Beweise für meine Theorie zu sammeln, aber nun blieb kaum die Zeit, um nach Coventry und wieder zurück zu fahren.

»Kann ich helfen?« fragte Verity.

»Wir brauchen den Beweis, daß die Inkonsequenz beseitigt ist«, sagte ich. »Eigentlich wollte ich Carruthers losschicken…«

»Ich kann gehen«, sagte Verity. Ich schüttelte den Kopf.

»Soviel Zeit haben wir nicht mehr. Wann beginnt die Einweihung?« fragte ich Miss Warder.

»Um elf Uhr.«

»Und wie spät ist es jetzt?«

»Viertel nach neun.«

Ich schaute zu T. J. hinüber. »Wie lange dauert’s noch, bis die Simulation steht?«

»Eine Minute.« T. J.’s Finger flogen über die Tasten. »Fertig.« Er drückte »RETURN«, die Koordinaten verschwanden, und das neue Modell erschien.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Das Modell auf dem Monitor sah haargenau aus wie das vorherige — ein konturloses, schattenhaftes Grau.

»Nun, wollen Sie mal sehen?« fragte T. J., noch mehr Tasten drückend. »Das hier ist der neue Fokus… und darüber habe ich eine Waterloo-Suppenkesselsimulation gelegt.«

Er sprach in das Computermikrofon. Beide Modelle erschienen, eines über dem anderen, und sogar ich konnte erkennen, daß sie übereinstimmten.

»Stimmen sie überein?« wollte Miss Warder wissen.

»Allerdings.« T. J. nickte nachdenklich. »Bis auf ein paar kleine Differenzen. Der Verlust bei dem Zwischenfall ist nicht so groß, und sehen Sie, hier und hier stimmt’s nicht ganz überein«, er deutete auf nichts Erkennbares, »aber es handelt sich eindeutig um das Muster einer Selbstkorrektur. Sehen Sie, wie sich der Schlupfverlust gegen 1888 hin verringert. Er verschwindet ganz am…«

»Achtzehnten Juni«, vollendete ich.

T. J. gab einige Zahlen ein. »Achtzehnter Juni. Ich werde noch ein paar Überprüfungen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen laufen lassen müssen, um herauszufinden, was das hier soll«, er klopfte auf das nicht näher Erkennbare, »aber es sieht eindeutig so aus, als sei das die Inkonsequenz.«

»Welche?« fragte Carruthers. »Und wer verursachte sie?«

»Das solltest du für mich in Coventry herausfinden«, entgegnete ich mit einem Blick auf meine nutzlose Taschenuhr. »Aber wir haben keine Zeit mehr.«

»Natürlich haben wir noch Zeit«, sagte Verity. »Dies hier ist ein Zeitreiselabor. Wir können Carruther zurückschicken, um die Informationen zu holen.«

»Er kann nicht ins Jahr 1940 zurück«, sagte ich. »Er war bereits da. Und das letzte, was wir brauchen ist eine weitere Inkonsequenz.«

»Nicht 1940, Ned. Die vergangene Woche tut’s auch.«

»Er kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein«, sagte ich, und dann wurde mir klar, daß er das auch nicht sein würde. Letzte Woche war er in 1940 gewesen, nicht in 2057. »Miss Warder, wie lange brauchen Sie, um einen Sprung zu berechnen?«

»Einen Sprung! Ich muß bereits drei Rendezvous…«

»Ich werde die Chorgewänder pressen«, sagte Verity.

»Er braucht… Carruthers, wie lange wirst du brauchen? Einen Tag?«

»Zwei«, sagte Carruthers.

»Für zwei Tage. Wochentage. Am Wochenende sind die Kirchenarchive geschlossen. Und es müssen zwei Tage sein, an denen er bereits in 1940 war. Und dann bringen Sie ihn sofort hierher zurück.«

Miss Warder schaute störrisch. »Woher soll ich wissen, daß er nicht wieder in Coventry steckenbleibt?«

»Deshalb.« Ich wies auf den Computer. »Die Inkonsequenz ist beseitigt.«

»Ist schon gut, Peggy«, meinte Carruthers. »Setz dich hin und berechne den Sprung.« Er wandte sich mir zu. »Hast du die Liste mit den Sachen, die ich rausfinden soll?«

Ich reichte sie ihm. »Und noch was. Ich brauche eine Liste der Vorsitzenden aller Frauenausschüsse der Kirche im Jahr 1940.«

»Um die Vorsitzende des Blumenausschusses brauche ich mich nicht zu kümmern«, sagte Carruthers. »Die kenne ich schon. Es ist Miss Sharpe, diese Harpye.«

»Aller Frauenausschüsse, einschließlich des Blumenausschusses«, sagte ich.

Verity drückte Carruthers einen Stift und einen Notizblock in die Hand. »Damit Sie kein Papier von letzter Woche mit zurück durchs Netz bringen müssen.«

»Fertig?« sagte Carruthers zu Miss Warder.

»Fertig«, erwiderte sie argwöhnisch.

Er stellte sich ins Netz, und Miss Warder kam herbei, um seinen Kragen zu glätten. »Sei ja vorsichtig«, sagte sie und richtete seine Krawatte.

»Ich bin doch nur ein paar Minuten weg.« Er grinste albern. »Oder?«

»Wenn nicht«, sagte Miss Warder lächelnd, »hol ich dich persönlich zurück.«

»Ich glaub’s einfach nicht«, flüsterte ich Verity zu.

»Zeitkrankeit«, flüsterte sie zurück, während Miss Warder gurrte: »Ich habe ein Zehn-Minuten-Intermittent gesetzt.«

»Ich bleibe keine Sekunde länger fort, als ich muß«, versicherte Carruthers. »Ich bin so schnell zurück wie’s geht, damit ich dich zur Einweihung begleiten kann.« Damit zog er sie in seine Arme und gab ihr einen langen Kuß.

»Tut mir leid, daß ich dieses zärtliche Beisammensein unterbrechen muß«, sagte ich, »aber in zwei Stunden ist die Einweihung.«

»Schon gut«, schnappte Miss Warder, strich noch einmal glättend über Carruthers Kragen, um dann zur Konsole zurückzustapfen. Liebe mag zwar alles und jeden besiegen, aber alte Gewohnheiten sind nur schwer abzulegen, und ich hoffte, Baine beabsichtigte, sich in den Vereinigten Staaten in der Nähe eines Flusses niederzulassen.

Miss Warder senkte die Schleier, und Carruthers verschwand. »Wenn er nicht wohlbehalten in zehn Minuten zurück ist«, sagte sie zu mir, »sende ich Sie zum Hundertjährigen Krieg.« Und dann zu Verity: »Sie haben versprochen, die Chorgewänder zu pressen.«

»Gleich«, sagte ich und reichte Verity eines der Faksimiles.

»Wonach suchen wir?« fragte sie.

»Briefe an den Herausgeber. Oder einen offenen Brief. Ich bin mir nicht sicher.«

Ich durchblätterte den Midlands Daily Telegraph. Ein Artikel über den Besuch des Königs, eine Liste der Opfer, ein Artikel, der mit dem Satz begann: »Ein überwältigender Beweis für Coventrys Willen, sich wieder aus den Trümmern zu erheben.«

Im Coventry Standard fand ich eine Anzeige für Luftschutz-Sandsäcke, Standardausführung, zum Preis von 36 Pfund und 6 Shilling pro hundert Stück, ebenso ein Bild der ausgebombten Kathedrale.

»Hier sind noch mehr Briefe.« Verity gab mir ihr Blatt.

Ein Brief, in dem die Feuerwehr für ihren mutigen Einsatz gelobt wurde und einer, in dem jemand anfragte, ob irgend jemand Molly, eine wunderschöne Gingerkatze gefunden hätte, die zuletzt in der Nacht vom 14. November in der Greyfriars Lane gesehen worden war. In einem weiteren Brief beklagte sich ein Leser über die Luftschutzwarte.

Die Außentür öffnete sich, und Verity fuhr hoch, aber es war nicht Lady Schrapnell. Es war Finch. Schneeflocken bedeckten sein Haar und seine Butlerlivree. Sein rechter Ärmel war durchnäßt.

»Wo waren Sie?« fragte ich. »Sibirien?«

»Es ist mir nicht erlaubt, darüber zu sprechen«, entgegnete er und wandte sich T. J. zu. »Mr. Lewis, wo ist Mr. Dunworthy?«

»In London.« T. J. starrte auf den Bildschirm.

»Oh.« Finch klang sehr enttäuscht. »Gut, sagen Sie ihm…« — er warf uns einen wachsamen Blick zu —, »der Auftrag sei beendet.« Er wrang seinen Ärmel aus. »Obwohl der Teich eine dicke Eisschicht hatte und das Wasser am Gefrieren war. Sagen Sie ihm, es wären…« — wieder ein wachsamer Blick zu uns — »es wären sechs.«

»Und ich hab’ nicht den ganzen Tag Zeit«, schimpfte Miss Warder. »Hier ist Ihr Beutel.« Sie reichte ihm einen großen Sack. »So können Sie nicht springen.« Ein abschätzender Blick auf Finch. »Kommen Sie. Ich werde dafür sorgen, daß Sie erstmal trocken werden.« Sie führte ihn in den Vorbereitungsraum. »Dabei bin ich nicht mal der Techniker. Ich bin lediglich eingesprungen. Ich muß die Altartücher bügeln, ich habe ein Zehn-Minuten-Intermittent laufen…« Die Tür schloß sich hinter ihnen.

»Was soll das bedeuten?« fragte ich.

»Hier.« Verity reichte mir ein weiteres Blatt. »Noch mehr Briefe an den Herausgeber.«

Drei Briefe, die sich mit dem Besuch des Königs in Coventry beschäftigten, einer, der sich über das Essen in den mobilen Kantinen beschwerte, einer, in dem ein Basar in St. Aldate’s zugunsten der Opfer des Luftangriffs angekündigt wurde.

Finch kam abgetrocknet und gekämmt wieder herein, im Schlepptau von Miss Warder, die immer noch schimpfte. »Es will mir nicht in den Kopf, warum wir Sie alle an einem einzigen Tag durchbringen müssen«, sagte sie und marschierte zur Konsole, um auf die Tasten zu hämmern. »Ich habe drei Rendezvous, fünfzig…«

»Finch«, sagte ich, »wissen Sie, ob Mrs. Bittner an der Einweihung teilnimmt?«

»Mr. Dunworthy bat mich, ihr eine Einladung zu schicken«, erwiderte er, »und ich dachte, es wäre für sie, vor allen anderen, wichtig, daß die Kathedrale wieder aufgebaut wurde, aber sie schrieb, die Einweihung sei für sie wahrscheinlich zu anstrengend.«

»Gut.« Ich schnappte mir den Standard vom zwölften November und blätterte ihn durch. Keine Briefe. »Was ist mit dem Telegraph?« fragte ich Verity.

»Nichts.« Sie legte die Faksimiles hin.

»Nichts«, sagte ich erfreut, und Carruthers erschien mit leicht verdattertem Gesichtsausdruck im Netz.

»Und?« Er griff in seine Tasche nach dem Notizbuch und reichte es mir durch die Schleier. Rasch schlug ich es auf und las die Liste der Kirchenangestellten durch, auf der Suche nach einem bestimmten Namen. Nichts. Ich schlug die Seite auf, wo die Pfründe aufgelistet waren.

»Im Jahr 1940 war die Vorsitzende des Blumenausschusses eine gewisse Mrs. Lois Warfield«, sagte Carruthers stirnrunzelnd.

»Alles in Ordnung mit dir?« fragte Miss Warder ängstlich. »Ist irgendwas passiert?«

»Nein«, sagte ich. Mein Blick glitt über die Pfründe. Hertforshire, Surrey, Northumberland. Da war’s! — St. Benedict’s, Northumberland.

»In keinem Ausschuß wurde eine Miss Sharpe erwähnt«, sagte Carruthers, »und auch nicht auf der Diensttabelle der Kirchenmitglieder.«

»Ich weiß.« Ich kritzelte eine Nachricht auf eines der Blätter. »Finch, rufen Sie Mr. Dunworthy an, und sagen Sie ihm, daß er sofort nach Oxford zurückkommen soll. Wenn er hier ist, geben Sie ihm das hier.« Ich riß das Blatt aus dem Block, faltete es und reichte es ihm. »Dann machen Sie Lady Schrapnell ausfindig und sagen Sie ihr, sie soll sich keine Gedanken machen, Verity und ich hätten alles im Griff. Und sie soll nicht mit der Einweihung beginnen, bevor wir nicht zurück sind.«

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Finch.

»Sie haben versprochen, die Chorgewänder zu pressen«, sagte Miss Warder anklagend.

»Wir versuchen, bis elf Uhr zurück zu sein.« Ich nahm Veritys Hand. »Falls nicht, lassen Sie sich was einfallen.«

»Einfallen?« rief Finch entsetzt. »Der Erzbischof von Canterbury kommt! Und Prinzessin Victoria! Was soll ich mir da einfallen lassen?«

»Das ist sicher kein Problem für Sie. Ich habe vollstes Vertrauen in Sie, Jeeves.«

Er strahlte. »Danke, Sir«, sagte er. »Was soll ich Lady Schrapnell sagen, wenn sie wissen will, wo Sie hingegangen sind?«

»Des Bischofs Vogeltränke holen«, sagte ich, und damit machten Verity und ich uns im Laufschritt zur U-Bahnstation auf.

Der Himmel war grau und verhangen. »Ich hoffe nur, daß es bei der Einweihung nicht regnet«, sagte Verity im Laufen.

»Machst du Witze?« Ich schnaufte. »Das würde Lady Schrapnell nie zulassen.«

Die U-Bahnstation war mit Menschen überfüllt, alle mit Hüten, Schlipsen und bewaffnet mit Schirmen. Eine wahre Menschenflut ergoß sich die Treppen hinab.

»Eine Kathedrale!« schimpfte ein Mädchen mit Zöpfen, das ein Abzeichen der Gaia-Partei trug, und drängte sich an mir vorbei. »Wißt ihr, wie viele Bäume man in Christ Church Meadow hätte pflanzen können, für das Geld, das dieses Gebäude verschlungen hat?«

»Wenigstens fahren wir stadtauswärts«, rief ich Verity zu, die von mir getrennt worden war. »Die Züge stadtauswärts dürften weniger überfüllt sein.«

Wir drängten uns durch die Menge zu den Rolltreppen, wo es keinen Deut besser war und ich Verity ganz aus den Augen verlor, bis ich sie schließlich ein paar Dutzend Stufen weiter unten entdeckte. »Wo wollen die alle hin?« rief ich.

»Prinzessin Victoria sehen«, sagte eine große Frau hinter mir, die einen Union Jack trug. »Sie kommt von Reading herüber.«

Verity war unten angekommen. »Coventry!« rief ich über die Köpfe der Menge hinweg und deutete zu den Zügen Richtung Warwickshire.

»Ich weiß!« schrie Verity zurück, bereits halb den Gang hinunter.

Der Gang war gerammelt voll, ebenso der Bahnsteig. Verity schob sich durch die Menge zu mir durch. »Du bist nicht der einzige, der gut darin ist, Geheimnisse zu lüften, Sherlock«, sagte sie. »Ich bin gerade draufgekommen, worauf Finch aus ist.«

»Worauf?« fragte ich, aber grad in diesem Moment fuhr ein Zug ein, und die Menge schob sich vorwärts und trennte uns wieder.

»Wo wollen die alle hin? Prinzessin Victoria ist nicht in Coventry.« Ich kämpfte mich zu Verity durch.

»Protestieren«, erwiderte ein Jugendlicher mit Zöpfen. »Die Stadt Coventry hat einen Marsch organisiert, um gegen die infame Entführung ihrer Kathedrale zu protestieren.«

»Ehrlich?« fragte Verity hinterhältig. »Und wo wird die Entführte festgehalten? Im Einkaufszentrum?« Am liebsten hätte ich sie geküßt.

»Weißt du«, sagte sie und schob ein handgemaltes Plakat mit der Parole: »Architekten protestieren gegen den Bau der Kathedrale« vor ihrem Gesicht weg, »irgendwo hier steht bestimmt ein Zeitreisender, der ein paar hundert Jahre aus der Zukunft kommt und dies alles ungemein charmant und putzig findet.«

»Schwer vorstellbar«, erwiderte ich. »Also, worauf ist Finch aus?«

»Er hat…« begann sie, doch da öffneten sich die Türen, und die Menschenmenge quetschte sich in den Zug, wobei wir erneut getrennt wurden. Ich fand mich ein Abteil von Verity entfernt wieder, eingepfercht zwischen einen alten Mann und seinem ebenfalls nicht mehr ganz jungen Sohn.

»Warum mußte denn die Kathedrale überhaupt wieder erbaut werden?« schimpfte der Sohn. »Wenn sie schon was aufbauen wollten, das zerstört war, warum dann nicht die Bank von England? Die wäre wenigstens zu was gut. Wozu soll eine Kathedrale gut sein?«

»›Gott wählt geheimnisvolle Wege‹«, zitierte ich, »›um uns seine Wunder kundzutun.‹«

Beide starrten mich an.

»James Thomson«, sagte ich. »›Die Jahreszeiten.‹«

Sie starrten noch mehr.

»Ein victorianischer Dichter«, erklärte ich und machte es mir zwischen ihnen bequem, in Gedanken beim Raumzeitgefüge und seinengeheimnisvollen Wegen. Dem Gefüge war es notwendig erschienen, eine Inkonsequenz zu korrigieren, und das hatte es getan, indem es eine ganze Palette Verteidigungsstrategien ins Leben rief, das Netz schloß, Ziele veränderte, den Schlupfverlust manipulierte, damit ich Terence abhalten konnte, Maud zu treffen, und Verity just in dem Moment erscheinen konnte, als Baine die Katze in die Themse warf. Um die Katze zu retten, welche die Maus fraß, die das Malz aß im Haus, gebaut von Klaus.

Das Bahnhofsschild zeigte ›Coventry‹ an, und ich kämpfte mich aus dem Zug, Verity Zeichen gebend, daß sie mir folgen sollte, was sie auch tat, und so schoben und drückten wir uns die Rolltreppen hoch auf die Broadgate, wo wir direkt vor Lady Godivas Standbild landeten. Der Himmel sah noch mehr als vorhin nach Regen aus. Die Protestler setzten sich mit kampfbereit erhobenen Schirmen in Richtung Einkaufszentrum in Bewegung.

»Sollten wir nicht besser vorher anrufen?« fragte Verity.

»Nein.«

»Bist du sicher, daß sie zu Hause ist?«

»Ganz sicher«, sagte ich, auch wenn das nicht ganz stimmte.

Aber sie war zu Hause, obwohl es etwas dauerte, bis sich die Tür öffnete.

»Tut mir leid, mich hat eine Bronchitis erwischt«, sagte Mrs. Bittner heiser, und dann erkannte sie uns. »Oh«, sagte sie und trat einen Schritt beiseite, damit wir eintreten konnten. »Kommen Sie herein. Ich habe Sie erwartet.« Sie streckte Verity eine altersfleckige Hand hin. »Sie müssen Miss Kindle sein. Ich habe gehört, Sie sind auch ein Fan von Detektivromanen.«

»Nur von denen aus den Dreißigern«, erwiderte Verity.

Mrs. Bittner nickte. »Die sind auch die besten.« Sie wandte sich mir zu. »Ich lese eine Menge Detektivromane. Ich liebe besonders diejenigen, in denen der Verbrecher beinahe unentdeckt davongekommen wäre.«

»Mrs. Bittner«, sagte ich, dann wußte ich nicht weiter. Ich warf Verity einen hilflosen Blick zu.

»Sie haben es herausgefunden, nicht wahr?« sagte Mrs. Bittner. »Das habe ich befürchtet. James sagte mir, daß Sie seine zwei fähigsten Studenten gewesen seien.« Sie lächelte. »Wollen wir nicht ins Wohnzimmer gehen?«

»Ich… ich fürchte, dazu reicht die Zeit nicht…« stotterte ich.

»Unsinn«, entgegnete sie und ging vor uns den Korridor entlang. »In den Romanen ist dem Verbrecher stets ein Kapitel gewidmet, in dem er seine Untaten gestehen kann.«

Sie führte uns in das gleiche Zimmer, indem ich sie neulich interviewt hatte. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte sie, auf ein chintzbezogenes Sofa deutend. »Der berühmte Detektiv hat die Verdächtigen immer im Wohnzimmer zusammengerufen.« Sie ging zu einer Anrichte, die beträchtlich kleiner war als die der Merings, und hielt sich an dem Möbelstück fest. »Und der Verdächtige hat ihnen stets etwas zum Trinken angeboten. Möchten Sie einen Sherry, Miss Kindle? Oder Sie vielleicht, Mr. Henry? Oder lieber sirup de cassis? Das trank Hercule Poirot immer. Ein fürchterliches Zeug. Ich probierte es einmal, während meiner Lektüre von Agatha Christies Mord in drei Akten. Schmeckt wie Medizin.«

»Dann einen Sherry«, sagte ich.

Mrs. Bittner wandte sich um, füllte zwei Gläser mit Sherry und reichte sie uns. »Es hat eine Inkonsequenz erzeugt, nicht wahr?«

Ich nahm ihr die Gläser ab, reichte Verity eines und setzte mich neben sie. »Ja«, sagte ich.

»Das habe ich befürchtet. Und als James mir letzte Woche von der Theorie über unwichtige Objekte erzählte, die von ihrem Platz im Raumzeitgefüge entfernt werden können, wußte ich, daß es um des Bischofs Vogeltränke ging.« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Alles andere, was in jener Nacht in der Kathedrale war, wäre zu Asche verbrannt, aber ich erkannte auf den ersten Blick, daß dieser Gegenstand unzerstörbar war.« Sie goß sich ebenfalls ein Glas Sherry ein.

»Ich versuchte nämlich rückgängig zu machen, was ich getan hatte, aber ich bekam das Netz nicht mehr auf, und dann ließ Lassiter — der Chef der Abteilung — neue Schlösser einbauen, und ich konnte nicht mehr ins Labor. Natürlich hätte ich James alles beichten können.

Oder meinem Mann. Aber ich hatte nicht den Mut dazu.« Sie nahm das Glas in die Hand. »Ich redete mir ein, das Versagen des Netzes bedeutete, daß eben keine Inkonsequenz entstanden sei, daß nichts passiert sei, aber ich wußte, daß das nicht stimmte.«

Langsam und vorsichtig ging sie zu einem der chintzbezogenen Stühle, und ich sprang auf und hielt ihr Glas, bis sie sich gesetzt hatte.

»Danke.« Sie nahm es wieder. »James erzählte mir, welch reizender junger Mann Sie sind.« Sie schaute Verity an. »Hat einer von Ihnen beiden schon einmal etwas getan, was ihm hinterher schrecklich leid tat? Etwas ohne vorher darüber nachzudenken?« Sie betrachtete den Sherry. »Die Kirche von England schloß sämtliche Kathedralen, die sich nicht mehr selbst unterhalten konnten. Mein Mann liebte seine Kathedrale. Er stammt von den Botoners ab, die die ursprüngliche Kirche gebaut hatten.«

Und Sie auch, Mrs. Bittner, dachte ich, denn jetzt fiel mir auf, an wen Mary Botoner mich erinnert hatte, als sie mit dem Handwerker diskutierend im Turm stand. Sie sind ebenfalls eine Nachfahrin der Botoners.

»Die Kathedrale war sein Leben«, fuhr sie fort. »Er sagte immer, es wäre nicht das Gebäude, was zählt, das wäre nur ein Symbol, doch die neue Kirche, so häßlich sie auch war, bedeutete ihm alles. Ich dachte, wenn ich einige Schätze aus der alten Kathedrale zurückholte, wäre das sehr publikumswirksam. Die Touristen würden in Scharen kommen, um sie zu sehen, und die Kathedrale müßte nicht verkauft werden. Ich dachte, sie zu verkaufen, würde meinen Mann umbringen.«

»Aber hatten nicht Darby und Gentilla bewiesen, daß es unmöglich ist, Dinge mit durchs Netz in die Zukunft zu bringen?«

»Ja«, erwiderte Mrs. Bittner, »aber ich nahm an, daß die Gegenstände, die ja in ihrer eigenen Zeit aufgehört hatten, zu existieren, durchs Netz gehen würden. Darby und Gentilla hatten niemals probiert, etwas durchzubringen, was in seiner eigenen Zeit nicht weiter existierte.« Nachdenklich spielte sie mit dem Stiel des Glases. »Außerdem war ich ziemlich verzweifelt.« Sie schaute uns an.

»Also brach ich eines Nachts ins Labor ein, sprang zum Jahr 1940 zurück und tat es. Und am nächsten Tag rief mich James an, um mir zu sagen, daß Lassiter eine Reihe Sprünge nach Waterloo genehmigt hätte, falls ich einen Job bräuchte, und dann sagte er mir…« — sie hielt inne, mit ihren Gedanken in der Vergangenheit —, »er sagte, daß Shoji ein Durchbruch in der Zeittheorie gelungen sei, daß er entdeckt hätte, warum es unmöglich ist, Dinge mit durchs Netz in die Zukunft zu bringen und daß eine solche Handlung eine Inkonsequenz erzeugen würde, die den Lauf der Geschichte verändern könnte — oder noch Schlimmeres.«

»Also haben Sie versucht, die Sachen zurückzubringen«, sagte Verity.

»Ja. Ich ging hin und brachte Shoji dazu, mir soviel wie möglich über Inkonsequenzen zu erzählen, ohne ihn mißtrauisch zu machen. Es hörte sich ziemlich schlimm an, aber das Allerschlimmste war, daß er mir sagte, sie seien nun imstande gewesen, eine Reihe Sicherungen ins Netz einzubauen, um Inkonsequenzen zu verhindern, und welch ein Glück es doch wäre, daß wir bis dato noch keine verursacht hätten, denn das hätte den Zusammenbruchs des ganzen Raumzeitgefüges bedeuten können.«

Ich schaute zu Verity hinüber. Sie beobachtete Mrs. Bittner. Ihr schönes Gesicht war betrübt.

»So versteckte ich die Beute, wie sie in den Detektivromanen immer sagen, und wartete darauf, daß die Welt unterging. Und sie ging unter. Die Kathedrale wurde entsegnet, an die Kirche des Jenseits verkauft und später zu einem Einkaufszentrum umfunktioniert.« Wieder starrte Mrs. Bittner in ihr Sherryglas.

»Der Witz ist, daß alles umsonst war. Mein Mann liebte Salisbury. Ich war so überzeugt davon gewesen, daß der Verlust der Kathedrale in Coventry ihn umbringen würde, aber das tat er nicht. Er meinte es wirklich ernst damit, daß Kirchen nur ein Symbol seien. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie eine Marks #amp# Spencer-Filiale über den Ruinen errichteten.« Sie lächelte warm. »Wissen Sie, was er sagte, als er von Lady Schrapnells Plänen, die alte Kathedrale wiederaufzubauen, hörte? Er sagte: ›Hoffentlich bekommen sie diesmal den Turm endlich grade hin.‹«

Sie setzte das Glas ab. »Nachdem Harold gestorben war, kehrte ich hierher zurück. Und zwei Wochen später rief James an und fragte mich, ob ich mich an die Sprünge erinnern könne, die wir zusammen gemacht hatten, daß es ein Gebiet mit erhöhtem Schlupfverlust im Jahr 2018 gegeben habe und daß er befürchtete, daß das von einer Inkonsequenz herrühre. Da wußte ich, daß es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis man auf mich stieß, obwohl James sich mit der verkehrten Inkonsequenz beschäftigte.« Sie musterte uns prüfend. »Er erzählte mir von einer Katze und von Tossie Mering. Ist es Ihnen gelungen, Lady Schrapnells Urur-Urgroßmutter mit dem geheimnisvollen Mr. C zu verheiraten?«

»Das kann man so nicht sagen«, erwiderte ich. »Geheiratet hat sie ihn, aber ohne unser Zutun.«

»Der Butler war’s«, sagte Verity. »Er hatte einen anderen Namen angenommen.«

»Natürlich«, sagte Mrs. Bittner und schlug die schmalen, blaugeäderten Hände zusammen. »Die alten Lösungen sind immer noch die besten. Der Butler, das Problem der verkannten Identität, der am wenigsten Verdächtige…« — sie schaute uns beide bedeutungsvoll an —, »der entwendete Brief.« Sie erhob sich. »Die Sachen sind auf dem Dachboden versteckt.«

Wir stiegen die Treppe hoch. »Ich hatte Angst, daß es die Lage nur verschlimmern würde, wenn ich die Sachen woanders hinbringe«, sagte Mrs. Bittner, mühsam Stufe um Stufe erklimmend. »Also ließ ich die Beute hier, als wir nach Salisbury zogen. Ich sorgte dafür, daß alles gut versteckt war, und daß das Haus nur an Leute ohne Kinder vermietet wurde — Kinder sind nämlich immer so neugierig. Trotzdem hatte ich immer Angst, daß einmal jemand hier hochkommen, alles finden und etwas damit tun würde, was den Lauf der Geschichte verändern könnte.« Sie drehte sich um, die Hand auf dem Geländer, und schaute mich an. »Das hatte es aber schon, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte ich.

Mrs. Bittner schwieg, ganz auf den für sie mühevollen Aufstieg konzentriert. Als wir die erste Etage erreicht hatten, führte sie uns einen Korridor entlang, an einem Schlafzimmer vorbei, und öffnete eine schmale Tür, die zu einer weiteren, noch steileren Treppe führte. »Hier geht’s zum Dachboden hoch«, sagte sie, etwas schwer atmend. »Tut mir leid, ich muß erst einmal etwas verschnaufen. Im Schlafzimmer steht ein Stuhl.«

Ich beeilte mich, ihn zu holen, und sie setzte sich. »Möchten Sie ein Glas Wasser?« fragte Verity.

»Nein, danke«, sagte Mrs. Bittner. »Erzählen Sie mir von der Inkonsequenz, die ich erzeugt habe.«

»Sie waren nicht die einzige Person, die des Bischofs Vogeltränke für unzerstörbar hielt«, sagte ich. »Die Vorsitzende des Blumenausschusses, eine gewisse…«

»Delphinium Sharpe«, warf Verity ein.

Ich nickte. »Sie war während des Angriffs dort gewesen, hatte am Westportal Wache gestanden, und sie wußte, daß die Vogeltränke nicht aus der Kirche hinausgetragen worden sein konnte. Als man sie nicht in den Trümmern fand und auch nicht unter den Gegenständen, die die Brandwache gerettet hatte, schloß Miss Sharpe daraus, daß sie kurz vor dem Luftangriff gestohlen worden sein mußte, daß der Dieb von dem bevorstehenden Angriff gewußt haben mußte, und ebenso, daß er unentdeckt davonkommen würde. Miss Sharpe hielt mit dieser Theorie keineswegs hinterm Berg…«

»Sie schrieb sogar einen Brief an den Herausgeber einer der örtlichen Zeitungen«, warf Verity ein.

Wieder nickte ich. »Was jetzt kommt, ist auch nur Theorie, wie bei Miss Sharpe. Den einzigen Beweis, den wir haben, ist Carruthers Liste der kirchlichen Frauenausschüsse aus dem Jahr 1940, und einen Brief an den Herausgeber, der sich in keiner der Zeitungen aus Coventry fand.«

Mrs. Bittner nickte weise. »Der Zwischenfall mit dem Hund, der nachts nicht bellte.«

»Genau. Die Nazis hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, die Zeitschriften der Alliierten genauestens zu studieren, in der Hoffnung, auf eine Geheimdienstinformation zu stoßen, die unbeabsichtigt an die Öffentlichkeit gelangt war. Ich glaube, Miss Sharpes Brief und die Worte ›von dem Luftangriff gewußt haben‹, weckten den Argwohn eines Nazigeheimdienstlers, der Angst bekam, daß ihr Codesystem geknackt worden sein könnte. Vorsichtige Nachforschungen wurden angestellt, Nachforschungen, die ergaben, daß der britische Generalsstab in besagter Nacht eiligst Jagdflugzeuge nach Coventry beordert hatte und daß man versucht hatte, den Richtstrahl der deutschen Flugzeuge zu stören.«

»Und so fanden die Nazis heraus, daß wir Ultra hatten«, sagte Verity, »und änderten ihre Enigma-Maschine.«

»Und wir verloren den Feldzug in Nordafrika«, sagte ich, »und wahrscheinlich auch die Invasion am Tag X…«

»Und die Nazis gewannen den Krieg«, vollendete Mrs. Bittner trübe. »Doch soweit kam es nicht. Sie haben sie gestoppt.«

»Das Kontinuum stoppte sie, mit seinem System von Verteidigungsstrategien und Backups, das beinahe so gut ist wie das von Ultra«, sagte ich. »Das einzige, was in den ganzen Schlamassel nicht reinpaßte, war der Schlupfverlust bei Veritys Sprung. Wenn der nicht gewesen wäre, hätte es bedeutet, daß die Strategien des Kontinuums versagt hätten, aber er war da. Zwar nicht groß genug für Fujisakis Theorie, daß Inkonsequenzen auftauchen, wenn der Schlupfverlust, der sie verhindern könnte, größer ist, als das Netz verkraften kann. Das Netz hätte ohne weiteres fünfzehn Minuten Verlust verkraften können, und mehr hätte es nicht gebraucht, um die Inkonsequenz zu verhindern. Die logische Folgerung aus alledem war also, daß das Netz wollte, daß Verity genau in diesem Moment durchkam…«

»Willst du damit sagen, daß das Kontinuum geplant hatte, daß ich Prinzessin Arjumand rette?« fragte Verity.

»Ja«, sagte ich. »Damit wir denken sollten, daß du eine Inkonsequenz erzeugt hättest, die wir korrigieren müßten, so daß wir eine Seance arrangierten, damit Tossie nach Coventry fahren, des Bischofs Vogeltränke sehen und in ihr Tagebuch schreiben konnte, daß diese Erfahrung ihr Leben von Grund auf verändert hatte…«

»Und Lady Schrapnell es lesen konnte«, sagte Verity. »Und beschließen, die Kathedrale von Coventry wiederaufzubauen und mich nach Muchings End zu senden, um herauszufinden, was mit des Bischofs Vogeltränke passiert war, damit ich die Katze retten konnte…«

»Damit ich geschickt wurde, sie zurückzubringen, und bei Blackwell’s eine Unterhaltung über Detektivromane belauschte und eine Nacht in einem Turm verbrachte…«

»Und das Rätsel um des Bischofs Vogeltränke löste«, sagte Mrs. Bittner. Sie erhob sich, um zur Treppe zu gehen. »Eigentlich bin ich froh darüber, daß Sie es geschafft haben.« Sie erklomm uns voran die steilen Stufen. »Nichts liegt einem so schwer auf der Seele wie das Gewicht eines geheimen Verbrechens.«

Sie öffnete die Dachbodentür. »Es wäre sowieso über kurz oder lang aufgeflogen. Mein Neffe bearbeitet mich schon die ganze Zeit, daß ich in eine eingeschossige Wohnung ziehen soll.«

In Büchern und Videos sind Dachböden immer ein malerischer Platz, mit einem Fahrrad, ein paar großen Hüten mit Federbüschen, einem alten hölzernen Schaukelpferd und natürlich einem Überseekoffer, in dem der letzte Wille oder die Leiche verstaut werden kann.

Auf Mrs. Bittners Dachboden lagerte kein Koffer und kein Schaukelpferd, zumindest so weit ich sah.

»Mein Gott!« Mrs. Bittner schaute sich bestürzt um. »Ich befürchte, das sieht mehr nach Das Sittaford-Rätsel aus als nach Der entwendete Brief.«

»Agatha Christie«, erklärte Verity. »Niemand bemerkte den Beweis, weil er in einem Schränkchen mit Golfsachen, Tennisschlägern und einer Menge Krimskrams versteckt war.«

Einer Menge Krimskrams war milde ausgedrückt. Der Raum war bis unter die niedrigen Dachsparren vollgestopft mit Kartons, ineinandergestapelten Gartenstühlen, alten Kleidern, die an einem aus der Wand ragenden Rohr hingen, Puzzles vom Grand Canyon und der Marskolonie, einem Crocketset, Sqashschlägern, verstaubtem Weihnachtsschmuck, Büchern und einer Sammlung von mit Bettlaken verhüllten Möbeln, alles in waghalsiger Manier aufeinandergetürmt.

»Können Sie mir diesen Stuhl reichen?« Mrs. Bittner wies auf eine Scheußlichkeit aus Piastiform aus dem zwanzigsten Jahrhundert, die auf einer Waschmaschine thronte. »Ich kann nicht lange stehen.«

Ich holte den Stuhl herunter, befreite ihn von einer Mauerkelle und einigen Kleiderbügeln, die sich in seinen Aluminiumbeinen verhakt hatten, und staubte ihn für sie ab.

Sie setzte sich vorsichtig. »Danke«, sagte sie. »Geben Sie mir bitte diese Blechschachtel.«

Wie geheißen gab ich sie ihr, und sie stellte sie neben sich auf den Boden. »Und die großen Pappkartons dort — schieben Sie sie zur Seite. Die Koffer auch.«

Das tat ich, und Mrs. Bittner erhob sich und ging durch den schmalen Gang, den ich durch das Verschieben der Gegenstände geschaffen hatte, ins Dunkle.

»Machen Sie eine Lampe an«, befahl sie. »Dort drüben ist eine Steckdose.« Sie wies auf die Wand hinter einer mächtigen Apidistrapflanze aus Plastik.

Ich griff nach der nächstbesten Lampe, einem massiven Ding mit einem riesigen plissierten Schirm und einem wuchtigen, ziselierten, schmiedeeisernen Fuß.

»Nicht die«, sagte Mrs. Bittner rasch. »Die rosafarbene.« Sie zeigte auf eine große Lampe mit Fransenschirm aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Ich steckte den Stecker in die Dose und machte die Lampe an, aber viel Erfolg hatte es nicht. Sie beleuchte ihre Fransen und Veritys Waterhouse-Gesicht, aber sonst kaum etwas.

Mrs. Bittner dachte das anscheinend auch. Sie ging zu der schmiedeeisernen Lampe. »Der maskierte Mörder«, murmelte sie. Verity beugte sich vor. »Der Beweis, der als etwas anderes maskiert ist«, flüsterte sie.

»Genau.« sagte Mrs. Bittner und hob den plissierten Schirm hoch, der des Bischofs Vogeltränke verdeckte.

Zu schade, daß Lady Schrapnell nicht hier war. Und Carruthers. Die ganze Zeit, die wir damit zugebracht hatten, in den Trümmern nach des Bischofs Vogeltränke zu suchen, und hier war sie. Fortgeschafft worden, um sie zu retten, wie Carruthers vermutet hatte, und tatsächlich war nicht eine einzige Schramme an ihr. Das Rote Meer teilte sich immer noch; Frühling, Sommer, Herbst und Winter hielten immer noch ihre jeweiligen Girlanden aus Apfelblüten, Rosen, Weizen und Holunder hoch; das Haupt Johannes’ des Täufers lag immer noch auf dem Tablett und starrte vorwurfsvoll auf König Artur und die Ritter der Tafelrunde. Griffons, Mohnblumen, Ananas, Puffins, die Schlacht von Prestopans, alles noch intakt und nicht einmal staubig.

»Lady Schrapnell wird überglücklich sein«, sagte Verity. Sie zwängte sich in den engen Gang und ließ sich auf die Knie nieder, um besser zu sehen. »Gütiger Himmel! Diese Seite muß zur Wand gezeigt haben. Was soll das sein? Fächer?«

»Venusmuscheln. Die Namen bedeutender Seeschlachten sind in sie eingraviert«, erklärte ich. »Lepanto, Trafalgar, die Schlacht der Schwäne.«

»Schwer vorstellbar, daß dieses Ding den Lauf der Geschichte ändern wollte«, sagte Mrs. Bittner und betrachtete Shadrach, Meshach und Abednego, die drei Jünglinge im Feuerofen. »Sie ist mit der Zeit nicht schöner geworden, stimmt’s? Das Albert Memorial auch nicht.«

»Mit dem es eine Menge gemeinsam hat.« Verity berührte einen schmiedeeisernen Elefanten.

»Ich weiß nicht«, sagte ich und legte den Kopf schief, um die Vase seitlich zu betrachten. »Langsam gewöhne ich mich irgendwie dran. Ich find’s schon fast hübsch.«

»Zeitkrankheit«, sagte Verity zu Mrs. Bittner. »Ned, der Elefant trägt einen Howdah voller Ananas und Bananen zu einem Adler mit einer Fischgabel.«

»Das ist keine Fischgabel«, erwiderte ich. »Das ist ein Flammenschwert. Und es ist kein Adler, sondern ein Erzengel, der den Eingang des Paradieses bewacht. Oder den Zoo.«

»Es ist wirklich scheußlich«, sagte Mrs. Bittner entschieden. »Ich weiß nicht, wo damals meine Gedanken waren. Wahrscheinlich auch die Zeitkrankheit, nach den vielen Sprüngen. Außerdem war überall Rauch.«

Verity drehte sich um und starrte erst Mrs. Bittner an und dann mich. »Wie oft sind Sie gesprungen?« fragte sie.

»Viermal«, entgegnete Mrs. Bittner. »Nein, fünf. Der erste zählte nicht. Da kam ich zu spät durch. Das ganze Kirchenschiff war voller Rauch und ich hätte fast eine Rauchvergiftung bekommen. Ich habe bis heute Probleme mit meiner Lunge.«

Verity starrte sie immer noch ungläubig an. »Sie sprangen fünfmal zur Kathedrale?«

Mrs. Bittner nickte. »Ich hatte nur wenig Zeit zwischen dem Moment, wo die Brandwache das Kirchenschiff verließ und dem Augenblick, wo das Feuer außer Kontrolle geriet, und durch den Schlupfverlust kam ich auch noch immer etwas zu spät durch. Mehr als fünfmal schaffte ich es nicht.«

Verity schaute mich ungläubig an.

»Geben Sie mir die Schachtel«, bat Mrs. Bittner. »Das zweite Mal wäre ich fast geschnappt worden.«

»Das war ich«, sagte ich. »Ich sah Sie zum Allerheiligsten laufen.«

»Sie waren das?« Sie lachte, die Hand auf der Brust. »Ich dachte, es wäre Probst Howard, und ich würde wegen Plündern verhaftet.«

Verity gab ihr die Schachtel, und Mrs. Bittner öffnete sie und suchte etwas zwischen den Lagen Papier. »Des Bischofs Vogeltränke nahm ich erst beim letzten Sprung mit. Ich wollte die Smithsche Kapelle erreichen, aber sie stand bereits in Flammen. Deshalb rannte ich zur Dyerschen Kapelle und nahm die bronzenen Kerzenleuchter vom Altar, aber sie waren zu heiß. Ich ließ einen fallen, und er rollte unter eine der Bänke.«

Wo ich ihn fand, dachte ich und annahm, er sei vom Luftdruck dorthin geschleudert worden.

»Ich suchte ihn«, fuhr Mrs. Bittner fort und durchwühlte nüchtern das Papier, »doch die Dachsparren stürzten bereits herunter, also rannte ich ins Kirchenschiff zurück, wo ich sah, daß die Orgel bereits Feuer gefangen hatte und alles andere auch — die Holzschnitzereien, der hohe Chor und das Allerheiligste, alles in dieser schönen, schönen Kathedrale, und daß ich nichts davon retten konnte. Ich überlegte nicht, sondern griff nach dem nächstbesten, das ich in die Finger bekam, und rannte zum Netz, Wasser verspritzend und Chrysanthemen in alle Richtungen verstreuend.« Sie nahm eine Lage Seidenpapier heraus und wickelte einen bronzenen Kerzenleuchter aus. »Deshalb habe ich nur einen davon.«

Dunworthy hatte gesagt, daß sie absolut furchtlos sei, und das hatte sie auch sein müssen, um so zwischen herunterbrechenden Balken, fallenden Brandbomben und einem Netz hin- und herzuschießen, das sich Gott-weiß-wann öffnete, ohne Gewißheit, daß es das überhaupt tun würde, ohne Gewißheit, daß das Dach nicht einstürzen würde. Ich schaute Mrs. Bittner ehrfurchtsvoll an.

»Ned«, befahl sie, »bringen Sie mir jenes Bild. Das unter dem Bettlaken.«

Ich holte es, und sie zog das Laken von einem Gemälde, das Christus mit dem verlorenen Lamm auf dem Arm zeigte. Verity, die neben mir stand, packte meine Hand.

»Der Rest der Sachen liegt dort drüben«, sagte Mrs. Bittner. »Unter der Plastikplane.«

Und dort lagen sie. Das bestickte Altartuch aus der Smithschen Kapelle, ein ziselierter Abendmahlskelch aus Zinn. Eine Holztruhe aus dem sechzehnten Jahrhundert, eine Statuette des Heiligen Michael. Eine mittelalterliche Monstranz mit Einlegarbeiten aus Email, ein silberner Leuchter, in dem noch die Kerzen steckten. Eine Misericordie, in die die sieben Taten der Barmherzigkeit eingeschnitzt waren, und das Bahrtuch aus der Capperschen Kapelle. Ein Altartablett aus georgianischer Zeit. Und das hölzerne Kreuz aus der Girdlerschen Kapelle, an dessen Fuß ein Kind kniete.

Die ganzen Schätze aus der Kathedrale von Coventry.

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