7. Kapitel

»Das ist die Katze, welche die Maus gefressen, die das Malz gegessen, das lag vor dem Haus, gebaut von Klaus.«

Kinderreim


Die Wichtigkeit von Schleusen im victorianischen Zeitalter • »Achtung, Feind hört mit!« • Tristan und Isolde • Die Französische Revolution • Einwände gegen Trinkgelder • Eine traumatisierte Katze • Ruß • Der Bathaanische Todesmarsch • Schlaf • Das Boot wird endlich gefunden • Eine unerwartete Entwicklung • Die Wichtigkeit von Begegnungen für den Lauf der Geschichte • Lennon und McCartney • Ich suche nach einem Dosenöffner • Ein Fund


Cyril lag, den Kopf untröstlich auf die Pfoten gepreßt, in der gleichen Haltung da, wie wir ihn verlassen hatten. Sein Blick war vorwurfsvoll.

»Cyril!« rief Terence. »Wo ist das Boot?«

Cyril erhob sich und blickte verwundert um sich.

»Du solltest das Boot bewachen«, sagte Terence streng. »Wer hat es genommen, Cyril?«

»Vielleicht ist es weggetrieben worden«, sagte ich mit einem bangen Gedanken an den Überhandknoten.

»Sei nicht albern. Ganz offensichtlich hat es jemand gestohlen.«

»Möglicherweise hat es Professor Peddick geholt«, schlug ich vor, aber Terence befand sich bereits halb über der Brücke.

Als wir ihn einholten, blickte er gerade den Fluß hinunter. Weit und breit war nichts zu sehen außer einer Stockente.

»Wer immer das Boot gestohlen hat, muß es flußaufwärts geschafft haben«, meinte er und rannte über die Brücke auf die andere Seite zur Schleuse.

Der Schleusenwärter stand oben auf der Schleuse, damit beschäftigt, mit dem Bootshaken an den Toren herumzustochern.

»Haben Sie unser Boot zurückgeschleust?« schrie Terence zu ihm hinüber.

Der Schleusenwärter hob die Hand ans Ohr. »Waas?«

»Unser Boot!« Terence hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund. »Ist unser Boot durch die Schleuse zurückgekommen?«

»Waas?« rief der Schleusenwärter zurück.

»Ist unser Boot…« — Terence zeichnete die Umrisse eines Bootes in die Luft — »durch die Schleuse…« — er machte eine weitausholende Bewegung flußaufwärts, »durch die Schleuse gekommen?« Er zeigte auf die Schleusenkammer.

»Ob die Boote durch die Schleuse kommen?« rief der Schleusenwärter. »Natürlich kommen Boote durch die Schleuse. Wozu ist sie sonst da?«

Ich schaute mich um, ob ich vielleicht jemanden entdeckte, der das Boot gesehen haben könnte, aber Iffley lag von jeder Menschenseele verlassen. Nicht einmal der Kirchenvorsteher zeigte sich, um ein Schild »Lautes Rufen verboten!« aufzustellen. Ich erinnerte mich, daß Tossie gesagt hatte, er tränke gerade seinen Nachmittagstee.

»Nein! Unser Boot!« schrie Terence. Er wies auf sich und dann auf mich. »Kam es durch die Schleuse?«

Der Schleusenwärter machte ein ungehaltenes Gesicht. »Nein, Sie können nicht ohne Boot durch die Schleuse. Was soll der Unsinn?«

»Hören Sie! Jemand hat das Boot gestohlen, das wir gemietet haben!«

»Geschmiedet?« Der Schleusenwärter schüttelte den Kopf. »Der nächste Schmied ist in Abingdon.«

»Nein. Nicht geschmiedet. Gemietet!«

»Niete?« Der Mann hob drohend den Stock. »Zu wem haben Sie eben Niete gesagt?«

»Zu niemandem.« Terence wich zurück. »Gemietet! BOOT! MIETEN!«

Der Schleusenwärter schüttelte abermals den Kopf. »Dazu müssen Sie zur Follybrücke. Zu Jabez, dem Bootsverleiher.«

Cyril und ich schlenderten zur Brücke zurück, wo ich stehenblieb, mich übers Geländer beugte und versuchte, über das nachzudenken, was Verity mir erzählt hatte. Sie hatte eine Katze vorm Ertrinken gerettet, war dann mit ihr ins Netz gestiegen, und das Netz hatte sich geöffnet.

Demnach hatte es keine Inkonsequenz gegeben, denn wäre eine entstanden, hätte sich das Netz nicht geöffnet. Genausowenig wie bei den ersten zehn Malen, als Leibowitz zurückgehen wollte, um Hitler zu ermorden. Beim elften Mal landete er in Bozeman, Montana, im Jahre 1946. Und niemandem war es je gelungen, Fords Theater, Pearl Harbour oder die Iden des März zu erreichen. Oder Coventry.

Ich dachte, daß T. J. und Dunworthy wahrscheinlich mit ihrer Meinung über den erhöhten Schlupfverlust um Coventry herum recht hatten, und fragte mich, warum es uns nicht schon früher aufgefallen war. Coventry war offenkundig ein Krisenpunkt.

Nicht, weil der Angriff entscheidenden Schaden angerichtet hatte. Die Bomben hatten nur Beschädigungen hervorgerufen, die Flugzeuge und Munitionsfabriken aber nicht zerstört, und drei Monate später waren sie instandgesetzt und wieder in Betrieb gewesen. Sicher, die Kathedrale war zerstört worden, was in den Vereinigten Staaten Empörung und Mitleid hervorgerufen hatte, aber selbst das war nicht von großer Bedeutung.

Amerika hatte schon davor Großbritannien im Blitzkrieg großzügig unterstützt, und zwischen Coventry und Pearl Harbour lagen nur drei Wochen.

Kritisch wurde die Sache durch Ultra und die Enigma-Maschine,[37] die wir aus Polen herausgeschmuggelt hatten, um damit die Codes der Nationalsozialisten zu entschlüsseln, was, wenn sie es herausgefunden hätten, den Verlauf des gesamten Krieges verändert hätte.

Und Ultra hatte uns vor dem Angriff in Coventry gewarnt, wenn auch mehr zufällig und erst am späten Nachmittag des vierzehnten November, wodurch nur Zeit für eine versteckte Nachricht an das Militär und einige improvisierte Abwehrmaßnahmen blieb, die (weil die Geschichte ein chaotisches System ist) sich gegenseitig aufhoben. Das Militär war zu dem Schluß gekommen, daß der Hauptangriff London gelten würde, egal, was der Geheimdienst sagte, und die Flugzeuge entsprechend eingesetzt, doch die Versuche, die feindlichen Leitstrahlen zu stören, waren wegen eines Fehlers in den Berechnungen gescheitert.

Geheimnisse sind jedoch stets kritische Ereignisse. Ein einziges falsches Wort nach außen konnte die Sicherheit des ganzen Geheimdienstes gefährden. Und falls nur eine einzige Kleinigkeit die Nazis mißtrauisch gemacht hätte, zum Beispiel, daß die Kathedrale wie durch ein Wunder gerettet worden oder die gesamte Royal Airforce über Coventry aufgetaucht wäre oder auch wenn jemand darüber gesprochen hätte — »Achtung, Feind hört mit!« —, würden sie mit Sicherheit ihre Kodes geändert haben. Und wir hätten die Schlacht von El Alamein und um den Nordatlantik verloren. Und den Zweiten Weltkrieg.

Was erklärte, warum Carruthers, der neue Rekrut, und ich im Schutt und in den Gemüsekürbisfeldern gelandet waren. Um einen kritischen Punkt herum kann sogar die kleinste Aktion eine Wichtigkeit erreichen, die in keinem Verhältnis zu ihrer Größe steht. Die Konsequenzen vervielfältigen sich und werden zur Kaskade, und alles — ein nicht geführtes Telefongespräch, ein Streichholz, das während der Verdunkelung angezündet wird, ein fallengelassenes Stück Papier — kann welterschütternde Folgen haben.

Der Chauffeur von Erzherzog Ferdinand bog versehentlich in die Franz-Josef-Straße ein und löste damit einen Weltkrieg aus. Abraham Lincolns Sekretär ging ins Freie, um eine Zigarette zu rauchen und zerstörte damit einen Frieden. Hitler erteilte den Befehl, wegen seiner Migräne nicht gestört zu werden und erfuhr dadurch achtzehn Stunden zu spät von der Invasion der Alliierten in der Normandie. Ein Leutnant versäumte, ein Telegramm mit dem Vermerk »Wichtig« zu versehen, und Admiral Kimmel wurde nicht rechtzeitig von dem bevorstehenden japanischen Angriff unterrichtet. ›Weil ein Nagel fehlte, ging das Hufeisen verloren, konnte das Pferd nicht weiter, kam der Reiter nicht an, erreichte die Nachricht nicht ihr Ziel.‹

Und um diese Angelpunkte herum gab es erhöhte Schlupfverluste und Netze, die sich nicht öffneten.

Was hieß, daß Muchings End kein Krisenpunkt war und die Katze den Lauf der Geschichte nicht verändert hatte, vor allem, weil es nur ein paar Minuten Verlust gebraucht hätte, um die Sache zu verhindern. Verity mußte deshalb nicht in Bozeman, Montana, enden. Wäre sie fünf Minuten später angekommen, wäre die Katze bereits untergegangen gewesen. Fünf Minuten früher, und Verity hätte sich im Haus befunden und von allem nichts mitbekommen.

Außerdem handelte es sich hier um nicht die Katze von Königin Victoria (trotz ihres Namens) und auch nicht um die von Gladstone[38] oder Oscar Wilde. An dem Ort, an dem sie sich befand, konnte sie nur schwerlich die Weltgeschichte beeinflussen. Außerdem war 1888 kein kritisches Jahr. Der Aufstand in Indien hatte 1859 geendet, und der Burenkrieg begann erst in elf Jahren. »Und es ist nur eine Katze«, sagte ich laut.

Cyril schaute alarmiert auf.

»Nicht hier«, erklärte ich. »Sie ist bestimmt schon wohlbehalten zurück in Muchings End.« Trotzdem erhob sich Cyril und schaute sich wachsam um.

»Nein! Dieebe, nicht Siebe!« gellte Terences Stimme zu uns herüber. »Dieebe!«

Der Schleusenwärter winkte verdrießlich ab und verschwand im Schleusenwärterhäuschen.

Terence eilte zu uns herüber. »Wer immer das Boot nahm«, sagte er, »muß es flußabwärts geschafft haben. Der Schleusenwärter zeigte in diese Richtung.«

Ich war mir da nicht so sicher. Es war mir eher so vorgekommen, als bedeutete die Geste: »Jetzt reicht’s mir aber!« oder »Hauen Sie endlich ab!« Und die entgegengesetzte Richtung war besser dazu geeignet, Terence von Tossie fernzuhalten.

»Glaubst du wirklich?« fragte ich. »Ich dachte, er wiese flußaufwärts.«

»Nein«, sagte Terence, schon wieder halb über der Brücke. »Flußabwärts. Ich habe es genau gesehen.« Und blitzartig verschwand er in Richtung Treidelpfad.

»Besser, wir beeilen uns auch«, sagte ich zu Cyril. »Sonst holen wir ihn nicht mehr ein.« Wir eilten ihm nach, an verstreut liegenden Bauernhäusern und einer Reihe hoher Pappeln vorbei einen kleinen Hügel hoch, von dem aus wir einen großen Teil des Flusses überblicken konnten. »Glaubst du wirklich, sie haben diesen Weg gewählt?«

Terence nickte, ohne seine Gangart zu verlangsamen. »Und wir werden sie finden und das Boot wiederbekommen. Tossie und ich sind füreinander bestimmt, und kein Hindernis der Welt kann uns voneinander trennen. Es ist Schicksal. Wie Tristan und Isolde. Romeo und Julia. Oder Heloise und Abelard.«

Ich wies ihn nicht darauf hin, daß alle diese Personen am Schluß tot oder zumindest schwer mitgenommen geendet hatten, weil mir einfach der Atem dazu fehlte. Cyril schwabbelte schwer schnaufend hinter uns her.

»Wenn wir das Boot wiederhaben, kehren wir zurück und holen Professor Peddick. Wir bringen ihn nach Oxford und rudern dann nach Abingdon, wo wir über Nacht kampieren. Abingdon liegt nur drei Schleusen entfernt. Wenn wir uns ranhalten, könnten wir morgen zum Nachmittagstee in Muchings End sein.«

Aber nicht, wenn ich es verhindern konnte. »Ist das nicht ein bißchen viel?« sagte ich. »Mein Arzt meinte, ich solle mich nicht überanstrengen.«

»Du kannst vor dich hindösen, während ich rudere. Zum Tee ist die beste Zeit, denn sie müssen dich höflicherweise bitten, zu bleiben. Man braucht keine förmliche Einladung oder besondere Kleidung dazu. Bis morgen mittag müßten wir es bis Reading schaffen.«

»Aber ich wollte mir doch gern einige von den Sehenswürdigkeiten anschauen«, sagte ich, meinen Kopf zermarternd, welche es eigentlich waren. Hampton Court? Nein, das lag unterhalb von Henley. Blieb Windsor Castle. Was hatten die drei Männer in einem Boot besichtigt? Gräber. Harris war ganz versessen darauf gewesen, anzuhalten und sich diese oder jene Gräber anzusehen.

»Ich wollte ein paar Gräber anschauen«, sagte ich.

»Gräber?« fragte Terence. »Hier gibt es keine interessanten Gräber, außer das von Richard Tichell in der Kirche von Hampton. Er stürzte sich aus einem der Fenster vom Hampton Court Palast. Außerdem liegt Hampton Court hinter Muchings End. Und wenn Colonel Mering an uns Gefallen findet, lädt er uns vielleicht zum Abendessen. Kennst du dich mit Japan aus?«

»Japan?«

»Da kommt der Fisch her«, sagte Terence nebulös. »Am besten wäre natürlich, wenn man uns für eine ganze Woche einladen würde, aber Colonel Mering mag keine Hausgäste. Sie werden dadurch gestört, sagt er. Die Fische, meine ich. Und er war in Cambridge. Vielleicht sollten wir uns als Spiritisten ausgeben. Mrs. Mering ist ganz verrückt auf Spiritisten. Hast du Abendkleidung eingepackt?«

Die Zeitkrankheit mußte mich wieder gepackt haben. »Tragen Spiritisten Abendkleidung?« fragte ich.

»Nein. Eine Art lange, fließende Robe mit weiten Ärmeln, in denen man Tamburine, Seihtücher und was auch immer verstecken kann. Nein, für uns, falls wir zum Abendessen eingeladen werden.«

Ich hatte keine Ahnung, ob sich in meinem Gepäck Abendkleidung befand. Wenn wir das Boot erreichten (falls wir es überhaupt erreichten), mußte ich dringend meine Sachen durchsuchen, um festzustellen, was Miss Warder und Finch mir alles auf die Reise mitgegeben hatten.

»Es ist zu schade, daß wir Prinzessin Arjumand nicht gefunden haben«, sagte Terence. »Dann wären wir mit Sicherheit eingeladen worden. Das verlorene Schaf und das fette Kalb, du weißt schon. Weißt du noch, wie Tossie die Uferböschung heruntergelaufen kam und mich fragte, ob ich die Katze gefunden hätte? Sie sah so lieblich aus, wie ich nur je ein Geschöpf gesehen habe. Die Locken golden schimmernd und die Augen so ›blau wie Elfenlein, mit Wangen gleich der ersten Morgenröte!‹[39] Nein, leuchtender! Wie Nelken! Oder Rosen!«

Wir eilten weiter, während Terence Tossies Aussehen mit Lilien, Beeren, Perlen und gesponnenem Gold verglich, Cyril sehnsüchtig an ein schattiges Plätzchen dachte und ich an Ludwig den Sechzehnten.

Zwar stimmte es, daß Prinzessin Arjumand nicht die Katze von Königin Victoria war und Muchings End auch nicht Midway Island, aber man schaue sich nur einmal Drouet an! Ein Niemand, ein französischer Bauer, der weder lesen noch schreiben konnte, jemand, der normalerweise nie Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hätte.

Bloß daß Ludwig der Sechzehnte auf seiner Flucht aus Paris mit Marie Antoinette sich aus dem Fenster seiner Kutsche lehnte, um Drouet nach dem Weg zu fragen, und ihm zum Dank, in einer dieser winzigen Aktionen, die den Lauf der Geschichte ändern, ein Trinkgeld gab. Einen Geldschein. Mit dem Bild des Königs darauf.

Worauf Drouet erst wie wild durch den Wald raste, um Männer zu holen, die mit ihm die Kutsche anhalten sollten, und dann, als ihm das nicht gelang, aus einer Scheune einen Karren zerrte, mit dem er die Straße blockierte.

Was, wenn ein Historiker den Karren gestohlen oder Drouet aufgelauert hätte? Wenn er den Kutscher des Königs vorher gewarnt und dieser einen anderen Weg gewählt hätte? Was, wenn ein Historiker in Versailles den Geldschein gestohlen und durch Münzen ersetzt hätte? Ludwig und Marie hätten ihre königstreue Armee erreicht, die Revolution niedergeschlagen und den gesamten Verlauf der europäischen Geschichte geändert.

Wegen eines Karren. Oder einer Katze.

»Wir müssen gleich bei der Sandfordschleuse sein«, sagte Terence fröhlich. »Dort können wir den Schleusenwärter fragen, ob er das Boot gesehen hat.«

Es dauerte wirklich nicht mehr lange, und wir hatten die Schleuse erreicht. Ich dachte, es begänne wieder eine mißverständliche unfruchtbare Diskussion, aber diesmal kam der Schleusenwärter trotz Terences lautem Rufen gar nicht erst aus seinem Häuschen. Nach ein paar Minuten gab Terence auf und sagte: »In Nuneham Courtenay werden wir sicher jemanden finden.« Damit eilte er weiter.

Ich fragte nicht einmal, wie weit entfernt Nuneham Courtenay lag, aus Angst vor der Antwort. Hinter der nächsten Flußbiegung wuchsen Weiden neben dem Treidelpfad und verbargen die Sicht. Als Cyril und ich aber die Biegung hinter uns gebracht hatten, stand Terence vor einem strohgedeckten Haus und schaute nachdenklich auf ein kleines Mädchen, das im Garten davor auf einer Schaukel saß. Es trug ein blauweiß gestreiftes Schürzenkleid, dessen Petticoats sich bauschten, und hielt eine weiße Katze im Arm, auf die es einredete.

»Liebe, süße Mieze«, sagte es. »Du schaukelst doch auch gern, stimmt’s? Ganz hoch in die blauen Lüfte?«

Die Katze reagierte nicht. Sie schlief fest.

Katzen waren in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts noch nicht ausgestorben gewesen, und so hatte ich einige gesehen, doch, abgesehen von diesem rußigen Blitz in der Kathedrale, keine, die wach gewesen war. Nach Veritys Meinung hatte der Sprung durchs Netz ihre Katze schläfrig gemacht, aber ich war mir nicht sicher, ob das nicht der Normalzustand dieser Tiere war. Die schwarzorange Madraskatze beim Fest zur Geburt der Heiligen Jungfrau Maria hatte während der ganzen Veranstaltung fest geschlafen, auf einer dicken gehäkelten Tagesdecke auf dem Tisch mit den Handarbeiten.

»Hör mal, was meinst du dazu?« Terence wies auf das kleine Mädchen.

Ich nickte. »Sie könnte das Boot gesehen haben. Und sie kann kaum schlimmer sein als der Schleusenwärter.«

»Nein, nein. Nicht das Kind. Ich meine die Katze.«

»Hattest du nicht gesagt, Miss Merings Katze sei schwarz?«

»Ja. Mit weißen Pfoten und einem weißen Gesicht«, sagte Terence. »Aber mit etwas schwarzer Schuhcreme an den richtigen Stellen…«

»Vergiß es«, sagte ich. »Du hast auch gesagt, daß sie ihrer Katze sehr zugetan ist.«

»Stimmt auch. Deshalb wird sie der Person, die sie findet, außerordentlich dankbar sein. Wenn wir die Schuhcreme sorgfältig verteilten, könnten wir dann nicht…«

»Nein.« Ich ging zur Schaukel hinüber. »Hast du ein Boot gesehen?«

»Ja, Sir«, erwiderte das Mädchen höflich.

»Ausgezeichnet«, sagte Terence. »Wer saß darin?«

»Worin?«

»In dem Boot.«

»Welchem Boot?« Das Mädchen streichelte die Katze. »Hier fahren viele Boote vorbei. Das ist nämlich die Themse.«

»Ein großes grünes Boot, in dem eine Menge Gepäck aufgestapelt ist«, erklärte Terence. »Hast du es gesehen?«

»Beißt er?« fragte das Mädchen Terence.

»Wer? Mr. Henry?«

»Cyril«, erwiderte ich. »Nein, er beißt nicht. Hast du ein solches Boot gesehen? Mit einem Stapel Gepäck darin?«

»Ja«, sagte sie und hob die Katze auf ihre Schulter. Diese zwinkerte nicht einmal mit den Augen. »Es fuhr dort entlang.« Sie zeigte flußabwärts.

»Das wissen wir bereits. Konntest du erkennen, wer in dem Boot saß?«

»Ja«, sagte das Mädchen und klopfte der Katze auf den Rücken, als hielte sie ein Baby auf dem Arm, das Bäuerchen machen sollte. »Arme kleine Mieze! Hast du Angst vor dem großen Hund?«

Die Katze rührte sich nicht.

»Wer saß in dem Boot?« fragte ich.

Sie ließ die Katze wieder in ihre Arme gleiten und wiegte sie hin und her. »Ein Reverend.«

»Ein Reverend? Du meinst einen Geistlichen? Einen Küster?« Ich überlegte, ob der Kirchenvorsteher ein Schild mit »Keine Anlegestelle!«errichtet und das Boot zur Strafe weggekarrt hatte.

»Ja. In einer Robe.«

»Professor Peddick«, sagte ich.

»Mit weißem Haar?« fragte Terence. »Und einem Schnurrbart wie Lammkoteletts?«

Sie nickte, packte die Katze unter den Vorderpfoten und hielt sie vor sich wie eine Puppe. »So ein böser, böser Hund! Dir solche Angst einzujagen!«

Die Katze schlief weiter.

»Komm jetzt«, sagte Terence, der bereits wieder ein Stück entfernt war. »Wir hätten gleich daran denken sollen«, fuhr er fort, als der böse Hund und ich ihn eingeholt hatten, »daß es Professor Peddick war, der das Boot holte. Er kann nicht weit gekommen sein.«

Er wies auf den Fluß, der sich langsam durch flache Felder südwestlich schlängelte. »Sieht aus wie die Ebene von Marathon.«

Es stimmte, so weit ich das beurteilen konnte, aber entweder war Professor Peddick dies nicht zum Bewußtsein gekommen, oder er konnte schneller rudern, als ich dachte. Weder er noch das Boot waren zu sehen.

Terence schien das nicht zu irritieren. »Wir werden ihn bald entdecken.«

»Und wenn nicht?«

»Fünf Meilen von hier ist eine Schleuse. Dort muß er auf jeden Fall warten.«

»Fünf Meilen?« fragte ich ermattet.

»Wir müssen ihn einholen. Das Schicksal will es so. Denk an Antonius und Cleopatra.«

Noch eine Liebesgeschichte, die kein gutes Ende nahm.

»Hätte sich Antonius von einer Nichtigkeit wie einem verlorengegangenen Boot aufhalten lassen? Obwohl es in seinem Fall wohl eher eine Barke gewesen wäre.«

Wir kämpften uns weiter voran. Die victorianische Sonne brannte auf uns herab, Terence marschierte in mörderischem Tempo voran und verglich Tossie mit Engeln, Elfen, Luftgeistern und Cleopatra (ein wirklich schlimmes Ende!). Cyrils Gangart glich der eines Menschen, der an einem bathaanischen Todesmarsch[40] teilnahm. Ich dachte sehnsüchtig an Schlaf und versuchte auszurechnen, wie lange ich nun bereits an einem Stück wach war.

Ich war seit zehn Uhr hier, und meine Taschenuhr sagte, nun sei es bereits fast vier, das waren also sechs Stunden. Im Laboratorium hatte ich drei Stunden bei den Vorbereitungen für den Sprung verbracht, eine Stunde davor in Dunworthys Büro. Ich war eine halbe Stunde auf dem Sportgelände in Oxford gewesen und eine weitere im Krankenhaus. Das machte bereits elf Stunden, die zwei Stunden, die ich mit der Suche nach des Bischofs Vogeltränke und die eine, die ich auf der Suche nach der Kathedrale zugebracht hatte, noch nicht gerechnet. Dazu kamen fünf Stunden, die ich auf dem Herbstbasar und bei der Alteisensammelaktion verbracht hatte. Das ergab insgesamt neunzehn.

Wann war ich auf dem Basar gewesen, morgens oder nachmittags? Nachmittags, denn ich wollte gerade zum Abendessen in mein Zimmer gehen, als Lady Schrapnell mich erwischte und zu den Wohltätigkeitsbasaren verdonnerte.

Nein, das war am Tag zuvor gewesen. Oder noch früher. Wie lange hatte ich die Wohltätigkeitsbasare besucht? Jahre. Ich war seit Jahren wach.

»Wir werden aufgeben müssen«, sagte ich erschöpft und dachte daran, wie weit es bis Oxford war. Vielleicht konnten wir in der Kirche in Iffley schlafen. Nein, sie hatte ja nur bis vier Uhr geöffnet. Und bestimmt gab es da ein Schild »Schlafen in den Kirchenbänken untersagt!«,welches an das Regal mit den Gesangbücher geheftet war.

»Schau, dort!« schrie Terence. Er zeigte auf eine weidenbedeckte Insel in der Flußmitte. »Dort ist er!«

Es war eindeutig Professor Peddick. Er stand mit flatternder Robe über die Böschung gebeugt und spähte durch sein Monokel ins Wasser.

»Professor Peddick!« rief Terence ihm zu, und der Professor bekam fast das Übergewicht. Er packte einen nicht sehr vertrauensvoll aussehenden Weidenast und richtete sich daran auf. Dann justierte er sein Monokel und schaute in unsere Richtung.

»Wir sind’s«, rief Terence, die Hände wie einen Trichter vor dem Mund. »St. Trewes und Henry. Wir suchen Sie die ganze Zeit.«

»Ah, St. Trewes«, rief Peddick zurück. »Kommen Sie herüber. Ich habe ein paar großartige Untiefen entdeckt, genau richtig, um Döbel zu fangen.«

»Sie müssen uns holen«, schrie Terence.

»Was gestohlen?« gab Peddick zurück. Jetzt geht’s von vorn los, dachte ich.

»HOLEN!« wiederholte Terence. »Sie haben das Boot.«

»Ah ja. Warten Sie.« Der Professor verschwand zwischen dichten Weidenbäumen.

»Hoffentlich hat er nicht vergessen, das Boot zu vertäuen«, sagte ich.

»Hoffentlich erinnert er sich daran, wo er es gelassen hat.« Terence ließ sich am Ufer nieder.

Ich hockte mich neben ihn, und Cyril legte sich hin, rollte sich sofort auf die Seite und begann zu schnarchen. Ich wünschte inbrünstig, es ihm gleichtun zu können.

Nun mußten wir den Professor den ganzen Weg nach Oxford zurückrudern, was mindestens drei Stunden in Anspruch nehmen würde, aber das nur, wenn wir ihn davon abhalten konnten, wegen jedem Fisch und jeder Wiese anzuhalten.

Aber vielleicht war das sogar das Beste. Verity hatte gesagt, ich solle Terence von Muchings End fernhalten, und das war damit sicher zu erreichen. Bis wir Oxford erreichten, würde es dunkel sein. Wir mußten dort die Nacht verbringen, und morgen früh konnte ich Terence vielleicht dazu überreden, flußaufwärts nach Parson’s Pleasure zu fahren. Oder nach London oder zu einem Pferderennen. An welchem Tag fand immer das Derby statt?

Oder vielleicht kehrte ihm nach einer ausgiebigen Nachtruhe der Verstand zurück und er erkannte, was für ein schnatterndes Gänschen Tossie war. Verblendung war ähnlich wie Zeitkrankheit nur ein Ungleichgewicht der Körperchemie, das von einem guten Nachtschlaf geheilt wurde.

Der Professor war immer noch verschwunden. »Er hat eine neue Sorte Döbel gefunden und uns vergessen«, sagte Terence, aber gerade da sahen wir das Boot um die Spitze der Insel herumfahren. Professor Peddicks Ärmel bauschten sich im Wind wie schwarze Segel, während er ruderte.

Das Boot glitt flußabwärts zu uns, und wir liefen holterdiepolter den Treidelpfad hinunter zu ihm, Cyril schwabbelnd hinter uns her.

Ich wandte mich um und drängte ihn zur Eile. »Hopp, Cyril«, sagte ich und prallte genau auf Terence, der wie angewurzelt dastand und auf das Boot starrte.

»Sie können sich nicht vorstellen, was ich für wunderbare Entdeckungen gemacht habe«, sagte Professor Peddick. »Diese Insel ist das genaue Abbild des Ortes, wo die Schlacht von Dunreath Mow stattfand.« Er hielt die Pfanne hoch. »Ich möchte Ihnen den doppelkiemigen blauen Döbel zeigen, den ich gefunden habe.«

Terence starrte immer noch sprachlos auf das Boot.

Ich konnte keine Kratzer oder Schrammen entdecken außer denen, die bereits dagewesen waren, als Jabez uns das Boot vermietet hatte, und ich sah auch keine Löcher. Alles wirkte trocken. Heck und Bug…

Die Bänke im Heck. Und der Bug. »Terence…«

»Professor Peddick«, sagte Terence mit gepreßter Stimme. »Was ist mit unseren Sachen passiert?«

»Sachen?« Professor Peddicks Stimme klang verwundert.

»Dem Gepäck. Neds Portmanteau, den Körben und…«

»Ah ja«, sagte der Professor. »Unter der Salix babylonica auf der anderen Seite der Insel. Ich werde Sie hinüberrudern wie Charon die Seelen über den Styx.«

Ich kletterte ins Boot und half Terence, Cyril hineinzubugsieren, indem ich die Vorderbeine des Hundes über die Ruderpinne legte, während Terence die Hinterbeine über den Bootsrand hob. Dann stieg er selbst ein.

»Herrlicher Kiesgrund«, meinte Professor Peddick und begann über den Fluß zu rudern. »Prima Platz für Weißfische. Und was für eine Menge Mücken und Fliegen! Ich fing eine Forelle mit einem roten Kammkiemenschlitz. Haben Sie ein Netz dabei, St. Trewes?«

»Ein Netz?«

»Zum Einfangen. Ich möchte die Mäuler nicht mit einem Haken malträtieren.«

»Es ist nun wirklich nicht die Zeit zum Angeln«, sagte Terence. »Wir müssen so schnell wie möglich unser Gepäck wieder verstauen und zurückrudern.«

»Blödsinn. Ich habe einen ausgezeichneten Platz zum Übernachten entdeckt.«

»Übernachten?« fragte Terence.

»Es lohnt sich nicht, erst nach Hause zu rudern und dann wieder hierher. Döbel beißen am besten kurz vorm Sonnenuntergang.«

»Aber was ist mit Ihrer Schwester und deren Gefährtin?« Terence zog seine Taschenuhr heraus. »Es ist beinahe fünf. Wenn wir jetzt zurückrudern, wären Sie rechtzeitig zum Abendessen bei den beiden.«

»Erledigt«, sagte der Professor. »Ich habe einen meiner Schüler beauftragt, die beiden abzuholen.«

»Ich war dieser Schüler, Professor.«

»Blödsinn. Dieser Schüler ruderte die Themse entlang, während ich an meiner…« Er beäugte Terence durch sein Monokel. »Bei König George, Sie sind es tatsächlich.«

»Ich war um zehn Uhr fünfundfünfzig am Bahnhof«, erklärte Terence. »Aber Ihre Schwester und ihre Begleiterin waren nicht da, also müssen sie mit dem Zug um drei Uhr achtzehn eintreffen.«

»Kam einfach nicht«, sagte der Professor, den Blick ins Wasser gewandt. »Prima Gras für Barsche.«

»Ich weiß, daß sie einfach nicht kamen«, insistierte Terence, »aber wenn sie mit dem Zug um drei Uhr achtzehn…«

»Ich rede nicht von meiner Schwester«, sagte Professor Peddick. Er schob den Ärmel seiner Robe hoch und steckte die Hand ins Wasser. »Ich meine ihre Begleiterin. Rannte einfach auf und davon, um zu heiraten.«

»Heiraten?« fragte ich. Die Frau auf dem Bahnsteig hatte von jemandem gesprochen, der gerade heiratete.

»Trotz aller Bemühungen meiner Schwester. Traf ihn in der Kirche. Klassisches Beispiel einer individuellen Handlung. Persönlichkeiten formen die Geschichte. Statt dessen brachte sie meine Nichte mit.«

»Ihre Nichte?« fragte ich.

»Hübsches Mädchen.« Er zog ein Stück schleimiges brauntriefendes Gras aus dem Wasser. »Kann ausgezeichnet Proben beschriften. Schade, daß Sie nicht dort waren, als die beiden ankamen, dann hätten Sie sie sehen können.«

»Ich war da, aber die beiden nicht«, sagte Terence.

»Sind Sie sicher?« Professor Peddick reichte mir das Gras. »Maudie erwähnte in ihrem letzten Brief die genaue Uhrzeit.« Er klopfte seine Jackentaschen ab.

»Maudie?« Ich hoffte, mich verhört zu haben.

»Maud. Wurde nach ihrer lieben verstorbenen Mutter benannt.« Professor Peddick durchwühlte seine Taschen. »Wäre ein prima Naturwissenschaftler, wenn sie ein Junge wäre. Muß den Brief irgendwie verloren haben, als Overforce mich umzubringen versuchte. Ich bin mir sicher, es war der Zug um zehn Uhr fünfundfünfzig. Vielleicht jedoch der von morgen. Welcher Tag ist heute? Ah ja, hier sind wir also. Schließlich doch noch im Paradies angelangt, wenn man so sagen will.«

Das Boot stieß so hart ans Ufer, daß Cyril von dem Ruck erwachte, aber das war nichts gegen den Schock, der mich gerade ereilt hatte. Maud. Ich hatte verhindert, daß Terence seine ›ältlichen Wittfrauen‹ traf. Hätte es mich nicht gegeben, wären Professor Peddicks Schwester und seine Nichte weiter auf dem Bahnsteig sitzengeblieben, bis Terence schließlich aus dem Bahnhofsgebäude geschlittert wäre. Und wenn ich ihm nicht erzählt hätte, daß keiner, auf den seine Beschreibung paßte, im Zug gewesen sei, hätte er die beiden noch auf ihrem Weg zum Balliol einholen können. Doch er hatte von ältlichen Wittfrauen gesprochen. Er hatte gesagt, sie seien eindeutig vorsintflutlich.

»Hältst du mal das Seil, Ned?« fragte Terence, den Bug des Bootes auf die Uferböschung schiebend.

Begegnungen sind überaus sensible Punkte im komplexen chaotischen Verlauf der Geschichte. Lord Nelson und Emma Hamilton. Heinrich der Achte und Anne Boleyn. Crick und Watson. John Lennon und Paul McCartney. Und Terence hätte eigentlich Maud auf dem Bahnsteig des Oxforder Bahnhofs treffen sollen.

»Ned?« sagte Terence. »Nimmst du mal das Seil?«

Ich machte mit dem Seil in der Hand einen riesigen Satz auf die glitschige Uferbank und vertäute das Boot, wobei ich dachte, daß ich eigentlich nichts weniger als das tun sollte.

»Sollten wir nicht besser nach Oxford zurückkehren, um Ihre Nichte zu treffen? Und Ihre Schwester?« fügte ich hinzu. Die beiden würden zwar nicht mehr auf dem Bahnsteig stehen, aber zumindest würden sie Terence treffen. »Wir können das Gepäck hier lassen und später holen. Zwei Damen, die allein reisen… Sie werden jemanden brauchen, der ihnen mit ihrem Gepäck hilft.«

»Blödsinn«, erwiderte Professor Peddick. »Maudie ist durchaus imstande, das Gepäck aufzugeben und eine Droschke zu mieten, die sie ins Hotel bringt. Sie ist außerordentlich vernünftig. Nicht so zimperlich wie andere Mädchen. Sie würde Ihnen gefallen, St. Trewes. Haben Sie Mehlwürmer dabei?« Er setzte sich in Richtung Weidenbäume in Bewegung.

»Kannst du ihn nicht überzeugen?« fragte ich Terence.

»Nicht, wenn Fische dabei im Spiel sind. Oder Geschichte. Das beste ist, wir schlagen unser Lager auf, bevor es dunkel wird.« Er ging zu dem mächtigen Weidenbaum, unter dem unsere verschiedenen Koffer und Kartons aufgetürmt waren und begann, in ihnen zu wühlen.

»Aber seine Nichte…«

»Du hast ihn doch gehört. Vernünftig. Intelligent. Sie ist wahrscheinlich eines dieser schrecklichen modernen Mädchen, die Flausen im Kopf haben und meinen, Frauen sollten in Oxford studieren dürfen.« Er zog einen Tiegel und ein paar Konservendosen aus dem Gewühl. »Eine ganz abscheuliche Sorte Mädchen. Nicht wie Miss Mering. Sie ist so süß und unschuldig.«

Und zickig, dachte ich. Und er hatte ihr eigentlich nicht begegnen sollen. Er hätte Maud treffen sollen. »Sie würden sie mögen«, hatte Professor Peddick gesagt, und ich bezweifelte das keine Sekunde lang, wenn ich an ihre dunklen Augen und ihr hübsches Gesicht dachte. Aber ich hatte verdächtig gewirkt, und Verity hatte ohne nachzudenken gehandelt, und nun planten Terence und Tossie, die sich normalerweise nie begegnet wären, ein Rendezvous, und wer konnte wissen, welche Komplikationen sich daraus ergaben?

»Wir treffen sie sowieso morgen früh«, sagte Terence und schnitt Fleischpastete in Scheiben. »Wenn wir Professor Peddick zurückbringen.«

Also würde er sie am Morgen treffen. Chaotische Systeme hatten eingebaute Überzähligkeiten, Interferenzen und Vorwärtsschleifen, so daß die Folgen mancher Ereignisse sich nicht ins Endlose multiplizierten, sondern sich gegenseitig aufhoben. »Bin ich dir an diesem Ort nicht begegnet, werden wir uns halt an jenem treffen.« Terence hatte Maud heute verpaßt, aber er würde ihr morgen begegnen. Es konnte sogar sein, daß wir, wenn wir den Professor heute noch zurückbrachten, zu spät eintrafen, so daß die beiden Frauen keine Besucher mehr empfingen und Terence Maud abermals verpaßte. Morgen früh jedoch würde sie ein hübsches Kleid tragen, und Terence würde ganz schnell Muchings End vergessen und Maud fragen, ob sie mit ihm im Stechkahn nach Port Meadow zum Picknick fahren wollte.

Falls er sie überhaupt hatte treffen sollen. Professor Peddicks Schwester hätte ebensogut den Gepäckträger für ein verdächtiges Subjekt halten oder plötzliche Zugluft verspüren und deshalb auch ohne mein Zutun noch vor Terences Eintreffen überstürzt in einem Einspänner davonfahren können. Und Terence, voller Eifer, das Boot zu mieten, wäre vielleicht auch ohne mein Zutun zur Follybrücke zurückgegangen, ohne Maud zu begegnen. T. J. hatte gesagt, daß das System selbstkorrigierende Fähigkeiten besäße.

Verity hatte recht. Prinzessin Arjumand war zurückgebracht worden, die Inkonsequenz, falls überhaupt je eine bestanden hatte, war damit aus der Welt geschafft, und ich sollte mich ausruhen und erholen, also Essen und Schlafen, in genau dieser Reihenfolge.

Terence breitete ein Tuch aus, auf das er Blechteller und Tassen stellte.

»Kann ich irgendwie helfen?« fragte ich. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. Wann hatte ich zuletzt gegessen? Eine Tasse Tee und ein steinhartes Stück Kuchen beim Wohltätigkeitsbasar der Frauengemeinschaft zugunsten der Kriegskasse war das letzte, an das ich mich erinnern konnte, und das war mindestens zwei Tage und zweiundfünfzig Jahre her.

Terence beugte sich über den Picknickkorb und förderte einen Kohlkopf und eine große Zitrone zutage. »Du kannst die Decken ausbreiten. Zwei von uns können im Boot schlafen, der dritte an Land. Und wenn du das Silber und das Ginger Ale findest, stell es auf die Decke.«

Ich begab mich zu den Decken, um sie auszurollen. Die Insel befand sich offenbar im Besitz des Kirchenvorstehers von Iffley. Buchstäblich an jeden Baum waren Schilder genagelt, ebenso an eine ganze Anzahl Pfähle, die in die Uferböschung gerammt waren. »Kein Durchgang!«, »Privatgrundstück!«, »Auf Eindringliche wird geschossen!«, »Privates Gewässer!«, »Boote verboten!«, »Fischen nicht erlaubt!«, »Müll wegwerfen verboten!«, »Camping nicht gestattet!«, »Picknicken verboten!«, »Keine Anlegestelle!«.

Ich durchsuchte Terences Kartons und förderte eine ganze Reihe sonderbar aussehender Utensilien zu Tage, aus denen ich diejenigen auswählte, die mich am ehesten an Gabeln, Löffel und Messer erinnerten und neben die Teller placierte.

»Ich fürchte, das Essen fällt etwas dürftig aus«, bemerkte Terence. »Ich hatte vor, unterwegs noch mehr Proviant zu besorgen. Wir müssen uns eben so damit abfinden. Sag Professor Peddick, Abendessen wäre serviert, so gut es eben ging.«

Terences Vorstellung von dürftiger Mahlzeit bestand aus Schweinefleischpastete, Kalbfleisch, kaltem Roastbeef, einem Schinken, eingelegten Gürkchen, Eiern, roter Bete, Käse, Brot und Butter, Ginger Ale und einer Flasche Portwein. Es war sicher eine der besten Mahlzeiten, die ich je im Leben bekommen hatte.

Terence verfütterte den letzten Rest Roastbeef an Cyril, dann nahm er eine Dose in die Hand. »Mist!« sagte er. »Einfach ohne Büchsenöffner loszuziehen… jetzt habe ich diese Dose mit…«

»Ananas«, grinste ich.

»Nein.« Er betrachtete das Etikett. »Pfirsiche.« Wieder beugte er sich über den Korb. »Irgendwo muß es aber auch Ananas geben. Wie ich die Sache sehe, wird jedoch ohne Büchsenöffner beides gleich schmecken.«

Wir könnten versuchen, die Dose mit dem Bootshaken zu öffnen, dachte ich und grinste in mich hinein. Das hatten sie in Drei Mann in einem Boot auch getan und dabei George fast umgebracht. Nur sein Strohhut hatte ihn gerettet.

»Vielleicht sollten wir es mit einem Taschenmesser probieren«, sagte Terence.

»Nein«, erwiderte ich. Bevor sie es mit dem Bootshaken versuchten, hatten sie ein Taschenmesser benutzt. Davor eine Schere und einen großen Stein. »Wir werden ohne die Dose auskommen müssen«, sagte ich weise.

»Hör mal, Ned, hast du nicht zufällig einen Büchsenöffner in deinem Gepäck?«

Wie ich Finch kannte, hatte ich wahrscheinlich einen. Ich entwirrte meine Beine, die eingeschlafen waren, ging zu den Weiden hinüber und begann, das Gepäck zu durchsuchen.

Der Rucksack enthielt drei kragenlose Hemden, eine Garnitur Abendkleidung, die viel zu klein für mich war und einen viel zu großen schwarzen Bowlerhut. Es war gut, daß ich mich nur auf dem Fluß aufhielt.

Ich nahm mir den Korb vor. Hier begann es vielversprechend. Ich fand ein paar große Löffel und ein Sortiment anderer Gerätschaften, darunter etwas, das einer scharfen Sichel glich, und etwas mit zwei langen Griffen und einer revolverartigen Mündung, die durchlöchert war. Möglicherweise war einer dieser beiden Gegenstände der Büchsenöffner. Oder eine Waffe.

Cyril kam herbei, um zu helfen.

»Du weißt auch nicht, wie ein Büchsenöffner aussieht, was?« fragte ich und betrachtete ein flaches Gitterding mit langem Griff.

Cyril schaute in den Rucksack und ging dann zu dem geschlossenen Korb.

»Ist er da drin?« fragte ich, löste die Schlaufen und Ösen, die den Deckel zuhielten, und öffnete den Korb.

Prinzessin Arjumand schaute mit grauen Augen zu mir auf und gähnte.

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